Engelsmacht - Sabine Niedermayr - E-Book

Engelsmacht E-Book

Sabine Niedermayr

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Beschreibung

Kate ist gerade einmal siebzehn und ein typischer Teenager. Ihr vermeintlich einfaches und unbeschwertes Leben wird zunehmend durcheinander gebracht, als sich seltsame Erscheinungen und Begegnungen in ihr Leben drängen. Ausgerechnet jetzt gesteht ihr der Freund ihrer Kindheit seine Liebe. Gefühle, die sie nicht erwidert und die ihre Beziehung auf eine harte Probe stellen. Hinzu kommt, dass Veränderungen auf der Erde ihren Anfang nehmen, eine düstere Stimmung den Planeten einhüllt. Auswirkungen, die sie am eigenen Leibe zu spüren bekommt und sie nach Antworten suchen lassen. Aber sind rätselhafte Inschriften, die Visionen eines verwirrten Mannes und das Auftauchen von sonderbaren Gestalten wirklich Zeugnis eines nahenden Unterganges?

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Sabine Niedermayr
Widmung
Prolog
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Interview mit den Protagonisten aus ›Engelsmacht‹
Empfehlung
Impressum

 

 

 

Engelsmacht

 

 

Sabine Niedermayr

 

 

Von Anbeginn der Zeit der Welten Glanz

erlischt unter der Hand des Menschen,

doch die göttliche Gnade

endet in der Ewigkeit …

Sabine Niedermayr

 

Sabine Niedermayr ist ein kreativer, gefühlsvoller und optimistischer Mensch. Seit ihrer Geburt im Dezember 1981 erfüllt Musik, Malerei und die Liebe zum Wort ihr Leben.

Aufgewachsen in Salzburg und der ländlichen Idylle, die die Stadt umgibt, besuchte sie nach der Volksschule das Musische Gymnasium und später die Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, die sie 2001 mit der Matura abschloss.

Bis zum Beginn ihrer Karenz 2009 arbeitete sie als Pädagogin in einem Gemeindekindergarten. Neben der Erziehung ihrer beiden Kinder widmete sie sich fortan wieder ganz dem Schreiben und schuf mit dem Fantasyroman ›Die Beschützerin der Erde‹ (2014) den Grundstein für ihre Karriere. Ihre weiteren Werke wurden in Zusammenarbeit mit dem Elvea-Verlag veröffentlicht.

Den Anfang machte im Juli 2015 Ihr zweites Buch mit dem Titel ›Engelsmacht‹ und bereits im Oktober 2015 erschien das Märchen ›Macht der Wünsche‹. Nur kurz darauf wurde ihr dritter Fantasyroman ›Aurinja‹ publiziert, der auch als Schmuckausgabe mit 10 farbigen Illustrationen erhältlich ist.

Mit ›Freundschaft oder weil Einhörner keine Regenbögen pupsen‹ folgte im Juli 2016 schließlich der Auftakt einer Fantasyreihe für Kinder. 20 Bilder machen die Geschichte lebendig und sorgen für ein kindgerechtes Lesevergnügen.

Die Fortsetzung ›Freundschaft oder vom Zauber der Karottenhelden‹ wurde im September 2017 veröffentlicht und ist mit 30 Illustrationen nochmals ein Stück eindrucksvoller als sein Vorgänger.

Ihre bisherigen Werke werden 2018 in einer überarbeiteten Neuauflage in gewohnter Professionalität im Selbstverlag erscheinen. Aktuell arbeitet sie an Band 3 der Kinderbuchreihe und zwei weitere Romane sind schon in Planung.

Darüber hinaus übernimmt sie Illustrationsaufträge für Kinder- und Bilderbücher, womit sie ihre zweite Leidenschaft zum Beruf gemacht hat. Sie blickt gespannt in die Zukunft und freut sich auf alles, was das Leben noch für sie bereithält..

Widmung

 

Für meinen geliebten Ehemann und zugleich

besten Freund, der stets an meiner Seite ist.

 

Für meine Eltern, die mein Leben geprägt und

mich immer unterstützt haben und deren Liebe

in meinem Herzen wohnt.

 

Für meine Schwestern, die mich stärken und vollenden.

Für meinen Bruder, der uns viel zu früh

genommen wurde.

 

Für meine Familie, die mir das Wichtigste ist.

Prolog

Geräusche lodernder Feuer und der Geruch qualmenden Rauches drangen langsam in ihr Bewusstsein, holten sie aus der schwarzen, gedankenlosen Tiefe hervor, zurück in die Wirklichkeit. Und noch im selben Augenblick fühlte sie einen brennenden Schmerz am ganzen Körper, konnte nur erahnen, wie schlimm es um sie stand.

Zögernd öffnete sie die Lider, erst nur einen Schlitz breit, dann beinahe weit aufgerissen vor Entsetzen.

Ihre Augen begannen im hellen und heißen Schein der Flammen und dem Qualm der Feuersbrunst zu tränen, doch zunehmend gewöhnten sie sich daran und sie musste erkennen, dass die Erde zu einem glühenden und brennenden Ort der Zerstörung geworden war.

Das Bild, das sich ihr bot, hätte nicht surrealer sein können, als wäre es direkt aus einem Film entsprungen. Und wenngleich sie noch mit sich und ihrer Situation haderte, ihren Kopf schüttelte, als ob sie dieses aberwitzige Szenario einfach loswerden und erwachen könnte, fraß sich die gleißende Luft in ihre Haut, erschwerte ihr das Atmen.

Ihre Umgebung konnte sie nur unscharf erkennen. Während sie sich mühsam erhob, starrte sie ungläubig auf die verwüstete, ehemals blühende Erde, auf der alles Leben vernichtet und unwiderruflich ausgelöscht war und erkannte auf grausame Weise, dass sie versagt hatte.

Wie hatte es nur geschehen, sie selbst es nicht aufhalten und abwenden können?

Das alles war wie ein Alptraum, aber einer, aus dem es kein Erwachen gab.

Obgleich alles um sie herum ein Opfer der Flammen und flüssiger Lava geworden war, lebte sie, vielleicht gerade so lange, um qualvoll mitzuerleben, dass ihre Welt unterging.

Unter ihren Füßen knirschte und knackte es, ließ sie unbeholfen vorwärts stolpern. Aber wohin sie sich auch wenden würde, es erschien ihr zwecklos, denn kein Flecken Erde war verschont und unberührt geblieben.

Verzweifelt suchte sie in dem dichten schwarzen Rauch nach ihr gleichgesinnten Seelen, Menschen, die vielleicht überlebt hatten, aller Logik zum Trotz.

Unweit entfernt von ihr standen nur mehr stählerne, glühende Gerüste, wo sich einst die Gebäude der Stadt befanden. Der große Fluss mit den grünen Wiesen des Parks, ein Raub der Flammen, in Bruchteilen verdampft!

Stattdessen schlängelte sich flüssiges Gestein über die Erde, grub sich tief hinein und riss dabei auch die letzten Reste und Zeugnisse der Zivilisation mit sich.

Meterhoch türmten sich Schutt und Asche und ein seltsamer Wind wehte über die Ödnis, riss die Flammen nur noch höher in den Himmel, färbte ihn rot.

Ihre Füße brannten und obwohl sie wusste, was diese Schmerzen bedeuteten, wagte sie es nicht, hinunterzusehen, konnte sie doch unmöglich mehr erblicken als zwei blutige Stumpen und schon bald würden auch die sie nicht mehr tragen.

Trotz aller Ausweglosigkeit fürchtete sie sich davor, aufzugeben, sich einfach hinzusetzen und auf das erlösende Ende zu warten, wenn es denn eines war.

Nach allem, was sie getan hatte, wie konnte sie da hoffen, Erbarmen und Frieden zu finden? Nein, sie musste weiter, konnte nicht verweilen und auf den Tod warten, obwohl sie schon mit mehr als nur einem Bein im Grab stand.

Erneut machte sich wie schon in den Tagen zuvor Verzweiflung breit, sie empfand ihre ganze Situation so ausweglos und endgültig.

Wieso war sie nicht einfach mit all den anderen gestorben, schnell und schmerzlos? Stattdessen musste sie sich mit der Gewissheit quälen, dass sie machtlos ihrem Schicksal gegenüberstand und was dann?

Würde sie einfach an einem schönen Ort erwachen oder war diese brennende Welt bereits die Hölle, die auf sie wartete?

Ihre Schritte wurden langsamer, ihre Kräfte schwanden und sie spürte, dass ihr Geist nicht mehr lange über ihren völlig zerstörten Körper triumphieren, sie voran treiben konnte.

Voller Angst und orientierungslos kämpfte sie sich durch die Trümmer, als sich in all das Chaos um sie herum langsam, erst kaum wahrnehmbar, etwas anderes mischte.

Es ließ sie für einen Moment die Schmerzen vergessen und gebannt in den grauen Schleier der Feuer starren und es kam ihr vor, als würde sich darin etwas bewegen, einen Weg hindurch bahnen.

Der Qualm schien sich auf seltsame Art und Weise vor ihr zu teilen, wie ein Vorhang, der zur Seite gezogen wurde. Und in das gleißende Licht der Flammen schlich sich nach und nach ein kleiner dunkler Schatten, der auf sie zukam, von einer anfänglich bizarren Form mehr und mehr zu einem Körper wurde – dem Körper eines Menschen!

Ein letzter Funken Hoffnung nahm von ihr Besitz, ließ sie ihre ganzen Kraftreserven mobilisieren und auf den dunklen Fleck vor ihren Augen zutaumeln.

Hatte sie sich geirrt, hatte jemand diese Katastrophe überlebt?

Je näher sie dem Unbekannten kam, desto ruhiger wurde sie, bestärkt in der Gewissheit, dass sie nicht alleine sterben würde.

Nur noch wenige Meter trennten sie von diesem einen Menschen und doch konnten es Hunderte sein, sie hatte kaum mehr die nötige Kraft, ihn wirklich zu erreichen, aber sie gab alles, um es zu versuchen.

Dieser letzte Kampf verlangte ihr alles ab, was sie zu geben hatte, selbst der Schweiß verdampfte, ehe er ihr hätte Kühlung bringen können. Jeder Muskel in ihrem Innern bäumte sich auf und es war ihr, als ob sie die einzelnen Fasern in ihren Armen und Beinen reißen und vor Überanstrengung aufzugeben spürte.

Vielleicht zwei, drei Schritte vor ihrem Ziel ließ sie ihr Körper im Stich und sie stürzte, fiel haltlos zu Boden und die glühende Erde fraß sich nun vollends in ihr Fleisch, ließ sie aufschreien.

Trotz allem konnte sie ihren Blick nicht abwenden, streckte ihre Hände dem Fremden entgegen, der sie scheinbar mühelos erreicht hatte und sich zu ihr herunterbeugte – offenbar völlig unversehrt!

Keinerlei Brand- oder Rußflecken, keine Verletzungen, als ob er sich nicht auf demselben Planeten befinden würde wie sie.

Seine Hände, so weich und liebevoll, als er sie berührte, doch erst als er ganz dicht vor ihr stand, erkannte sie, durch den von Asche und Dreck getrübten Schleier ihrer Augen, sein Gesicht.

Ein erschreckter Aufschrei durchschnitt den tosenden Lärm, hallte durch die Feuersbrunst und in derselben Sekunde wich sie vor ihm zurück, starrte ihn an.

Sie kannte ihn, sein ganzes Aussehen war perfekt imitiert, gleichwohl konnte sie in seinen Augen etwas Fremdes erkennen. Er war nicht der, für den er sich ausgab, vielmehr nur eine Hülle, ein Platzhalter für jemand anderen.

Die eiserne Hand des Todes griff nach ihr, wollte sie in die Dunkelheit reißen, doch noch ein allerletztes Mal holte sie Luft, entkam für einen kurzen Augenblick ihrem endgültigen Schicksal.

»Wer bist du?«

Es war kaum mehr als ein Flüstern, das sie zustande brachte. Das fremde Wesen in dem Körper lächelte hingegen, hatte trotz allen Lärms verstanden, was sie wissen wollte.

»Aber das weißt du doch längst.«

Es lag so viel Wärme in seinen Worten, dass sie ihre Angst vergaß und hörbar mit einem tiefen Seufzer der Erlösung ihren Atem entweichen ließ.

Dann schloss sie dankbar ihre Augen.

1

Drei Monate zuvor

 

Es war so ein herrlicher Morgen als sie erwachte. Einer von denen, an dem man Bäume ausreißen könnte, nun zumindest im sprichwörtlichen Sinn. Ihr Wecker würde in wenigen Minuten sowieso dafür sorgen, dass sie sich aus dem Bett mühte, also hielt sie es für das Beste, diesen schönen Tag gleich zu beginnen und die gewonnene Zeit zu nützen, um ausgiebig zu frühstücken.

Schon fast fröhlich hüpfte sie aus dem Bett, zog sich an und machte sich zurecht. Es gab nichts Besseres als eine heiße Tasse Tee und getoastetes Brot, um in den Tag zu starten, nun zumindest für sie. Und heute hatte sie sogar ein wenig Zeit übrig, um sich frisches Obst dazu zu schneiden.

Schnell packte sie ihre Schulsachen zusammen, schulterte den Rucksack und eilte die Treppe hinunter. Das Haus lag zu diesem Zeitpunkt im Dämmerlicht, denn sie war die Erste, die jeden Morgen ihr Zuhause vor allen anderen verließ. Ihre Eltern schliefen noch, was sie den beneidenswerten Arbeitszeiten und einem Auto zu verdanken hatten, und ihr älterer Bruder Jonathan wohnte seit Monaten nicht mehr bei ihnen.

Er hatte ein Studium begonnen und kam nur noch bei Gelegenheit vorbei. Das hieß so viel wie Mittagessen und Wäsche waschen, wenn denn ihre Mutter mal wieder dem Hundeblick ihres Bruders nicht widerstehen konnte.

Selbst bei dem Gedanken daran rollte sie mit den Augen, es war ihr ein Rätsel, wie die beiden ein derart gängiges Klischee bedienen konnten.

Hastig vertrieb sie die auftauchenden Bilder in ihrem Kopf, erhellte den Raum und legte ihren Rucksack beiseite.

Auch wenn sie es sonst meist vermied, schaltete sie den Fernseher ein, um den Wetterbericht fürs Wochenende nicht zu verpassen. Hatte sie vor, dieses Mal tatsächlich mit ihrem Freund Jim, den sie schon seit Kindertagen kannte, reiten zu gehen.

Ein Versprechen, das sie seit langem einzulösen versuchte, sich jedoch davor fürchtete, auf einem vierbeinigen Koloss zu sitzen und ihn mit einem knapp einen Zentimeter starken Zügel im Zaum zu halten. Für sie nicht nur eine alptraumhafte Vorstellung, sondern ganz einfach ein unnötiges Vergnügen, wie Jim es auszudrücken pflegte.

Ein wahrlich unübliches Hobby für einen siebzehnjährigen Jungen, aber er war begeistert davon und ließ keine Gelegenheit aus, sie zu bekehren. Ein gemütlicher Ausritt mit Picknick sollte es werden und dazu passend ein traumhafter Sommertag, nun zumindest, was ihn betraf. Ob sich das Wetter auch daran hielt, würde sie in ein paar Minuten erfahren.

Seit jeher fuhr Jim mit seinen Eltern in die Berge und schon oft stand einem gemeinsamen Kurzurlaub irgendetwas im Wege. Diesmal hingegen würde sie wohl nicht darum herumkommen, ihn zu begleiten.

Die flimmernden Bilder am Schirm flackerten an der Wand, folgten jedem ihrer Schritte in die Küche, während sie ihre Jause packte und sich das Frühstück mit zum Tisch nahm. Herzhaft biss sie unmerklich später in ihren Toast, beachtete nur beiläufig die Szenen vor sich, denen sie kaum Interesse und Aufmerksamkeit schenkte.

So früh wollte sie sich noch nicht mit derart ernsten Themen beschäftigen, aber es kam anders als sie dachte.

Einige Augenblicke später wurde ein Bericht übertragen, der sich von den sonstigen Meldungen unterschied. Das lag vielleicht weniger an dessen Inhalt, obwohl dieser auch etwas merkwürdig und beunruhigend war, als an der Art und Weise wie ihn der Reporter schilderte.

Irgendwie unsicher und ein wenig verstört, als ob er von Dingen wüsste und Informationen zurückhielt, vor denen er selbst erschauderte.

Die Stirn in Falten gelegt und erwartungsvoll unterbrach sie ihr Frühstück und lauschte den Worten des Sprechers.

»… Experten zufolge auf den Klimawandel zurückzuführen, ein Wort, das uns allen mittlerweile sehr geläufig ist, aber dessen Auswirkungen nur schwer einzuschätzen sind. Nicht nur die vielen Waldbrände aufgrund der langen Trockenperiode setzen den Menschen zu, auch die steigenden Aktivitäten sind besorgniserregend, um nicht zu sagen beängstigend, wenn man von dem Ausmaß der betroffenen Gebiete ausgeht.«

Hinter dem Reporter wurde eine Weltkarte eingeblendet und an Südamerika, Chile herangeholt. Gleich darauf erschienen zahlreiche rote Punkte, die bedrohlich blinkten.

»Die beiden Kontinentalplatten, die Südamerikanische und die Nasca Platte, die dort aufeinandertreffen, sorgen immer wieder für Erdbeben und Eruptionen von Vulkanen, dieses Mal jedoch ist ein immens großes Gebiet betroffen.«

Er holte mit seiner Hand aus und strich über die roten Punkte hinweg, bekräftigte seine Worte damit. Fast zeitgleich übertrug der Sender Aufnahmen von flüchtenden Menschen, die eilig ihre Häuser und ihr Dorf verließen, um der Gefahr zu entkommen.

Manche schleppten ihr Hab und Gut in wenigen Taschen hinter sich her, andere nahmen ihr Vieh mit, allem voran aber versuchten sie ihre eigene Haut zu retten, vor der drohenden Katastrophe zu fliehen.

»Zudem kommt hinzu, dass auch andere bekannte Erdbebengebiete und die Zonen entlang der Erdplatten Bewegung melden und das alles in einem enormen, flächendeckenden Ausmaß.

Derzeit sind diese Bewegungen laut Messungen minimal, sollten aber weiterhin beobachtet werden. Und da stellt sich nun die Frage, welche Langzeitfolgen haben wir noch zu erwarten? Erst kürzlich litt der gesamte Mittelmeerraum unter enormer Hitze und Europa versank im Wasser, nie dagewesene Jahrhundertfluten und Hochwasserpegelstände wurden gemessen und das binnen weniger Jahre zum zweiten Mal.

Hurrikans wüten, legen ganze Städte lahm, unser Planet scheint sich aufzulehnen, sich zu wehren. Wann lenken die Mächtigen ein und setzen endlich wirksame Maßnahmen zum Schutz der Erde um?

Zu dieser Frage und mehr diskutieren wir in wenigen Augenblicken, bleiben sie dran.«

Mit den schockierenden Bildern weinender und fliehender Menschen verschwand der Reporter und ein Werbeblog mit Müsli und allerlei sonstigen Köstlichkeiten wurde eingeblendet. Absolut unpassend fand sie das Anpreisen von Mineralwasser und der neuesten Bademoden, wenn man von den eben gehörten Fluten und den damit verbundenen Trinkwasserproblemen ausging.

In den letzten Jahren häuften sich derartige Schockmeldungen, ihr war jedoch nicht so ganz klar, ob das mehr an der zunehmenden Medienpräsenz lag, oder sich tatsächlich die Umwelt dramatisch zu verändern begann.

Hochwasser, Waldbrände und Hurrikans hatte es immer schon gegeben, nur wurde noch nie so viel darüber berichtet wie heute.

Ein zufälliger, ja eigentlich aus Gewohnheit ausgeführter Blick auf die Uhr unterbrach abrupt ihre Gedanken, rief ihr die Zeit wieder ins Gedächtnis. Sie ließ den Fernseher an, um den gleich folgenden Wetterbericht nicht zu überhören, und begann den Tisch abzuräumen und die letzten Bissen auf dem Weg zur Spüle zu verzehren.

Handy und Geldtasche, und alles was sie sonst so benötigte, verstaute sie derweilen in ihrem Rucksack.

Für unterwegs packte sie noch etwas Schokolade ein, ihr einziges richtiges Laster, als sie einen kurzen Blick auf den Bildschirm riskierte.

In fast derselben Bewegung drehte sie sich herum, eilte zum Fernseher zurück und seufzte laut, als sie die vielen gelben Sonnen über der Wetterkarte strahlen sah, denn bei den kommenden Temperaturen und Bedingungen blieb ihr keinerlei Stoff für Ausreden mehr.

Dann hatte sie den Reitausflug wenigstens hinter sich und jegliches weiteres Bemühen seinerseits konnte sie entkräften, hatte er ihr doch stets vorgehalten, es nicht zumindest einmal versucht zu haben.

Also ganz nach dem Motto: »Einmal und nie wieder«.

Sie drückte den Ausschalter und löschte das Licht, schlüpfte in ihre Lieblingsballerinas, die nicht nur bequem, sondern durchaus alltagstauglich waren und öffnete die Haustür.

Das Schönste am Sommer war, dass man nichts überziehen oder unnötig mit sich herumschleppen musste und es bereits in den frühen Morgenstunden angenehm warm war. Dieses Jahr stellte er sich unheimlich früh ein, übersprang beinahe gänzlich den Frühling, was ihr nicht sonderlich viel ausmachte. Sie war nie ein Freund der wechselhaften Jahreszeiten gewesen und der Sommer war ihr ohnehin am Liebsten.

Nachdem sie den Schlüssel herumgedreht und eingesteckt hatte, nahm sie die Treppe zur Straße hinunter und eilte ein paar Häuser weiter, um gleich darauf an der Tür ihrer Freundin Ann zu klopfen.

Sie gehörte, ebenso wie sie selbst, zu den wenigen Glücklichen, die von Kindesbeinen an in der gleichen Siedlung wohnten und in einem geschützten Vorort groß wurden.

Schon im Kindergarten waren sie unzertrennlich gewesen, was ihre Eltern dazu veranlasst hatte, sie auch auf dieselben Schulen zu schicken. Ein Umstand, für den sie beide ewig dankbar waren.

So teilten sie sich nicht nur den Hin- und Rückweg, der ihnen Gelegenheit für den täglichen Tratsch bot, sondern gingen, seit sie denken konnten, in die gleichen Einrichtungen.

Eine Besonderheit, die ihnen zwar manchmal auch auf die Nerven ging, wenn sie zu viel aufeinander hockten, aber größtenteils Freude machte.

Nachdem wie so oft das erste Anklopfen wirkungslos blieb, versuchte sie es ein weiteres Mal und kurz darauf konnte sie die hastigen und schnellen Schritte von Ann hinter der Tür hören. Erstaunlicherweise schaffte sie es jeden Morgen nur knapp und überwiegend unpünktlich, fertig zu sein, eine schlechte Angewohnheit, die ihnen schon zwei Verweise eingebracht hatte.

Wenige Augenblicke später riss ihre Freundin wie gewohnt die Tür auf, entschuldigte sich hastig, und folgte ihr die Straße hinunter, während sie ihre eilig übergeworfene Kleidung zurechtzupfte.

»Hast du daran gedacht, die Kopien für das Referat mitzunehmen?«, fragte sie sicherheitshalber schon vorausschauend nach, denn Ann war ebenso bekannt dafür, das eine oder andere zu vergessen.

Prompt blieb ihre Freundin wie angewurzelt stehen, kramte in ihrem übergroßen Rucksack und machte mit einem Seufzer auf dem Absatz wieder kehrt.

Schnell lief sie zurück zur Tür und holte aus dem Haus die besagten Papierstücke, verstaute sie feinsäuberlich und gewissenhaft, wohl um sicherzugehen, dass sie diese nicht obendrein aus Versehen verlor.

»Entschuldige bitte Kate, ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde. So bald in der Früh funktioniert mein Kopf irgendwie noch nicht richtig.«

Ihr eigentlicher und geburtsurkundlich festgelegter Name war Katharina, aber seit der Schulzeit nannte sie Ann nur mehr Kate, das klang moderner, fand sie und das war ihr geblieben.

Außerdem passte es ihrer Meinung nach besser zu Ann, deren Name tatsächlich englischen Ursprungs war. Ihre Mutter wanderte schon vor der Geburt hierher aus und wollte ihr ein Stück Heimat mitgeben.

Ann fiel das amüsierte Schmunzeln in Kates Gesicht auf, ahnte sie bereits, was in ihrem Kopf vorging und mahnte sie zur Vorsicht: »Wehe, du sagst was, ich hab mich diesmal wirklich beeilt. Außerdem, was kann ich dafür, wenn mein Dad wieder einmal den Kühlschrank leer futtert? Mal ehrlich, zaubere du aus praktisch nichts eine halbwegs gute Jause!«

Kates Grinsen wuchs in die Breite, als sie sich daran erinnerte, wie ihr Ann einmal davon erzählt hatte, dass sie alle ihre Sachen mit Klebezetteln beschriftete, um diese vor ihrem Vater zu bewahren. Auf jedem Stück stand ihr Name, nur so konnte sie sichergehen, dass sie in der Früh noch die gewünschten Sachen vorfand.

Das klappte hervorragend bei Käse, Wurst und Joghurt, bei Obst und Brot wurde das schon schwieriger und Ann raffinierter.

Alles verschwand schon am Vorabend in einer Jausenbox, sonst war es vor niemanden sicher.

»Er hat mir doch glatt den Zettel in den Kühlschrank geklebt und einen Smiley dazu gemalt, ist das zu fassen?«

Die Entrüstung über den leer gegessenen Joghurt ließ Kate auflachen und auch Ann stimmte kurz darauf mit ein.

»Vielleicht solltest du ihm mal ein wenig Salz untermischen, dann vergeht ihm das ganz schnell!«

Über den Vorschlag schien Ann tatsächlich einen Moment lang nachzudenken, aber die Zeit drängte und so kam sie nicht mehr dazu, etwas zu erwidern.

Im Eiltempo verließen sie das Wohngebiet und machten sich zu Fuß auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle, von der aus sie dann drei Stationen weiter direkt zur U-Bahn gelangen würden.

Die Häuser ihrer Eltern lagen zwar etwas außerhalb, aber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln konnten sie die Stadt relativ schnell und ohne Probleme erreichen. Der Anschluss verlief meist reibungslos, sodass sie unnötige Wartezeiten vermeiden konnten.

Nur wenige Augenblicke später erreichten sie das Ende der Straße und den Bus, der heute pünktlich in die Haltestelle einfuhr, was ihnen einen morgendlichen Sprint bescherte. Der Fahrer schien ein Einsehen zu haben und wartete, bis die beiden Freundinnen eingestiegen waren.

Unverzüglich schlossen sich die Türen und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, schaukelte regelrecht über die Straße.

Mit ihnen waren alle Kinder aus der Nachbarschaft in dem rollenden Ungetüm eingepfercht, war es doch die einzige Verbindung in die Stadt. Bei so wenig Privatsphäre schwiegen sie lieber, tauschten aber vielsagende Blicke über ihre Leidensgenossen aus.

Wenig später öffneten sich die Türen wieder und nahmen weitere Fahrgäste auf, sehr zum Unmut aller, und das Spiel wiederholte sich auch an der nächsten Haltestelle.

Endlich kam der ersehnte Knotenpunkt, an dem sich die Wege der Insassen teilten und Ann und Kate das überfüllte Verkehrsmittel verlassen konnten.

Direkt gegenüber der Haltestelle lag das Bahnhofsgebäude mit dem Abgang, der in den Untergrund führte. Die beiden Freundinnen ließen sich vom Strom der Menschenmasse mittragen und gelangten schnell an die Treppe, deren Ende sich in einem schwarzen Loch verlor. Eine stickige und warme Luft schlug ihnen entgegen, als sie hinunter liefen und um sie herum das Tageslicht sich in grelles Industrielicht verwandelte.

Um diese Zeit herrschte überall Gedränge auf den Bahnsteigen, der Berufsverkehr war in vollem Gange, und so mussten sie sich beide geschickt hindurchschlängeln, um zur richtigen Station zu gelangen. Unter der Erde bekam man unweigerlich die Hitze des Sommers zu spüren, denn oben vertrieb ein lauer Wind noch das Schlimmste, hier unten hingegen fühlte man sich wie in einem Backofen.

Sie hatten Glück, eben fuhr eine Bahn ein und sie kamen rechtzeitig, um sie zu erwischen.

Mit vielen anderen betraten sie den Waggon, reihten sich im Gang mit ihnen aneinander, als die U-Bahn sich auch schon mit einem Ruck in Bewegung setzte.

Die Fahrt dauerte für sie nur wenige Minuten, aber bei den sommerlichen Temperaturen heizten sich die Innenräume derart auf, dass auch schon diese kurze Zeit unangenehm werden konnte.

Zumal man in der Enge der Waggons unfreiwillig den Körpergeruch der anderen einatmen musste und schon mal unsanft gestoßen wurde.

Während Kate versuchte, ihren Kopf zur Seite zu drehen, um dem Schlimmsten zu entgehen, und sich durch den Blick, aus dem Fenster ein wenig Ablenkung erhoffte, fiel ihr etwas Befremdliches auf.

In der Menschenmenge halb versteckt, stand ein Mann von beachtlicher Größe. Nicht nur sein Kopf überragte die der anderen um ein gutes Stück, sondern auch sein Körper war von beeindruckender Stattlichkeit. Seine Kleidung verriet, dass er möglicherweise Geschäftsmann war, oder zumindest einem ähnlichen Beruf nachging, denn der Anzug, den er trug, wirkte seriös, wenn auch ein wenig altmodisch.

Seine Haare kurz geschnitten und sein Gesicht recht freundlich, trotz der Größe jedoch nicht unattraktiv, mehr wie ein Gentleman aus dem vergangenen Jahrhundert.

Obgleich Kate ebenso in der Menge unterzugehen schien wie er, sah er sie an, ganz direkt. Und selbst als sie seinen Blick erwiderte, ihm stand hielt, verharrte der Mann, seine Haltung unverändert.

Die anfängliche Verwunderung wandelte sich zunehmend in Unbehagen, kannte sie ihn ja nicht und wusste mit seinen starrenden Augen nichts anzufangen.

Nervös wandte Kate sich ab, sah beinahe übertrieben gelassen aus dem Fenster, behielt den Mann aber im Blickfeld.

Als die Bahn in der nächsten Station hielt, verließen einige Passagiere den Waggon, andere stiegen zu, der Fremde hingegen blieb regungslos. Steif und unwirklich sah er aus und sie spürte seinen Blick weiterhin auf sich ruhen, versuchte ihrem inneren Wunsch jedoch nicht nachzugeben, ihn erneut anzusehen.

Ruckartig nahm die Bahn wieder Fahrt auf, tauchte kurz danach abermals in den dunklen Tunnel ein und ließ für einen Moment eine kühle Brise durch ein gekipptes Fenster gleiten.

Kate nahm die anderen Menschen nur mehr am Rande wahr, zu sehr war sie darauf konzentriert, den Mann möglichst unauffällig zu beobachten.

Beiläufig ließ sie ihre Augen wieder über die Person gleiten, musterte seine Gestalt. Dabei traf sie erneut den Blick des Fremden und ein eigenartiges Frösteln durchfuhr ihren Körper.

Inmitten dieser seltsamen Situation platzte plötzlich eine ungewohnt laute und unerwartete Durchsage, ließ Kate erschrocken zusammenzucken und ihre Augen nach oben zu den Lautsprechern wandern.

Noch während die Frauenstimme aus den Löchern über ihr schallte, verringerte die U-Bahn ihre Geschwindigkeit und blieb schließlich kurz vor der nächsten Haltestelle mitten im Tunnel stehen. Sie konnte das grelle Licht und die grässlichen Fliesen sogar sehen, es fehlten nur wenige Meter, trotzdem hielten sie hier.

»Wir bitten Sie um Entschuldigung, aber aufgrund technischer Schwierigkeiten sind wir gezwungen, die Fahrt kurz zu unterbrechen. Ein Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe wird in Kürze bei ihnen eintreffen und ihnen den Ausstieg ermöglichen.

Sie können auf die Weiterfahrt im Bahnhofsareal warten, oder auf den Anschluss der Linie …«

Kate hatte genug gehört, für sie stand fest, die letzten Meter bis zur Schule zu laufen, da es vermutlich schneller ging. Während sie überlegte, ob sie es wohl ohne Verspätung schaffen würden, suchte sie wieder den Blickkontakt zu dem geheimnisvollen Fremden, doch der war plötzlich verschwunden.

Seltsam, eigentlich unmöglich, denn die Türen waren unverändert fest verschlossen und auch die Enge in dem Waggon ließ nur wenig Spielraum für einen Platzwechsel.

Vergeblich hoffte sie, den Mann in der Menge zu finden, konnte ihn eigenartigerweise nirgends entdecken.

Hatte sie sich vielleicht nur eingebildet, ihn gesehen zu haben?

Mit einem Mal stieß Ann sie sanft an und zeigte mit dem Finger zur Tür. Kate hatte gar nicht bemerkt, dass sie geöffnet worden war und sie den Zug nun verlassen konnten.

Nach und nach leerte sich der kleine Raum und sie zögerte erst, zu gehen, sah die Menschen, die an ihr vorbei schritten genauer an. Aber es wurde schon bald deutlich, dass der Fremde nicht unter ihnen war.

»Kate, wir sollten jetzt los, wir sind ohnehin spät dran, worauf wartest du?«

Ungeduldig fingen die im Waggon verbliebenen Passagiere an, vorwärtszudrängen, schoben sie Richtung Ausgang. Sie fügte sich schließlich und gelangte kurz darauf zur Tür, an der ihr ein junger Mann die Hand entgegenhielt, um ihr aus dem Abteil zu helfen, denn der Höhenunterschied war beachtlich.

Als sie die Hand ergriff, nahm sie aus dem Augenwinkel eine seltsame Reflexion in der Glasscheibe neben sich wahr und starrte darauf, es war der Mann von vorhin.

Blitzschnell drehte sie sich um, sah dorthin, woher die Spiegelung zu kommen schien, doch auch dieses Mal ging ihr Blick ins Leere.

Ein wenig verstört hielt sie kurz inne, musste aber dann gezwungenermaßen den Waggon verlassen, um nicht noch mehr Ärger auf sich zu lenken. Immer wieder suchte sie nach dem Mann, vergebens.

Im engen Gang zwischen der Wand und dem Zug herrschte eine seltsame Düsternis und der gleiche, warme, stickige Wind pfiff hindurch, wie schon beim Betreten des Untergrunds wenige Minuten zuvor. Ann folgte ihr und sah sie etwas irritiert an, sagte allerdings vorerst nichts, denn vorrangig mussten sie hier raus.

Über einen schmalen Zugang gelangten sie schließlich auf das Bahnhofsgelände, das vor lauter Menschen nun überquoll. Wie auch sie selbst schienen die meisten Pendler eine alternative Route zu wählen und verließen über die nächste Treppe diesen Ort.

Unwohl und mit einem Gefühl, als stünde sie unter Beobachtung, legte sie in Gedanken versunken die letzten Stufen zurück und fand sich mit ihrer Freundin am oberen Ausgang wieder.

Unsicher verharrte Kate noch einen Moment, ganz so, als hoffte sie doch auf eine Lösung dieses Rätsels, bis sie sich eingestand, dass sie vergeblich wartete.

Ann ignorierte ihre ins Gesicht geschriebene Unsicherheit und nahm sie am Arm, zog sie die ersten Meter bis zur Straße einfach hinter sich her, bis Kate sich gefangen hatte und Ann klar machte, dass sie ganz gut alleine gehen konnte.

»Na, auch schon wieder wach? Los jetzt, wir kommen sonst zu spät!«

Offensichtlich war ihr als Einziger aufgefallen, dass ein Riese mit im Zug war, der trotz seiner Größe einfach so verschwinden konnte. Daher hielt sie es für das Beste, kein Wort darüber zu verlieren, und es als ein seltsames Ereignis ohne Bedeutung abzuhaken. Sie hatte ohnehin damit zu tun, Ann hinterherzulaufen.

 

Wenig später und etwas außer Atem erreichten sie die Schule.

Ein Klotz aus den Siebzigerjahren, der genau so aussah, wie die damaligen Bauherren beabsichtigt hatten.

Aufgrund kostengünstiger Bauweise und übertriebenem Modernitätsbewusstsein, was die Baumittel betraf, mangelte es dem Gebäude deutlich an Schönheit, und die ehemals grauen Betonplatten waren nun zudem mit moosigem Grün überzogen und stellenweise einfach dem Alter entsprechend verfallen.

Schlichte rechteckige Fenster sorgten für Helligkeit und über einen kleinen Platz gelangte man zur Treppe, die in das Innere des Hauses führte.

Alles war vorteilhaft angelegt, was so viel hieß wie gerade Gänge und einheitliche Klassenzimmer. Dank mangelnder finanzieller Mittel kamen die Schüler mancherorts sogar in den Genuss des von der Decke tropfenden Regenwassers, denn das Flachdach war ebenfalls renovierungsbedürftig.

Ann und Kate eilten die Treppe hoch und augenblicklich nahm sie eine etwas kühlere Luft gefangen und umhüllte sie angenehm. Die Garderobe lag im Keller des Gebäudes, aufgrund hoher Schülerzahlen jedoch waren für ihre und eine weitere Klasse notdürftig Schränke in einem ebenerdigen Raum eingerichtet worden.

Wenigstens ersparten sie sich dadurch das düstere Licht im unteren Stock, auch wenn es beengter war.

Ödes und trostloses, ein wenig schmuddeliges Weiß verlieh den Wänden den zur Außenfassade passenden Grundton. Die Türen zu den Klassenräumen und Treppenhäusern in schlichtem Dunkelbraun ordneten sich anstandslos in das Bild mit ein.

Seltsamer, schwarzer Stein- oder Fliesenboden, so genau hatte Kate das nie feststellen können, nahm den Gängen das letzte Bisschen Helligkeit und ließ sie enger und kleiner erscheinen.

Die beiden Freundinnen waren nicht die Einzigen, die knapp vor Unterrichtsbeginn zur Schule eilten, während ihre Schritte lärmend von den Wänden hallten.

Mark, ein durchaus gut aussehender, aber arroganter Junge, kam mit seinen beiden Freunden Theo und Ben aus der Garderobe vor ihnen und setzte augenblicklich sein dümmliches Grinsen auf, während er sich seinen Rucksack über die Schulter warf.

Kate sog kaum hörbar die Luft ein, hatte sie ja so gar keine Lust, ausgerechnet dem größten Idioten der Schule zu begegnen.

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Mädchen ihres Alters einen solchen Macho anhimmeln und ihren Freund nennen wollten, hatte er doch stets nur Spott und bissige Bemerkungen für andere übrig.

Aber wie es in einer Schulgemeinschaft oftmals war, zogen manche die Aufmerksamkeit an, und wenn sie dies auch nur auf Kosten ihrer Mitschüler fertigbrachten.

Kate bemerkte, wie Ann neben ihr ein ebenso unerfreutes Gesicht machte und bemühte sich, die drei Burschen zu ignorieren. Mark hingegen war bester Laune und zeigte das dann gerne.

»Guten Morgen Pony, zur Ranch geht es da lang!«

Seine Worte wurden von übertriebenem Gekicher und leisem Wiehern begleitet, seine beiden Kumpels waren ebenso dumm wie gemein.

Die Bemerkung bezog sich auf Kates Frisur, sie hatte sich vor Wochen dem Trend angeschlossen und es gleich drauf bitter bereut. Mittlerweile wuchs sich der Haarschnitt wieder ein wenig aus, die blöden Sprüche blieben ihr jedoch erhalten.

»Du bist ein echter Hengst, was?«

Ann war nie um eine schlagfertige Antwort verlegen, baute sich vor den Jungs auf und setzte gleich noch etwas nach, ehe sie Gelegenheit hatten, zu kontern.

 

»Weißt du, was man mit jungen Hengsten macht?«

Ein seltsamer Ausdruck schlich sich auf Marks Gesicht, während bei Ann ein leichtes Grinsen langsam in die Breite wuchs.

Mit ihren Fingern, die sie auf und zu klappen ließ, unterstrich sie die folgenden Worte: »Schnipp, schnapp!«

Kate prustete laut los, als sie in die Gesichter der Burschen sah, bevor Ann sie ebenso lachend in den Raum mit den Schränken zum Umziehen weiter zog.

Sichtlich verärgert und ein wenig überrascht blieben Mark und seine Freunde zurück, ehe sie ihren Weg fortsetzten, wenn auch nicht ganz so vergnügt wie noch eben zuvor.

Leise vor sich hin kichernd schlüpfte Kate aus ihren Schuhen, verschloss die Tür und machte sich schließlich gemeinsam mit Ann auf den Weg in ihr Klassenzimmer.

»Danke Ann, wäre mir nie eingefallen!«

Kate hängte sich bei ihrer Freundin ein und bedachte sie mit einem freundlichen und warmherzigen Blick.

»War mir ein Vergnügen. Ist ja auch ein dummer Esel!«

Ihr Geschnatter und Gekicher verstummte abrupt, als sie den Klassenraum betraten, denn Frau Hortner, ihre Geschichtslehrerin, stand bereits vorne am Pult und musterte die beiden missbilligend.

»Na die Herrschaften? Schon mal auf die Uhr gesehen?«

Sie wussten beide, dass das keine ernstgemeinte Frage, vielmehr eine Feststellung war, und sie besser nicht antworteten. Selbst die Wahrheit und der Umstand, dass sie dieses Mal wirklich nichts dafür konnten, zu spät zu kommen, interessierte hier niemanden.

Die Augen gen Boden gerichtet und mit einer Entschuldigung nahmen die beiden Platz, verstauten ihre Sachen und kramten die notwendigen Bücher hervor, aber nicht ohne sich einen vielsagenden Blick zuzuwerfen.

 

Ihre Lehrerin behielt den tadelnden Gesichtsausdruck, den sie an alle richtete, quasi als Warnung zur Unpünktlichkeit, eine Weile bei, schritt anschließend an die Tafel und begann den Unterricht.

2

Im Laufe des Vormittags konnten Kate und Ann weiteren Begegnungen mit Mark und seinen Kumpanen aus dem Weg gehen und während draußen die Sonne sich ihren Weg über den Himmel bahnte, verging die Zeit für die beiden wie im Flug.

Ehe sie sich versahen, begann die wohlverdiente Mittagspause, zwei Freistunden, in denen sie sich mit ihren Freundinnen Helene und Leila aus der Parallelklasse zum Essen treffen wollten.

Hastig packten sie ihre Unterlagen beim ersten Klingeln in den Rucksack und brachen erneut zur Garderobe auf.

Dort warteten Helene und Leila bereits, begrüßten sie freundlich.

»Na Mädels? Wo wollen wir heute hin?«, begann Ann die allseits bekannte Frage zu eröffnen, welches Lokal sie sich diesmal aussuchen würden.

»Wie wäre es mit Döner?«

Ein lautes Aufstöhnen folgte dem Einwurf von Leila, nicht alle waren begeisterte Verfechter derart deftiger Kost. Kate hatte nichts dagegen, ab und an mal einen zu essen, aber mehr als ein Gelegenheitssnack war es für sie nicht.

Auch Helenes Augen schienen den Ausdruck ›nicht schon wieder‹ eingraviert zu haben.

»Und was ist mit Luicis?«, gab nun Kate zu bedenken.

Zumindest schien sie mit ihrem Vorschlag nicht auf Gegenwehr zu stoßen.

»Klingt gut, ich hab immer Lust auf Pizza«, meinte Ann mit einem Grinsen über beide Ohren.

Offenbar hatte Kate damit allen eine lange Diskussion erspart, denn ein zustimmendes Nicken zeigte sich auch bei Leila und Helene.

Hastig verstauten Ann und Kate ihre Rucksäcke und folgten Leila und Helene den Gang hinunter Richtung Ausgang.

Augenblicklich versanken die Freundinnen in ein Gespräch, plauderten über den Vormittag, als Helene plötzlich entrüstet einwarf: »Dieser Blödian Mark hat mir doch tatsächlich im Werkunterricht einen Klumpen Ton an den Kopf geknallt, ich meine geht’s noch? Das ist so ein Vollidiot!«

Auch jetzt schien sie kurz rot anzulaufen vor Wut, wenn sie nur daran dachte.

Leila nickte zur Bestätigung und ergänzte ehrlich empört: »Ja, und er meinte obendrein, sie hätte ein wenig Füllung nötig. So ein Arsch!«

Erst verstand Kate nicht, was sie mit Füllung meinte, aber als Leila ihren Busen etwas hob, fiel ihr vor Entrüstung die Kinnlade runter.

»Echt jetzt?«

»Ja, Ben warf sogar einen weiteren Klumpen nach und meinte, es würde sonst nicht reichen.«

Helene war ein bildhübsches Mädchen, mit rotbraun gelockten Haaren und einer zierlichen Figur. Ihre weiblichen Rundungen waren weniger ausgeprägt als beispielsweise bei Ann oder Leila, selbst Kate hatte mehr Oberweite als sie.

Eigentlich gaben die vier ein mehr als vielfältiges Bild ab, denn Leila trug einen blonden Kurzhaarschnitt und hatte von allen am meisten Fülle, während Ann und Kate beinahe schwarze, bis über die Schultern reichende Mähnen ihr Eigen nannten und von weiblicher, kurviger Statur waren.

»Der soll sich den Ton mal lieber in die Hose stopfen, sonst halten ihn eh alle für ein Mädchen.«

Ann traf wieder einmal die richtigen Worte, und mit schallendem Gelächter öffneten die vier Freundinnen die Eingangstür und traten ins Freie.

Heißes, grelles Sonnenlicht überflutete den kleinen Platz vor dem Gebäude, brachte nun mehr denn je den kargen Betonboden zur Geltung. Auf den einzelnen Holzbänken saßen bereits Schüler und genossen mit geschlossenen Augen die Wärme des gleißenden Himmelsballes und ihre wohlverdienten Freistunden.

Meist verbrachten Kate und ihre Freundinnen die Zeit ebenfalls hier, aber ab und an gönnten sie sich ein ordentliches Mittagessen so wie heute.

Nur einen Steinwurf entfernt, auf der anderen Straßenseite, betrieb ein Italiener ein kleines Restaurant, eines von der Sorte, das mit seinem Flair und der Originalität seiner Küche überzeugen konnte. Da die Preise auch für junge Menschen erschwinglich waren, besuchten sie das Lokal regelmäßig und waren damit nicht alleine.

Gemütlich schlenderten die vier über den Platz, als Kate ein sonderbares Gefühl überkam.

Sie spürte eine innere Unruhe aufflammen und auf seltsame Weise erschien ihr dieses Empfinden vertraut, selbst wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht einordnen konnte, weshalb?

Die Unterhaltung glitt mehr und mehr in den Hintergrund, je stärker diese Emotion wurde, und nur beiläufig folgte sie den weiteren Worten von Ann und Leila, die sich über eine ihrer Lehrerinnen lustig machten.

Mit zunehmendem Unwohlsein sah sie sich um, ihr Blick wirkte fragend und zugleich etwas verstört.

Es fühlte sich an, als ob sie nicht alleine wären, was ja an sich schon totaler Unsinn war. Etliche Schüler bevölkerten den grauen Betonplatz vor dem Unterrichtsgebäude, was in den Pausen üblich war. Dennoch war es weniger die Menge an Personen, die sie spürte, mehr als würde jemand in ihr Innerstes eindringen, sie durchbohren mit Blicken.

Ähnlich wie heute Morgen kam es ihr in den Sinn.

Suchend schaute sie sich um, bis sie auf der anderen Straßenseite eine Frau wahrnahm, die zu ihnen herübersah. Obwohl ihr Blick vorerst weiter glitt, da sie nach dem Mann aus der U-Bahn Ausschau hielt, fiel ihr plötzlich die gleiche eigenartige Haltung auf.

Abermals suchten ihre Augen nach der Frau, starrten plötzlich in ein seltsam regloses Gesicht.

Ihr Herz machte einen kleinen Satz und Nervosität nahm von ihr Besitz, denn jene Frau hatte das gleiche Auftreten wie der Gentleman in dem Waggon auf dem Weg zur Schule.

Etwas an ihr war sonderbar und wenn man auch auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, was es war, Kate erschauderte bei dem Anblick. Und viel mehr noch als ihr Gehabe waren es ihre Augen, die sie innerlich frösteln ließen.

Eine völlig Unbekannte, die dort stand, die Art und Weise dagegen, wie sie die Frau ansah, so voller Traurigkeit und auch Kraft, die sie zu durchströmen schienen, dass sie unwillkürlich für einen Moment stehen blieb und sich in dem Blick ihrer Beobachterin verlor.

Ihr Alter schätzte sie auf Mitte dreißig und die Kleidung, ihr ganzes Erscheinungsbild modern und jung, sie hatte mit dem Mann von heute Morgen nichts gemein, zumindest äußerlich. Nur die Sprache ihrer Augen, ähnlich und fremd zugleich.

Immer mehr verschwamm die Umgebung vor Kates Augen, alle Geräusche rückten in den Hintergrund und wie versteinert harrte sie auf ihrem Platz aus, bis sie Ann mit einem Ruck in die Realität zu reißen schien.

»… wenn ich verhungere, ist das deine Schuld. Was gibt es dort überhaupt zu sehen?«

Ein wenig erschrocken sah Kate zu Ann hinüber, die bereits vorne an der Straße mit Leila und Helene wartete und ihre Frage damit unterstrich, Kate’s noch vor wenigen Augenblicken starren Augen zu folgen.

Offenbar konnte Ann auf der gegenüberliegenden Seite nichts Interessantes entdecken, infolgedessen fuhr sie auffordernd fort: »Nun komm schon, wir warten!«

Zögerlich setzte Kate sich wieder in Bewegung, schielte nochmals auf die andere Seite der Fahrbahn und sog entsetzt die Luft ein.

Erneut stockte sie, wäre beinahe wieder stehengeblieben, denn die Frau war ebenso wie der Mann heute Früh verschwunden.

Sie hatte keine Gelegenheit mehr, über dieses absonderliche Vorkommnis nachzudenken, weil Ann ihr entgegengelaufen kam und sich in gewohnter Weise bei ihr einhängte, sie Richtung Übergang zog.

Sie konnte äußerst ungeduldig sein, wenn es ums Essen ging.

Hungrig wollte sie keiner zum Feind haben und deshalb fügte sich Kate widerwillig und folgte ihrer Freundin, aber nicht ohne noch einen letzten Blick über die Schulter zu werfen, jedoch vergeblich.

Das Bild blieb unverändert.

Freundlich empfing sie der Inhaber in dem Moment, als sie das Lokal betraten, denn so oft, wie sie hier zu Gast waren, prägten sich die Gesichter unweigerlich in sein Gedächtnis ein.

Im hinteren Teil, wenn man bei der Raumgröße überhaupt davon sprechen konnte, nahmen sie Platz und warteten geduldig, bis eine Servicekraft an sie heran trat, ihre Getränkebestellung entgegennahm und die Speisekarten reichte.

Bei all den Köstlichkeiten fiel die Wahl schwer, war schließlich trotzdem getroffen. Und so klappten die Mädchen die Karten zu und setzten die Bedienung von ihren Wünschen in Kenntnis, die ihren Weg durch den Gastraum augenblicklich fortführte.

Kate hing weiter ihren sonderbaren Gedanken nach, da beugte sich Leila ein wenig nach vorne, fast so, als ob sie ihnen ein Geheimnis anvertrauen würde.

»Habt ihr schon gehört? Es gab einen Zwischenfall in der U-Bahn, das war der Grund, wieso heute einige zu spät gekommen sind.«

Ann sah Kate vielsagend an, hatten sie offenbar nicht alleine den Unmut der Lehrer auf sich gezogen.

Kate kehrte langsam ins hier und jetzt zurück, denn Leila schien gerade erst zu beginnen. Ihre Augen sprühten vor Ungeduld, um ihnen brisante Neuigkeiten zu erzählen, und Kate hatte das Gefühl, es würde sie interessieren.

Daher lauschte sie den nachfolgenden Worten ihrer Freundin.

Leila fühlte sich der Aufmerksamkeit gewiss und setzte einen verschwörerischen Gesichtsausdruck auf, senkte ihre Stimme abermals, so dass es mehr einem Flüstern gleich kam.

»Das war kein technisches Problem. Angeblich hat sich jemand zum Tunnel hinter der Station Zugang verschafft und dort auf den Gleisen auf den nächsten Zug gewartet. Die Bahn vor uns überfuhr ihn bei vollem Tempo, er war sofort tot.«

Kate atmete hörbar ein und auch Helenes Augen weiteten sich bei dem Gedanken an das Unglück, das sich augenblicklich in ihrem Kopf abzuspielen schien.

Wenn dies der Wahrheit entsprach, waren sie nur knapp einem grausigen Erlebnis entkommen. Kate hatte schon von Menschen gehört, die beim Aussteigen aus der Bahn von herausragenden Füßen und anderen schrecklichen Anblicken berichteten.

»Bist du dir da sicher?«, fragte Ann unvoreingenommen und sichtlich ungläubig nach. Gerüchte waren schnell verbreitet und Kates Freundin hatte eine gesunde Art, an solcherlei Geschichten heranzugehen. Meist steckte nicht einmal ein Fünkchen Wahrheit darin, sondern war das Ergebnis von Phantasie und Imponiergehabe, das die absonderlichsten Früchte trug.

»Ich habe es in den Nachrichten gelesen.«

Leila war genau die Sorte Mensch, die ohne ständigen Internetzugang und Kontakt mit der großen weiten Außenwelt nicht überlebensfähig war, deshalb erfuhr sie auch alle Neuigkeiten vor allen anderen. Wenn die Schlagzeilen nicht irrten, dann war das eben Gehörte wohl korrekt, was alle betroffen schweigen ließ.

»Das ist entsetzlich, ich verstehe nicht, wie man etwas Derartiges fertig bringt, einen so unbeschreiblich grausamen Tod, den man auch noch kommen sieht.«, sprach Helene schließlich aus, was sie alle sich dachten.

Leila blickte in die Runde und erklärte weiter: »Ja, aber diese Leute planen das, sie sehen es als ein erlösendes Ende. Der Mann, der sich umgebracht hat, soll angeblich ein religiöser Fanatiker gewesen sein, hat wohl ständig in der Öffentlichkeit von der nahenden Apokalypse und dem Zorn Gottes gesprochen.

Vielleicht konnte er mit der Angst nicht mehr leben?

Er hatte sogar einen Sohn, was der wohl alles erleben musste, mit so einem verrückten Vater …«

Ihre Unterhaltung wurde kurz unterbrochen, als die Kellnerin die Getränke brachte, doch wieder alleine steckten sie erneut ihre Köpfe zusammen und Kate fragte ihre Freundin, ob sie denn wüsste, wer dieser arme Jemand war?

»Den Namen haben sie nicht erwähnt, er soll so um die 50 gewesen sein, lebte wohl auf der Straße und hat andere ständig mit seinen absurden Ansichten belästigt.

Er muss verzweifelt gewesen sein, so ein Ende hat niemand verdient.«

Es lag so viel Mitgefühl in Helenes Worten, sodass sie ihr stumm mit einem Nicken beipflichteten und schwiegen.

Kate fragte sich unwillkürlich, ob dieses schreckliche Ereignis wohl in irgendeinem Zusammenhang mit den sonderbaren Personen stehen konnte, die sie gesehen hatte, wurde aber jäh bei ihren Grübeleien unterbrochen, als Ann eine Frage an sie richtete.

»Bevor wir unsere Pause mit traurigen Geschichten vergeuden … Ich habe gehört, du ziehst es endlich durch? Morgen um diese Zeit sitzt du hoch zu Ross im Sattel und eroberst die Wälder?«

Dem Ausdruck auf Anns Gesicht nach zu urteilen, der von einem anfangs betroffenen, zu einem strahlend fröhlichen wechselte, hatte sie sichtlich Freude an ihrer Vorstellung.

»Erinnere mich bloß nicht daran, wenn ich nur an Pferde denke …«

Tatsächlich schien sich ihr Magen unvermittelt zusammenzuziehen, als Bilder wild laufender Mustangs in ihrem Kopf auftauchten und bedrohliche Kreise zogen.

»Ach komm, so schlimm ist das nicht, es sind doch ganz liebe Tiere.«

Den Sarkasmus in ihren Worten überhörte Kate gespielt und vertiefte sich übertrieben auffällig in ihr gerade eintreffendes Mittagessen, es kam wahrlich wie gerufen.

Aber damit fanden sich weder Ann noch Helene oder Leila ab und sie setzten ihre Unterhaltung ungerührt fort.

»Ihr übernachtet da tatsächlich in einer Hütte mitten in den Bergen? Da gibt es ja unzählige Tiere, wer weiß, was da so alles herumkrabbelt …«

»Helene! Macht es dir was aus? Wir essen!«

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, gefolgt von leisem Kichern und wenn Kate auch hoffte, sie würden nicht mehr weiter davon sprechen, ahnte sie schon vorher, dass es nicht dabei blieb.

»Das hört sich sehr romantisch an, bestünde da denn nicht die Hoffnung, dass …?«

Leila zog ihre Frage erwartungsvoll in die Länge, aber Kate kam nicht dazu, ihr zu antworten, denn Ann stahl ihr die Worte aus dem Mund.

»Ach du weißt doch, dass das nur rein freundschaftlich ist und im Übrigen hat Kate ja gar keine Zeit für … so was …«

Wie gekonnt sie ihre Mimik und Stimme verstellte, und erst der Blick, den sie ihr zuwarf.

»Na und? Was ist daran verkehrt?«, versuchte Kate sich zu verteidigen.

»Nichts, solange er weiß, dass niemals etwas Tieferes aus eurer Beziehung wird als die Freundschaft, die euch verbindet.«

Es klang wie eine Weisheit aus einem Glückskeks, fand sie, allerdings hatte Ann nicht ganz Unrecht.

Dieser Ausflug bedeutete ihm viel und er wollte vielleicht mehr hineininterpretieren, als sie zu geben bereit war. Aber was sollte sie machen?

Ihn zu verlieren und auf seine Freundschaft zu verzichten, kam für sie nicht in Frage, mehr wollte sie hingegen auch nicht. Demnach schien es keine Alternative zwischen ganz oder gar nicht zu geben.

Als Kinder war alles so viel einfacher gewesen, sie hatten die Nachmittage miteinander verbracht und gemeinsame Sommerurlaube erlebt. Ihre Familien kannten sich lange und für Kate war Jim wie ein Bruder.

Die Veränderungen begannen, als sie älter wurden und der Umstand, dass er ein Junge und sie ein Mädchen war, rief Komplikationen in ihrer Beziehung hervor, denen sie bis jetzt weitestgehend aus dem Weg gegangen waren. Kate wollte dieses Auseinanderleben eigentlich gar nicht, wusste jedoch tief in ihrem Inneren, dass Jim mittlerweile mehr in ihr sah, sie als junge Frau wahrnahm, für die er nun anders empfand.

Sie hingegen erkannte in ihm noch den Spielgefährten und Bruder, nicht einen jungen Mann, der Leidenschaft in ihr erwecken wollte.

Keiner hatte sie gefragt, ob sie das wollte, es passierte einfach und sie beide entfremdeten sich ein Stück weit voneinander. Jim zog in einen anderen Stadtteil, da sein Vater eine neue Arbeitsstelle annahm, und Kate versuchte, eine Brücke zu schlagen, zwischen der Vergangenheit und einer möglichen Zukunft. Es gelang ihr nur nicht.

Bei jedem Treffen wurde die Kluft ein wenig größer und sie fühlte sich unter Druck gesetzt, hatte sogar Schuldgefühle, weil sie seine zarte Liebe nicht erwiderte. Das führte unweigerlich dazu, dass die Besuche seltener wurden und bei ihr einen eigenartigen Nachgeschmack hinterließen, als ob sie ihn belügen und hintergehen würde, weil sie ihre wahren Gefühle verschwieg.

Unbeabsichtigt und in Gedanken versunken schlang sie ihr Essen etwas zu schnell hinunter, aber so sehr sie auch wusste, dass ihre Freundin in allem richtig lag, absagen konnte sie nicht. Stattdessen wollte sie versuchen, ihm keinerlei Möglichkeiten für Romantik oder tiefsinnige Gespräche zu geben und wenn sie mutig genug dazu war, mit ihm über ihre rein platonische Beziehung zu reden. Das war sie ihm schuldig.

In einem sehr versöhnlichen und mitfühlenden Tonfall erklärte ihr Leila, dass sie nicht beabsichtigten, sie zu drängen oder zu beunruhigen, sie sollte sich nur darüber klar werden, was sie wollte und wie sie selbst behandelt würde, wenn sie an Jims Stelle wäre.

Sie hatten Recht, wäre sie er, sie würde auch die Wahrheit erfahren wollen, nämlich, dass sie keinerlei Gefühle für ihn hegte.

»Hey, lass dir einfach etwas Zeit, genieße den Ausflug und mal sehen, was weiter geschieht. Außerdem haben schon viele Frauen vor dir geglaubt, sie empfänden keine Liebe gegenüber einem Freund, aber wenn er angeritten kommt, hoch zu Ross, das bringt das Blut in Wallung …«

Das herzhafte Lachen und die spöttisch leuchtenden Augen ihrer Freundinnen waren eindeutig zu viel, Kate ließ die Gabel sinken und sah sie gespielt böse und genervt an.

»Wenn ihr euch dann mal wieder beruhigt habt und aufhört, von Prinz Charming zu träumen, würde ich gerne in Ruhe weiter essen.«

Die drei dachten nicht daran und so erhob sich Kate und verließ den Tisch.

»Ihr entschuldigt mich? Vielleicht hättet ihr die Güte und wir könnten uns über etwas anderes unterhalten, wenn ich wieder zurück bin.«

Sie suchte kurzerhand die Toilette auf, bei all der Hektik am Vormittag hatte sie noch keine Möglichkeit dazu gehabt und jetzt kam es ihr sehr gelegen, konnte sie wenigstens dem neckischen Gekicher ihrer Freundinnen entgehen und auf andere Gedanken kommen.

Der bevorstehende Ausflug beschäftigte sie offenbar mehr, als sie zugeben würde.

In Grübeleien versunken wusch sie sich die Hände und sah in den Spiegel, strich sich eine Strähne, die ihr ins Gesicht hereinfiel, hinter das Ohr zurück.

Ihre Augen sahen sie fragend an, Unsicherheit und Unruhe strahlten sie aus, was sie wohl am Wochenende erwartete?

Würde er verstehen, wie es ihr ging oder sich tief verletzt von ihr zurückziehen, weil sie ihn so lange im Ungewissen gelassen hatte?

---ENDE DER LESEPROBE---