Ent-Eltert euch! - Sandra Teml - E-Book

Ent-Eltert euch! E-Book

Sandra Teml

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Umgang mit den eigenen Eltern werden viele von uns gefühlt wieder zu Kindern. Die Eltern-Kind-Beziehung bestimmt immer noch unser Verhalten und unser emotionales Erleben. Eine "Entelterung" wird notwendig, also der Ausstieg aus ungesunden emotionalen Abhängigkeiten. Es geht darum, den Eltern nicht mehr mit den gleichen Anpassungsstrategien zu begegnen, die als Kind nötig waren, um in der Familie einen Platz zu finden. Sandra Teml und Martin Wall zeigen in ihrem Buch, wie es gelingt, sich aus familiären Verstrickungen und alten Mustern zu lösen und sich im Hier und Heute zu überlegen, wer man sein und wie man seine Beziehungen gestalten will, die Beziehung zu den Eltern ebenso wie zum Partner und zu den eigenen Kindern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 306

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

GU ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Nikola Teusianu

Lektorat: Ulrike Schöber

Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Katja Wohnrath, unter Verwendung eines Bildes von Plainpicture (Composing)

eBook-Herstellung: Maria Prochaska

ISBN 978-3-8338-9112-0

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Illustrationen: Claudia Klein

Syndication: www.seasons.agency

GuU 8-9112 09_2023_01

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

www.facebook.com/gu.verlag

Garantie

LIEBE LESERINNEN UND LESER,

wir wollen Ihnen mit diesem E-Book Informationen und Anregungen geben, um Ihnen das Leben zu erleichtern oder Sie zu inspirieren, Neues auszuprobieren. Wir achten bei der Erstellung unserer E-Books auf Aktualität und stellen höchste Ansprüche an Inhalt und Gestaltung. Alle Anleitungen und Rezepte werden von unseren Autoren, jeweils Experten auf ihren Gebieten, gewissenhaft erstellt und von unseren Redakteur*innen mit größter Sorgfalt ausgewählt und geprüft. Haben wir Ihre Erwartungen erfüllt? Sind Sie mit diesem E-Book und seinen Inhalten zufrieden? Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung. Und wir freuen uns, wenn Sie diesen Titel weiterempfehlen, in ihrem Freundeskreis oder bei Ihrem Online-Kauf.

KONTAKT ZUM LESERSERVICE

GRÄFE UND UNZER VERLAG

Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasser dar. Sie wurden von den Autoren nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autoren noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Für unsere Eltern

Helga und Hubert & Christa und Johann

Für unsere Kinder

Lukas, Franziska und Lorenz & Saskia und Ivana

Alle Namen und Inhalte der im Buch genannten Beispiele sind durch unsere Fantasie beflügelt und inspiriert sowohl durch unser eigenes Erleben als auch das Erleben gemeinsam mit unseren Klient:innen und Seminarteilnehmer:innen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Um die Gültigkeit der hier beschriebenen Erkenntnisse für alle Geschlechter zu betonen, werden die männliche und weibliche Form im Wechsel verwendet.

Wir verwenden in unserem Buch ein persönliches und respektvolles Du als Anrede.

Entelterung® und Mentalog® sind rechtlich geschützte Marken.

Entelterung bedeutet…

die eigenen Eltern (oder primären Bezugspersonen) aus der Elternrolle zu entlassen und uns selbst aus der Rolle des Kindes.ein Gewahrwerden von unangemessenem Verhalten innerhalb der Familie.Verhaltensweisen zu erkennen und zu würdigen,die in der Kindheit hilfreich waren, und sie auf ihren Nutzen in der Gegenwart hin zu überprüfen.aus einer ungesunden, hinderlichen emotionalen Verstrickung mit den eigenen Eltern, Schwiegereltern oder Geschwistern – aber auch Partner:innen und eigenen Kindern, Chef:innen, Kolleg:innen und Feund:innen – auszusteigen.das eigene »normale« Erleben zu hinterfragen.Entzauberung, Enttäuschung, Desillusionierung und somit ein Ankommen in der Realität.die Verpflichtung zur Selbsterziehung und Selbstbeelterung.herauszufinden, wer wir sind und uns als dieser Mensch unseren Eltern zu zeigen.einen neuen Umgang mit den Eltern zu finden. Egal, ob sie noch leben oder schon verstorben sind, ob sie in der Nähe wohnen oder am anderen Ende der Welt.den Willen aufzubringen, etwas neues Gutes in die Welt zu bringen: uns selbst.Frieden in uns zu finden, in uns zur Ruhe zu kommen.uns aus inneren Dynamiken zu lösen, die ein selbstbestimmtes Leben erschweren.

Vorwort

Seit Langem quält mich das aus meiner Sicht unbegründete, sehr toxische – ich möchte fast sagen: bösartige – Verhalten meiner Eltern. Es liegt wahrscheinlich an ihrer eigenen Unzufriedenheit, aber kein Reden und keine Vorschläge, keine Hilfestellungen meinerseits haben bisher geholfen. Sie haben dieses Verhalten auch bei anderen nahen Beziehungen an den Tag gelegt. Meine Schwester und enge Freunde haben sich schon distanziert. Die Kinder haben ein gespaltenes Verhältnis – lieben die beiden und fürchten sich vor ihnen. Nach Jahren bin ich nun so weit, dass ich ernsthaft einen Kontaktabbruch in Erwägung ziehe, weil wir alle, aber vor allem meine Ehe und die Kinder, unter den Beschimpfungen aus dem Nichts heraus und ihren Bösartigkeiten leiden.

Facebookgruppen, Instagram-Accounts und unsere Praxen sind voll von Anfragen und Leidensgeschichten wie dieser. Deswegen wollen wir ein Buch über Macht, Möglichkeiten, Verantwortung und Liebe schreiben. Über deine Macht, deine Wahlmöglichkeiten, deine Verantwortung und deine Liebe. Wir wollen damit erreichen, dass dich niemand mehr so emotionalisieren und in die Verzweiflung treiben kann – auch nicht deine eigenen Eltern. Nicht sie, nicht deine Geschwister, nicht deine Partner:in, deine Kinder, deine Freund:innen, deine Vorgesetzten. Niemand.

Eine belastende Beziehung zu den eigenen Eltern zu haben ist, als ob du direkt neben der Autobahn leben würdest: Es ist laut, es ist stressig. Vielleicht kämpfst du noch verzweifelt gegen diese Realität an, indem du mit allen dir zur Verfügung stehenden Mitteln versuchst, den Verlauf der Autobahn zu ändern. Doch schließlich gewöhnst du dich daran, irgendwann hörst du es nicht mehr und das Sausen ist zu deinem erwachsenen Normal geworden. Dein gesamtes System, dein Geist und dein Körper, findet mit der Dauerlärmbelastung einen Umgang und rückt den Lärm in den Hintergrund. Dort bleibt er auch – bis dich ein gelegentliches lautes Hupen daran erinnert, dass die Autos auf der Autobahn noch da sind.

Ganz ähnlich ist es mit den Nervereien oder gar Bösartigkeiten deiner Eltern: Du hast dich an sie gewöhnt und schiebst deinen Ärger darüber von dir weg. So lange, bis dich jemand darauf aufmerksam macht. Zum Beispiel sagt dein Partner nach einem ersten Besuch bei deinen Eltern: »Hm, ist aber schon stressig hier! Und wenn du bei deinen Eltern bist, dann redest du auch doppelt so schnell wie sonst.« Du weißt nicht gleich, wovon er oder sie spricht. Erst dann bemerkst du, dass dir etwas zu viel wird, und bist eingeladen, hinzuhören und mit dem Lärm umzugehen.

Oder dein Körper entwickelt Symptome ob der andauernden Lärmbelästigung: Du bist zunehmend gereizt und unzufrieden oder sogar erschöpft – ohne zu wissen, woher genau. Und dann nimmst du es wieder wahr. Und es irritiert dich zunehmend. Was nun?

Genau wie du haben Martin und ich auch Eltern, mit denen wir einen Umgang finden wollten und – mitunter für alle schwierige – Wege gehen mussten, die uns und ihnen unvertraut und neu waren. Dazu gehört immer auch, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Beginnst du damit, dich mit dir selbst auseinanderzusetzen, kann es sein, dass deine vormals heile Welt wie eine Seifenblase platzt und du hart auf dem Boden der Realität aufknallst. Anerkennen, was ist, und finden, was wirkt, sind die ersten Schritte des wirklichen Erwachsenwerdens, sind der Beginn der Entelterung.

Wir schreiben uns auf die Fahnen, weiterzumachen, jeden Tag jede Begegnung im Sinne einer Beziehung auf Augenhöhe zu gestalten und vor Fehlern und Rückschlägen nicht zurückzuschrecken. Es ist ein Weg und ein Lernen, in die Ruhe, Freude und Lebenszufriedenheit zu finden und sich an diese zu gewöhnen. Auch Stille kann irritieren, wenn sie nicht die Abwesenheit von Lärm, sondern die Anwesenheit von Frieden ist. Wir nehmen die Irritation in Kauf, gehen weiter, gestalten weiter und stellen uns den Gesprächen, die auf uns als Eltern noch zukommen werden. Unsere Mission, unsere Vision, unser ganzes Streben ist es, den Menschen, die für uns emotional bedeutsam und wichtig sind, ein ernst zu nehmendes erwachsenes Gegenüber zu sein.

Unser Ziel ist es, dich daran zu erinnern, dass heute niemand mehr Macht über dich hat außer dir selbst. Nur du hast die Macht über deinen mentalen und emotionalen Zustand, über dein Befinden und über deine Reaktionen und Antworten. Um dahin zu gelangen, braucht es vielleicht noch ein paar Schritte auf deinem Weg. Wir möchten dir mit diesem Buch einen Wegweiser auf deiner Reise anbieten, mit dem es dir gelingen kann, die Autobahnen in deinem Gehirn umzugestalten und neue Beziehungsentscheidungen zu treffen. Diese Verantwortung ist nicht teilbar. Sie gehört dir.

Wachstum ist eine Frage der Integrität und führt uns immer ins Unbekannte. Unser Ziel ist deine Integrität – immer der Mensch zu sein, der du sein möchtest, auf den du stolz bist, wenn du abends schlafen gehst.

Wir laden dich während des Lesens immer wieder zu einer Standortbestimmung ein: Wo stehst du und wo willst du hin? Was kannst du von wem lernen? Was genau willst du verlernen? Was musst du stattdessen entwickeln? Bist du bereit für deine Selbsterziehung? Bist du bereit, dich damit anzufreunden, dass Lernen, Entwicklung, Selbsterziehung, beständiges Dranbleiben und Selbstpflege zum Leben gehören?

Wir wünschen dir auf deinem Weg Sanftmut und Wagemut und die gesunde Portion Aggression, die nicht vernichtend, sondern aufrichtend ist. Möge die Erfahrung gelingen.

Sandra & Martin

An der unsichtbaren Leine

Tochter: Keine Eltern sind perfekt, oder? Können wir uns darauf einigen?

Vater: Ja.

Tochter: Also, was glaubst du, was du falsch machst?

Wir schreiben dieses Buch in Achtung vor dem Leben selbst. Deswegen ist es uns gleich an dieser Stelle wichtig klarzustellen, was Entelterung nicht ist: Entelterung ist keine Elternabwertung oder ein giftiges Dampfablassen über Vergangenes. In dem Moment, in dem wir mit einem Finger auf unsere Eltern zeigen, stellen wir sie in die Täterecke und machen uns in diesem Moment (wieder) zu ihrem Opfer – und das schafft ungesunde Verstrickungen. Entelterung bedeutet auch nicht Kontaktabbruch. Distanzierung ist oft eine Vermeidungsstrategie, ein Nichtgestalten, keine »Entstrickung«, keine »Ent-wicklung« und keine Differenzierung, auf die wir später im Buch zu sprechen kommen.

Du wirst deine Eltern zeit deines Lebens nicht los. Du bist aus ihnen und durch sie gekommen. Dieser Tatsache entkommst du nicht. Selbst wenn sie gestorben sind, existieren sie in deiner geistigen Innenwelt weiter. Falls du nicht bei deinen leiblichen Eltern aufgewachsen bist, dann laden wir dich ein, mehrspurig zu denken: An die Eltern, aus deren Genpool du stammst, und die Eltern oder die wichtigen Bezugspersonen, die dich ins Leben hinein begleitet haben und eine emotionale Bedeutung erlangt haben – so wie es zum Beispiel Adoptiv-, Pflege- oder Großeltern tun. Diese Eltern sind unauflösbarer Bestandteil deiner Vergangenheit und deines Werdens, deiner Prägungen. Wie sie Teil deiner Zukunft werden, gestaltest du.

Werde also nicht deine Eltern los, sondern deine Kinderrolle. Darüber wirst du in diesem Buch lesen.

Wir wenden uns mit diesem Buch an jene erwachsenen Söhne und Töchter, die erkannt haben, dass die Beziehung so, wie sie ist, nicht mehr weitergehen kann, und die sich mit diesem Buch auf die Suche nach Alternativen gemacht haben. Benehmen sich Eltern auch heute noch unreif oder sogar scheußlich, sind sie über die Jahre nicht gewachsen und nur alt geworden statt gereift, wird dich dieses Buch einladen, eine neue Wahl zu treffen und die Beziehung zu ihnen neu zu gestalten. Gestalten beendet die Opferrolle in allen deinen Beziehungen.

Entelterung bedeutet, die eigenen Eltern (oder primären Bezugspersonen) aus der Elternrolle zu entlassen und dich selbst aus der Kinderrolle. Entelterung bedeutet unter anderem …

ein Gewahrwerden von innerfamiliärem unangemessenem Verhalten und innerer Zustände aller Beteiligten.früher hilfreiche Verhaltensweisen zu erkennen und zu würdigen und sie auf ihren Nutzen in der Gegenwart zu überprüfen.aus einer ungesunden, hinderlichen emotionalen Verstrickung mit den eigenen Eltern, Schwiegereltern oder Geschwistern – aber auch Partner:innen und eigenen Kindern, Chefs und Chefinnen, Kolleg:innen und Freund:innen – auszusteigen.dein erlebtes Normal zu hinterfragen.Entzauberung, Enttäuschung, Desillusionierung und somit dein Ankommen in der Realität.die Verpflichtung zur Selbsterziehung und Selbstbeelterung.über dich selbst hinauszuwachsen.herauszufinden, wer du bist, und dich als dieser Mensch deinen Eltern zu zeigen.einen neuen Umgang mit den Eltern zu finden, die du hast. Egal, ob diese noch am Leben sind oder schon verstorben, ob sie bei dir ums Eck wohnen oder am anderen Ende der Welt.den Willen aufzubringen, etwas neues Gutes in die Welt zu bringen: dich selbst. Das liegt jenseits von dem, was du automatisch tust. Frieden in dir zu finden, in dir zur Ruhe zu kommen.dich aus inneren Dynamiken herauszuwinden, die dich auf ungute Weise an die Eltern binden und ein selbstbestimmtes Leben erschweren.

Unabhängig davon, was du erlebt hast, was deine Geschichte ist – du bist damit umgegangen, hast es überstanden, hast überlebt, hast dich angepasst, verbogen, adaptiert und hast dich mit diesem deinem Normal arrangiert. Das allein zeigt schon, dass du nicht so schnell aufgibst.

Wir schreiben dieses Buch mithilfe von konstruierten Fallbeispielen, um dich daran zu erinnern, dass du nicht allein bist, und daran, was du noch lernen und entwickeln kannst und was du verlernen darfst.

Wir schreiben dieses Buch, um dich und uns selbst an unsere Einmaligkeit zu erinnern und wie schade es wäre, wenn diese nicht gezeigt und gesehen werden würde. Mit Stolz. Von dir.

Was uns mit dir, liebe Leserin, lieber Leser, verbindet, ist die Tatsache, dass wir alle Eltern haben oder gehabt haben. Und dann gibt es Unzähliges, das uns unterscheidet: Martin und ich sind jeweils als Einzelkinder aufgewachsen. Ab jetzt wird es individuell, persönlich und einmalig. Ich auf dem Land, er in der Stadt. Er in einem Haus, ich in einer Wohnung. Ich in meiner Familie mit unserer Kultur, er in seiner mit deren Kultur. Du in deiner Familie mit wieder einer ganz eigenen Kultur.

Dein Aufwachsen, deine Familienkonstellation gibt es nur ein einziges Mal, auch wenn sich in unterschiedlichen Familien Dynamiken wiederholen und gleichen. Wir laden dich ein, die Beispiele, soweit es dir möglich ist, gedanklich für deine Situation hilfreich anzugleichen. Deinen nächsten Schritt, Alternativen zu finden, wirst du dir für deine Umstände selbst maßschneidern.

Astrid wächst gut behütet mit ihren beiden jüngeren Brüdern in einer kleinen Ortschaft im Speckgürtel einer Großstadt auf. Ihr Vater Karl leitet die örtliche Bankfiliale und ist Bürgermeister der Gemeinde. Susanne, Astrids Mutter, ein Einzelkind, führt ein gut gehendes Damenmodengeschäft, das sie von ihren schon verhältnismäßig betagten Eltern übernommen hat. Als Astrid geboren wird, ist ihre Mutter gerade dabei, das Geschäft um Kindermode zu erweitern. Die Großeltern mütterlicherseits sind sehr stolz auf Astrids Mutter, feiern ihren Erfolg auch als den ihren. Schließlich haben sie selbst viel geopfert, damit es ihre Tochter einmal besser hat.

Es ist Astrids Mutter sehr wichtig, dass Astrid »nett und adrett« aussieht und ein freundliches Erscheinungsbild abgibt. Es ist Susanne wichtig, dass Astrid das widerspiegelt, was ihre Mutter vorlebt und ihr Vater in der Gemeinde repräsentiert. Die kleine Astrid ist gern Mutters Aushängeschild, bekommt dadurch viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, darf immer wieder im Geschäft neue Sachen probieren. Da das kindliche Gehirn noch keine bewusste Alternative entwickeln kann und niemand Astrid fragt, was ihr gefällt, »wählt« Astrid als Kind den Weg des Bekannten, des Vorgelebten und Geforderten – während ihr jüngerer Bruder Ben den Weg des Gegenteils, des »Nicht wie es meine Eltern wollen!« wählen wird. Später wird man über ihn als das »schwierige Kind« sprechen. Über Arthur, Astrids zweiten Bruder, wird man wenig sagen. Auch er ist ein braver Bub, der seine Schwester vergöttert und aus den Fehlern seines Bruders lernt.

So gekleidet also, mit Faltenrock, schicker Bluse, Ballerinas und einer Spange im Haar, verabschiedet sich Astrid seit Jahren allmorgendlich von ihren Eltern zuerst in den Kindergarten, dann in die Volksschule und später auf den Weg zum Bahnhof, um von dort in die Stadt, ins Gymnasium zu fahren. Astrid soll mit 15 Jahren auf die Modeschule wechseln und später das Geschäft ihrer Mutter übernehmen.

Seit einem Jahr allerdings, Astrid ist mittlerweile 14 Jahre alt, macht sie etwas Neues: Im Zug beginnt sie, sich zu verwandeln. Sie öffnet ihre blonden Zöpfe, schüttelt ihre Haare aus, zieht einen schwarzen Hoodie über ihre Bluse, tauscht Ballerinas gegen Dr. Martens und den Faltenrock gegen schwarze Hosen mit Rissen. Das alles hat Astrid heimlich in der Stadt gekauft und hält es in ihrem Rucksack versteckt. Der dunkle Kajalstift, die dick aufgetragene Wimperntusche und ein schwarzer Lippenstift vervollständigen die Astrid, die in der Stadt aus dem Zug aussteigt und in die Schule geht. Das ist die Astrid, die sie sein will. Den ganzen Tag wird sie so sein, wie sie wirklich ist, wird sich in sich selbst zu Hause fühlen und sich schließlich auf der Heimfahrt wieder in die Astrid verwandeln, die ihre Eltern brauchen oder haben wollen. Astrid fügt sich den elterlichen Wünschen. Ihr wahres Selbst verschwindet wieder im Rucksack.

Wird Astrid den Mut aufbringen, sich ihren Eltern so zu zeigen, wie sie ist? Wann wird sich Astrid ihren Eltern zumuten und das Bild, das sie von ihr haben, enttäuschen? Wann wird das notwendig? Hoffentlich nicht erst dann, wenn sie sich über all dem Einfügen und all der Orientierung an anderen selbst schon fast verloren hat.

Da du jetzt gerade diese Zeilen liest, glauben wir, dass du jemand bist, der vielleicht wütend, frustriert oder sehr traurig über die Beziehung zwischen dir und deinen Eltern ist. Oder du bist fassungslos und empört darüber, was deine Eltern heute immer noch von sich geben, wie sie heute immer noch denken und wie sie sich dir und anderen gegenüber verhalten.

Auch wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Was war, hat uns beeinflusst und liegt hinter uns. Wir können Astrid ihre kindliche Ungestümheit ihren Eltern gegenüber nicht zurückgeben. Wir können Astrid die Mutter nicht zurückgeben, die sechs Wochen nach Astrids Geburt wieder im Geschäft stand und Astrid bei den Großeltern väterlicherseits untergebracht hat. Wir können Astrid die Wut auf ihre beiden Brüder nicht nehmen, die vieles nicht machen mussten, was Astrid musste. Wir können von niemandem, nicht von unserem Partner, unseren Kindern und unseren heutigen Eltern das bekommen, was wir von unseren damaligen Eltern nicht bekommen haben.

Fakt ist, dass wir das Damals überstanden haben, dass »aus uns etwas geworden ist«. Wenn du heute Unzufriedenheit, Wut, Schmerz, Trauer, Empörung über deine aktuelle Beziehung zu deinen Eltern wahrnimmst, bedeutet das, dass deine Eltern noch die gleichen sind wie damals. Auch von Astrid wird immer noch erwartet, dass sie endlich einen »netten und adretten« Mann findet. Astrid verschweigt ihren Eltern, dass sie schon längst eine Lebensgemeinschaft eingegangen ist: mit einer Frau.

Du kannst hier schon wahrnehmen, wie es sich immer weiter ausbreitet, welche immer weiteren Kreise es zieht, wenn sich Menschen nicht aus alten Dynamiken lösen. Es erzeugt Konfliktherde und Pulverfässer. Du kannst dir zum Beispiel vorstellen, wie es Astrids Partnerin geht, die von Astrid vor den Eltern verheimlicht wird.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul trifft es auf den Punkt, wenn er sein damaliges kindliches Aufwachsen als Schauspiel beschreibt, in dem Kinder auswendig Gelerntes zu reproduzieren und sich wie auf einer Bühne »gut aufzuführen« hatten, anstatt authentisch zu sein und sich selbst zu kennen: Wenn man ein Weihnachtsgeschenk bekam, bedankte man sich artig, und etwaige Enttäuschungen mussten geflissentlich überspielt werden. Und erst wenn die Kinder sich vollständig hinter dieser Maske versteckt und den Kontakt zu sich selbst verloren hatten, konnten die Eltern im Bewusstsein, dass ihre Erziehung geglückt war, erleichtert aufatmen.1

Es gibt sie nicht, die perfekte Kindheit mit den perfekten Eltern. Es gibt kein Leben ohne Trauma, es gibt kein Leben ohne Schmerz, Enttäuschung, Angst und Wut. Wir kennen das perfekte Leben nicht. Die perfekte Welt existiert nicht – wir können uns aber aufmachen, mit all dem, das uns begegnet, einen neuen Umgang zu finden. Auch mit unseren Eltern und all den anderen emotional nahen und wichtigen Menschen, die in unserem Leben von Bedeutung sind.

Du kannst als Erwachsene etwas tun: Du kannst die Veränderung sein, die du haben willst. Dabei werden wir dich begleiten. Du kannst lernen, mit dem Verlust oder der Last umzugehen, und im heutigen Miteinander eine neue, erwachsene Zufriedenheit finden. Wir können lernen, im heutigen Miteinander unsere Grenzen zu wahren. Was es auch immer dafür braucht.

Du bist mit einem unendlichen Vertrauen in diese Welt gekommen, von deinen Eltern geschützt, geliebt, gehalten, genährt, gewollt und getragen zu werden. Möglicherweise wurden deine Erwartungen genau wie die von vielen anderen Kindern bitter enttäuscht, …

weil alle Eltern einmal zum ersten Mal Eltern werden und Fehler dazugehören – diese Fehler aber nicht korrigiert werden. weil Eltern das machen, was sie schon von ihren Eltern kennen, das aber längst überholt ist und nicht zu ihrem gegenwärtigen Kind passt.weil Eltern gutgläubig dem Zeitgeist folgen. weil Eltern ihr Bewusstsein über den Effekt ihrer Handlungen nicht entwickeln wollen.weil es Eltern gibt, die selbst beeinträchtigt sind.weil einige Eltern ihre Kinder nicht wollen.weil manche Eltern ihren Kindern mit Absicht Schaden und Leid zufügen.weil es Eltern gibt, die ihre Macht und deine Abhängigkeit als Kind missbrauchen.weil es Eltern gibt, die ihr eigenes Wachstum und ihre eigene Entwicklung verweigern und somit eine Beziehung zu ihren Kindern fordern, die ihrem »Niveau« entspricht. weil manche Eltern ihre Kinder als psychisch-emotionale (Selbstwert-)Stütze brauchen.weil es Eltern gibt, die in der Beziehung zu dir rigide und stur im Damals stehen geblieben sind und sich in all der Zeit nicht weiterentwickelt haben. Und damit es eine Beziehung zu ihnen gibt, glaubst du, dass auch du dich in eurem Miteinander in das Damals einfügen musst – und wirst wieder zum Kind.

Besonders von diesem letzten Punkt handelt dieses Buch.

Wenn du das liest, dann bist du jemand, der nach Antworten und Lösungen sucht, weil es so, wie es ist, nicht mehr weitergehen kann. Weil du dein Normal nicht mehr super findest. Weil alles in dir schreit – oder du schreist. Weil du zu jemandem geworden bist, den du selbst nicht mehr magst. Oder weil du selbst gerade Mutter oder Vater geworden bist und jetzt langsam dein eigenes Aufwachsen staunend hinterfragst.

Wir wollen dich mit diesem Buch daran erinnern, dass deine Kindheit längst vorbei ist – und ganz besonders dann, wenn du schon selbst Kinder hast. Elternschaft ist das Ende der eigenen Kindheit. Nun bist du gefragt, der oder die Große zu sein, anstatt dich als das verzweifelte, hilflose und trotzige Kind zu gebärden, das du schon lange nicht mehr bist. Nun bist du gefragt, zu gestalten anstatt zu reagieren – und das insbesondere, wenn der Stress steigt. Wir wollen dich einfach nur erinnern, dass du dir inzwischen die Schuhe anziehen darfst, die dir gefallen.

Auch wenn – oder gerade weil – du Kinder hast, musst du jetzt die Ärmel hochkrempeln und deine weitere »Erziehung« selbst in die Hand nehmen. Du bist nun der- oder diejenige, der oder die dich durchs Leben führt, dich selbst korrigiert, ermutigt und immer wieder aufrichtet. Du kannst dir als Erwachsene/r hilfreiche Guides und Mentor:innen aussuchen und zur Seite stellen. Wir wiederholen: Du bist nicht allein. Du kannst etwas tun.

Wir laden dich ein, deinen Weg parallel und gemeinsam mit Astrid, Christian, Lydia, Markus und vielen anderen mutigen Menschen zu gehen, die wir dir in diesem Buch vorstellen werden. Sie alle sind entschlossen, alles dafür zu tun, das Gefühl der Ohnmacht hinter sich zu lassen, um mutige Gestalter:innen ihres Lebens zu werden. Mögen dich ihre Geschichten inspirieren, dir deinen weiteren Weg für dich maßzuschneidern.

Du bist jemand, der sich nicht leicht zufriedengibt und erst aufgibt, wenn es wirklich gut ist. Du bist jemand, dem Beziehung wichtig ist und der sich danach sehnt, die Beziehung zu seinen Eltern zufriedenstellend zu gestalten. Du bist jemand, der lernen, sich selbst weiter erziehen und führen will. Wenn du auch eine Suchende, ein Suchender bist, dann ist es uns eine Freude, dich ein Stück weiter auf deinem Weg zu begleiten.

Dein »Anders« ist nur eine Entscheidung weit entfernt. Niemand wird tot umfallen, wenn du dein wirkliches Selbst lebst – auch wenn du das befürchtest. Nur die Verdrängung richtet Schaden an. Wir glauben fest daran, dass deine Wahrheit bereits in dir ist – so wie sie es auch immer schon in Astrid war. Du wirst von uns nur daran erinnert, was du vergessen hast.

Wir schreiben über gelingende und ungesunde Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen im komplexen emotionalen System »Familie«. Du wirst viel über die Wechselwirkungen von und in Beziehungen und Familie lesen. Das hat insofern etwas mit Entelterung zu tun, als dass sich in Interaktionen mit dem Partner oder mit dem Kind oftmals der aus der Kindheit importierte »Fehler«, das Hinderliche, zeigt: Sowohl Astrids Partnerin als auch Astrids Kinder werden später irritiert sein, wenn sie ihre Frau oder Mutter dabei beobachten, wie sie sich in jemanden verwandelt, die sie im Zusammensein mit ihrer jetzigen Familie nicht ist. So gesehen ist es egal, in welcher Beziehung du beginnst, dein erwachsenes Du zu sein.

Beziehungen in der Familie

Um gesunde Beziehungen zu anderen aufbauen zu können, ist es wichtig, sich selbst gut zu kennen und zu verstehen. Wie bist du zu dem geworden, was du heute bist? Welche Grenzen hast du und woher kommen sie?

Eine Möglichkeit, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, ist die Betrachtung der fünf Stufen der kindlichen Entwicklung: Willkommensein, Verstandenwerden, Exploration, Autonomie und Sexualität. Sie prägen uns in unserer frühen Kindheit und beeinflussen unser Verhalten und unsere Beziehungen im Erwachsenenalter.

Dein Kreis, deine Grenze, dein Garten

Damit du dich enteltern kannst, musst du entschleunigen. Entschleunigung bedeutet, immer wieder innezuhalten und bei dir anzukommen, dich mit dir selbst zu befassen, dir selbst Fragen zu stellen, dich immer wieder neu auszurichten. Entelterung ist deine Entscheidung für Selbst-Bewusstheit und bewusste Gestaltung deiner Beziehungen.

Wir empfehlen dir, für deine Arbeit an dir selbst – deine Gedanken, deine Fragen und später deine Mentaloge – ein Notizbuch anzulegen und alles aufzuschreiben. Lasse dich auf die vorgeschlagenen Erforschungen deiner selbst tatsächlich ein, denn durch diese Übungen kannst du Neues erfahren:

Entelterung ist nicht etwas, das einfach nebenher passiert, sondern ein aktiver Prozess.

Um Familiendynamiken gut darstellen zu können und als Orientierungshilfe für dich sichtbar zu machen, etablieren wir an dieser Stelle den Kreis als Symbol für dein Selbst, dein gegenwärtiges inneres »Zuhause«, deine Grenzen. Der Kreis ist ab jetzt der Ort, an den du immer wieder zurückkehrst, falls du dich im Gewirr der elterlichen Erwartungen (ihre Kreise) zu verlieren drohst. Du kannst dich dann immer fragen: In wessen Kreis bin ich eigentlich unterwegs? Vielleicht hilft es dir auch, dir deinen Kreis als deinen Garten mit einem Gartenzaun und einer Gartentür vorzustellen: Ist es dein Garten, in dem du alles anpflanzt, was dir gefällt, und in dem du staunst, was auch von selbst hier wächst? Ganz ohne dein Zutun? Hat dein Garten einen Zaun? Eine Tür? Ist es deine Wohnung, dein »Raum«, der nur dir gehört und den du einrichtest, wie es dir gefällt?

Wichtig ist uns, dass du im Laufe des Lesens ein Kreisgewahrsein entwickelst – und damit experimentierst und zu beobachten beginnst, wie du selbst und deine nahen Menschen mit deinem Kreis, mit deinen Grenzen umgehen und wie du mit den Kreisen, den Grenzen, der anderen umgehst. Werde dir bewusst darüber, für wessen Garten du dich zuständig fühlst und in wessen Garten du gerade den Rasen mähst. Schließlich wollen wir dich dazu ermutigen, allen voran deinen eigenen Garten nach deinen Vorstellungen zu gestalten und zu pflegen.

So wie du einen Kreis und eine Grenze hast, haben auch alle anderen Menschen einen Kreis und eine persönliche Grenze. Damit du deinen Kreis von den Kreisen deiner Eltern oder anderen nahen Menschen unterscheiden kannst, laden wir dich ein, den Kreisen gedanklich unterschiedliche Farben zu geben. Wir schlagen vor, die Kreise von Kindern kleiner zu denken.

Das führt uns zu einem wichtigen Punkt: Beziehungen zwischen heranwachsenden Kindern und Eltern haben andere Regeln und Vorzeichen als die Beziehungen zwischen einem erwachsenen Sohn, einer erwachsenen Tochter und ihren Eltern. Wenn wir über deine Entelterung sprechen, dann gehen wir davon aus, dass …

dein Gehirn schon vollständig ausgereift ist und du es benutzt.es keine Abhängigkeiten und kein Machtgefälle zwischen dir und deinen Eltern gibt. du auch ohne deine Eltern leben kannst. du dich selbst regulieren kannst.

All das trifft auf Kinder nicht zu:

Kinder brauchen Eltern – Erwachsene haben Eltern.

Entwickle dein Kreisgefühl

Wir laden dich also gleich an dieser Stelle ein, ein Bild und ein Gefühl für dich und deinen Kreis zu entwickeln. Du wirst dich mit deinem Kreis befassen, während dir gleichzeitig bewusst ist, dass deine wichtigen, bedeutsamen, emotional nahen Menschen, deine Eltern, deine Partner:innen, deine Kinder, deine Geschwister, deine wichtigsten Freund:innen ebenso ihren Kreis haben. Sie alle haben eigene Gärten mit eigenen Zäunen.

Kreisgefühl – was ist das?

Ein Kreisgefühl zu entwickeln bedeutet, dass du …

in deinem Körper ankommst. in der Gegenwart ankommst.den Raum um dich bemerkst und einnimmst.deine Grenzen wahrnimmst.

Erfahrung: Kreisvisualisierung

Visualisierungen werden in vielen Bereichen der Psychologie genutzt. Sportler nutzen diese Technik, um sich den Ablauf ihrer Bewegungen vorzustellen, sich diese einzuprägen und zu verbessern. Es hat sich gezeigt, dass diese Form des mentalen Trainings die Leistung immens steigert. Ray Floyd, ein US-amerikanischer Profigolfer, meint sogar, dass Visualisierungen möglicherweise der wichtigste Teil des Mentaltrainings sind.

In einer Visualisierung stellst du dir etwas so detailliert vor, dass es vor deinem geistigen Auge real wird. Es geht darum, dies nicht nur zu sehen, sondern zu hören, zu riechen, zu schmecken und auf deiner Haut wahrzunehmen – also mit möglichst allen Sinnen zu erleben. Dein Gehirn kann nicht zwischen einer gut gemachten Visualisierung und der Realität unterscheiden.

Probiere es aus und stell dir eine Zitrone vor, eine große, saftige, gelbe Zitrone. Du kannst auch gern daran riechen. Teile nun diese Zitrone gedanklich in vier Teile, schneide sie vor deinem inneren Auge auseinander. Siehst du das saftige, hellgelbe Fruchtfleisch vor dir? Nimm nun eins dieser Viertel deiner saftigen Zitrone, um in sie hineinzubeißen … Beiße hinein! Jetzt! – Was passiert in deinem Körper? In deinem Mund? Fließt der Speichel, obwohl weit und breit keine Zitrone zu sehen, anzufassen, zu riechen oder zu schmecken ist?

Visualisierungen helfen dir, deine Wahrnehmung von dir selbst und deiner Umwelt zu schärfen und sie auszudehnen. Sie helfen dir, deinen Blick zu weiten, deine unwillkürlichen Reaktionen bewusst zu machen und damit zu experimentieren, diese in eine gewünschte Richtung weiterzuentwickeln.

In der folgenden Visualisierung geht es darum, dich selbst und deine Grenzen wahrzunehmen, also deinen Kreis, den Raum rund um dich. Dabei beginnst du damit, dich auf deinen Atem zu fokussieren, um deine Gedanken zu beruhigen. Atme dabei länger aus als ein. Das beruhigt dein autonomes Nervensystem.

Im nächsten Schritt lenkst du deine Aufmerksamkeit auf deinen Körper. Im Alltag nehmen wir unseren Körper oft gar nicht wahr, wir sind nur in unseren Gedanken und definieren uns nur über unser Denken. Jetzt nimmst du dir bewusst Zeit, deinen Körper wahrzunehmen und damit die Balance zwischen kognitivem Denken (linker Gehirnhälfte) und deinem Körper herzustellen. Nimm nun Schritt für Schritt die Grenzen wahr, die dich kreisförmig oder kugelförmig umgeben. Die erste wahrnehmbare Grenze deines Körpers und damit von dir selbst ist deine Haut. Dann die Luft, die deine Haut berührt. Dann der Kreis rund um dich, der deinen normalen und für dich angenehmen Gesprächsabstand anderen Menschen gegenüber definiert. Dann der Kreis rund um dich, ab dem du fühlst, dass jemand im Raum ist und dass du dich mit diesem Menschen verbinden kannst.

Diese Kreise sind kulturell und familiär geprägt und erlernt. Im Süden Europas ist der Abstand beim Sprechen geringer als im Norden Europas. Für manche Leser:in war es möglicherweise in der Kindheit und Jugend nicht möglich und nicht erlaubt, Grenzen zu haben und/oder zu setzen. Vielleicht bist du als Baby – egal, ob du geschrien und geweint hast – wie ein Paket von einer fremden Person zur nächsten gegeben worden. Wenn du etwas erforschen wolltest, wurdest du vielleicht mit einem ängstlichen elterlichen »Nicht so wild/hoch/weit!« gebremst. Eventuell hast du als Kind nicht einmal eine Schublade für deine privaten Sachen gehabt und deine Tagebücher wurden von deiner Mutter gelesen. In der Jugend war es dir vielleicht nicht erlaubt, dein Zimmer oder das Badezimmer abzusperren. Nein zu sagen oder über dich hinauszuwachsen war in unterschiedlichen Entwicklungsphasen deines Lebens nicht möglich und damit wurden deine Grenze buchstäblich mit Füßen getreten, ignoriert oder sogar zerstört. Dein »Gartenzaun« wurde ramponiert.

Bei dieser Erfahrung geht es darum, diese Grenzen wiederzuentdecken, zu entwickeln, wahrzunehmen und gegebenenfalls in angemessener Form zu verteidigen. Das bedeutet, früh genug klarzustellen, wo deine Grenzen sind, und nicht erst, wenn du bereits emotional überflutet bist und keine Kontrolle über dich und deine Grenzen mehr hast.

Visualisierung (drei bis vier Minuten pro Schritt)

Schließe deine Augen, richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Atem und lass deine Gedanken ziehen.Gehe mit deinem Fokus zu deiner Wirbelsäule und nimm sie wahr als Zentrum deines Körpers. Nimm wahr, wie alle Teile deines Körpers an der Wirbelsäule hängen und deine Wirbelsäule umgeben.Geh mit deiner Aufmerksamkeit zu deiner ersten Grenze, zu deiner Haut, und nimm wahr, wie sie deinen gesamten Körper umschließt.Nimm nun die etwa 5 bis 10 Zentimeter dicke Luftschicht um dich wahr, die du spürst, wenn sie sich bewegt.Nimm dann den Kreis rund um dich herum wahr, der für dich der natürliche Sprechabstand zu einem Gegenüber ist.Nimm den Kreis rund um dich wahr, in dem du spürst, dass jemand in deiner Nähe ist und du dich von diesem Menschen abgrenzen sowie Nähe und Distanz zu ihm steuern kannst.Nimm den Kreis um dich wahr, in dem du spürst, dass jemand in deiner Nähe ist und du dich mit diesem Menschen verbinden kannst, sodass du dich nicht allein fühlst.Komm nun in deinem Tempo wieder in den Raum zurück – in den Kreis rund um dich herum –, in deinen Körper. Öffne deine Augen und orientiere dich im Raum.

Wie hat es sich angefühlt, einen eigenen Raum mit eigenen Grenzen zu haben? Einen Raum, der nur dir gehört – der so einmalig ist wie du? Hast du einen Bewegungs- oder Handlungsimpuls in deinem Kreis? Willst du vielleicht sogar weg aus deinem Kreis, weil du dich allein und isoliert fühlst? Alles, was in dir entstanden ist, darf sein. Vielleicht hast du bemerkt, dass dein Kreis auch Ecken und Kanten hat – oder sich nicht ganz schließen lässt oder ramponiert ist. Mit all dem werden wir uns in den nächsten Kapiteln auseinandersetzen.

Auf ewig Kind?

Unser Leben zwischen Zeugung und dem dritten Lebensjahr ist die prägendste Zeit und trotzdem können wir uns nicht oder nur wenig konkret daran erinnern. Was aber in dieser Zeit festgeschrieben wird, sind die damals entwickelten Überzeugungen. Wir nehmen sie heute noch wie ein Echo aus dieser Zeit in uns wahr, denn sie beeinflussen unser Denken und Handeln stark.

Da unsere Eltern für das familiäre Klima und die Erfühlung und Erfüllung unserer Bedürfnisse zuständig waren und somit für eine Umgebung, in der wir uns entfalten konnten, bedeutet Elternschaft die ultimative Einladung und Selbstverpflichtung, sich mit sich selbst und dem eigenen Gewordensein auseinanderzusetzen. Tun Eltern das nicht, bleiben diese Entwicklung und die Schadensbegrenzung an der nächsten Generation hängen.

Sorgten deine Eltern – aus welchen Gründen auch immer – nicht für so ein Gedeihen und wurden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, hast du dich als Kind angepasst und Strategien entwickelt, um die Beziehung zu deinen Eltern, also deinen überlebenssichernden Bindungspersonen, zu gewährleisten und zu schützen. Du hast dich eingefügt und hattest ein exzellentes Gespür dafür, was deine Eltern an dir mögen oder ablehnen. In der Psychologie nennt man das auch adaptive Überlebensstrukturen. Wir nennen sie Kreisverschlüsse oder gestopfte Löcher im Gartenzaun: Das sind all jene Strategien, die dir von außen nach innen ein Gefühl von Sicherheit, Stabilität und Halt geben. Sie halten deinen Kreis fest zusammen, weil er sich durch deine Anpassungsleistung verbogen und verschoben hat und vielleicht sogar an der einen oder anderen Stelle gebrochen ist. Der Kreisverschluss flickt den Zaun wieder zusammen. Irgendwie.

Diese erfolgreichen kindlichen Anpassungsvorgänge, dein »Dich einfügen«, deine Zugeständnisse werden im Erwachsenenalter leicht zu einem beengenden Korsett deines Selbst, das deine Kreativität und deine Möglichkeiten schmerzhaft beschneidet.

Wir laden dich im folgenden Abschnitt ein, zu erforschen, welches Korsett du dir möglicherweise angezogen hast. Erkenne deine Kreisverschlüsse oder deine Lösungen, deinen Gartenzaun aufrechtzuerhalten. Wir ermutigen dich mithilfe von Erfahrungen, dein Korsett Stück für Stück aufzuschnüren. Damit wollen wir dich in eine neue Aufrichtigkeit dir selbst und deinen Eltern gegenüber begleiten.