Juwelenraub im Schneepalast - Gabriela Kasperski - E-Book

Juwelenraub im Schneepalast E-Book

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Rentnerin Libby Andersch wird mit dem Krimiklub – einem Verein für True-Crime-Fans – nach Gstaad in das glamouröse Hotel Palace eingeladen. Dort finden die «Britischen Wochen» statt, eine Schmuckkollektion des britischen Königshauses soll im Hotel ausgestellt werden. Hinter verschlossenen Türen ist gleichzeitig ein geheimes Diplomatentreffen mit dem britischen Premierminister geplant. Und der Krimiklub darf einen ungelösten Fall aus den achtziger Jahren aufklären, den Raubmord an Schmuckliebhaberin und Künstlerwitwe Nina Kandinsky. Doch aus dem unterhaltsamen Detektivspiel wird schnell bitterer Ernst, als Libby Andersch Zeugin eines geheimen Gesprächs wird. Jemand hat die Absicht, das berühmte Victoria-Collier zu stehlen. Noch wäre das Unglück zu verhindern, wenn die lokale Polizei die Rentnerin nicht bloß müde belächeln würde. Doch die scharfsinnige Libby Andersch lässt sich nicht entmutigen und heftet sich im Alleingang an die Fersen des unbekannten Diebes.

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Seitenzahl: 190

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gabriela Kasperski

Juwelenraub im Schneepalast

Ein Fall für Libby Andersch

Kriminalroman

Alibi

 

 

Für meine Söhne!

 

 

Diamonds are forever …

Titelsong von Shirley Bassey aus dem gleichnamigen James-Bond-Film (1971)

 

 

Die über achtzigjährige Witwe des Malers Wassily Kandinsky wurde am 2. September 1980 in ihrem Gstaader Chalet Esmeralda ermordet, ihr Schmuck wurde geraubt und der Fall von den Behörden nie gelöst. Diese Vorkommnisse liegen dem Roman Juwelenraub im Schneepalast zugrunde. Alle Ereignisse und Personen in der Geschichte sind jedoch frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Institutionen oder lebenden und toten Personen sind nicht beabsichtigt.

1

Am Freitagmorgen um kurz vor elf Uhr saß Libby Andersch strickend im Panorama-Express von Spiez nach Gstaad. Über einen Lautsprecher wurde eine noch unveröffentlichte Radiosendung übertragen. Das Signet bestand aus einer jazzigen Melodie und einer Ankündigung: »Der Krimiklub – ungelöste Verbrechen. Heute: Raubmord an Nina Kandinsky.«

Danach wurde es kurz ruhig, bevor die muntere Stimme der Moderatorin ertönte.

Hallo und herzlich willkommen zu einer Advents-Sondersendung des Krimiklubs. Wir begleiten die neun Finalistinnen und Finalisten unseres Wettbewerbs auf ihrer winterlichen Reise nach Gstaad und blicken ihnen bei den Nachforschungen über die Schulter. Bei dem Cold Case handelt es sich um den in den Achtzigerjahren ad acta gelegten Raubmord an der Künstlerwitwe Nina Kandinsky. Und die große Frage lautet: Können unsere Finalisten Licht ins Dunkel bringen? Sie, liebes Publikum, ermitteln am Sonntag den Sieger oder die Siegerin, und zwar live auf diesem Sender. Im Moment befinden wir uns im Zug und springen gleich in medias res: DENFALL!

Nach einer Pause kam etwas Neues: Restaurant-Ambiance, das Geplauder von Menschen, zwitschernde Vögel.

Das Hörspiel beginnt, dachte Libby und strickte etwas schneller, das Klappern ihrer Nadeln bildete eine leise Begleitung zur warmen Erzählstimme, die nun den Zugwagen erfüllte.

Obwohl der Nieselregen einem pastellblauen Himmel mit Sonnenschein gewichen war, fröstelte Nina Kandinsky. Sie schloss die Knöpfe ihrer Strickjacke und nahm auf der Terrasse des Hotel Palace Platz, wo sich Gäste und Auswärtige, so wie Nina, mischten. Sie kam wegen der Musik. Diese Saison spielte nachmittags manchmal ein Kammerorchester Walzer, Chansons und russische Weisen. Es war das erste Engagement des jungen Dirigenten, der wie Nina aus dem Osten stammte.

»Das Übliche, Madame? Ein Stück Kirschkuchen und eine heiße Schokolade?« Die Kellnerin hatte einen Block gezückt.

Nina lehnte ab und blickte zur leeren Bühne. »Wann kommt denn das Orchester? Fünfzehn Uhr ist vorbei.«

»Tut mir leid, heute sind sie verhindert.«

Das brachte Nina so durcheinander, dass ihr fast die Tränen kamen.

Die Kellnerin sah ungeduldig aus. Am übernächsten Tisch riefen sie bereits nach ihr.

»Morgen wieder, Madame Kandinsky.«

Ich bin eine sentimentale alte Tante, dachte Nina, aber sei’s drum, ich gehe wieder heim.

Sie fasste ihren Stock, erhob sich, betrat die Lobbybar und danach die Rezeption. Da blickte sie wie jedes Mal zum Deckengemälde, das die Sternenkonstellation vom Tag der Hotelgründung darstellte, dem 8. Dezember 1913. Sonst verspürte Nina beim Hochschauen jeweils einen kleinen Glücksschauer, heute jedoch wollte er sich nicht einstellen.

»Bitte sehr, Signorina.«

Luigi, der hoteleigene Chauffeur, der sie verspielt mit »Fräulein« ansprach, hielt ihr auf dem Platz vor dem Eingang die Tür der Limousine auf. Seine vollen Lippen und die offenen Augen hinter den Brillengläsern erinnerten sie an ihren längst verstorbenen Mann.

»Grazie, Luigi. Ich glaube, ich gehe zu Fuß.«

»Sind Sie sicher?« Der Chauffeur wusste um ihre Vorsicht, wenn sie allein unterwegs war. Sein Blick blieb an ihrem Armband hängen. »Das ist sehr schön. Der Brillant, ein Traum.«

Nina berührte ihn. Der Stein fühlte sich seidig und warm an. Wärmer als ihre Jacke.

»Haben Sie es bei Spychiger gekauft?«

Hannes Spychiger war ein familiär geführtes Juweliergeschäft an der Promenade. Dem Vater von drei Söhnen war die Frau kürzlich weggelaufen, wie man sich in Gstaad erzählte.

»Ich kaufe nicht bei ihm ein. Das wissen Sie doch.«

Luigi grinste wie ein Lausbub. »Es sollte auch ein Scherz sein.«

Er kannte natürlich ihre Vorliebe für Schmuck. Schon mehrfach hatte er sie nach Genf zu den Juwelieren Van Cleef & Arpels gefahren. Die hatten wirklich schöne Stücke, lupenrein und von bestem Schliff.

Er deutete eine Verbeugung an. »Bis morgen, Signorina. Arrivederci.«

Nina fasste ihren Stock fester, ging entlang der Zierbüsche und der Tannen und dachte darüber nach, warum sie Luigis italienischen Akzent so sehr mochte, obwohl im Palace sonst nebst dem hiesigen Berner Oberländisch das Französische und das Englische gepflegt wurden. Vielleicht lag es daran, dass sie und Wassily nie in Italien gewesen waren. Die Kriege waren ihnen dazwischengekommen.

An der Kreuzung fuhr ein Auto viel zu schnell an ihr vorbei. Sie kniff die Augen zusammen, um das Kennzeichen zu lesen, was ihr jedoch nicht gelang. Sie verspürte ein eigenartiges Gefühl.

Statt weiter auf dem Bürgersteig zu gehen, wählte sie die steile Abkürzung zum Oberbort, ihrem Viertel, und war erleichtert, als nach einer Kurve das Chalet in Sicht kam. Es lag am Hang, war aus Holz mit Schnitzereien verziert und hatte ein schiefes Dach samt Überhang sowie einen langen Balkon voller Geranien, die die Köpfe hängen ließen. Auch der Rasen war vertrocknet, das bisschen Regen vom Vormittag hatte nichts genützt.

Über der Tür stand in geschwungenem Schriftzug »Esmeralda«. Obwohl es Ninas Zuhause war, betrat sie es aus Sicherheitsgründen meist in Begleitung ihrer Nachbarn. Deren Chalet erreichte sie über einen schmalen Verbindungspfad. Es war vom selben Architekten erbaut worden wie ihres. Doch sie reagierten weder auf Klingeln noch auf Klopfen, und Nina wurde bewusst, dass sie trotz des Spaziergangs früher dran war als angekündigt.

Zögernd ging sie wieder zum Esmeralda zurück. Die Fassade wirkte plötzlich dunkel, und auf dem Vorplatz warfen die Tannen Schatten. Was, wenn sich hinter den Stämmen jemand versteckte?

Ninochka, schalt sie sich, sei kein Hasenfuß, geh rein, leg deinen Schmuck in den Safe und trink die Schokolade, die du eben verschmäht hast.

Nachdem sie die Haustür aufgeschlossen hatte, vernahm sie von der Straße her erneut ein Motorengeräusch. Nicht schnell, sondern im Schritttempo fuhr ein Auto vorbei und hielt weiter vorn an. Ihr Herz begann zu hämmern, der Schweiß lief ihr in Strömen. Ein mechanisches Klickgeräusch, eine zugeknallte Tür. Ein Mann kam über die Einfahrt auf sie zu, im Gegenlicht sah sie nur seine Silhouette. Er war schlank, durchtrainiert und jung. Er hatte eine Frisur wie dieser Schauspieler, James Stewart. Oder Dean.

»Madame Kandinsky?«

Nun stand er direkt vor ihr. Unter seiner Lederjacke zauberte er einige Beutel hervor. »Flüssigdünger. Eine Spezialmischung. Ich wollte sie schnell vorbeibringen. Wenn wir das jetzt verteilen, ist der Rasen im nächsten Frühling wie neu.«

Es war ein Gärtnergehilfe. Nina entspannte sich. »Arbeiten Sie für Monsieur Florent?«

Der junge Mann nickte. »Ich brauche Wasser.«

Nina wollte ihn auf den Gartenschlauch hinweisen, doch da war er bereits an ihr vorbeigegangen und im Hausflur verschwunden, einen leichten Duft nach Sandelholz hinter sich lassend. Benahm sich so ein Gärtnergehilfe?

Ninochka, du kennst Monsieur Florent seit über zehn Jahren, und er kennt nicht nur deinen Garten, sondern auch das Erdgeschoss deines Hauses. Er wird diesen jungen Mann eingestellt haben, weil er mit der Arbeit nicht nachkommt, wie jedes Mal im Herbst, wenn alle Chalet-Besitzer ihre Gärten winterfest machen wollen.

Trotzdem verstärkte sich das eigenartige Gefühl. Sie wartete eine Weile. Als er nicht mehr herauskam, trat sie ebenfalls ein und drehte den Schlüssel hinter sich herum, wie sie das immer tat.

»Hallo?« Sie verwünschte ihre zitternde Stimme und ging ins Wohnzimmer.

Normalerweise hatten die Gemälde ihres verstorbenen Gatten eine beruhigende Wirkung auf sie, doch nun verschwammen die Farben vor ihren Augen.

»Monsieur?«

Stille. Vermutlich war er dabei, in der Garage die Gießkanne zu holen, Monsieur Florent hatte ihm bestimmt den Weg erklärt.

Sie würde alles genau machen wie sonst bei ihrer Heimkehr. Im Wohnzimmer hängte sie ein Bild ab und öffnete den Safe. Die Schmuckstücke waren vollzählig und unversehrt. Sie wählte eine der Ketten aus und legte sie um. Als sie das Badezimmer betrat, um die Hände zu waschen, fühlte sie sich besser.

Im Spiegel sah sie das Glitzern der Perlen und ihr Gesicht. Danach die verfärbte Stelle des Waschbeckens, an der ein Stück Porzellan fehlte. Die Watte auf dem Rand und einige Brösel ihres Lippenstifts. Das ordentlich aufgehängte Handtuch. Der Tropfen am Auslauf des Hahns, der sich löste und mit einem lautlosen Aufprall in feine Perlen zerplatzte.

Tief atmete sie ein. Sandelholz. Woher kam der Geruch? Im Spiegel flirrte ein Schatten. Dann passierte alles gleichzeitig. Sie verspürte einen Zug an ihrem Hals, die Perlen schnürten ihr die Luft ab. Hatte sie sich irgendwo verfangen? Sie zuckte und strampelte und hielt mit den Händen die Kette fest. Gleich darauf wurde es ihr so eng, dass ihre Lunge an die Rippen stieß. Der kleine Finger brach. Ich werde sterben, diese Gewissheit überkam sie mit grausamer Klarheit. Das Letzte, was sie sah, war, wie ihr das Armband vom Handgelenk gerissen wurde. Der Brillant funkelte, obwohl es dunkel war. So dunkel wie die Nacht.

2

»Ist Nina tot?«, fragte Noah, nachdem das Schlusssignet verstummt war, und verschluckte sich fast am letzten Bissen seines Käsebrots.

»Das wussten wir ja von Anfang an«, erklärte Libby, während ihre Stricknadeln unermüdlich klapperten. »Es handelt sich um ein echtes Verbrechen, das nie aufgeklärt wurde. Schon vergessen?«

Mit Mitte siebzig war Libby die älteste Teilnehmerin des Krimiklub-Wettbewerbs, ihr Nachbarsbub Noah mit seinen zwölf Jahren der Jüngste. Und der Ungeduldigste.

»Und ihr ganzer Bling ist von diesem Gauner geklaut worden?«, fragte er. »Aller Schmuck weg, nicht nur der Ring?« Er blickte zur Moderatorin Esme Matic, die bei ihnen im Wagen saß und auch als Reiseleitung fungierte.

»Esme, kannst du den Schluss noch mal erklären?«

Esme war dabei, den Lautsprecher in ihren Rucksack zu packen. Sie war eine quirlige St. Gallerin mit wippenden Locken, schweren Lederstiefeln, einem rosa-schwarz karierten Kostüm und mit ihren kaum dreißig Jahren eine Vertreterin dieser jungen Frauengeneration, die früh gewusst hatte, was sie wollte, und ihre Ziele umgesetzt hatte. Dass sie beim nationalen Sender das beliebte Krimiklub-Format verantwortete, war der beste Beweis dafür.

»Also«, antwortete sie nun, »im Hörspiel, das heute Abend im Radio ausgestrahlt wird, wurde der letzte Tag im Leben von Nina Kandinsky beschrieben. So wie er gewesen sein könnte, bevor sie von einem unbekannten Einbrecher ausgeraubt und ermordet wurde.«

Damit gab sich Noah nicht zufrieden. »Irgendwas ist komisch. Wer ist schon so blöd, den Gärtnerlehrling, den sie nicht kennt, in ihr eigenes Haus zu lassen und sich mit ihm einzuschließen?«

Libby schmunzelte, genau das war ihr auch aufgefallen.

»Ihr sollt die Ungereimtheiten nicht kommentieren, sondern interpretieren.«

»Eine Challenge, Noah«, ergänzte Libby.

Eine Challenge brachte Noah zu Höchstleistungen, das hatte sie schon mehrmals erlebt. Schon kam er mit einer neuen Frage um die Ecke: »Und warum wollte dieser Luigi wissen, wo Nina das Armband gekauft hat? Er war doch nur der Chauffeur vom Hotel Palace?«

Esme wippte auf den Stiefelspitzen. »Luigi ist keine reale Person …«

»Was macht er dann im Hörspiel?«

»… es könnte ihn gegeben haben. Wie gesagt, ihr sollt Schlüsse ziehen, das gibt Punkte, und wer die meisten Punkte hat, gewinnt.«

»Aber wie soll ich das machen, wenn ich nicht mal weiß, wie genau Nina gestorben ist.«

Esme musterte Noah von Kopf bis Fuß. »Nina wurde mit ihrer eigenen Perlenkette gewürgt, bis sie tot war.« Ihre Lippen kräuselten sich, sie hatte eine grausame Seite, das musste sie wohl, wenn sie sich tagtäglich mit »kalten« Verbrechen beschäftigte.

»Brutal, gäll?«, sagte Libby zu Noah. »Ich hoffe, du hast jetzt keine Albträume.«

»Nö. Ich bin hardcore.«

»Du meinst wegen deinen Frucht-Ninjas und den anderen Zombies?«

Noah war ein »Gamer«. Das Wischen mit Fingerkuppen begleitet von leidenschaftlichen Monologen war sein liebstes Hobby. Nun jedoch schüttelte er den Kopf.

»Frucht-Ninjas ist für Babys. Ich gehe ja jetzt aufs Gymnasium. Ich habe Probezeit, weißt du.«

Und ob Libby das wusste. Dem Wort haftete eine so große Bedrohung an, dass Noah nicht mehr zu Besuch kam wie früher und seine ursprünglichen Berufsträume von Winzer bis Schiffskapitän auf Eis gelegt hatte. Auch die Erinnerung an ihren letzten gemeinsamen Ausflug an den Genfersee war verblasst – bis die Namen der Krimiklub-Finalisten im Radio bekannt gegeben worden waren. Dies hatte nicht nur Noah und seine Mutter Iris, sondern auch seinen Deutschlehrer umgestimmt, der sich als Fan der Sendung entpuppt und Noah einen Joker-Tag erlaubt hatte.

Das Rätsel zu lösen war diesmal eine noch größere Herausforderung als sonst – wenn man bedachte, dass sich die Berner Behörden vor vierzig Jahren vergeblich die Zähne an dem Fall ausgebissen hatten. Andererseits war Libby nicht zuletzt mit Noahs Hilfe bereits zweimal klüger als die Polizei gewesen. Außerdem war allein schon die Zugfahrt die Reise wert.

Gerade fuhr der Panorama-Express über eine Art Hochebene. Zu beiden Seiten gab es Berge mit schneebedeckten Spitzen, und Ansammlungen von Chalets wechselten sich mit Bäumen und verschneiten Wiesen ab.

Die Idylle wurde von Esme unterbrochen, die ihr Laptop aufgeklappt hatte.

»Alle mal herhören, Leute! Ihr seid hier nicht zum Sightseeing. Jetzt nehme ich die Zusammenfassung der realen Fakten auf. Damit beginnen wir die Final-Sendung übermorgen. Geschätzte Zuhörerzahl hunderttausend.« Sie hielt ihr Mikrofon in die Luft. »Wer traut sich?«

Libby meldete sich.

»Nils, bitte!«, sagte Esme.

Ausgerechnet Nils Steinmann, der erst kürzlich zum Klub gestoßen war. In seinen Wortmeldungen war er scharfsinnig rübergekommen, was vor allem an seiner sonoren Stimme lag. In echt war er jedoch eine Herausforderung: in mittleren Jahren, mürrisch mit zerknittertem Regenmantel und ungepflegten Haaren. Beim Treffpunkt am Hauptbahnhof Zürich war er als Letzter eingetroffen, seinetwegen hätten sie fast den Zug verpasst.

»Wieso ich? Frag ChatGPT, der kann Zusammenfassungen.«

Unter Esmes eisigem Blick verspeiste Nils Steinmann ostentativ langsam den letzten Bissen seines kalten Hamburgers, der den Wagen mit Zwiebelduft erfüllte, bevor er ihr das Mikrofon abnahm.

»Also … eins, zwei, drei, Test.«

Esme verdrehte die Augen und bedeutete ihm, endlich anzufangen, was er dann zur Erleichterung aller auch tat.

»Nina Kandinsky war Schmuckliebhaberin und überängstlich, mit Vorsichtsmaßnahmen wie einem hauseigenen Safe, der von einem Gemälde ihres Mannes getarnt im Wohnzimmer ihrer Villa eingebaut war. Unterwegs trug sie ihren schönsten Schmuck immer an sich. Am 2. September 1980 wurde sie bei verschlossener Haustür erdrosselt im Badezimmer aufgefunden.«

Na, wie wollt ihr das schlagen, ihr Luschen? Das sagte seine Miene, als er geendet hatte.

Esme hatte dennoch eine Ergänzung. »Während der Hausschlüssel und der Schmuck weg waren, blieben die Gemälde ihres Mannes übrigens hängen.«

Noah schoss hoch. »Versteh ich nicht. Der Dude, ihr Mann, dieser Wassily, war doch berühmt, seine Bilder voll premium. Die hätte der Gauner ja abhängen und mitnehmen können.«

»Der Schmuck«, antwortete Esme, »war wohl einfacher zu transportieren.«

Libby hob ihre Stricknadel in die Luft. »Die Bilder sind drei Tage später vom Berner Kunstmuseum abgeholt worden, wo sie bis heute besichtigt werden können. Das ist echt, und nicht dazuerfunden.«

»Woher weißt du das, Libby?«, fragte Nils verärgert. »Das wurde im Hörspiel nicht erwähnt.«

Libby wandte sich wieder ihrer Strickarbeit zu. »Ich gehe eben gern ins Berner Kunstmuseum. Den Kandinsky-Fall habe ich damals live miterlebt. Beim Institut für Chemie hatten wir ein gutes Radio. Die Polizei fand kaum Spuren und ging davon aus, dass ein Auswärtiger die Tat begangen hat. Der Verdacht fiel unter anderem auf einen schwedischen Künstler mit Schulden bei einem örtlichen Hotel. Sie haben Nachtzüge untersucht und die Flugbewegungen am Flughafen Saanen. Später hat man ihnen vorgeworfen, sie hätten geschlampt. – Wäre ich die Ermittlerin gewesen, hätte ich mir den Museumskurator zur Brust genommen und ihn nach seinem Alibi gefragt. Und weitere Leute aus dem Dorf wie den Gärtner, den Chauffeur und den Architekten. Falls es die gegeben hat.«

Stille. Bis die übrigen Teilnehmer sich anstupsten und Geflüster laut wurde.

»Das nenn ich mal gut vorbereitet.« Esme grinste. »Da könnt ihr euch alle eine Scheibe von abschneiden. Zwölf Punkte für Libby und Noah.«

Eine Kuhglocke kündigte den nächsten Halt an. Zweisimmen. »Wieso ruckt es so, Tante Andersch?«, fragte Noah. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der Libby so nannte. Und sie mochte es.

»Ein Spurwechsel.«

Ein paar Passagiere stiegen aus, neue stiegen zu. Niemand traute sich jedoch, bei ihnen hereinzukommen. »Reserviert – Krimiklub«, stand groß an der Abteiltür.

Danach ging die Fahrt aufwärts, an einem Gondellift und an einer Skischulgruppe vorbei, die im Gänsemarsch die Straße entlangmarschierte. Auf einer Langlaufloipe verlor ein Sportler das Wettrennen gegen ihren ratternden Panorama-Express.

Nachdem sie eine Art Pass überwunden hatten, rauschten sie hinunter in ein neues Tal, das so weit und luftig war wie eine Arena: das Saanenland.

»Alle mal herhören, Leute!« Esme brachte sich wieder ins Spiel. »Ich gebe das Programm bekannt!«

Libby wusste bislang nur, dass eine kriminelle Schnitzeljagd geplant war und dass sie zwei Nächte in der Jugendherberge Saanen untergebracht wurden. Auch wenn sie Abenteuer mochte, dafür fühlte sie sich zu alt. Darum hatte sie Tonino Padrutt geschrieben und um ein Zimmer gebeten, aber noch keine Antwort erhalten. Libby und er hatten sich erstmals im Grand Hotel Matterhorn getroffen. Tonino war Gelegenheitsbutler und in dieser Funktion für die Britischen Wochen im Hotel Palace angestellt, die am morgigen Samstag begannen.

Esme sprach weiter. »Nach der Ankunft wandern wir über die Promenade und blicken Remo Split, Gstaads alteingesessenem Juwelier, ins Schaufenster. Er ist auch Sponsor unserer Sendung.«

»Der Juwelier im Hörspiel hieß aber nicht Remo Split, sondern Hannes Spychiger«, sagte Libby. »Habt ihr den auch erfunden? Wie den Chauffeur?«

Diesmal war Esmes Blick genervt. »Als in den Neunzigern der Sohn übernahm, hat die Familie den Namen geändert. Von Spychiger zu Split.«

»Moment«, sagte Noah. »Ich kombiniere: Split heißt Scheidung auf Englisch. Sind die geschieden?«

Libby ging davon aus, dass man dabei eher an diamantene Splitter als an Scheidung gedacht hatte. Ein Juweliergeschäft, bei dem Nina Kandinsky damals nicht eingekauft und das den Namen gewechselt hatte, klang immerhin interessant.

»Gibt’s auch was zu essen?«, fragte Noah, der über einen unendlich großen Magen verfügte.

Esme nickte. »Im Hotel Palace trinken wir heiße Schokolade und essen Kirschkuchen, wie Nina.«

Außer an ihrem letzten Tag, dachte Libby.

Die Ankündigung löste einiges an Zustimmung aus.

»Kannst du Tonino eine Nachricht schreiben?«, bat Libby Noah leise. Sie hatte kein Handy und blieb auch dabei. »Dass wir ihm sozusagen bald in die gute Stube schneien. Ich muss wissen, ob es mit der Übernachtung klappt.«

Noahs Gerät steckte in einer Strickhülle in den Farben Blau und Weiß, seinem Lieblingsfußballklub geschuldet.

»Geil. Made by Libby«, hatte Noah gemeint, als Libby ihm nach ihrem Abenteuer am Genfersee das Geschenk übergeben hatte.

»Dein Programm klingt maximal bescheiden, Esme!« Nils war als Einziger nicht zufrieden. »Wo ist der Knüller?«

»Ich dachte, du stehst auf Schmuck?« Sie warf ihm einen Blick zu, der eine gewisse Vertrautheit enthielt. Und eine Provokation.

Sie kennen sich näher, vermutete Libby und notierte sich das geistig.

Esme hatte tatsächlich noch etwas in petto. »Im Palace schauen wir uns die Schmuckausstellung an – The Split Exhibition. Eine exklusive Preview nur für uns, samt Privatführung von Remo Split persönlich! Und danach …«, sie vollführte eine Kunstpause, »Tatortbesichtigung im Chalet Esmeralda!«

Nach fünfundvierzig Jahren wird da kaum mehr viel von früher sein, befand Libby.

Die anderen brachen jedoch in begeisterte Kommentare aus, und Esme musste sich für den Schluss Gehör verschaffen. »Am Samstag besuchen wir die Dorfpolizei, wo wir Akteneinsicht bekommen. Und wir dürfen beim Eröffnungs-Aperitif für die Britischen Wochen dabei sein. Am Sonntag gebt ihr live auf Sendung eure Theorie bekannt, das Radiopublikum stimmt ab, und das Siegerteam bekommt – tadaaa! – ein Wochenende im Palace!«

Jubel brandete auf. Diese Aussicht spornte den Wettbewerbsgeist an.

»Sollen wir uns zusammentun?«

Helen, frisch in Rente und wie Libby eine langjährige Hörerin des Krimiklubs, boxte ihr in die Seite. »Ich sehe es vor mir: die Alters-WG in der Luxussuite!«

»Tut mir leid, ich bin mit der Jugend unterwegs«, erwiderte Libby.

»Gstaad!«, ertönte die Durchsage.

Libby raffte ihr Lodencape, während Noah, bereits in der Windjacke, von seinem Handy ablas. »Tonino hat geantwortet. Du sollst ihn gleich treffen. In der Fromagerie. Was ist das, Tante Andersch?«

»Sind wir zwei Detektive oder nicht? Finden wir natürlich heraus.«

Libbys Blick blieb an Nils hängen, der zum Fenster hinausstarrte, als hätte er etwas unheimlich Interessantes entdeckt. Dabei war es nur ein frisch umgebautes Chalet aus Glas und Holz. »Kronenberg Architektur«, stand auf der Scheibe.

Sollte ich ihn mit der Erwähnung eines Architekten inspiriert haben?, fragte sich Libby und merkte sich den Namen.

Ihre zierliche Armbanduhr besagte, dass es kurz nach dreizehn Uhr war. Da erblickte sie das Hotel Palace. Es thronte hoch über dem Dorf auf einem Hügel und war eingerahmt von Tannen und dem Berg dahinter. Mit seinen Zinnen und den sechs Türmen sah es aus wie ein Märchenschloss. Die Flaggen wehten im Wind, die Berner, die Schweizer und die britische. In dem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne, und ein Schatten legte sich über die Fassade.

3

Die Organisation hatte an alles gedacht, nur nicht daran, dass die älteste Wettbewerbsteilnehmerin eine steife Hüfte hatte, nachdem sie mehrere Stunden sitzend in Zügen verbracht hatte. Während Noah mit der Gruppe zügig über die geräumte Dorfpromenade davonstapfte, hielt Libby Ausschau nach einer Fahrgelegenheit. Bei der Haltestelle fuhr der Shuttlebus zum Hotel gerade los, sie sah nur noch das Schlusslicht. In einer halben Stunde wieder, hieß es, sie könne auch weiter vorn an der Promenade einsteigen, beim Palace Viewpoint, der sei nicht zu übersehen.

»Unser Dorfplatz.«

Die Promenade war ein breiter, von lauter Chalets gesäumter Weg, der sich durchs Dorf zog. Er war autofrei und vom Schnee befreit, das Kopfsteinpflaster wirkte, als ob es jeden Abend geschrubbt würde. Trotz bestem Skifahrwetter spazierten hier kurz nach Mittag chic gekleidete Paare mit Mützen und Mänteln oder Familien mit kleinen Kindern umher. Sprachen aller Art waren zu hören, Englisch herrschte vor, ab und zu gab es auch Berner Dialekt. In den Schaufenstern wurde Mode und Handwerkskunst dargeboten, selbst der übliche Touristenramsch wie Regenschirme und Dächlikappen war von edelster Anfertigung. Die Restaurants waren sehr gut besetzt, die Preise, die Libby von den diskret hinter Glas ausgestellten Speisekarten ablas, befanden sich im oberen Segment.

Von den beiden Juweliergeschäften, an denen sie vorbeikam, trug keines den Namen Split. Dafür fand Libby einen Souvenirladen, der mit »Spychiger« angeschrieben war, der Name, der im Hörspiel eine Rolle spielte. Sie beschloss, sich da zu erkundigen – die Einheimischen waren immer die beste Auskunftsquelle.

Beim Eintreten spielte die Klingel eine Melodie. Der niedrige Verkaufsraum sah gemütlich aus. Neben einem Ständer mit handgeschnitzten Saanengeissli gab es Trachtenschmuck, darunter Broschen.

Libby trat näher. Sie liebte Broschen. Am Revers getragen gaben sie einem das gewisse Etwas, den Glanz, die diskrete Vollendung. Eine der Broschen zeigte sogar das Motiv des Palace, sie war die schönste von allen. Nicht ganz billig, einen Kauf müsste sie sich gut überlegen.

Libby schaute sich weiter um. Dabei fielen ihr bunte Mützen ins Auge, für diejenigen, die lieber selbst strickten, gab es eine Auswahl an Wolle. Sie fühlte sich leicht an, als Libby ein Knäuel in die Hand nahm, sie spürte förmlich, wie sich der Faden um die Nadeln schlingen würde.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte ein magerer Herr, mit den Zähnen und dem Parfum eines Kettenrauchers, in einem melodischen Berner Dialekt.