Engadiner Knochenbruch - Gian Maria Calonder - E-Book

Engadiner Knochenbruch E-Book

Gian Maria Calonder

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Beschreibung

Massimo Capaul hat seiner Ziehtochter Lisa versprochen, mit ihr Ski zu fahren. Und was man einer Sechsjährigen verspricht, muss man halten! An der Talstation der Furtschellas-Bahn in Sils Maria herrscht gähnende Leere: Das Wetter ist umgeschlagen. Auf der Piste sehen Capaul und Lisa kaum mehr die eigenen Skispitzen. Doch ehe Capaul einen Rückzieher machen kann, ist Lisa schon hinter der ersten Bergkuppe verschwunden, und ihm bleibt nichts anderes übrig, als ihr mit zittrigen Knien hinterherzurutschen. Es kommt, wie es kommen muss: Die Sicht wird immer schlechter, Capaul und Lisa verirren sich. Zum Glück entdecken sie nur wenig später eine abgelegene Hütte, in der sie auf besseres Wetter warten. Es gibt Wolldecken der Schweizer Armee, einen Vorrat an Kerzen und Holz. So weit, so idyllisch. Bis Lisa anfängt, neben der Hütte eine Höhle zu graben – und eine Hand findet. Capaul will sich gar nicht ausmalen, was der Schnee noch alles verborgen hält! Schließlich hat er während seiner kurzen Karriere als Polizist im Oberengadin nicht nur einmal sein außergewöhnliches Talent unter Beweis gestellt, in ungelöste Mordfälle zu geraten …

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Gian Maria Calonder

Engadiner Knochenbruch

Ein Mord für Massimo Capaul

Roman

Kampa

I

Noch im alten Jahr hatte Massimo Capaul seinem frisch zugeflogenen Ziehkind Lisa versprochen, Ski fahren zu gehen. Danach geschah allerdings so vieles, dass sein Versprechen in Vergessenheit geriet. Das heißt, von Zeit zu Zeit fiel es ihm wieder ein, aber er fand auch zuverlässig gute Gründe, es zu vertagen. Bis Ostern vorbei war, die Krokusse blühten und sich mit der Schneeschmelze auf den weiten Wiesen des Oberengadins auch ihre Verabredung in Wohlgefallen auflöste.

Hatte Capaul gedacht. Doch dann rief Marion ihn an. »Was man einer Sechsjährigen verspricht, muss man auch halten«, erklärte sie streng, »und morgen fährt die Furtschellas-Bahn zum letzten Mal in diesem Winter.«

Er versuchte sich herauszureden. »Lisa hat das doch längst vergessen.«

»Du hast keine Ahnung. Beim Einschlafen hat sie drei Lieblingsthemen: ein neuer Fernsehauftritt mit Ricki, Umbertos Spaghettileiter zu ihrer Mama in den Himmel und euer Skiausflug.«

»Wer ist Umberto?«, versuchte Capaul abzulenken, doch Marion fiel nicht darauf rein.

»Es ist wirklich keine große Sache, Massimo. Einmal rauf zur Bergstation, dort etwas rumrutschen, Pommes und Doughnuts auf der Aussichtsterrasse und wieder runter. Es würde ihr viel bedeuten.«

»Ich habe überhaupt keine Skiausrüstung.«

»Kannst du dort mieten.«

»Na schön.« Er seufzte. »Aber wenn ich mir was breche, war es das letzte Mal.«

Marion musste lachen. »Sag nur, du kannst überhaupt nicht Ski fahren?«

»Nicht gar nicht, aber schlecht. Ich bin ein Stadtkind.«

»Vorstadtkind«, korrigierte sie spöttisch. »Oder nicht mal das, tiefste Agglo.«

Was sollte er darauf erwidern? Sie hatte recht, er kam aus Zürich Leimbach: eine Reihe Wohnblocks und zwei Supermärkte.

Die Skiausrüstung zu organisieren, wurde dann doch etwas komplizierter. Im Sportgeschäft in Sils Maria nahm keiner das Telefon ab, und als er Jon Luca anrief, seinen früheren Polizeikollegen, schnaubte der gereizt und sagte: »Ich mochte dich mal wirklich gut leiden, Massimo. Aber ich bin kein Selbstbedienungsladen. Du lässt dich bei uns anstellen, bringst alles durcheinander, verschwindest wieder. Kommst zurück, bringst wieder alles durcheinander, verschwindest. Was willst du diesmal?«

»Immerhin hatten wir zusammen ein paar heftige Erlebnisse«, erinnerte ihn Capaul. »Und dass ich nicht mehr bei euch bin, hat auch mit Gisler zu tun.« Gisler war der Polizeikommandant. »Schön, ich habe mich ein-, zweimal verrannt, aber hätte er ein bisschen mehr Wohlwollen gezeigt, wäre ich vielleicht noch bei euch.«

»Oh nein, das lasse ich nicht gelten. Gisler war irgendwann der Letzte, der sich noch für dich starkgemacht hat. Doch plötzlich war die Rede von irgendwelchen einflussreichen Freunden, die deine Ausbildungsschulden begleichen, und dein Name war aus den Dienstplänen gestrichen.«

»Na schön. Sagen wir, ich bin dem Job nicht gewachsen. Die Toten machen mir nichts aus. Aber die, die wir ins Kittchen bringen, sind doch meist nur arme Schweine, während die, die wirklich Dreck am Stecken haben, fein raus sind.«

Jon Luca stutzte. »Was willst du damit sagen? Hat dich jemand geschmiert?«

Capaul wurde rot. »Mich? Ich rede doch nicht von mir! Und ich will mich jetzt von dir auch nicht ins Kreuzverhör nehmen lassen. Ich habe in den letzten Monaten gelernt, dass Recht und Gerechtigkeit zwei Paar Schuhe sind, das ist alles, was ich sagen wollte. Und dass ich nicht mehr bei euch bin, hat den einfachen Grund, dass Meta ihrer Mama quasi auf dem Sterbebett versprochen hat, sich nicht mit einem Polizisten einzulassen.«

»Aha«, sagte Jon Luca nur. »Jetzt hast du mir innerhalb von zwei Minuten drei verschiedene Gründe genannt, wieso du abgehauen bist. Dabei belassen wir es jetzt besser. Und apropos zwei Paar Schuhe: Ich habe Größe 46, meine Skischuhe sind dir mindestens zwei Nummern zu groß, tut mir leid.« Damit legte er auf.

Es stellte sich dann aber heraus, dass Metas verstorbener Sohn Cla dieselbe Schuhgröße gehabt hatte wie Capaul, und Meta meinte, die zwanzig Kilo, die Capaul schwerer sei, würden sich dadurch ausgleichen, dass Cla ein Rabauke auf den Skiern gewesen war und einer der Schnellsten seines Jahrgangs. »So einer«, sagte sie, »belastet die Bindung natürlich ganz anders als ein Anfänger.«

Das ließ Capaul nicht auf sich sitzen. Er bat sie um einen Schraubenzieher und hantierte an der Bindung, wie er es als Teenager einem professionellen Servicemann abgeguckt hatte, während er auf Gutdünken mit Wörtern wie Anpressdruck und Z-Wert um sich warf.

Auch Clas Jacke, Mütze und Handschuhe passten, nur die Hose war zu eng. Doch Capaul hatte ja noch die Geländehosen aus seiner Zeit bei der Polizei.

Für Lisa hatte Marion im Outlet einen viel zu dick gepolsterten pinkfarbenen Einteiler gekauft, in dem sie aussah wie ein Plüschhase. Die widerspenstigen schwarzen Locken standen fast waagrecht unter einem neongelben Skihelm ab, und die verspiegelte Skibrille trug die Aufschrift Love my mum. Wie eine Kanonenkugel schoss sie »Papa« schreiend aus der Tür, als Capaul am nächsten Morgen um acht Uhr bei ihr vorfuhr und kurz hupte.

Marion und er brauchten danach eine Weile, um bei laufendem Motor im Fond seines antiken Chrysler Imperial den Kindersitz zu installieren, dann musste Lisa nochmals aufs Klo.

So wurde es neun, bis sie die Talstation der Furtschellas-Bahn in Sils Maria erreichten. Capaul rechnete zum Saisonende mit einer langen Schlange von Ausflüglern und warnte Lisa schon vor, dass sie womöglich oben gleich zu Mittag essen und erst danach kurz rutschen würden.

Doch an der Talstation waren sie die einzigen Gäste.

Nachdem der Bediener der Sesselbahn Lisa in den Sitz gehoben und die Blende geschlossen hatte, rief er ihnen gegen das Kollern und Rollen des Stahlseils auf den Führungsrollen zu: »Übrigens, die letzte Bahn fährt heute früher.«

»Zu wenig Betrieb?«, rief Capaul zurück.

Der Mann zeigte himmelwärts. »Kein Wetter.«

Damit rollten sie mit einem letzten Tosen aus dem Stationshäuschen und baumelten gleich darauf im Freien, nurmehr begleitet von einem feinen Surren.

Capaul sah hoch, der Mann hatte recht. Frühmorgens, während seiner Fahrt von Lavin ins Oberengadin, hatte ihm noch ein vergissmeinnichtblauer Himmel zugelacht, die Berggipfel hatten geleuchtet wie Kinderwangen. Nun verschwamm alles in einem diffusen Matschweiß. Man konnte nicht einmal mehr erkennen, wo der Skihang aufhörte und die Wolkendecke begann.

 

Um halb zehn erreichten sie die Bergstation, und Capaul fragte sich, wie sie die Zeit bis zum Mittagessen totschlagen sollten. Er hätte gern vorgeschlagen, dass sie sich als Erstes im Restaurant mit einem Nussgipfel und heißem Kakao stärkten, doch Lisa gab ihm dazu keine Gelegenheit.

Mit einem fröhlichen »Hui!« sprang sie regelrecht von der Gondel, sobald die Blende aufging, sauste in einer Art Stemmbogenhocke die Rampe hinab, dann bog sie scharf rechts ab und verschwand hinter einer Kuppe.

Sie fuhr ohne Stöcke. Im Auto hatte sie ihm erklärt, dass man das in der Skischule so machte. Capaul verfluchte sich dafür, dass er bei der Talstation in einer Anwandlung von Solidarität beschlossen hatte, seine ebenfalls im Kofferraum zu lassen, denn die Skier von Cla waren nicht zu vergleichen mit den billigen Auslaufmodellen, die er bisher gefahren war. Es handelte sich, wie er gleich schmerzhaft zu spüren bekam, um Rennskier mit aalglattem Belag und messerscharfen Kanten. Geradeaus beschleunigten sie in Sekunden von null auf hundert, und wollte er sie, um zu bremsen, auch nur ein bisschen quer stellen, fraßen sie sich gleich tief in den Schnee. Capaul überschlug sich, und natürlich sprang die Bindung auf. Meist an beiden Skiern. Manchmal auch einfach so. Danach musste er zurückkraxeln, die Skier wieder einsammeln und anziehen, am Hang und ohne Stöcke für Capaul eine fast unüberwindbare Aufgabe.

Jedenfalls brauchte er allein bis zu jener Kuppe gleich am Ende der Skiliftrampe eine gute Viertelstunde, und als er sie endlich erreichte, war Lisa nicht mehr zu sehen. Schimpfend nahm er ihre Spur auf, das heißt, er rutschte mehr, zur Sicherheit immer mit einer Hand im Schnee. Die Spur führte pfeilgerade in die Tiefe. Endlich entdeckte er Lisa, wie sie mit glühenden Backen, das Gesicht nass von Schneestaub, auf einer kleinen Erhöhung saß und ihn anstrahlte.

Während er sich ihr in kleinen Etappen näherte, die jäh endeten, sobald er wieder die Führung der Skier verlor – weil einer von ihnen sich selbständig machte und ihn aus dem Gleichgewicht riss, oder weil ihm nach einem Schlag die Bindung aufsprang –, rief sie ihm ein paarmal etwas zu. Doch erst als er bei ihr war, verstand er sie.

»Papa, du hast da oben was verloren.«

Er blickte zurück und erahnte etwas Kleines, Schwarzes. Ein Griff an die Jackentaschen bestätigte ihn darin, dass es sich um seinen Autoschlüssel handelte.

Mit Mühe verkniff er sich ein Kraftwort. »Dann müssen wir wieder hoch. Wir müssen sowieso wieder hoch, wir sind hier auf der falschen Seite.«

»Wieso falsch?«, fragte Lisa. »Hier ist es doch schön. Nur bist du schrecklich langsam.«

»Also komm«, sagte er nur. »Zur Belohnung gibt es Nussgipfel und Kakao.«

»Ich habe überhaupt noch keinen Hunger.«

»Egal, den Schlüssel brauchen wir auf alle Fälle. Wie sollen wir sonst nach Hause kommen?«

»Mit dem Zug.«

»Von Sils Maria fährt kein Zug«, antwortete er spitzfindig.

»Aber bestimmt ein Bus. Und wir müssen ja nicht zurück zu diesem Sils Maria. Wenn wir weiterfahren, ist da bestimmt irgendwann ein Zug.«

Capaul wandte sich um und stieg wieder den Hang empor. Allerdings hatte es inzwischen zu schneien begonnen, die Sicht reichte nur noch ein paar Meter weit. Er fand die Stelle nicht mehr, und als er zurückschaute und Lisa zurief: »Siehst du den Schlüssel?«, schüttelte sie den Kopf.

»Vielleicht war es gar nicht dein Schlüssel«, rief sie, »ich glaube, den hast du stecken lassen. Vielleicht war es nur deine Geldtasche.«

Er verdrehte die Augen und suchte noch ein paar Minuten lang weiter, dann stieg er wieder zu ihr ab. »Brieftasche heißt das, und da sind alle meine Ausweise drin.«

Das beeindruckte Lisa wenig. »Fahren wir jetzt weiter? Ich habe schon einen ganz kalten Hintern.«

»Ja, aber fahr mir nicht wieder davon, wir müssen immer in Blickkontakt bleiben. Weißt du, was das heißt?«

Sie nickte. »Aber wie soll das gehen, bei dem vielen Schnee?«

Lisa hatte recht, inzwischen fiel der Schnee in so dichten, großen Flocken, dass sie kaum bis zu den Skispitzen sahen. Er verklebte auch andauernd die Brille.

»Am besten geben wir uns die Hand«, schlug Capaul vor, und das versuchten sie auch, aber so lag einer von ihnen immer wieder im Schnee, meist alle beide.

»Papa, ich habe eine bessere Idee. Wenn wir ganz gerade runtersausen, geht es am schnellsten, außerdem finden wir uns ganz leicht wieder, weil ganz gerade runter geht es ja nur einmal, also kann man sich da nicht verfehlen.«

»Und wenn zuunterst eine Schlucht ist?«

»Oh«, sagte Lisa erschrocken, und die nächsten Meter rutschte sie doch lieber auf dem Hintern. Dann fiel ihr ein: »Wenn du ein Seil hättest, könntest du mich runterlassen. Wie in Pippi in Taka-Tuka-Land. Du weißt schon, die Kirchturmspitze.«

»Wir haben aber kein Seil. Und auch keine Kirchturmspitze.«

»Stimmt. Dann rutschen wir eben weiter.«

Und das taten sie denn auch so lange, bis sie einen Wald erreichten.

»Hurra, hier ist bestimmt eine Hütte«, rief Lisa. »Im Wald steht immer eine Hütte.«

»Ja, und in der Hütte lebt eine Hexe«, bemerkte Capaul grantig.

Lisa sah ihn ernst an. »Das macht mir nichts aus, weil ich nämlich weiß, wie man eine Hexe verbrennt.«

»Ach ja. Und wie?«

»Du musst nur darauf warten, dass sie Feuer macht, um dich zu braten, dann schubst du sie rein. So einfach ist das.«

Sie zogen die Skier aus und marschierten in den Wald hinein. Die Skier benutzten sie wie Stöcke. Manchmal mussten sie über abgebrochene Äste kraxeln.

»Da«, rief Lisa nach einem Weilchen. Irgendwie waren sie wieder an den Waldrand geraten, und auf der Wiese dahinter stand tatsächlich eine kleine Hütte mit Flachdach und Wänden aus gewelltem Eternit. Lisa ließ sofort die Skier fallen und stapfte hin. Kaum trat sie unter den Bäumen hervor, reichte der Schnee ihr schon wieder bis zur Hüfte. Capaul sammelte ihre Skier ein, dann folgte er ihr.

»So ein Mist«, rief sie und rüttelte vergeblich an der Tür. »Müssen wir jetzt einbrechen?«

Capaul sah sich erst nach einem geeigneten Versteck für einen Schlüssel um, tastete den Türbalken ab und versuchte, die vereiste Bodenplatte anzuheben, allerdings ebenfalls umsonst. Zuletzt rüttelte er selbst an der Tür, und sie ging auf.

»Sie hat nur geklemmt.« Er ging hinein und betätigte den Lichtschalter, es blieb dunkel. »Entweder gibt es irgendwo einen Generator oder einen Hauptschalter, das finden wir noch raus. Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.«

Am Griff des einzigen kleinen Fensters hing eine Solarlampe in Form einer kleinen Sonne, die funktionierte. In ihrem Licht erkundeten sie den Raum. Es war wohl eine Jagdhütte, an zwei Wänden stand je eine Pritsche mit einer Wolldecke der Schweizer Armee, an der dritten befand sich ein Kelko-Tisch mit drei Stühlen, in dessen Schublade sie Wanderkarten fanden, Spielkarten, ein Buch über Erste Hilfe, das noch ungelesen schien, und einen Vorrat an Kerzen. Außerdem war da noch ein kleiner Kochherd zum Einfeuern samt Holzvorrat, ein Garderoben- oder vielleicht auch Gewehrständer und ein kleiner Hängeschrank mit den gröbsten Kochutensilien: Beutelsuppe, Nudeln, Reis, Polenta und eine Kilopackung Billigschokolade.

»Hier halten wir eine Weile durch«, stellte er fest.

»Nur Wasser gibt es nicht«, sagte Lisa. »Und auch kein Klo.«

Sie gingen wieder hinaus und hinter die Hütte, wo sie eine Latrine und einen Brunnen fanden, der allerdings versiegt war. Capaul holte einen Topf, um ihn mit Schnee zu füllen. Inzwischen war Lisa auf einen Schneehügel geklettert, der fast bis zum Dach hochreichte, und versuchte herunterzurutschen. Der neue Schnee war jedoch zu weich.

»Wir müssten den Hügel vereisen«, erklärte er, »aber dazu bräuchten wir Unmengen Wasser. So viel können wir gar nicht schmelzen.«

»Wir können hier aber eine Höhle graben, oder?«, fragte Lisa. »Und dann Hänsel und Gretel spielen? Die Höhle ist der Käfig.«

»Ja, wenn wir eine Schaufel hätten.«

»Da«, sagte Lisa nur und zeigte zurück zum Waldrand, wo an einem mit Planen geschützten Stapel Brennholz eine Schneeschaufel lehnte. In einem Hauklotz steckte eine große Axt.

»Später«, sagte Capaul, »erst kochen wir Tee. Oder noch besser eine Suppe.«

Das Feuer wärmte die Hütte sehr schnell auf, und Lisa wurde müde. Während sie ein Schläfchen machte, ging Capaul mit dem Handy wieder vors Haus, um Empfang zu suchen. Der Schnee fiel noch immer in märchenhaft dicken Flocken, er hatte kaum Sicht und wagte sich nicht weit von der Hütte fort. So fand er nirgends Empfang.

Als er zurückkam, saß Lisa, nur noch mit langen roten Strumpfhosen und einem grünen Thermoleibchen bekleidet, am Tisch und schichtete aus einer Handvoll Spaghetti eine Art Hütte ohne Dach auf.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie, sobald sie ihn bemerkte, sprang auf und schlüpfte mit angestrengt vorgeschobener Zunge wieder in den pinkfarbenen Skianzug. »Jetzt bauen wir die Höhle.«

Während Capaul sagte: »Eine Höhle baut man nicht, man gräbt sie«, dachte er, dass es jetzt vier Uhr war und ihnen also noch vielleicht drei Stunden blieben, bis es Abend wurde. Dann kamen sie hier nicht mehr weg.

Doch Lisa rannte bereits, um die Schneeschaufel zu holen, und brachte außerdem einen kleinen klappbaren Spaten zurück, den sie hinterm Hauklotz gefunden hatte. »Hier, Papa.« Sie drückte ihm den Spaten in die Hand. »Jetzt zeige ich dir, wo die Tür hinkommt, und du gräbst.«

»Eine Höhle hat keine Tür«, sagte er murrend, dann begann er folgsam zu graben. Erst räumte er mit der großen Schaufel die pulverige Schicht Neuschnee weg, danach hackte und schlug er mit dem Spaten ein Loch bis ins Innere jenes Hügels, der offenbar dadurch entstanden war, dass jemand früher im Winter den Schnee vom Flachdach geschöpft hatte. Deshalb handelte es sich auch um keine homogene Schneemasse, sondern um kreuz und quer liegende, ineinander verkeilte Eisplatten, angetauten Schneematsch wohl, der später auf dem Dach wieder gefroren war, und unter jeder dieser Eisplatten klebte ein schwerer Klumpen Harsch. Mit seiner ganzen Kraft schlug Capaul Scholle um Scholle frei und schob sie hinter sich, wo Lisa sie mit beiden Händen packte und noch weiter aus dem Weg zu räumen versuchte.

Die Anstrengung wirkte befreiend, nach ein paar Minuten waren beide nassgeschwitzt und hielten keuchend und lachend inne.

Lisa nutzte die Gelegenheit, um zu fragen: »Bleiben wir eigentlich bis morgen?«

Capaul nickte. »Müssen wir wohl. Es sei denn, sie finden uns noch. Oder es klart noch auf.«

»Wer findet uns?«

»Vielleicht hat der Mann vom Skilift Alarm geschlagen, als wir nicht zurückgefahren sind. Ich glaube aber kaum.«

»Ich auch nicht«, sagte Lisa altklug. »Und es ist viel schöner, wenn wir hierbleiben.«

»Aber Marion und Meta werden sich furchtbar sorgen.«

Lisa dachte kurz nach, dann sagte sie: »Wirklich etwas passieren kann uns aber nicht, oder?«

»Nein«, sagte er.

»Dann grab jetzt weiter, damit wir in der Höhle sogar schlafen können.«