Engelchen mit dem B davor - Britta Frey - E-Book

Engelchen mit dem B davor E-Book

Britta Frey

0,0

Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Gisela und Frank waren stolz auf ihre beiden Kinder. Eva war ein zierliches Mädchen mit langen goldblonden Haaren. Sie war ein immer fröhliches, elf­jähriges Mädchen, das für die über alles geliebte Oma Herta Porten das Engelchen war. Etwas derber dagegen war Lars. Er war zwei Jahre jünger als Eva, ein rothaariger Krauskopf, das Gesicht mit unzähligen Sommersprossen übersät. Ja, Gisela und Frank Porten waren stolz auf ihre beiden Rangen, obwohl es nicht ihre leiblichen Kinder waren. Da Gisela keine eigenen Kinder hatte bekommen können, wurden Eva und Lars als Kleinkinder adoptiert. So war in dem hübschen Reihenhaus der Familie Porten in dem kleinen Städtchen Gifhorn das Glück zu Hause. Aber das Glück war nicht für immer in das kleine Haus eingekehrt. Dunkle Wolken begannen ganz allmählich dieses schöne Glück zu trüben. Es begann an einem wunderschönen Sommertag, als sich alles veränderte. »Oma, Oma, fährst du heute mit uns mit?« wollte Eva wissen und sah Herta Porten bittend an. »Wohin denn, Engelchen?« fragte diese sanft. »Aber Oma, Mutti hat doch schon gestern gesagt, daß wir alle zusammen heute eine Fahrt ins Blaue machen. Mit Picknick. Du hast doch selbst gestern abend mit der Mutti ganz viele Frikadellen und Hähnchenkeulen gebraten. Lars und ich, wir freuen uns schon ganz riesig.« »Das sollt ihr auch, Engelchen, und natürlich komme ich mit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 144

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kinderärztin Dr. Martens – 70 –

Engelchen mit dem B davor

Britta Frey

Gisela und Frank waren stolz auf ihre beiden Kinder. Eva war ein zierliches Mädchen mit langen goldblonden Haaren.

Sie war ein immer fröhliches, elf­jähriges Mädchen, das für die über alles geliebte Oma Herta Porten das Engelchen war. Etwas derber dagegen war Lars.

Er war zwei Jahre jünger als Eva, ein rothaariger Krauskopf, das Gesicht mit unzähligen Sommersprossen übersät.

Ja, Gisela und Frank Porten waren stolz auf ihre beiden Rangen, obwohl es nicht ihre leiblichen Kinder waren. Da Gisela keine eigenen Kinder hatte bekommen können, wurden Eva und Lars als Kleinkinder adoptiert.

So war in dem hübschen Reihenhaus der Familie Porten in dem kleinen Städtchen Gifhorn das Glück zu Hause.

Aber das Glück war nicht für immer in das kleine Haus eingekehrt. Dunkle Wolken begannen ganz allmählich dieses schöne Glück zu trüben.

Es begann an einem wunderschönen Sommertag, als sich alles veränderte.

*

»Oma, Oma, fährst du heute mit uns mit?« wollte Eva wissen und sah Herta Porten bittend an.

»Wohin denn, Engelchen?« fragte diese sanft.

»Aber Oma, Mutti hat doch schon gestern gesagt, daß wir alle zusammen heute eine Fahrt ins Blaue machen. Mit Picknick. Du hast doch selbst gestern abend mit der Mutti ganz viele Frikadellen und Hähnchenkeulen gebraten. Lars und ich, wir freuen uns schon ganz riesig.«

»Das sollt ihr auch, Engelchen, und natürlich komme ich mit. Ich werde doch wohl nicht allein zu Hause bleiben. Es wird ganz bestimmt ein wunderschöner Tag. Jetzt geh und weck den Lars, damit wir alle beizeiten frühstücken können. Mutti ist schon in der Küche, und der Vati ist zum Tanken gefahren.«

»Lars ist schon wach, Oma. Er ist sogar schon angezogen. Wir konnten beide nicht mehr schlafen.«

»Fein, Engelchen, dann sag jetzt deinem Bruder Bescheid und kommt in die Küche hinunter. Wir warten auf euch. Inzwischen kommt bestimmt auch der Vati zurück.«

Ein weiches Lächeln lag um Gisela Portens Lippen, als sie einige Minuten später auf ihre beiden Rangen sah, die ganz kribbelig vor lauter Freude und Erwartung auf Frank sahen, bis Lars herausplatzte und fragte: »Nun sag doch endlich, Vati, wo fahren wir denn heute hin?«

»Wird nicht verraten, mein Junge. Es soll doch eine Fahrt ins Blaue sein. Wir fahren einfach los, und wo es uns gefällt, da bleiben wir eben. Alles klar?«

»Ja, Vati, ich habe ja auch nur gefragt. Wann fahren wir denn endlich?«

»Wenn wir mit dem Frühstücken fertig sind.«

»Wir sind doch aber schon fertig, Vati«, sagte nun Eva, und ihre blauen Augen strahlten den Vater an.

»Gut, wenn ihr fertig seid, holt euch noch rasch eure Strickwesten. Man kann ja nicht wissen, ob das Wetter nicht plötzlich umschlägt.«

Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Im nächsten Moment waren sie aus der Küche verschwunden.

»Ist es nicht schön zu sehen, wie sehr sich unsere Kinder freuen?« fragte Frank und zwinkerte Gisela und seiner Mutter verstohlen zu.

Der Tag war so schön, wie es sich ihn die Familie gewünscht hatte, auf jeden Fall bis in die frühen Nachmittagsstunden. Franks letztes Ziel war das Steinhuder Meer gewesen, ein herrlicher Sommerspaß für Lars und Eva. Am meisten freuten sie sich darauf, mit ihrem Vati und ihrer Mutti eine Bootsfahrt machen zu dürfen. Nachdem sie sich noch einmal gestärkt hatten, sollte es losgehen. Frank versuchte noch einmal, seine Mutter zum Mitkommen zu bewegen, doch sie sagte abwehrend: »Zieht ihr nur allein los, ich bleibe hier und strecke mich ein Stündchen auf der Decke aus. Eine Bootsfahrt ist nichts für mich alte Frau. Du kennst mich doch, ich bin in meinem ganzen Leben noch nie gern auf dem Wasser gewesen.«

»Wie du meinst, Mutter, wir wollen dich nicht bedrängen. Es wird aber ein Weilchen dauern, bis wir wieder zurückkommen. Da wir einmal hier in der Gegend sind, wollen wir das auch ausnutzen.«

»Ich wünsche euch viel Vergnügen. Aber seid bitte vorsichtig.«

»Keine Bange, Mutter. Mach’s gut und ruh dich inzwischen aus.«

»Tschüß, Oma.« Eva mußte die Oma noch rasch umarmen und ihr einen Kuß auf die Wange drücken.

»Tschüß, mein Engelchen, tschüß, Lars. Hört schön auf Vati und Mutti.«.

»Machen wir doch immer, Oma«, rief Eva über die Schulter zurück und eilte mit Lars schon vor Frank und Gisela her.

Niemand hatte darauf geachtet, daß die Sonne nicht mehr so vom Himmel herabstrahlte wie noch während der Mittagszeit.

Herta Porten, die sich hingelegt hatte und eingeschlafen war, schreckte irgendwann durch ein polterndes Geräusch hoch. Einen Moment war sie wie benommen, dann sah sie bestürzt, daß sich der Himmel inzwischen mit dunklen Gewitterwolken überzogen hatte. Da war es auch schon wieder, das grollende Geräusch, durch das sie geweckt worden war. Erschrocken sah sie auf die Uhr. Fast eineinhalb Stunden waren inzwischen vergangen, seit ihre Familie weggegangen war. Frank würde bestimmt vernünftig sein und rechtzeitig mit seinen Lieben ans Ufer zurückkehren. Als nun auch die ersten Regentropfen auf ihr Haar tropften, räumte sie rasch alles zusammen und verstaute die Sachen im Wagen. Kaum war sie damit fertig, öffnete der Himmel auch schon seine Schleusen. Es goß wie aus Eimern, und nur wenige Minuten später war der Himmel fast schwarz, und ein starker, böiger Wind setzte ein.

*

Was Herta nicht wußte, war, daß das Gewitter so rasch aufgezogen war, daß es auch Frank und seine Familie überrascht hatte. Als es anfing wie aus Eimern zu gießen, waren sie noch ein ganzes Stück vom Ufer entfernt. Eva und Lars machte es sogar noch Spaß, nur Gisela fühlte sich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Sie trieb Frank zur Eile an. Das Wasser schlug auf einmal hohe Wellen, auf denen das schmale Ruderboot wild hin und her zu schaukeln begann. Frank ruderte zwar angestrengt, und es waren auch nur noch etwa zwanzig Meter bis zum Ufer. Er konnte es nicht verhindern, daß das Boot plötzlich von einer Sturmböe erwischt wurde und umschlug. Nur mit großer Mühe erreichten sie das Ufer. Frank fühlte sich völlig ausgepumpt, dagegen ging es Lars und Eva recht schnell wieder besser. Und als sie sich alle einigermaßen gefaßt hatten, schlugen sie den Weg zum Auto ein. Frank wollte zuerst Gisela und die Kinder zum Wagen bringen, um danach noch einmal zum Bootsverleih zurückzugehen. Die Sache mit dem umgeschlagenen Boot, das sich noch immer auf dem Wasser befand und irgendwo herumtrieb, mußte geregelt werden. Für die Kinder war der Ausgang des Ausflugs ein aufregendes Abenteuer, zumal es ja auch für alle glimpflich ausgegangen war. Aber es sah zunächst nur so aus. Während die beiden Kinder sich nur einen leichten Schnupfen zuzogen und Frank völlig in Ordnung war, konnte Gisela das Bett am nächsten Morgen nicht verlassen. Gisela hatte schon am frühen Morgen ziemlich hohes Fieber. Herta Porten versuchte mit allerlei alten Hausmitteln das Fieber zu senken, aber es war alles vergeblich. Bis zum Mittagessen stieg die Temperatur so hoch, daß Frank nichts anderes übrig blieb, als den Notarzt kommen zu lassen.

Auf Zehenspitzen schlichen Eva und Lars durch das Haus. Es war das erste Mal, daß sie ihre Mutti so krank erlebten. Das ernste Gesicht des Vatis machte ihnen auf einmal große Angst.

Eva wollte sich gerade ins Elternschlafzimmer schleichen, um nach ihrer geliebten Mutti zu sehen, als der Notarzt eintraf.

»Geh in dein Zimmer, Engelchen, und warte dort mit Lars, bis ich euch hole. Zur Mutti kannst du jetzt nicht. Du siehst ja, daß der Doktor gerade gekommen ist. Ihr zwei müßt jetzt ganz brav sein, dürft nicht stören.«

»Ist die Mutti denn sehr krank, Oma?« fragte Eva mit zitternder Stimme und sah Herta Porten ängstlich an.

»Wir wissen es noch nicht. Geh jetzt zu Lars. Im Augenblick habe ich keine Zeit für euch. Und keine Angst, der Doktor wird eure Mutti bestimmt wieder ganz schnell gesund machen.«

Bedrückt schlich das kleine Mädchen hinüber in ihr Kinderzimmer, in dem der jüngere Bruder wartete.

Es kam nicht wieder in Ordnung. Gisela erholte sich nicht mehr, und Frank verlor sie. Es folgte für die Zurückbleibenden eine schwere, schmerzliche Zeit. Es gab für Frank Tage, an denen er glaubte, den herben Verlust nicht verkraften zu können. Aber da waren seine Mutter, da waren vor allen Dingen die Kinder. Die Kinder brauchten ihn in dieser Zeit mehr als je zuvor. Dabei nahm Lars es eigenartiger Weise nicht so schwer wie Eva. Für die Elfjährige war der Verlust am schwersten. Aus dem immer fröhlichen Mädchen wurde in wenigen Tagen ein stilles, scheues Kind, das sich immer mehr abkapselte. Mit zunehmender Sorge beobachtete Herta Porten diese Entwicklung bei Eva. Sie versuchte alles, um beide Kinder auf andere Gedanken zu bringen, sie von ihrem großen Kummer abzulenken, was ihr jedoch nur bei Lars gelang. Wenn sie Eva aufforderte: »Komm, Engelchen, wir gehen ein Stündchen spazieren, draußen ist es so schön«, wehrte das Mädchen lustlos ab.

Als es jedoch immer schwieriger wurde, beschloß Herta Porten ein ernstes Wort über Eva mit Frank zu reden. An einem der Abende, als die Kinder beide schon in ihren Betten lagen und sie noch mit ihrem Sohn zusammensaß, kam sie auch sofort auf dieses Thema zu sprechen: »Ich mache mir große Sorgen um unser Engelchen, Frank. Das Kind hat sich total verändert. Es kann so einfach nicht mehr weitergehen. Siehst du das denn nicht?«

Frank nickte schmerzlich und entgegnete einen Augenblick später mit belegter Stimme: »Natürlich sehe ich, wie sehr Eva Gisela vermißt. Was soll ich dagegen machen? Gisela ist kaum vier Wochen nicht mehr unter uns. Ich kann ja selbst noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Ich tu doch alles für die Kinder. Noch mehr kann ich mich in diesen Tagen einfach nicht mit ihnen befassen. Ich weiß, das Leben muß für uns auch ohne Gisela weitergehen, aber es ist nicht so leicht. Es tut mir in der Seele weh, zu sehen, wie schwer gerade Eva alles nimmt, aber ich kann ihr doch auch nicht helfen.«

»Wir müssen aber einen Weg finden, sonst geht uns das Mädel seelisch zugrunde. Ich habe schon hin und her überlegt. Vielleicht würde unser Engelchen alles nicht mehr so schwer nehmen, wenn es wüßte, daß es nicht euer leibliches Kind ist, Gisela also nicht ihre richtige Mutter war. Was meinst du dazu?«

Ein paar Sekunden starrte Frank seine Mutter völlig entgeistert an, dann platzte es entsetzt heraus: »Um Gottes willen, Mutter. Wie kannst du nur auf diese absurde Idee kommen? Dafür ist Eva mit ihren elf Jahren noch viel zu jung. Sie jetzt in dieser Hinsicht aufzuklären, würde sofort zu einer Katastrophe führen. Ist ihre heile Welt nicht so schon genug zerstört?

Nein, an eine solche Möglichkeit zu denken, das ist doch blanker Irrsinn. Ich könnte die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Der einzige Weg, Eva über den Verlust hinwegzuhelfen, ist, sich noch mehr um sie zu kümmern. Ich bitte dich, tu alles. Ich kann ja eine Frau für die Putzarbeiten einstellen, damit du dir mehr Zeit für Eva und Lars nehmen kannst.«

»Eine Hilfe brauchen wir nicht, ich schaffe es auch so. Es ist nur, ich glaube nicht, daß sich etwas ändert, wenn ich mich noch mehr mit den Kindern befasse. Ich will es jedoch gern versuchen.«

Weder Frank noch seine Mutter ahnten, daß hinter der angelehnten Wohnzimmertür ein vor Entsetzen gelähmtes kleines Mädchen stand und beide Hände auf das wild pochende Herz preßte. Eva hatte nicht einschlafen können und war leise nach unten gekommen, um sich aus dem Kühlschrank ein Glas Milch zu holen, und um noch einmal zum Vati und zu der Oma zu gehen.

Gerade, als sie leise an der angelehnten Tür vorbeischleichen wollte, hörte sie die Oma sagen: »Vielleicht würde unser Engelchen alles nicht mehr so schwer nehmen, wenn es wüßte, daß es nicht euer leibliches Kind, Gisela somit nicht ihre richtige Mutti war…«

Mutti war nicht ihre richtige Mutti, nicht ihre Mutti. Nur noch diese Worte konnte das vor Entsetzen wie gelähmte Mädchen denken. Es wußte nicht, sollte es ins Wohnzimmer laufen oder schnell wieder zurück in sein Zimmer. Es konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen. Wie ein Hammer dröhnte es hinter ihrer Stirn: Nicht meine Mutti, nicht meine Mutti. Nicht mein Vati? Ja, wer bin ich denn dann?

Eva ließ sich von dem, was sie am Abend vorher unfreiwillig gehört hatte, nichts anmerken, als die Oma sie und Lars am nächsten Morgen weckte. Sie hielt das Gehörte wie ein Geheimnis tief in ihrem kleinen Herzen verschlossen.

Herta Porten fiel wohl die unnatürliche Blässe in Evas Gesicht auf, aber sie schob es der ganzen Veränderung zu, die mit dem Mädel vorging. Trotzdem fragte sie liebevoll: »Fühlst du dich heute nicht wohl, Engelchen? Möchtest du heute einmal daheim bleiben und nicht zur Schule gehen?«

»Ich will aber in die Schule gehen«, antwortete Eva, und Herta Porten war nun doch ein wenig erstaunt über den patzigen Ton, mit dem Eva geantwortet hatte. Sie war jedoch viel zu weichherzig, um Eva deswegen zu tadeln. In dieser schlimmen Zeit konnte man nicht ausschließen, daß auch Kinder Gefühlsschwankungen ausgesetzt waren. So entgegnete sie genau so liebevoll wie vorher: »Es ist auch richtig, wenn du in die Schule willst. Da kommst du wenigstens auf andere Gedanken. Und du, Lars, auch schön fleißig sein, hörst du. Ich koche euch zum Mittagessen auch etwas ganz Leckeres.«

»Bin doch immer fleißig, Oma. Wir schreiben heute einen Aufsatz. Hast du unser Pausenbrot schon eingepackt?«

»Natürlich, mein Schatz, alles klar. Wenn ihr eure Milch ausgetrunken habt, wird es auch langsam Zeit für euch, damit ihr nicht zu spät zum Unterricht kommt.«

Wenig später war Herta Porten allein im Haus. Aber sie war sehr nachdenklich, denn zum ersten Mal, soweit sie sich überhaupt erinnern konnte, hatte sich ihr Engelchen nicht mit einem zärtlichen Kuß von ihr verabschiedet.

*

»Engelchen, bringst du mir bitte die Schüssel mit dem Salat in die Küche, die auf der Bank steht?« rief Herta Porten Eva zu, die auf der Terrasse ihre Hausaufgaben machte. Doch nichts rührte sich, Eva reagierte überhaupt nicht auf das Rufen. Noch einmal rief sie, dieses Mal etwas ungeduldiger: »Eva, was ist, warum hörst du nicht?«

»Ich habe keine Lust, Oma, ich muß noch rechnen.«

Herta Porten stutzte und ging zu Eva. Mahnend sagte sie: »Nun hör mir mal zu, Engelchen. Habe ich dir etwas Böses gesagt? Ich habe dich doch…«

»Bin kein Engelchen«, unterbrach die Elfjährige und lief an Herta vorbei ins Haus und hinauf in ihr Zimmer.

Kopfschüttelnd sah Herta hinter der Kleinen her. Es war nicht zu fassen. Das kleine, immer so sanftmütige Kind entwickelte sich von Tag zu Tag immer mehr zu einer Kratzbürste. Eva war manchmal so aggressiv, daß es schon fast in Bösartigkeit ausartete. Das konnte doch nicht allein daran liegen, daß Gisela nicht mehr da war. Vorher, das stille und scheue Verhalten, das war verständlich. Aber jetzt, diese neue Veränderung, das war für sie und auch für Frank unerklärlich. Aber was konnte man dagegen tun? Herta selbst war gegen jede Art von Strafe. Wenn man Evas Ungezogenheiten einfach übergehen würde, würde sich bestimmt nach einiger Zeit alles von allein wieder geben. Noch immer in Gedanken mit Eva beschäftigt, holte sie die Salatschüssel und bereitete weiter das Mittagessen vor.

Das ging so etwa zehn Minuten gut, dann wurde Herta in ihrer Arbeit durch laute Kinderstimmen unterbrochen. So rasch sie konnte, eilte sie nach oben. Da kam ihr auch schon Lars mit tränenüberströmtem Gesicht entgegen, wollte an ihr vorbei nach unten laufen.

»Halt, halt, mein Schatz, was ist denn nur los?«

»Eva ist ganz böse, Oma. Ich habe sie überhaupt nicht mehr lieb. Jeden Tag zankt sie mit mir, und gerade hat sie mir sogar eine Ohrfeige gegeben. Ich wollte sie auch hauen, aber Vati sagt immer, daß man Mädchen nicht hauen darf. Warum tut sie das Oma, warum nur? Hier bei uns ist es überhaupt nicht mehr schön, seitdem Mutti nicht mehr da ist. Du mußt es dem Vati sagen, daß Eva jetzt immer so böse ist.«

»Komm einmal her, mein Junge, und hör bitte auf zu weinen.«

Herta Porten legte einen Arm um die Schulter des Neunjährigen und führte ihn ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich auf die Couch und zog den Jungen neben sich. Mit weicher Stimme sagte sie: »Du bist doch schon ein großer und vernünftiger Junge, nicht wahr? Ich weiß, es ist nicht schön, daß deine Schwester immer so ungezogen ist. Aber weißt du, es gibt für alles einen Grund. Eva ist sehr traurig, daß die Mutti nicht mehr da ist. Manchmal, wenn ein Mensch so traurig ist und es den anderen Menschen nicht zeigen will, verändert er sich vorübergehend.«

»Ich bin doch auch traurig, und ich bin nicht böse. Ich will nicht, daß Eva jetzt böse ist.«

»Keiner will es, Lars. Es geht auch bestimmt bald wieder vorbei. Ich werde mit Vati sprechen, damit er mit Eva einmal ein ganz ernstes Wort redet. Warum habt ihr euch eigentlich gezankt?«

»Ich habe mir nur eine Kassette holen wollen, mehr nicht. Eva hat doch sonst auch nichts dagegen gehabt, wenn ich an ihren Recorder gegangen bin. Dabei habe ich noch nie etwas kaputt gemacht.«

An diesem Tag kam es zu keinem weiteren nennenswerten Zwischenfall, Eva blieb einigermaßen friedlich.

Wie so oft in den vergangenen Wochen kam Frank an diesem Abend wieder sehr spät aus dem Büro nach Hause. Die beiden Kinder schliefen schon, und seine Mutter wärmte ihm dann das Mittagessen auf. Erst als er fertig war, kam Herta auf die neuen Schwierigkeiten mit Eva zu sprechen.