Engelsflammen - Lauren Kate - E-Book
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Engelsflammen E-Book

Lauren Kate

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Beschreibung

Liebe eines Lebens, all ihrer Leben ...

Luce würde für Daniel sterben. Und sie hat es getan, wieder und wieder: Seit einer Ewigkeit finden die beiden einander, nur um sich immer aufs Neue zu verlieren. Luce ist sicher, dass irgendwo in ihrer Vergangenheit der Schlüssel liegt, um dem ewigen Fluch zu entkommen, der auf ihr und Daniel lastet. Und so reist sie zurück in der Zeit, zurück in ihre früheren Leben, um den Weg aus der Verdammnis zu finden. Cam, die gefallenen Engel, Luces' Freunde Miles und Shelby, sie alle brechen auf, um Luce auf ihrer Reise in die Vergangenheit zu folgen. Doch keiner sucht sie so verzweifelt wie Daniel – voller Angst, Luce könnte die Geschichte neu schreiben. Dann nämlich könnte ihre große Liebe in Flammen aufgehen … für immer.

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Seitenzahl: 521

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Lauren Kate

Engelsflammen

Aus dem Amerikanischen von Michaela Link

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Für M und T,

Boten des Himmels

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2011 by Tinderbox, LLC and Lauren Kate

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Passion« bei Random House Children’s Books, New York

© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbt,

in der Verlagsfruppe Random House, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, 30287 Garbsen.

Aus dem Amerikanischen von Michaela Link

Lektorat: Carola Henke

Umschlagkonzeption: Geviert GBR, München, unter Verwendung eines Motivs von Fernanda Brussi Goncalves mit Rebecca Roeske

st · Herstellung: AnG

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-07984-0 V004

www.cbt-jugendbuch.de

www.cbt-engelsflammen.de

Fängst du mich nicht gleich – verlier nicht den Mut,

Verpasst du mich hier, suchst du mich dort,

Irgendwo mach ich halt und warte auf dich.

Walt Whitmann, »Gesang meiner selbst«

Prolog

Der Außenseiter

LOUISVILLE, KENTUCKY, 27. NOVEMBER2009

Ein Schuss krachte. Mit einem einzigen Knall öffnete sich die breite Front der Startboxen. Das Stampfen der Pferdehufe hallte über die Rennbahn wie fernes Donnergrollen.

»Sie sind gestartet …«

Sophia Bliss schob die mehr als halbmeterbreite Krempe ihres Federhutes zurecht. Er war blass malvenfarben und ein Chiffonschleier hing davon herab. Mit diesem Hut ging sie locker als regelmäßige Rennbahnbesucherin durch, aber er war nicht so auffällig, dass sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte.

Sie hatten ihre drei Hüte für diesen Renntag bei einer Modistin in Hilton Head als Sonderanfertigungen in Auftrag gegeben. Der zweite – ein buttergelbes Häubchen – bedeckte den schneeweißen Kopf von Lyrica Crisp, die links neben Miss Sophia saß und sich an einem Cornedbeef-Sandwich gütlich tat. Und der letzte, ein gischtgrüner Filzhut mit breitem, grob gepunktetem Seidenband, krönte die pechschwarze Mähne von Vivina Sole. Sie saß zu Miss Sophias Rechten und hatte die weiß behandschuhten Hände auf dem Schoß gefaltet, als könne sie kein Wässerchen trüben.

»Was für ein herrlicher Tag für ein Rennen«, bemerkte Lyrica. Mit ihren einhundertsechsunddreißig Jahren war sie die jüngste der Ältesten der Zhsmaelim. Sie wischte sich einen Senfklecks aus dem Mundwinkel. »Könnt ihr glauben, dass ich heute zum ersten Mal auf einer Rennbahn bin?«

»Scht«, zischte Sophia. Lyrica war dermaßen unbedarft. Heute ging es überhaupt nicht um Pferde, sondern um ein heimliches Zusammentreffen großer Geister. Auch wenn die anderen großen Geister noch nicht aufgetaucht waren. Sie würden schon noch kommen. Der absolut neutrale Treffpunkt war Sophia in der mit Goldlettern geprägten Einladung mitgeteilt worden, die sie von einem unbekannten Absender erhalten hatte. Die anderen würden kommen und sich offenbaren und gemeinsam würden sie einen Angriffsplan schmieden. Jeden Augenblick musste es so weit sein. Hoffte sie.

»Ein schöner Tag für einen schönen Sport«, sagte Vivina trocken. »Ein Jammer, dassunserPferdchen in diesem Rennen nicht in so leicht berechenbaren Bahnen läuft wie diese Jungstuten hier. Nicht wahr, Sophia? Wer würde schon darauf wetten, wo das Vollblut Lucinda über die Ziellinie geht.«

»Ich sagteScht«,flüsterte Sophia. »Hüte deine vorlaute Zunge. Hier sind überall Spione.«

»Du bist paranoid«, gab Vivina zurück, was Lyrica ein hohes Kichern entlockte.

»Ich bin die, die übrig geblieben ist«, sagte Sophia. Es hatte früher so viele weitere gegeben – vierundzwanzig Älteste zur Blütezeit der Zhsmaelim. Eine Gruppe von Sterblichen, Unsterblichen und einigen Transhimmlischen wie Sophia selbst. Eine Achse des Wissens, der Leidenschaft und des Glaubens, mit einem einzigen einenden Ziel: Die Welt in ihren Zustand vor dem Höllensturz zurückzuführen, zu diesem flüchtigen, herrlichen Augenblick vor dem Sturz der Engel. Auf Gedeih und Verderb.

So stand es glasklar in dem Kodex, den sie gemeinsam verfasst und den sie alle unterzeichnet hatten:Auf Gedeih und Verderb.

Denn es konnte tatsächlich so oder so ausgehen.

Jede Münze hatte ihre zwei Seiten. Kopf und Zahl. Hell und dunkel. Gut und …

Es war wohl kaum Sophias Schuld, dass die anderen Ältesten sich nicht auf beide Möglichkeiten vorbereitet hatten. Aber sie hatte die Vorwürfe über sich ergehen lassen müssen, als einer nach dem anderen seinen Rückzug kundgetan hatte.Eure Ziele werden zu dunkel.Oder:Das Niveau der Organisation ist gesunken.Oder:Die Ältesten sind zu weit von ihrem ursprünglichen Kodex abgewichen.Der erste Schwung von Briefen war, wie vorauszusehen, innerhalb einer Woche nach dem Zwischenfall mit dieser Pennyweather eingetroffen. Das sei für sie absolut unerträglich, hatten sie behauptet. Der Tod eines einzigen bedeutungslosen Kindes! Ein einziger unbedachter Augenblick mit einem Dolch, und plötzlich bekamen die Ältesten es mit der Angst. Sie alle fürchteten den Zorn der Waage.

Feiglinge.

Sophia fürchtete die Waage nicht. Ihre Aufgabe war es, den Gefallenen, nicht den Gerechten beizustehen. Niederen Engeln wie Roland Sparks und Arriane Alter. Solange man dem Himmel nicht abtrünnig wurde, hatte man ein wenig Spielraum. Verzweifelte Zeiten schrien förmlich nach verzweifelten Maßnahmen. Sophia wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als sie die hasenfüßigen Ausflüchte der anderen Ältesten gelesen hatte. Jeder Versuch, diese Feiglinge zurückzugewinnen, war aussichtslos – und Sophia wollte sie auch nicht wieder dabeihaben. Und so war Sophia Bliss – die Schulbibliothekarin, die im Vorstand der Zhsmaelim immer nur als Sekretärin gedient hatte – jetzt die ranghöchste Vertreterin der Ältesten. Von denen es nur noch zwölf gab, und neun davon konnte man nicht trauen.

Also waren nur sie drei heute hier mit ihren pastellfarbigen Hüten und platzierten, um den Schein zu wahren, Wetten auf die Rennen. Und warteten. Einfach armselig, wie tief sie gesunken waren.

Ein Rennen endete gerade und über Lautsprecher wurden die Sieger und die vorläufigen Quoten für das nächste Rennen bekannt gegeben. Ringsum begannen unterschiedslos gut betuchte wie etwas heruntergekommene Wetter zu jubeln; andere sackten in ihren Sitzen zusammen.

Und ein Mädchen von etwa neunzehn Jahren mit weißblondem Pferdeschwanz, braunem Trenchcoat und dunkler Sonnenbrille mit dicken Gläsern kam langsam die Aluminiumstufen zu den Ältesten herauf.

Sophia versteifte sich. Was wolltesiehier?

Es war unmöglich zu erkennen, wohin das Mädchen blickte, und Sophia gab sich alle Mühe, es nicht anzustarren. Obwohl das eigentlich egal war; das Mädchen würde sie ohnehin nicht sehen können. Es war blind. Aber trotzdem …

Die Outcast nickte Sophia einmal zu. Oh ja – diese Narren konnten das Brennen einer Seele sehen. Auch wenn sie nur schwach war, musste Sophias Lebenskraft sichtbar sein.

Das Mädchen nahm in der leeren Reihe vor den Ältesten Platz, wandte sich der Rennbahn zu und spielte mit einem Fünfdollarwettschein, den ihre blinden Augen nicht lesen konnten.

»Hallo.« Die Stimme der Outcast war monoton. Sie drehte sich nicht um.

»Ich weiß wirklich nicht, warum du hier bist«, sagte Miss Sophia. Es war ein feuchter Novembertag in Kentucky, aber auf ihrer Stirn stand eine dünne Schicht Schweiß. »Unsere Zusammenarbeit ist zu Ende, seit deine Leute es nicht geschafft haben, das Mädchen zurückzuholen. Und das wird sich auch nicht mehr ändern, ganz gleich, was dieser Phillip, oder wie er sich nennt, noch an Gefasel von sich geben wird.« Sophia beugte sich vor, dichter an das Mädchen heran, und rümpfte die Nase. »Alle wissen, dass man den Outcasts nicht trauen kann …«

»Wir sind nicht euretwegen hier«, erwiderte die Outcast und starrte geradeaus. »Ihr wart nur ein Mittel für uns, um näher an Lucinda heranzukommen. Wir haben nach wie vor kein Interesse daran, mit euch ›zusammenzuarbeiten‹.«

»Auf eure Organisation gibt heute keiner mehr auch nur einen Pfifferling.« Schritte auf der Tribüne.

Der Junge war hochgewachsen und schlank, mit rasiertem Kopf und einem ähnlichen Trenchcoat, wie das Mädchen ihn trug. Seine Sonnenbrille war von der billigen Sorte, Plastik, wie man sie in jedem Drugstore kaufen konnte.

Phillip ließ sich direkt neben Lyrica Crisp auf die Bank fallen. Wie das Mädchen wandte er sich ihnen nicht zu, als er das Wort ergriff.

»Es überrascht mich nicht, dich hier anzutreffen, Sophia.« Er schob die Sonnenbrille ein Stück die Nase herunter undenthüllte zwei leere weiße Augen. »Aber es enttäuscht mich, dass du es nicht fertiggebracht hast, mir von deiner Einladung zu erzählen.«

Lyrica schnappte angesichts der schrecklichen weißenFlächen hinter seinen Brillengläsern nach Luft. Selbst Vivina verlor ihre kühle Fassung und prallte zurück. Sophia kochte innerlich.

Die Outcast hielt ihnen zwischen ausgestreckten Fingern eine goldene Karte hin – die gleiche Einladung, die Sophia erhalten hatte. »Wir haben das hier bekommen.« Nur, dass diese Karte so aussah, als sei sie in Blindenschrift geschrieben worden. Sophia griff danach, um sich davon zu überzeugen, aber mit einer schnellen Bewegung verschwand die Einladung wieder im Trenchcoat des Mädchens.

»Hört mal, ihr kleinen Würstchen. Ich habe eure Sternenpfeile mit dem Emblem der Ältesten gezeichnet. Ihr arbeitet fürmich…«

»Richtigstellung«, unterbrach Phillip sie. »Die Outcasts arbeiten für niemanden außer für sich selbst.«

Sophia beobachtete, wie er leicht den Hals reckte und so tat, als verfolge er ein Pferd auf der Bahn. Es war ihr immer unheimlich gewesen, wie sie den Eindruck erweckten, sehen zu können. Obwohl doch jeder wusste, dassersie hatte erblinden lassen. Mit einem Fingerschnippen.

»Schöne Arbeit, die ihr da geleistet habt. Ihr habt es voll vermasselt.« Sophias Stimme schwoll stärker an, als ihr lieb war, und sie zog die Blicke eines älteren Ehepaares auf sich, das sich gerade einen Platz auf der Tribüne suchte. »Wir hätten zusammenarbeiten sollen«, zischte sie, »um sie zur Strecke zu bringen, und – und ihr habt versagt.«

»Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt.«

»Wie bitte?«

»Sie hätte sich so oder so in der Zeit verloren. Das war immer ihre Bestimmung. Und die Ältesten würden sich auch dann an einen Strohhalm geklammert haben. Denn so ist es euch bestimmt.«

Sie wollte sich auf ihn stürzen und ihn würgen, bis ihm die großen weißen Augen aus dem Kopf traten. Ihr Dolch fühlte sich an, als brenne er ein Loch durch die Kalbslederhandtasche auf ihrem Schoß. Wenn es doch nur ein Sternenpfeil gewesen wäre. Sophia sprang auf, als hinter ihnen eine Stimme erklang.

»Bitte setzt euch«, donnerte die Stimme. »Die Versammlung ist eröffnet.«

Die Stimme. Sie wusste sofort, wem sie gehörte. Ruhig und autoritär. Absolut demütigend. Sie ließ die Tribünen erbeben.

Die Sterblichen in ihrer Nähe bemerkten nichts, aber eine Hitzewelle kroch Sophias Nacken hinauf. Sie krochdurch ihren Körper und machte siebenommen. Es war keine gewöhnliche Furcht. Es war lähmende, übelkeiterregende Panik. Wagte sie es, sich umzudrehen?

Ein kurzer, vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel zeigte ihr einen Mann in maßgeschneidertem schwarzem Anzug. Dunkles, kurz geschnittenes Haar, das größtenteils unter einem schwarzen Hut steckte. Das Gesicht, freundlich und attraktiv, war nicht besonders einprägsam. Glatt rasiert, mit einer geraden Nase und braunen Augen, die ihr vertraut vorkamen. Obwohl Miss Sophia ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Und trotzdem wusste sie sofort, wer er war, als hätte sie ihn schon immer gekannt.

»Wo ist Cam?«, fragte die Stimme hinter ihnen. »Er hat eine Einladung bekommen.«

»Steckt vermutlich in irgendeinem Verkünder und spielt Gott. Wie die Übrigen«, platzte Lyrica heraus und handelte sich damit einen Schlag von Sophia ein.

»Er spieltGott,hast du gesagt?«

Sophia suchte nach den Worten, die eine solche Entgleisung wiedergutmachen konnten. »Einige der anderen sind Lucinda in die Vergangenheit gefolgt«, sagte sie schließlich. »Darunter zwei Nephilim. Wir wissen nicht genau, wie viele sonst noch.«

»Darf ich fragen« – die Stimme klang plötzlich eiskalt –, »warum niemand voneuchihr gefolgt ist?«

Sophia hatte Mühe zu schlucken und zu atmen. Ihre intuitivsten Bewegungen wurden durch Panik gelähmt. »Wir können nicht direkt, nun … wir haben noch nicht die Fähigkeiten …«

Die Outcast fiel ihr ins Wort. »Die Outcasts sind gerade dabei …«

»Ruhe«, befahl die Stimme. »Erspart mir eure Ausreden. Sie spielen keine Rolle mehr, gerade so wie ihr keine Rolle mehr spielt.«

Lange Zeit waren alle still. Es war schrecklich, nicht zu wissen, wie man ihn zufriedenstellen konnte. Als er endlich weitersprach, war seine Stimme leiser, aber nicht weniger einschüchternd. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich kann nichts mehr dem Zufall überlassen.«

Eine Pause.

Dann fuhr er leise fort: »Es ist an der Zeit, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehme.«

Sophia konnte ein Aufkeuchen gerade noch unterdrücken und ihr Entsetzen verbergen. Aber ihr Zittern konnte sie nicht beherrschen. Er nahm die Dinge selbst in die Hand? Das war wahrhaftig die denkbar beängstigendste Aussicht. Unvorstellbar, mitihmzu arbeiten, um …

»Ihr werdet euch heraushalten«, sagte er. »Das ist alles.«

»Aber …« Es war ein Versehen, doch schon hatte Sophia das Wort über die Lippen gebracht. Sie konnte es nicht zurücknehmen. Doch all ihre Jahrzehnte harter Arbeit. All ihre Pläne. Ihre Pläne!

Es folgte ein langgezogenes, erderschütterndes Brüllen.

Es ließ die Tribünen erzittern und schien sich im Bruchteil einer Sekunde über die ganze Rennbahn zu verbrei-ten.

Sophia wand sich. Das Brüllen schien sie zu durchdringen und sie im tiefsten Kern ihres Wesens zu erschüttern. Es war, als würde ihr das Herz in Stücke gerissen.

Lyrica und Vivina drückten sich an sie, die Augen fest zugepresst. Selbst die Outcasts zitterten.

Sophia dachte schon, das Brüllen würde niemals verebben und bald ihr Tod sein, als es einer so absoluten Stille wich, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

Einen Augenblick lang.

Zeit genug, um sich umzuschauen und festzustellen, dass die anderen Rennbahnbesucher nicht das Geringste gehört hatten.

Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Deine Zeit bei dieser Mission ist abgelaufen. Wage es nicht, mir in die Quere zu kommen.«

Unten fiel ein weiterer Schuss. Abermals öffnete sich schlagartig die Reihe der Startboxen. Nur dass diesmal das Hämmern der Hufe auf der Bahn kaum zu hören war. Wie ein sanfter Regen auf einem Baldachin aus Baumkronen.

Noch bevor die Rennpferde die Startlinie überquert hatten, war die Gestalt hinter ihnen verschwunden. Zurück blieben nur kohlschwarze Hufabdrücke, die sich in die Bretter der Haupttribüne eingebrannt hatten.

Eins

Unter Feuer

MOSKAU, 15. OKTOBER1941

Lucinda!

Die Stimmen erreichten sie in der unergründlichen Dunkelheit.

Komm zurück!

Warte!

Sie kümmerte sich nicht darum und drängte weiter. Die schattenartigen Wände des Verkünders warfen Echos ihres Namens zurück, die ihr wie Hitzezungen über die Haut leckten. War das Daniels Stimme oder Cams? Arrianes oder Gabbes? Flehte Roland sie an, sofort zurückzukommen, oder Miles?

Die Rufe ließen sich immer schwerer unterscheiden, bis Luce sie überhaupt nicht mehr auseinanderhalten konnte: Gut und Böse. Feind und Freund. Sie hätten klarer zu trennen sein sollen, aber nichts war länger klar. Alles, was einst schwarz und weiß gewesen war, verschmolz jetzt zu Grau.

Natürlich waren sich beide Seiten in einem Punkt einig: Alle wollten sie aus dem Verkünder holen. Zu ihremSchutz,würden sie behaupten.

Nein danke.

Nicht jetzt.

Nicht nachdem sie den Garten ihrer Eltern verwüstet, ihn zu einem weiteren ihrer staubigen Schlachtfelder gemacht hatten. Wenn sie allerdings an ihre Eltern dachte, verspürte sie durchaus den Wunsch umzukehren – nur dass sie keine Ahnung hatte, wie man in einem Verkünder kehrtmachte.

Eine Umkehr kam ohnehin nicht infrage. Cam hatte versucht, sie zutöten.Er hatte zwar nur auf ein Abbild von ihr gezielt, aber das hatte er nicht gewusst. Und Miles hatte sie gerettet, aber das machte es nicht einfacher. Er hatte nur deshalb dieses Abbild vor ihr projizieren können, weil ihmzu vielan ihr lag.

Und Daniel? Lag ihm genug an ihr? Sie wusste es nicht.

Und zum Schluss, als sie sich den Outcasts ergeben hatte, hatten Daniel und die anderen Luce angestarrt, als seisiediejenige, dieihnenetwas schuldig war.

Du bist unsere Eintrittskarte in den Himmel,hatte der Outcast ihr erklärt.Der Preis.Was hatte das zu bedeuten? Bis vor zwei Wochen hatte sie nicht einmal gewusst, dass die Outcasts existierten. Und doch wollten sie etwas von ihr – so sehr, dass sie sogar gegen Daniel gekämpft hatten. Es musste etwas mit dem Fluch zu tun haben, dem Fluch, der dafür sorgte, dass Luce Leben um Leben wiedergeboren wurde. Und was erwarteten sie eigentlich von ihr? Was sollte sie für die Outcasts tun?

Lag die Antwort irgendwo auf ihrem Weg?

Ihr Magen schlingerte, als sie – tief im Schlund des dunklen Verkünders aller Wahrnehmung beraubt – durch den kalten Schatten taumelte.

Luce …

Die Stimmen verblassten und wurden leiser. Schon bald waren sie kaum mehr als ein Flüstern. Beinah so, als hätten sie aufgegeben. Bis …

… sie wieder lauter wurden. Lauter und deutlicher.

Luce …

Nein.Sie presste die Augen fest zusammen in dem verzweifelten Versuch, sie auszublenden.

Lucinda …

Lucy …

Lucia …

Luschka …

Sie fror und sie war müde und sie wollte nichts mehr hören. Sie wollte endlich in Ruhe gelassen werden.

Luschka! Luschka! Luschka!

Mit einem dumpfen Laut trafen ihre Füße auf.

Auf etwas sehr, sehr Kaltes.

Sie stand auf festem Grund, aber sie sah immer noch nichts vor sich außer einem Vorhang aus Schwärze. Dann blickte sie auf ihre Converse-Sneakers hinab.

Und schluckte.

Sie stand in dickem Schnee, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Die feuchte Kühle, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte – der schattenumwallte Tunnel, durch den sie aus ihrem Garten in die Vergangenheit gelangt war –, hatte sich in etwas anderes verwandelt. Einen Ort, an dem es stürmte und der eiskalt war.

Bei Luce’ erster Reise durch einen Verkünder – von ihrem Wohnheimzimmer in Shoreline nach Las Vegas – hatten ihre Freunde Shelby und Miles sie begleitet. Am Ende waren sie auf ein Hindernis gestoßen, einen dunklen,schattenhaften Vorhang zwischen ihnen und der Stadt. Weil Miles als Einziger etwas darüber gelesen hatte, wie man einen Verkünder für diesen Zweck benutzte, hatte er auch als Einziger gewusst, was zu tun war, und den Verkünder mit kreisförmigen Bewegungen abgewischt, bis die trüben schwarzen Schatten abgeblättert waren. Erst jetzt wurde Luce klar, dass er einfach eine Störung beseitigt hatte.

Diesmal gab es kein Hindernis. Vielleicht weil sie allein reiste, durch einen Verkünder, den sie mit ihrer eigenen Willenskraft heraufbeschworen hatte. Und sie konnte ihn ohne Weiteres verlassen. Beinahe zu leicht. Der Schleier aus Schwärze teilte sich einfach.

Ein eisiger Windstoß ließ sie zusammenfahren. Sie presste vor Kälte die Knie zusammen, ihre Brust wurde klamm und ihr tränten die Augen von der scharfen Bö.

Wo war sie?

Luce bedauerte ihren panischen Sprung durch die Zeit bereits. Ja, sie hatte entkommen müssen, und ja, sie wollte ihre Vergangenheit zurückverfolgen, um ihre früheren Ichs vor all dem Schmerz zu bewahren, um zu verstehen, was für eine Art Liebe sie bei all diesen anderen Malen mit Daniel verbunden hatte. Um siezu fühlen,statt nur davon erzählt zu bekommen. Um zu verstehen – und dann in Ordnung zu bringen –, was immer das für ein Fluch war, mit dem sie und Daniel belegt worden waren.

Aber nicht so. Verfroren, allein und vollkommen unvorbereitet auf den Ort und den Zeitpunkt, die sie jetzt zufällig erreicht hatte.

Vor sich sah sie eine verschneite Straße mit weißen Häusern und darüber einen stahlgrauen Himmel. In der Ferne rumpelte oder grollte etwas. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hatte.

»Warte«, flüsterte sie dem Verkünder zu.

Der vage Schatten waberte etwa einen halben Meter vor ihren Fingerspitzen. Sie versuchte, ihn zu fassen, aber der Verkünder wich ihr aus und entfernte sich weiter. Sie sprang ihm nach und erwischte ein winziges, feuchtes Stückchen …

Aber im nächsten Augenblick löste sich auch das in weiche schwarze Partikel auf, die in den Schnee rieselten, verblassten und im Nu verschwunden waren.

»Toll«, murmelte sie. »Und was jetzt?«

In der Ferne wand die schmale Straße sich nach links und führte auf eine düstere Kreuzung. Auf den Gehwegen türmte sich der beiseitegeschaufelte Schnee entlang der geschlossenen Häuserreihe aus weißem Stein. Die Bauten waren beeindruckend und anders als alles, was Luce je gesehen hatte. Sie waren mehrere Stockwerke hoch und ihre Fassaden bestanden aus Reihen leuchtend weißer Bögen und kunstvoller Säulen.

Alle Fenster waren dunkel. Die ganze Stadt schien im Dunkeln zu liegen. Lediglich eine vereinzelte Gaslaterne spendete spärliches Licht. Falls der Mond irgendwo am Himmel stand, dann hinter einer dichten Wolkendecke. Wieder grollte etwas in der Ferne. Donner?

Luce schlang sich die Arme um den Leib. Sie fror.

»Luschka!«

Eine Frauenstimme. Heiser und schnarrend, wie die Stimme einer Person, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, Befehle zu blaffen. Aber die Stimme zitterte auch.

»Luschka, du Idiot. Wo bist du?«

Sie klang jetzt näher. Sprach sie mit Luce? Da war noch etwas anderes an dieser Stimme, etwas Seltsames, das Luce nicht ganz fassen konnte.

Dann kam eine Gestalt um die verschneite Straßenecke gehumpelt. Luce starrte die Frau an und versuchte, sie irgendwo einzuordnen. Sie war sehr klein und ging ein wenig vornübergebeugt. Vielleicht Ende sechzig. Ihre bauschigen Kleider schienen ihr viel zu groß zu sein. Das Haar hatte sie unter einem dicken schwarzen Schal verborgen. Als sie Luce sah, verzog sich ihr Gesicht zu einer schwer zu deutenden Grimasse.

»Wo warst du?«

Luce schaute sich um. Außer ihnen beiden war niemand auf der Straße. Die alte Frau sprach mit ihr.

»Genau hier«, hörte sie sich sagen.

Auf Russisch.

Sie schlug sich eine Hand auf den Mund.Daswar es also, was ihr an der Stimme der alten Frau so bizarr erschienen war: Sie sprach eine Sprache, die Luce nie gelernt hatte. Und doch verstand Luce nicht nur jedes Wort, sie konnte auch in der Sprache antworten.

»Ich könnte dich umbringen«, fuhr die Frau fort und atmete schwer, während sie auf Luce zueilte und sie in die Arme nahm.

Für eine Frau, die so zerbrechlich wirkte, war ihre Umarmung sehr stark. Die Wärme eines anderen Körpers weckte in Luce nach so viel intensiver Kälte beinah den Wunsch zu weinen. Sie erwiderte die Umarmung heftig.

»Oma?«, flüsterte sie, ihre Lippen dicht am Ohr der Frau, weil sie irgendwie wusste, dass diese Frau ihre Großmutter war.

»Dass du ausgerechnet heute Abend nicht zu Hause bist, wenn ich von der Arbeit komme«, sagte die Frau, »und stattdessen wie eine Verrückte mitten auf der Straße herumspringst? Bist du überhaupt zur Arbeit gewesen?«

Da war es wieder, dieses Rumpeln am Himmel. Es klang, als käme ein schlimmes Gewitter näher, und zwar schnell. Luce schauderte und schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht.

»Aha«, sagte die Frau, »jetzt bist du nicht mehr so sorglos.« Sie blinzelte Luce an, dann schob sie sie von sich, um sie genauer anzusehen. »Mein Gott, was hast du da an?«

Luce trat nervös von einem Bein aufs andere, während die Großmutter ihres vergangenen Lebens ihre Jeans anstarrte und mit knotigen Fingern über die Knöpfe von ihrer Flanellbluse strich. Sie packte Luce’ kurzen, verhedderten Pferdeschwanz. »Manchmal denke ich, du bist genauso verrückt wie dein Vater, möge er in Frieden ruhen.«

»Ich habe nur …« Luce’ Zähne klapperten. »Ich wusste nicht, dass es so kalt sein würde.«

Die Frau spuckte in den Schnee, um ihre Missbilligung zu zeigen. Dann zog sie ihren dicken Mantel aus. »Nimm den hier, bevor du dir den Tod holst.« Sie wickelte den Mantel grob um Luce, die mit halb erfrorenen Fingern versuchte, ihn zuzuknöpfen. Dann nahm sich ihre Großmutter noch den Schal vom Hals und wickelte ihn Luce um den Kopf.

Ein gewaltiges Krachen am Himmel erschreckte sie beide. Jetzt wusste Luce, dass es kein Donner war. »Was ist das?«, flüsterte sie.

Die alte Frau starrte sie an. »Der Krieg«, murmelte sie. »Hast du nicht nur deine Kleider, sondern auch den Verstand verloren? Komm jetzt. Wir müssen gehen.«

Während sie sich durch die verschneiten Straßen kämpften, über die unebenen Pflastersteine und die in sie eingelassenen Straßenbahnschienen, begriff Luce, dass die Stadt doch nicht verlassen war. Es standen zwar nur wenige Autos am Straßenrand, aber gelegentlich hörte sie aus den verdunkelten Nebenstraßen das Wiehern von Kutschpferden und sah die Andeutung der weißen Wolken, die ihr Atem vor ihren Nüstern bildeten. Nur als Silhouetten erkennbare Gestalten huschten über Dächer. Am Ende einer Gasse half ein Mann in einem zerrissenen Mantel drei kleinen Kindern in eine Kellerluke.

Die schmale Straße führte sie zu einer breiten Allee mit einem weiten Blick auf die Stadt. Die einzigen Autos, die hier parkten, waren Militärfahrzeuge. Sie sahen altmodisch aus, wie Relikte in einem Kriegsmuseum: offene Jeeps mit gewaltigen Kotflügeln und knochendünnen Lenkrädern, auf deren Türen Hammer und Sichel der Sowjets prangten. Aber abgesehen von Luce und ihrer Großmutter war jetzt niemand sonst mehr zu sehen. Alles – bis auf das schreckliche Dröhnen am Himmel – war geisterhaft, war unheimlich still.

In der Ferne konnte sie einen Fluss ausmachen und jenseits davon ein großes, weitläufiges Gebäude. Selbst in der Dunkelheit waren dessen kunstvoll geschichteten Türme und die prunkvollen, zwiebelförmigen Kuppeln zu erkennen, die ihr gleichzeitig vertraut und mystisch vorkamen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff – und dann durchzuckte es Luce.

Sie war in Moskau.

Es herrschte Krieg und die Stadt lag an der Front.

Schwarzer Rauch erhob sich in den grauen Himmel, wo die Stadt bereits getroffen worden war: Links des gewaltigen Kreml und direkt dahinter und dann wieder in der Ferne ganz rechts. Auf den Straßen wurde nicht gekämpft, und es gab keine Anzeichen dafür, dass bereits feindliche Soldaten in die Stadt vorgedrungen waren. Aber Flammen züngelten an den verkohlten Gebäuden, der Brandgeruch des Krieges war überall, und noch schwerer wog die Drohung, dass es noch schlimmer kommen könnte.

Derart hatte Luce in ihrem ganzen Leben – wahrscheinlich inallihren Leben – noch nichts vermasselt. Ihre Eltern würden sieumbringen,wenn sie wüssten, wo sie war. Daniel würde vielleicht nie wieder mit ihr sprechen.

Aber vielleicht bekamen sie erst gar nicht die Gelegenheit, wütend auf sie zu sein? Sie konnte gleich hier an der Front zu Tode kommen.

Warum hatte sie das nur getan?

Weil sie es hatte tunmüssen.Es war schwer, bei all ihrer Panik zu diesem kleinen Anflug von Stolz zurückzufinden, aber er war ihr noch nicht ganz verloren gegangen.

Sie hatte einen Verkünder benutzt. Warhindurchgeschritten.Ganz allein. Zu einem fernen Ort und in eine lang vergangene Zeit, in die Vergangenheit, die sie verstehen musste. Das war es, was sie gewollt hatte. Sie war lange genug herumgeschoben worden wie eine Schachfigur.

Aber was sollte sie jetzt tun?

Sie beschleunigte ihren Schritt und klammerte sich an die Hand ihrer Großmutter. Seltsam, diese Frau hatte keine Vorstellung davon, was Luce tatsächlich durchmachte, nicht einmal eine Ahnung, wer sie wirklich war, und doch war der Griff ihrer alten Hand das Einzige, was Luce hier eine Richtung gab.

»Wohin gehen wir?«, fragte Luce, als ihre Großmutter sie durch eine weitere verdunkelte Straße zog. Bald war das Pflaster zu Ende und die Straße wurde uneben und glitschig. Der Schnee hatte Luce’ Tennisschuhe inzwischen völlig durchnässt und ihre Zehen begannen vor Kälte zu brennen.

»Kristina abholen, deine Schwester.« Die alte Frau runzelte die Stirn. »Die nachts hilft, mit bloßen Händen Schützengräben auszuheben, damit du deinen Schönheitsschlaf bekommst. Hast du sie vergessen?«

Wo sie sich jetzt befanden, gab es keine Straßenlaternen mehr. Luce riss die Augen weit auf, aber es dauerte dennoch eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah Luce, dass sie direkt vor einem sehr langen Graben standen, der sich quer durch die Stadt zu ziehen schien.

Hunderte von Menschen waren dort an der Arbeit, alle bis an die Ohren vermummt. Einige lagen auf den Knien und gruben mit Schaufeln. Andere schürften mit bloßen Händen. Manche standen wie erstarrt da und beobachteten den Himmel. Eine Gruppe Soldaten karrte schwere Ladungen Erde und Stein in splittrigen Schubkarren und Bauernwagen davon, zu der Schanze am Ende der Straße. Sie trugen dicke wollene Uniformmäntel und ihre Gesichter unter den Stahlhelmen wirkten genauso ausgezehrt wie die der Zivilisten. Lucinda verstand, dass sie alle zusammenarbeiteten, die Männer in Uniform und die Frauen und Kinder, die ihre Stadt in eine Festung verwandelten und taten, was sie konnten, um die feindlichen Panzer noch im letzten Augenblick aufzuhalten.

»Kristina«, rief ihre Großmutter, und wie vor einigen Minuten, als sie nach Luce gesucht hatte, war ihre Stimme von Panik und Liebe zugleich erfüllt.

Fast sofort erschien ein Mädchen an ihrer Seite. »Weshalb habt ihr so lange gebraucht?«

Hochgewachsen und dünn, mit dunklen Haarsträhnen, die unter dem runden, flachen Hut hervorlugten, war Kristina so schön, dass es Luce den Atem verschlug. Sie erkannte in dem Mädchen sofort eine Verwandte.

Ihr Anblick erinnerte Luce an Vera, die Schwester aus einem anderen vergangenen Leben. Luce musste im Laufe der Zeit Hunderte Schwestern gehabt haben. Tausende. Sie alle würden etwas Ähnliches durchgemacht haben. Schwestern und Brüder und Eltern und Freunde, die Luce geliebt und dann verloren hatten. Keiner von ihnen hatte gewusst, was kommen würde. Sie alle waren zurückgeblieben, um zu trauern.

Vielleicht gab es eine Möglichkeit, das zu verändern, es den Menschen, die sie geliebt hatten, leichter zu machen. Vielleicht war das Teil dessen, was Luce in ihren vergangenen Leben tun konnte.

Der Donner einer gewaltigen Explosion erschütterte die Stadt. Nah genug, dass der Boden unter Luce’ Füßen schwankte und ihr rechtes Trommelfell sich anfühlte, als würde es platzen. An der nächsten Ecke heulte eine Sirene los.

»Baba.« Kristina fasste ihre Großmutter am Arm. Sie war den Tränen nah. »Die Nazis – sie sind schon hier, nicht wahr?«

Die Deutschen. Luce war bei ihrer ersten Zeitreise auf eigene Faust gleich mitten im Zweiten Weltkrieg gelandet. »Sie greifen Moskau an?« Ihre Stimme zitterte. »Heute Nacht?«

»Wir hätten die Stadt mit den anderen verlassen sollen«, sagte Kristina voller Bitterkeit. »Jetzt ist es zu spät.«

»Und deine Mutter, deinen Vater und deinen Großvater im Stich lassen?« Baba schüttelte den Kopf. »Sie in ihren Gräbern zurücklassen?«

»Sollen wir lieber mit ihnen auf dem Friedhof liegen?«, zischte Kristina zurück. Sie umklammerte Luce’ Arm. »Hast du von dem Angriff gewusst? Du und dein Freund, der Kulak? Bist du deshalb heute Morgen nicht zur Arbeit gekommen? Du warst mit ihm zusammen, nicht wahr?«

Wovon, dachte ihre Schwester, könnte Luce denn gewusst haben? Mit wem sollte sie zusammen gewesen sein?

Mit wem, wenn nicht mit Daniel?

Natürlich. Luschka musste gerade jetzt bei ihm sein. Und wenn ihre eigenen Angehörigen Luce mitdieserLuschka verwechselten …

Ihre Brust schnürte sich zusammen. Wie viel Zeit blieb ihr noch, bevor sie starb? Konnte sie Luschka finden, bevor es geschah?

»Luschka.«

Ihre Schwester und ihre Großmutter starrten sie an.

»Was ist denn heute Abend mit ihr los?«, fragte Kristina.

»Lasst uns gehen.«Baba zog die Brauen zusammen. »Denkt ihr, die Keller werden ewig aufgehalten?«

Über ihnen am Himmel brummten die Propeller eines Kampfflugzeugs. Es flog so tief, dass Luce das schwarze Hakenkreuz unter den Tragflächen deutlich erkennen konnte. Ein Schauder durchlief sie. Dann erschütterte eine weitere Explosion die Stadt und die Luft wurde beißend von dunklem Rauch. Die Bombe musste irgendwo ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Zwei weitere heftige Explosionen folgten und ließen den Boden unter ihren Füßen erbeben.

Auf der Straße herrschte Chaos. Menschen, die an den Gräben gearbeitet hatten, liefen auseinander und verschwanden in einem Dutzend schmaler Straßen. Einige eilten die Treppen der Metrostation an der Ecke hinunter, um das Ende der Bombardierung unter der Erde abzuwarten; andere verschwanden in dunklen Hauseingängen.

Einen Häuserblock entfernt erhaschte Luce einen Blick auf eine rennende Gestalt. Ein Mädchen ungefähr in ihrem Alter mit rotem Hut und langem Wollmantel. Sie drehte gerade eine Sekunde lang den Kopf, bevor sie weiterlief. Aber es war lange genug, um Luce Klarheit zu verschaffen.

Das war sie.

Luschka.

Sie machte sich von Babas Arm frei. »Es tut mir leid. Ich muss gehen.«

Luce holte tief Luft und eilte die Straße hinunter, direkt hinein in den wabernden Rauch des letzten Bombentreffers.

»Bist du verrückt?«, brüllte Kristina. Aber sie folgten ihr nicht. In diesem Fall hätten sie selbst verrückt sein müssen.

Mit vor Kälte tauben Füßen versuchte Luce durch den wadenhohen Schnee zu laufen. Als sie die Ecke erreichte, wo sie ihr vergangenes Ich mit der roten Mütze hatte vorbeiflitzen sehen, verlangsamte sie ihre Schritte. Dann schnappte sie nach Luft.

Ein großes Gebäude, das sich über den halben Häuserblock direkt vor ihr erstreckte, war eingestürzt. Weißer Stein war mit Streifen schwarzer Asche überzogen. Tief im Einschlagkrater der Bombe loderte ein Feuer.

Die Explosion hatte haufenweise Trümmer aus dem Inneren des Gebäudes geschleudert. Im Schnee waren rote Flecken. Luce prallte zurück, bis sie begriff, dass es kein Blut war, sondern Fetzen roter Seide. In dem Bau musste sich eine Schneiderei befunden haben. Mehrere versengte Kleiderständer lagen auf der Straße und in einem Graben brannte eine Schneiderpuppe. Luce musste sich den Mund mit dem Schal ihrer Großmutter bedecken, um von dem Rauch nicht zu würgen. Wo immer sie hintrat, lagen Glassplitter und Steine im Schnee.

Sie sollte umkehren und nach der Großmutter und der Schwester suchen, die ihr helfen würden, eine Zuflucht zu finden. Aber sie konnte nicht. Sie musste Luschka ausfindig machen. Sie war noch nie zuvor einem früheren Ich so nahe gewesen. Luschka würde ihr vielleicht helfen können zu verstehen, warum in Luce’ eigenem Leben die Dinge sich anders entwickelt hatten. Warum Cam mit einem Sternenpfeil auf ihr Trugbild geschossen hatte – in der Annahme, er schieße auf sie – und warum er zu Daniel gesagt hatte: »Es war besser so für sie.« Besser als was?

Sie drehte sich langsam um und versuchte, das Aufblitzen der roten Mütze in der Nacht auszumachen.

Da.

Das Mädchen lief den Hügel hinab zum Fluss. Luce begann ebenfalls zu rennen.

Sie liefen genau im gleichen Tempo. Als Luce beim Krachen einer Explosion den Kopf einzog, tat Luschka das Gleiche – in einem seltsamen Echo von Luce’ Bewegung. Und als sie das Flussufer erreichten und die Stadt übersehen konnten, erstarrte Luschka in genau der gleichen Haltung wie Luce selbst.

Fünfzig Meter vor Luce begann ihr Ebenbild zu schluchzen.

Große Teile Moskaus brannten. So viele Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Luce versuchte, sich die anderen Leben vorzustellen, die heute Nacht überall in der Stadt zerstört worden waren, aber sie fühlten sich fern und unerreichbar an, wie etwas, das sie nur aus einem Geschichtsbuch kannte.

Das Mädchen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Es rannte so schnell, dass Luce es nicht einholen konnte. Sie schlugen große Bögen um die riesigen Krater, die von den Bomben in die Straße gesprengt worden waren. Sie rannten an brennenden Gebäuden vorbei und hörten den schrecklichen Lärm, den ein Feuer macht, wenn es neue Beute findet. Sie liefen an zerschmetterten, umgekippten Militärlastwagen vorbei, aus denen geschwärzte Arme hingen.

Dann bog Luschka nach links in eine Straße ein, sodass Luce sie nicht mehr sehen konnte.

Adrenalin schoss ihr ins Blut. Luce lief weiter und ihre Füße stampften härter und schneller über die verschneite Straße. Menschen laufen nur dann so schnell, wenn sie verzweifelt sind. Wenn ihnen etwas mehr bedeutet als ihr eigenes Leben.

Luschka konnte nur auf eines zurennen.

»Luschka …«

Seine Stimme.

Wo war er? Einen Moment lang vergaß Luce ihr früheres Ich, vergaß das russische Mädchen, dessen Leben jetzt jeden Moment enden konnte, vergaß, dass dieser Daniel nichtihrDaniel war, aber andererseits …

Natürlich war er das.

Er starb niemals. Er war immer da gewesen. Er hatte immer ihr gehört und sie immer ihm. Sie wollte nichts anderes, als seine Arme finden und sich in ihnen vergraben. Er würde wissen, was sie tun sollte; er würde ihr helfen können. Warum hatte sie in der Vergangenheit an ihm gezweifelt?

Sie rannte auf seine Stimme zu. Aber sie konnte Daniel nirgendwo sehen. Luschka ebenso wenig. Einen Häuserblock vom Fluss entfernt blieb Luce an einer verlassenen Kreuzung stehen.

Jeder Atemzug quälte ihre halb erfrorenen Lungen. Ein kalter, pulsierender Schmerz bohrte sich tief in ihre Ohren, und die eisigen Nadelstiche, die sie in ihren Füßen spürte, machten das Stillstehen unerträglich.

Aber in welche Richtung sollte sie sich wenden?

Vor ihr lag ein riesiges, verlassenes Grundstück, das von Schutt bedeckt und durch Gerüste und einen Eisenzaun von der Straße abgesperrt war. Aber selbst in der Dunkelheit konnte Luce erkennen, dass hier schon vor einiger Zeit etwas abgerissen und nicht erst bei einem Luftangriff von einer Bombe zerstört worden war.

Es sah nach nichts Besonderem aus, nur eine hässliche, verlassene Grube. Sie wusste nicht, warum sie noch immer davorstand. Warum sie aufgehört hatte, Daniels Stimme nachzulaufen …

Bis sie den Zaun berührte, blinzelte und etwas Leuchtendes aufblitzen sah.

Eine Kirche. Eine majestätische weiße Kirche, die die riesige Baulücke füllte. Ein gewaltiger, dreiteiliger, marmorner Torbogen in der Vorderfront. Fünf goldene Türme, die sich hoch in den Himmel reckten. Und im Innern: Reihen gewachster Holzbänke, so weit das Auge reichte. Ein Altar oben auf einer weißen Treppenflucht. Und all die Mauern und die hohen, gewölbten Decken bedeckt mit zauberhaft kunstvollen Fresken. Und überall Engel.

Die Kirche von Christus dem Erlöser.

Woher wusste Luce das? Warum sollte sie mit jeder Faser ihres Wesens spüren, dass dieses Nichts einst eine beeindruckende weiße Kirche gewesen war?

Weil sie noch Sekunden zuvor dort gewesen war. Sie sah die Handabdrücke einer anderen Person in der Asche auf dem Metall: Luschka war ebenfalls hier stehen geblieben, hatte die Ruinen der Kirche betrachtet und etwas gefühlt.

Luce umfasste das Geländer, blinzelte abermals und sah sich selbst – oder Luschka – als kleines Mädchen.

Sie saß in einem weißen Spitzenkleid auf einer der Bänke. Eine Orgel spielte, während die Besucher des Gottesdienstes hereinströmten. Der gut aussehende Mann zu ihrer Linken musste ihr Vater sein und die Frau neben ihm ihre Mutter. Da war auch die Großmutter, die Luce gerade kennengelernt hatte, und Kristina. Sie sahen beide jünger aus und besser genährt. Luce erinnerte sich, dass ihre Großmutter gesagt hatte, dass ihre Eltern tot waren. Aber hier sahen sie so lebendig aus. Sie schienen alle zu kennen und begrüßten jede Familie, die an ihrer Bank vorbeikam. Luce betrachtete ihr früheres Ich, das seinem Vater zusah, wie er einem gut aussehenden, jungen blonden Mann die Hand schüttelte. Der junge Mann beugte sich über die Bank und lächelte sie an. Er hatte wunderschöne violette Augen.

Luce blinzelte abermals und die Vision verschwand. Das Grundstück war wieder wenig mehr als Schutt. Sie fror. Und sie war allein. Eine weitere Bombe schlug auf der anderen Seite des Flusses ein und die Druckwelle der Explosion zwang Luce auf die Knie. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen …

Bis sie jemanden leise weinen hörte. Sie hob den Kopf und spähte in die Dunkelheit der Ruinen, bis sie ihn entdeckte.

»Daniel«, flüsterte sie. Er sah genauso aus wie immer. Er verströmte beinahe Licht, selbst in der eisigen Dunkelheit. Das blonde Haar, durch das sie immer die Finger ziehen wollte, die violettgrauen Augen, die eigens dazu geschaffen zu sein schienen, in ihre zu blicken. Dieses wunderbare Gesicht, die hohen Wangenknochen, diese Lippen. Ihr Herz hämmerte, und sie musste sich an dem Eisenzaun festklammern, um sich daran zu hindern, zu ihm zu laufen.

Denn er war nicht allein.

Er war mit Luschka zusammen. Er tröstete sie, streichelte ihre Wangen und küsste ihr dabei die Tränen fort. Sie hielten einander in den Armen, die Köpfe vorgebeugt zu einem endlosen Kuss. So verloren waren sie in ihrer Umarmung, dass sie nicht zu spüren schienen, dass die Straße unter einer neuerlichen Explosion erbebte. Sie sahen so aus, als gebe es auf der Welt nichts anderes als nur sie beide.

Da war kein Raum zwischen ihren Körpern. Es war zu dunkel, um zu sehen, wo der eine von ihnen endete und der andere begann.

Lucinda stand auf und kroch weiter, bewegte sich in der Dunkelheit von einem Schutthaufen zum nächsten, angetrieben von der Sehnsucht, ihm näher zu sein.

»Ich dachte, ich würde dich niemals finden«, hörte Luce ihr früheres Ich sagen.

»Wir werden einander immer finden«, antwortete Daniel, hob sie hoch und drückte sie noch fester an sich. »Immer.«

»He, ihr zwei!«, erklang eine Stimme von einer Tür in einem benachbarten Gebäude. »Kommt ihr jetzt?«

Auf der Seite des Platzes, die dem Trümmergrundstück gegenüber lag, führte ein Mann, dessen Gesicht Luce nicht erkennen konnte, eine kleine Schar in einen massiven Betonbunker. Dorthin waren Luschka und Daniel unterwegs. Das musste die ganze Zeit über ihr Plan gewesen sein, zusammen Zuflucht vor den Bomben zu suchen.

»Ja«, rief Luschka den anderen zu. Sie sah Daniel an. »Lass uns mit ihnen gehen.«

»Nein.« Seine Stimme war schroff. Nervös. Luce kannte diesen Tonfall nur allzu gut.

»Draußen ist es zu unsicher. Deswegen wollten wir uns doch überhaupt hier treffen.«

Daniel drehte sich um und sein Blick glitt direkt über die Stelle, an der Luce sich versteckte. Als der Himmel von einer weiteren Folge goldroter Explosionen erhellt wurde, schrie Luschka auf und vergrub das Gesicht an Daniels Brust. Daher war Luce die Einzige, die seinen Gesichtsausdruck sah.

Etwas belastete ihn. Etwas Größeres als Furcht vor den Bomben.

Oh nein.

»Daniil!« Ein Junge in der Nähe des Gebäudes hielt noch immer die Tür zu dem Bunker offen. »Luschka! Daniil!«

Alle anderen waren bereits in dem Gebäude.

In diesem Moment wirbelte Daniil Luschka herum und zog ihr Ohr dicht an seine Lippen. Luce wünschte sich sehnlichst zu hören, was er Luschka zuflüsterte. Ob er etwas sagte, was Danielihrimmer sagte, wenn sie aufgeregt oder überwältigt war. Sie wollte zu ihnen rennen, wollte Luschka wegziehen – aber sie konnte nicht. Etwas tief in ihrem Inneren wollte sich nicht von der Stelle rühren.

Sie konzentrierte sich auf Luschkas Gesichtsausdruck, als hinge ihr ganzes Leben davon ab.

Vielleicht tat es das ja.

Luschka nickte, während Daniil sprach, und ihre verängstigte Miene wurde ruhig, beinahe friedlich. Sie schloss die Augen. Dann nickte sie noch einmal. Anschließend legte sie den Kopf in den Nacken und ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.

Ein Lächeln?

Aber warum? Wie? Es war beinahe so, als wüsste sie, was gleich geschehen würde.

Daniil hielt sie in den Armen und beugte sich zu einem weiteren Kuss über sie, presste die Lippen fest auf ihre und strich ihr mit den Händen erst durchs Haar und dann langsam an den Seiten ihres Körpers hinab.

Es war so leidenschaftlich, dass Luce errötete, so intim, dass sie keine Luft bekam, so zauberhaft, dass sie den Blick nicht losreißen konnte. Nicht für eine Sekunde.

Nicht einmal, als Luschka schrie.

Und in einer Säule sengender weißer Flammen aufging.

Der Wirbel der Flammen war anderweltlich, fließend und auf eine schauerliche Weise beinahe elegant, als wickle sich ein langer Seidenschal um ihren bleichen Körper. Er verschlang Luschka, floss aus ihr heraus und um sie herum und beleuchtete das Spektakel ihrer brennenden Glieder, die zuckten und zuckten – und sich schließlich nicht mehr bewegten. Daniil ließ sie nicht los, nicht als das Feuer seine Kleider versengte, nicht als er das volle Gewicht ihres erschlafften, bewusstlosen Körpers stützen musste, nicht als die Flammen mit einem wütenden, beißenden Zischen ihr Fleisch verbrannten, nicht als ihre Haut zu verkohlen und schwarz zu werden begann.

Erst als die Flamme zischelnd erlosch – so schnell, als bliese man eine Kerze aus –, und es nichts mehr gab, was er hätte festhalten können, als nichts mehr übrig war als Asche, ließ Daniil die Arme sinken.

In Luce’ wildesten Tagträumen darüber, in die Vergangenheit zurückzukehren und ihre früheren Leben zu besuchen, hatte sie sich eins niemals vorgestellt: Ihren eigenen Tod mitanzusehen. Die Realität war schrecklicher, als ihre dunkelsten Albträume es jemals hätten werden können. Sie stand in dem kalten Schnee, von dem Geschehen gelähmt, und ihrem Körper war jede Fähigkeit genommen, sich zu bewegen.

Daniil taumelte von der verkohlten Masse im Schnee zurück und begann zu weinen. Die Tränen, die ihm über die Wangen strömten, zogen saubere Bahnen durch den schwarzen Ruß, der von ihr noch übrig geblieben war. Sein Gesicht verzerrte sich. Seine Hände zitterten. Sie erschienen Luce so nackt und groß und leer, als gehörten sie – obwohl der Gedanke in ihr eine seltsame Eifersucht weckte – um Luschkas Taille, in ihr Haar, auf ihre Wangen. Was um alles in der Welt tat man mit seinen Händen, wenn das Einzige, was sie halten wollten, plötzlich auf grausame Weise verschwunden war? Ein Mädchen, ein Leben – ausgelöscht.

Der Schmerz auf seinem Gesicht drang Luce direkt ins Herz, setzte sich fest und gab ihr den Rest. Der Anblick seiner Qual vergrößerte ihren eigenen Schmerz.

So also fühlte er sich in jedem Leben.

Bei jedem Tod.

Wieder und wieder und wieder.

Luce hatte sich geirrt. Daniel war nicht selbstsüchtig. Er war keineswegs teilnahmslos. Er nahm vielmehr zu großen Anteil, es zerstörte ihn. Sie hasste es trotzdem, aber plötzlich verstand sie seine Verbitterung, seine Zurückhaltung in allen Dingen. Miles mochte sie durchaus lieben, aber seine Liebe war nichts verglichen mit Daniels Liebe.

So konnte sie niemals sein.

»Daniel!«, rief sie, verließ die Dunkelheit und rannte auf ihn zu.

Sie wollte all die Küsse und Umarmungen erwidern, die er gerade ihrem früheren Ich geschenkt hatte. Sie wusste, dass es falsch war, dass alles falsch war.

Daniels Augen weiteten sich. Ein Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens glitt über seine Züge.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er langsam. Anklagend. Als habe er nicht soeben seine Luschka sterben lassen. Als sei Luce’ Erscheinen hier schlimmer als der Anblick der sterbenden Luschka. Er hob die Hand, die von Asche geschwärzt war, und zeigte auf sie. »Was geht hier vor?«

Es war eine Qual, ertragen zu müssen, dass er sie so ansah. Sie blieb wie angewurzelt stehen und blinzelte eine Träne weg.

»Antworte ihm«, sagte jemand, eine Stimme aus der Dunkelheit. »Wie bist du hierher gekommen?«

Luce hätte die hochmütige Stimme überall erkannt. Sie brauchte nicht zu sehen, wie Cam aus der Tür des Bunkers trat.

Mit einem leisen Knacken und einem Sausen, als würde eine riesige Flagge entfaltet, streckte er seine großen Flügel aus. Sie ragten hinter ihm auf und ließen ihn noch prachtvoller und beängstigender wirken als gewöhnlich. Luce konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Die Flügel warfen einen goldenen Schein auf die dunkle Straße.

Luce blinzelte und versuchte zu verstehen, was sich vor ihren Augen abspielte. Es waren noch mehr von ihnen da, noch mehr Gestalten, die in der Dunkelheit kauerten. Jetzt traten sie alle vor.

Gabbe. Roland. Molly. Arriane.

Sie waren alle da. Alle mit straff nach vorn gezogenen Flügeln. Ein schimmerndes Meer aus Gold und Silber, blendend hell auf der dunklen Straße. Sie wirkten angespannt. Ihre Flügelspitzen zitterten, als seien sie bereit, sich in den Kampf zu stürzen.

Ausnahmsweise machten Luce weder die Pracht ihrer Flügel noch die Strenge ihrer Blicke Angst. Sie war angewidert.

»Seht ihr allejedesMal zu?«, fragte sie.

»Luschka«, sagte Gabbe mit ausdrucksloser Stimme. »Sag uns einfach, was los ist.«

Dann war Daniil da und packte sie an den Schultern. Schüttelte sie.

»Luschka!«

»Ich bin nicht Luschka!«, rief Luce, riss sich von ihm los und wich ein halbes Dutzend Schritte zurück.

Sie war entsetzt. Wie konnten sie mit sich leben? Wie konnten sie alle einfach dasitzen und zusehen, wie sie starb?

Es war alles zu viel. Sie war nicht bereit, dies zu sehen.

»Warum schaust du mich so an?«, fragte Daniil.

»Sie ist nicht diejenige, für die du sie hältst, Daniil«, erwiderte Gabbe. »Luschka ist tot. Dies ist … dies ist …«

»Was ist sie?«,fragte Daniel. »Wie kann sie hier stehen? Wenn …«

»Sieh dir ihre Kleider an. Sie ist eindeutig …«

»Halt den Mund, Cam, sie ist es vielleicht nicht«, unterbrach Arriane ihn, aber auch sie schien Angst zu haben, dass Luce vielleicht das war, was Cam von ihr hatte behaupten wollen. Ein Kreischen zerriss die Luft, und in die Häuser auf der anderen Straßenseite schlugen Artilleriegeschosse ein; sie machten Luce taub und ließen ein hölzernes Lagerhaus in Flammen aufgehen. Die Engel scherten sich nicht um den Krieg, sie interessierten sich nur für sie. Es war jetzt ein Abstand von sechs oder sieben Meter zwischen Luce und den Engeln, und sie schienen vor ihr genauso auf der Hut zu sein wie sie vor ihnen. Keiner von ihnen kam näher. Im Licht des brennenden Hauses tanzte Daniels Schatten und reckte sich weit von ihm weg. Sie konzentrierte sich darauf, diesen Schatten zu sich zu rufen. Würde es funktionieren? Ihre Augen wurden schmal und alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich an. Sie war noch immer so unbeholfen in diesen Dingen und wusste nie, was notwendig war, um den Schatten in die Hände zu bekommen.

Als die dunklen Linien zu zittern begannen, stürzte sie sich darauf. Sie packte den Schatten mit beiden Händen und begann, die dunkle Masse zu einem Ball zu drehen, genauso, wie sie es ihre Lehrer, Steven und Francesca, an ihrem ersten Tag in der Shoreline hatte tun sehen. Ein gerade erst gerufener Verkünder war immer schmutzig und amorph. Er musste zuerst eine deutlich erkennbare Kontur erhalten. Erst dann konnte man ihn zu einer größeren, flachen Oberfläche auseinanderziehen. Dann verwandelte sich der Verkünder in einen Bildschirm, der einem die Vergangenheit zeigte – oder in ein Portal, durch das man hindurchtreten konnte.

Der Verkünder war klebrig, aber sie zog ihn bald auseinander und gab ihm eine Form. Sie griff hinein und öffnete das Portal.

Hier konnte sie nicht länger bleiben. Sie hatte jetzt eine Mission: Sich selbst lebendig in eine andere Zeit zu bringen und zu erfahren, von welchem Preis die Outcasts gesprochen hatten, und schließlich den Ursprung des Fluches zu entdecken, der auf ihr und Daniel lastete.

Um ihn dann zu brechen.

Die anderen schnappten nach Luft, während sie den Verkünder formte.

»Wann hast du gelernt, wie man das macht?«, flüsterte Daniil.

Luce schüttelte den Kopf. Ihre Erklärung würde Daniil nur verwirren.

»Lucinda!« Das Letzte, was sie hörte, war seine Stimme, die ihren wahren Namen rief.

Seltsam, sie hatte direkt in sein erschüttertes Gesicht geblickt, aber nicht gesehen, dass seine Lippen sich bewegten. Ihr Verstand spielte ihr Streiche.

»Lucinda!«, rief er noch einmal, und seine Stimme schwoll vor Panik an, kurz bevor Luce mit dem Kopf voraus in die lockende Dunkelheit tauchte.

Zwei

Vom Himmel gesandt

MOSKAU, 15. OKTOBER1941

»Lucinda!«, rief Daniel abermals, aber es war zu spät: Im gleichen Augenblick war sie auch schon verschwunden. Er war gerade erst in die trostlose, schneebedeckte Stadt getreten. Er hatte hinter sich einen Lichtblitz gespürt und die Hitze einer Flamme in der Nähe, aber alles, was er sah, war Luce. Er lief auf die verdunkelte Straßenecke zu, wo sie stand. Sie sah winzig aus in einem fadenscheinigen Mantel, der jemand anderem gehörte. Sie wirkte verängstigt. Er hatte beobachtet, wie sie einen Schatten öffnete, und dann …

»Nein!«

Hinter ihm schlug eine Rakete in ein Gebäude ein. Der Boden erbebte, die Straße wölbte sich und riss auf, und ein Hagel aus Glas und Stahl und Beton prasselte nieder.

Danach herrschte auf der Straße tödliche Stille. Aber Daniel bemerkte es kaum. Er stand einfach ungläubig zwischen den Trümmern.

»Sie geht weiter zurück«, murmelte er und klopfte sich den Staub von den Schultern.

»Sie geht weiter zurück«, sagte jemand.

SeineStimme. Ein Echo?

Nein, für ein Echo war es zu nah. Und zu deutlich, als dass er sich es hätte einbilden können.

»Wer hat das gesagt?« Er rannte an einem zerstörten Gerüst vorbei zu der Stelle, wo er Luce gesehen hatte.

Ein zweimaliges Aufkeuchen.

Daniel stand vor sich selbst. Es war nicht ganz er selbst – eine frühere Version von ihm, eine etwas weniger zynische Version seiner selbst. Aber aus welcher Zeit? Wo war er?

»Berührt euch nicht!«, rief Cam ihnen zu. Er trug die Arbeitsuniform eines Offiziers, Kampfstiefel und einen ausgebeulten schwarzen Mantel. Bei Daniels Anblick flammten seine Augen auf.

Unbewusst waren beide Daniels einander näher gekommen und umrundeten einander vorsichtig. Jetzt wichen beide zurück.

»Halt dich von mir fern«, warnte der ältere den neueren. »Es ist gefährlich.«

»Das weiß ich«, blaffte Daniel. »Denkst du, ich wüsste das nicht?« Schon die Nähe zu diesem anderen Daniel krampfte ihm den Magen zusammen. »Ich war schon einmal hier. Ich bindu.«

»Was willst du?«

»Ich …« Daniel sah sich um und versuchte,sich zu orientieren. Nachdem er Jahrtausende gelebt, Luce geliebt und sie verloren hatte, war das Gewebe seiner Erinnerungen ausgefranst. Die Wiederholungen machten es schwer, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Aber dieser Ort lag nicht so lange zurück, an diesen Ort erinnerte er sich …

Trostlose Stadt. Schnee auf den Straßen. Feuer am Himmel.

Es könnte einer von hundert Kriegen gewesen sein.

Aber da …

Die Stelle auf der Straße, wo der Schnee geschmolzen war. Der dunkle Krater in dem Meer aus Weiß. Daniel sank auf die Knie und griff nach dem Ring aus schwarzer Asche. Er schloss die Augen. Und er erinnerte sich genau daran, wie sie in seinen Armen gestorben war.

Moskau. 1941.

Das hatte sie also vor. Sie wanderte durch ihre früheren Leben. In der Hoffnung zu verstehen.

Bloß dass es in ihren Toden keine Regelmäßigkeit gab, keine Gesetzmäßigkeit. Mehr als irgendjemand sonst wusste Danieldas.

Aber esgabgewisse Leben, in denen er versucht hatte, für sie ein Licht auf die Dinge zu werfen, in der Hoffnung, sie dadurch ändern zu können. Manchmal hatte er gehofft, Luce länger am Leben halten zu können, obwohl das niemals wirklich funktioniert hatte. Manchmal – wie dieses Mal während der Belagerung Moskaus – hatte er sich dafür entschieden, sie schneller fortzuschicken. Um sie zu schonen. Sodass sein Kuss das Letzte sein konnte, was sie in diesem Leben fühlte.

Und das waren die Leben, die die längsten Schatten über die Äonen warfen. Das waren die Leben, die herausragten und Luce anzogen, wie Eisenspäne von einem Magneten angezogen wurden, während sie durch die Verkünder stolperte. Diese Leben, in denen er ihr offenbart hatte, was sie wissen musste, obwohl er wusste, dass es sie zerstören würde.

Wie ihr Tod in Moskau. Er erinnerte sich lebhaft daran und kam sich töricht vor. Die verwegenen Worte, die er geflüstert hatte, der leidenschaftliche Kuss, den er ihr gegeben hatte. Das glückselige Begreifen auf ihrem Gesicht, als sie starb. Es hatte nichts geändert. Ihr Ende war immer das Gleiche.

Und Daniel fühlte sich anschließend auch immer gleich: verlassen. Schwarz. Leer. Ausgeweidet. Untröstlich.

Gabbe machte einen Schritt vorwärts, um Schnee über den Ring aus Asche zu treten, wo Luschka gestorben war. Ihre federleichten Flügel glänzten in der Nacht, und eine schimmernde Aura umgab ihren Körper, während sie vornübergebeugt im Schnee stand. Sie weinte.

Die Übrigen kamen ebenfalls näher: Cam. Roland. Molly. Arriane.

Und Daniil, der Daniel lang vergangener Zeiten, vervollständigte ihre bunt zusammengewürfelte Runde.

»Wenn du hier bist, um uns vor etwas zu warnen«, rief Arriane, »dann sag, was du zu sagen hast, und geh.« Ihre schimmernden Flügel falteten sich nach vorn, und sie trat schützend vor Daniil, der ein wenig grün aussah.

Es verstieß gegen das Gesetz und war unnatürlich für die Engel, mit ihren früheren Ichs Kontakt aufzunehmen. Daniel fühlte sich dumpf und schwach – ob das daran lag, dass er Luce’ Tod hatte durchleben müssen oder daran, dass er seinem früheren Ich so nahe gewesen war, konnte er nicht sagen.

»Uns warnen?«, höhnte Molly und ging im Kreis um Daniel herum. »Warum sollte Daniel Grigori sich die Mühe machen, uns wegen irgendetwas zu warnen?« Sie trat dicht vor ihn hin und kitzelte ihn mit ihren kupferfarbenen Flügeln. »Nein, ich erinnere mich daran, was er im Schilde führt – dieser hier springt seit Jahrhunderten durch die Vergangenheit. Immer auf der Suche, immer zu spät.«

»Nein«, flüsterte Daniel. Das konnte nicht sein. Er hatte sich auf den Weg gemacht, um sie einzufangen, und das würde er tun.

»Was sie eigentlich wissen will«, sagte Roland zu Daniel, »ist Folgendes: Was ist passiert? Was hat dich hierher geführt? Von wo auch immer du gekommen bist.«

»Ich hatte es fast vergessen«, meinte Cam, während er sich die Schläfen rieb. »Er ist hinter Lucinda her. Sie ist aus der Zeit gefallen.« Er drehte sich zu Daniel um und zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht wirst du jetzt deinen Stolz vergessen und uns um Hilfe bitten?«

»Ich brauche keine Hilfe.«

»Mir scheint, du brauchst doch welche«, spottete Cam.

»Halt dich da raus«, zischte Daniel. »Du wirst uns später noch genug Ärger machen.«

»Oh, was für ein Spaß.« Cam klatschte in die Hände. »Jetzt habe ich etwas, auf das ich mich freuen kann.«

»Das ist ein gefährliches Spiel, das du spielst, Daniel«, warf Roland ein.

»Das weiß ich.«

Cam lachte ein dunkles, finsteres Lachen. »Also. Wir haben schließlich das Endspiel erreicht, nicht wahr?«

Gabbe schluckte. »Also … hat sich etwas verändert?«

»Sie kommt langsam dahinter!«, sagte Arriane. »Sie öffnet Verkünder und schreitet hindurch und sielebt immer noch!«

Daniels Augen flammten violett auf. Er wandte sich von ihnen allen ab und blickte auf die Ruine der Kirche, wo er Luschka zum ersten Mal gesehen hatte. »Ich kann nicht bleiben. Ich muss sie einholen.«

»Nun, soweit ich mich erinnern kann«, bemerkte Cam leise, »wirst du das niemals schaffen. Die Vergangenheit ist bereits geschrieben, Bruder.«

»Deine Vergangenheit vielleicht. Aber nicht meine Zukunft.« Daniel konnte nicht klar denken. Seine Flügel brannten in seinem Körper darauf, freigelassen zu werden. Sie war fort. Die Straße war verlassen. Hier war niemand, um den er sich Sorgen machen musste.

Er nahm die Schultern zurück und ließ seine Flügel sich entfalten. Diese Leichtigkeit. Diese tiefste Freiheit. Jetzt konnte er klarer denken. Was er brauchte, war ein Moment für sich allein. Mit sich selbst. Er warf dem anderen Daniel einen Blick zu und erhob sich in den Himmel.

Sekunden später hörte er das Geräusch wieder: Das gleiche Rauschen von sich entfaltenden Flügeln – das Schlagen eines weiteren Paares Flügel, jüngerer Flügel, die vom Boden unter ihm abhoben.

Daniels früheres Ich holte ihn am Himmel ein. »Wohin?«

Wortlos ließen sie sich auf einem Sims im dritten Stock eines Gebäudes in der Nähe des Patriarchenteichs nieder, auf dem Dach gegenüber Luce’ Fenster, von wo aus sie sie im Schlaf beobachtet hatten. Die Erinnerung würde für Daniil frischer sein, aber die schwache Vorstellung von Luce, wie sie träumend unter den Decken gelegen hatte, ließ noch immer eine Welle der Wärme durch Daniels Flügel fließen.

Beide waren ernst. Wie traurig und ironisch, dass ihr Zuhause in der ausgebombten Stadt verschont geblieben war, während sie selbst dieses Glück nicht gehabt hatte. Schweigend standen sie in der kalten Nacht und zogen beide sorgfältig die Flügel wieder ein, damit sie einander nicht versehentlich berührten.

»Wie sehen die Dinge für sie in der Zukunft aus?«

Daniel seufzte. »Die gute Nachricht ist, dass in diesem Leben etwas anders ist. Irgendwie ist der Fluch … verändert worden.«

»Wie?« Daniil schaute auf, die Hoffnung, die hell in seinen Augen geleuchtet hatte, verdunkelte sich. »Soll das heißen, dass sie in ihrem gegenwärtigen Leben noch ungetauft ist?«

»Das vermuten wir. Es trägt zu der Änderung bei. Es scheint, als hätte sich ein Schlupfloch aufgetan und ihr gestattet, über ihre gewohnte Zeitspanne hinaus zu leben …«

»Aber das ist unglaublich gefährlich.« Daniil sprach schnell und hektisch die gleichen Gedanken aus, die Daniel seit jener letzten Nacht in der Sword & Cross durch den Kopf gegangen waren, als er begriffen hatte, dass es diesmal anders war: »Sie könnte sterben und nicht zurückkommen. Das könntedasEnde sein. Damit steht jetzt absolut alles auf dem Spiel.«

»Ich weiß.«

Daniil brach ab und fasste sich. »Es tut mir leid. Natürlich weißt du das. Aber … die Frage ist, verstehtsie, warum dieses Leben anders ist?«

Daniel betrachtete seine leeren Hände. »Eine der Ältesten der Zhsmaelim ist an sie herangekommen und hat sie ausgefragt, bevor Luce irgendetwas über ihre Vergangenheit wusste. Lucinda weiß, es dreht sich um die Tatsache, dass sie nicht getauft ist … aber es gibt so viel, das sie nicht weiß.«

Daniil trat an den Rand des Daches und betrachtete ihr dunkles Fenster. »Was sind dann die schlechten Neuigkeiten?«

»Ich fürchte, es gibt außerdem vieles, das ich nicht weiß. Ich kann nicht vorhersagen, was geschehen wird, wenn ich sie bei ihrer Flucht zurück durch die Zeit nicht finde und aufhalte, bevor es zu spät ist.«

Unten auf der Straße ging eine Sirene los. Der Luftangriff war vorüber. Schon bald würden die Moskowiter auf der Suche nach Überlebenden ihre Stadt durchkämmen.

Daniel durchforschte sein Gedächtnis.Sie ging weiter zurück – aber in welches Leben?Er drehte sich um und musterte sein früheres Ich durchdringend. »Du erinnerst dich auch daran, nicht wahr?«

»Dass … sie zurückgeht?«

»Ja. Aber wie weit zurück?« Sie sprachen beide gleichzeitig, während sie auf die dunkle Straße hinabstarrten.