Entgrenzung - Marco Tamborini - E-Book

Entgrenzung E-Book

Marco Tamborini

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Beschreibung

Dieser Band beschäftigt sich mit der Biologisierung der Technik und der Technisierung der Biologie, wie sie heute in Robotik, Architektur und Materialdesign zum Tragen kommt, aber auch in der Weise, wie technisches Wissen über Natur produziert und zur Geltung gebracht wird. Ob Flugzeugdesign, klimaangepasste Architektur oder der Einsatz von Robotern im Körperinneren: Die Grenzen zwischen Biologie und Technik verschwimmen zusehends. Wissensproduktion, Produktdesign und Produktherstellung haben dabei ihren Ausgangspunkt in morphologischen Konzepten und Praktiken, die auf eine sehr lange Geschichte der Formerforschung zurückblicken. Marco Tamborini erzählt von der Zirkulation morphologischen Wissens zwischen Biologie, Ingenieurwissenschaft und Architektur seit dem frühen 20. Jahrhundert, untersucht aber auch die damit verbundenen philosophischen Fragen: Was ist Natur, was ist Technik? Worin besteht der Unterschied zwischen Lebendigem und Maschinen? Wie wird technisches Wissen über Natur erzeugt und welchen Einfluss haben dabei soziale und ökonomische Faktoren? Anhand einiger Fallstudien dieser Entgrenzung von Technik und Biologie wird gezeigt, wie die Zirkulation von Wissen mit seiner Produktion verknüpft ist und welche Ursachen und Folgen die Überschreitung der disziplinären und methodischen Grenzen zwischen Biologie und Technik hatte und hat. Der Zugang über das »Rätsel der Form« erweist sich dabei als sinnvoller methodischer Ansatz, mit dessen Hilfe die klassische Wissenschaftsgeschichte um die Untersuchung der Zirkulationsdynamik von Wissen erweitert werden kann.

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Marco Tamborini

Entgrenzung

Die Biologisierung der Technik und die Technisierung der Biologie

Meiner

Für Jonathan und Verena

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4255-6

eISBN (ePub) 978-3-7873-4292-1

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Einleitung

Dichotomien in der Wissenschaftsforschung des 20. Jahrhunderts

Science in Practice

Wissenszirkulation und das Prinzip des Werdens

1.Das Rätsel der organischen Form: Morphologie und Biologie

Organische Form als Maschine

Form als Entelechie

Form und Organizismus

Form und Design: die Architektur der Form

2.Biotechnische Formen des 20. Jahrhunderts

Die Sünde der Nachahmung

»Die mechanische Nachformung einer organischen Form«: Ernst Kapps Suche nach Formen

Die Begründung der Biotechnik

Die »Synthese zwischen Natur und Technik«

Form als Ergebnis

Ein unbekannter Feind: »Die Beharrlichkeit der Form!«

3.Form als System von Kräften

Biotechnique

Form als Ensemble

Form und Morphogenese

4.Die Versöhnung der 1960er Jahre und das neue Gleichgewicht

Bionics

Kombination

Biotechnik und Evolutionsstrategien

Zwischenfazit

5.Lost in Translation: die Biologisierung der Technik im 21. Jahrhundert

Morphospace: die Visualisierung von theoretisch möglichen Formen

Architektonisches Morphospace

Morphospace und Design

Von Biomimetics zur naturinspirierten Soft-Robotik

Lost in Translation?

6.Technik der Tiefenzeit

Fossilien

Technik und paläontologische Rekonstruktion

Die Historizität der Evolution

Virtuelle Paläontologie des 21. Jahrhunderts

7.Von der Bio-Robotik zur Robotik-inspirierten Morphologie

Automaten

OroBOT

Tunabot

Interaktive Roboter

Der integrative Ansatz der Robotik-inspirierten Morphologie des 21. Jahrhunderts

Zwischenbilanz

8.Die Welt der Formen

Politik der Form

Ökonomie der Form

Macht der Form

Werte der Form

Schlussbemerkungen

Wissensforschung als integratives Verfahren

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

EINLEITUNG

Die architektonische und ingenieurtechnische Herstellung komplexer Formen wird heute mehr denn je durch das Studium organischer Formen beeinflusst. Mit Hilfe von Robotik und 3D-Druckern lässt sich die Industrie des 21. Jahrhunderts von den organischen Formen der Natur inspirieren und geht den Geheimnissen ihrer Entwicklung und Funktion auf den Grund, um neue Materialien zu schaffen. Das US-Softwareunternehmen Autodesk arbeitete beispielsweise mit dem europäischen Konzern Airbus zusammen, um Flugzeuge zu entwerfen, die weniger wiegen und damit Treibstoff sparen. Dafür scannten sie die Struktur der Blattfäden der riesigen dänischen Seerose. Anhand des Verständnisses der Struktur der Blätter waren sie in der Lage, Materialien zu entwickeln, die die innere Struktur eines Flugzeugs neu gestalteten.

Ein weiteres Beispiel für die Beeinflussung organischer Form im Bereich des Designs ist der interessante Mechanismus, aber auch das Material des Kiefernzapfens zur Herstellung von Fenstern und Rollläden. Ist der Zapfen in trockenem Klima geschlossen, öffnet er sich in feuchter Umgebung. Diese Abhängigkeit der Form von der Veränderung der Luftfeuchtigkeit machten sich die Architekt:innen um Achim Menges zunutze und übertrugen diesen Mechanismus auf die Produktion von Architekturdesign. Das Ziel war es, völlig autonome Wohnungen zu schaffen, die in der Lage sind, Fenster oder Rollläden mit Hilfe von Mechanismen zu öffnen oder zu schließen, die dem Material selbst innewohnen. Diese Materialien bieten dann wichtige Anhaltspunkte, um zu verstehen, wie die organische Form – die der Kiefernzapfen – mit der Zeit die ihr eigene Gestalt und Funktion angenommen hat.

Es zeigt sich ein kontinuierlicher Kreislaufprozess der Verschmelzung von Technischem und Biologischem, der die Grenze zwischen Lebendigem und Technischem aufhebt: Wir treten in eine Ära der Biologisierung der Technik und der Technisierung der Biologie ein. Diesem allgemeinen Trend entsprechend wurden in den letzten Jahren deutschlandweit mehrere interdisziplinäre Exzellenz-Cluster1 eingerichtet, die sich der Untersuchung gerade jener enigmatischen Strukturen der Formveränderung widmen.

In all diesen Fällen haben Wissensproduktion, Produktdesign und Produktherstellung ihren Ausgangspunkt in morphologischen Konzepten und Praktiken, die auf einer sehr langen Geschichte der Formforschung basieren. Beginnend bei Johann Wolfgang von Goethes Form-Untersuchungen ziehen sie sich durch das gesamte 19. und 20. Jahrhundert hindurch.

Dieses Buch erzählt von den Begegnungen zwischen dem Studium biologischer und der Produktion technischer und architektonischer Formen. Begegnungen, die von der Überwindung der Grenzen zwischen biologischen und technischen Disziplinen und Praktiken erzeugt wurden. In den folgenden Kapiteln werden die Prämissen, Ursachen und Implikationen erforscht, die das Studium der organischen Formen und ihre technische Herstellung im 20. und 21. Jahrhundert geprägt haben.

Ich werde mich auf die Zirkulation von morphologischem Wissen zwischen den drei emblematischen Disziplinen Biologie, Philosophie und Architektur konzentrieren. Diese tauschten während des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder Ideen, Praktiken und Techniken zum Verständnis von Form aus. Die Fokussierung auf diese drei Disziplinen wird dabei jedoch lediglich als methodologischer Zugang genutzt, um die Morphologie innerhalb einer transdisziplinären Wissens-, Technik- und Wissenschaftsphilosophie und -geschichte zu untersuchen. Meine Wissenschafts- und Technikphilosophie plädiert in der Tat für eine transdisziplinäre Forschung der Dynamiken der Wissensproduktion. Die folgende Untersuchung ist also als eine interdisziplinär wissenschaftstheoretische, natur- und technikphilosophische Verbindung mit historischen und theoretischen Fragestellungen zu sehen.

Der Begriff der Form ist in den letzten 150 Jahren auf unzählige Arten definiert worden. Organische und technische Formen wurden z. B. als eine Struktur, eine Reihe von Kräften oder eine Kombination von Elementen, Gestalt oder als mystische Entelechie – d. h. als dem Organismus innewohnende Kraft, die seine Entfaltung und Perfektionierung ermöglicht –definiert. Diese Vielzahl von Definitionen impliziert zum einen den rätselhaften Charakter der Form und die Prozesse, die für ihre Entwicklung im Laufe der Zeit verantwortlich sind. Auf der anderen Seite verbergen jedoch diese Begriffsbestimmungen eine vielschichtigere Dynamik der Wissensproduktion: Morphologisches Wissen basiert auf einer direkten und kontinuierlichen Zirkulation von Praktiken, materiellen Objekten und Ergebnissen zwischen Biolog:innen, Ingenieur:innen und Architekt:innen.

Wenn wir demnach den Schwerpunkt darauf legen, wie dieses Wissen durch biologische und technische Disziplinen im 20. Jahrhundert in Bewegung gesetzt wurde und zirkulierte, können wir detaillierter untersuchen, auf welche Art und Weise das Studium biologischer Formen durch Praxiserfahrungen und Technologien aus dem Bereich der Architektur und des Ingenieurwesens beeinflusst wurde, sich konstituierte und umgekehrt. Mit anderen Worten: Wenn wir uns ansehen, wie das Wissen, die Produktion und Untersuchung von Formen zwischen Biologie, Architektur und Ingenieurwissenschaft zirkulierte, eröffnet sich eine neue Perspektive auf die breitere Dynamik der Wissensproduktion.

Dieser Perspektivwechsel wird die Grundlage für das Verständnis der jüngsten Renaissance der zeitgenössischen morphologischen Disziplinen legen. Die Frage, die dieses Buch leitet, lautet daher: Wie wurde das Wissen über die Form generiert, validiert, angepasst und übertragen?

Durch eine Herausarbeitung von emblematischen Fallstudien dieser Entgrenzung während des 20. und 21. Jahrhunderts verfolgt dieses Buch also drei Ziele. Erstens soll gezeigt werden, wie die Zirkulation von Wissen mit seiner Produktion verbunden ist: Die Zirkulation von morphologischem Wissen ist eine unverzichtbare Bedingung sowohl für die Herstellung von technischen Formen als auch für das Studium von biologischen evolutionären Strukturen. Zweitens werden die Prämissen, Ursachen und Folgen der Überschreitung der disziplinären und methodischen Grenzen zwischen Biologie und Technik während des 20. und den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts historisiert und wissenschaftstheoretisch erforscht. Drittens werden philosophische und theoretische Debatten auf ihre Abhängigkeit von der konkreten Arbeit an Formen hin analysiert. Meine Analyse kann daher im Wechselspiel zwischen der Geschichte der unterschiedlichen philosophischen Konzepte der organischen Form und den morphologischen Praktiken, mit denen sie empirisch untersucht wird, verortet werden. Durch die Rekonstruktion historischer Voraussetzungen und ihrer Kontexte werden die konkreten Begegnungen herausgearbeitet. Es wird dabei die konkrete Schnittmenge zwischen philosophischen Theorien und ihren Umsetzungen in morphologischen Praktiken untersucht.

Der ausgewählte Zugang zur Untersuchung des »Rätsels der Form«2 des 20. und 21. Jahrhunderts ist ein integrativer Ansatz, der sich zwei verschiedene Ansätze zunutze macht: Erstens erweitert und überwindet die in diesem Buch genutzte Methode die Debatte über die Charakteristika der sogenannten technowissenschaftlichen Disziplinen, und zwar Disziplinen, bei denen Theorie und Technik nicht mehr trennbar sind; zweitens ist die ausgewählte Methode als Fortsetzung einer bestimmten rezenten Forschungsrichtung in der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie zu verstehen: der Hervorhebung der Rolle wissenschaftlicher Praktiken und eines integrativen Ansatzes in Geschichte und Philosophie. Diese gipfelt in der Untersuchung der Zirkulation von Wissen als methodologischem Schlüssel zur Entdeckung der Dynamiken der Produktion von wissenschaftlichem Wissen. In der Erweiterung und Umsetzung dieser Ansätze wird die klassische Wissenschaftsphilosophie in Richtung einer breiteren Wissensgeschichte und -philosophie vorangetrieben.

Dichotomien in der Wissenschaftsforschung des 20. Jahrhunderts

Die historische und philosophische Reflexion über die Entwicklungen der sogenannten technisch-theoretischen Wissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts (wie die oben skizzierte ingenieurwissenschaftlich geprägte Untersuchung organischer Formen) ist stark von einer Reihe von Dichotomien beeinflusst. Diese Dichotomien wurden allerdings oft zu rein rhetorischen Zwecken in die Debatten eingebracht. In anderen Fällen liegen diesen Dichotomien jedoch sehr ernste theoretische, konzeptionelle und praktische Probleme zugrunde.

Zwei der emblematischsten Gegensätze, die das Studium und das historisch-philosophische Verständnis der Morphologie im 20. Jahrhundert charakterisieren, sind diejenigen zwischen Form und Funktion sowie zwischen Form und Materie. Biolog:innen, Architekt:innen und Ingenieur:innen haben jahrzehntelang darüber debattiert, ob die Funktion Vorrang (und Bedeutung) vor der Form hat oder ob das Gegenteil der Fall ist. Bestimmt beispielsweise die Form eines Auges seine Funktion? Bestimmt die Form eines Hauses, das viereckig gebaut ist, seine Funktion bzw. die Funktion seiner Räume? Sind Formen möglich, die neue, noch nicht realisierte Funktionen erlauben? Die gesamte Geschichte der Morphologie im 20. Jahrhundert wird im Lichte des Gegensatzes zwischen Form und Funktion interpretiert.3

Der zweite Gegensatz zwischen Form und Materie ist ebenfalls sehr alt. Er findet sich in den Texten der antiken griechischen Philosophen wieder. Die These, die diesen Gegensatz eint, ist, dass Materie als chaotisch, amorph, subjektiv, schwer quantifizierbar und abhängig von der Verfassung des Subjekts, das sie empfängt, zu verstehen ist. Formen hingegen sind stabile, kommunizierbare Konstrukte, die das Chaos der Wahrnehmung und der Natur ordnen und diesen einen Sinn verleihen – man denke z. B. an das von Linnaeus vorgeschlagene formale System der Natur oder an die Kategorienlehre, die – nach Kant – die chaotische Erfahrung zu ordnen im Stande ist. Eine diametral entgegengesetzte Position behaupten dagegen die Romantiker:innen oder die Phänomenolog:innen, insofern sie die Form als durch die immanenten Eigenschaften der Materie bestimmt auffassen. Nach diesen Positionen lassen sich Bedeutung und Struktur in der Materie aufspüren, die ohne eine vom Subjekt realisierte formale Synthese existiert.4 Zwei weitere Dichotomien – mehr rhetorisch als real – haben das historische und philosophische Verständnis der technischen Formenlehre und die anschließende Auflösung der Grenzen zwischen dem Organischen und dem Technischen geprägt: der Gegensatz zwischen Technowissenschaften und Naturwissenschaften und zwischen Wissenschaft 1.0 und 2.0.

Die Technowissenschaften können als eine Reihe von Disziplinen betrachtet werden, die von der synthetischen Biologie über die Chemie bis hin zur Nanotechnologie reichen.5 Zwar gibt es verschiedene Definitionen, aber ihre entscheidende Gemeinsamkeit besteht in der technowissenschaftlichen Herangehensweise an die Wissensproduktion, in welcher der epistemische »Zweck und die technologischen Interessen miteinander verwoben sind«.6 Der technowissenschaftliche Modus der Wissensproduktion prägt die heutige Zeit.

Innerhalb der breiteren Charakterisierung der Technowissenschaften ist ein Aspekt, den Philosoph:innen eingehend analysiert haben, die Möglichkeit einer scharfen Unterscheidung zwischen »klassischen« Wissenschaften, wie Physik oder Evolutionsbiologie, und den Technowissenschaften. Die Unterschiede zwischen diesen Disziplinen wurden auf verschiedene Weise formuliert. So haben Philosoph:innen und Historiker:innen die Praktiken der Technowissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts analysiert und mit denen der »klassischen« Wissenschaften verglichen. Diese Analysen wurden genutzt, um die klare Trennlinie zwischen diesen beiden unterschiedlichen Disziplinen aufzuzeigen. Wie der Philosoph Alfred Nordmann formuliert, ist das Ziel von Naturwissenschaftler:innen die Erklärung ihrer Untersuchungsgegenstände, während Technowissenschaftler:innen auf die technische Beherrschung ihrer Objekte abzielen.7

Andererseits haben Historiker:innen und Philosoph:innen die Elemente der Kontinuität zwischen Wissenschaften und Technowissenschaften betont. Sie sahen diese beiden Unternehmungen als zwei parallele wissenschaftliche Modi des Wissens statt als konkurrierende Unternehmungen.8 Darüber hinaus haben sich die Wissenschaftler:innen bemüht, den technowissenschaftlichen Ansatz der Wissensproduktion zu historisieren. So wurde die Technowissenschaft nicht nur als Ergebnis der Anwendung ingenieurwissenschaftlicher Methoden gesehen, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts stattfand; vielmehr erkannten sie auch technowissenschaftliche Instanzen in der gesamten Wissenschaftsgeschichte.9 Die wissenschaftliche Methode von Galileo Galilei, die Chemie des 17. Jahrhunderts oder die Paläontologie des 19. Jahrhunderts sind Beispiele für die technische Beherrschung von Phänomenen, die auch den neueren Technowissenschaften eigen sind.10 Die Technowissenschaft wurde damit zu einer Wissenschaft avant la lettre, wie es die Wissenschaftshistorikerin Ursula Klein formuliert.11 Hinter den Studien stand dabei ein einheitliches Motiv: die Suche nach soliden Abgrenzungsprinzipien, um die klassische Wissenschaft von der Technowissenschaft zu unterscheiden.12 Diese Strategie hatte einen möglichen metaphysischen Fallstrick, denn sie lud Philosoph:innen und Wissenschaftshistoriker:innen dazu ein, normativ zu erklären, was Wissenschaft ist oder sein sollte. Infolgedessen wurde die technowissenschaftliche Forschung in einer sehr abstrakten Weise dargestellt.

Eine weitere Dichotomie, die die Untersuchung der neueren wissenschaftlichen Produktion kennzeichnet, ist die zwischen Wissenschaft 1.0 und Wissenschaft 2.0 oder, anders formuliert, einer ersten und einer zweiten Modalität der Wissensproduktion.13 Die Modalität 1.0 ist charakteristisch für die Wissenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts. Mit der Unterscheidung zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Erkenntnis entstanden autonome wissenschaftliche Institutionen und Disziplinen. Diese hatten die Entdeckung der wahren Naturgesetze durch den Einsatz von Experimenten zum Ziel, wie es prominent Bacon in seinem Novum Organum (1620) beschrieb. Diesem fundamentalen Modus der Erkenntnis wurde ein neuer und radikalerer wissenschaftlicher Modus gegenübergestellt.

Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene Wissenschaft 2.0. zielt hingegen darauf ab, Hypothesen zu produzieren, und weniger darauf, die tiefe Wahrheit der Welt zu ergründen. Anstelle der Verwirklichung klar definierter wissenschaftlicher Disziplinen kommt es in der heutigen Zeit zu einer Begegnung und Zusammenarbeit von Laien und Wissenschaftler:innen. Außerdem wird die Wissenschaft selbst zu einem wirtschaftlichen Produkt gemacht, ebenso wie ihre Daten. Und schließlich gibt es eine tiefgreifende Technizität der Wissenschaft. Disziplinen wie die Physik, die Chemie oder die Biologie sind selbst von der Entwicklung neuer Technologien abhängig.

So fasst der Philosoph Martin Carrier den Übergang von Modus 1.0 zu 2.0 folgendermaßen zusammen: »In der Summe besagt die These, dass die Wissenschaft aus der Abgeschiedenheit des akademischen Labors in die gesellschaftliche Arena eingetreten ist, dabei unter neuartigen Zwangsbedingungen operiert und eine tiefgreifende institutionelle und methodologische Umorientierung erfährt.«14

Die letzte Dichotomie betriff den Unterschied zwischen der klassischen Epistemologie und der Epistemologie der Biomimetik und andere bio-inspirierte Disziplinen. Der französische Philosoph Henry Dicks bietet uns einige Elemente für die Entwicklung einer Epistemologie und Ontologie der Natur, die sich auf die Praktiken der Biomimetik stützt. Er zeigt, dass die Biomimetik eine eigene Erkenntnistheorie hat, die in scharfem Kontrast zur traditionellen Erkenntnistheorie steht. Einerseits sieht die traditionelle Erkenntnistheorie die Produktion von Wissen als Wissen über und von irgendeinem Aspekt der Welt. Die Quelle des Wissens in der klassischen Erkenntnistheorie ist »Wahrnehmung, Introspektion, Erinnerung, Vernunft oder Zeugnis«.15 Dicks hebt ein zentrales Thema der westlichen philosophischen Tradition hervor: Die Perspektivität des Ich-Denkens ist das, was die Erkenntnis der Welt begründet und ermöglicht. Dies kann zur Gründung eines Systems führen, von dem aus dann Urteile über die Welt gefällt werden können und somit Wissen produziert wird.

Dicks kontrastiert diese klassische Epistemologie mit der Epistemologie der Biomimetik. Die Produktion von Wissen in der Biomimetik geschieht nicht über die Natur, sondern leitet sich von der Natur ab. Darüber hinaus ist die Quelle des Wissens in der Erkenntnistheorie der Biomimetik »keine mentale oder andere Fähigkeit des menschlichen Subjekts, und es ist kein anderes menschliches Subjekt, das Wissen in Form von Zeugnissen weitergibt, sondern eine natürliche Entität oder ein System«16. Dicks schlägt daher einen scharfen Kontrast vor zwischen der traditionellen Erkenntnistheorie einerseits, die darauf abzielt, Wissen über die Welt durch die Produktion von Urteilen zu erzeugen, die von einem denkenden Selbst abgegeben werden, und der Erkenntnistheorie der Biomimetik andererseits, die Wissen aus den Strukturen der Welt und der Realität durch das Studium der Natur als Inspirationsquelle erzeugt. Indem sie die Natur studieren und sich von ihr inspirieren lassen, lernen Wissenschaftler, wie sie Objekte herstellen und produzieren können – sie lernen zum Beispiel, wie man starke Strukturen wie Spinnennetze und Eierschalen baut. Die Natur ist dann sowohl die Inspirationsquelle als auch der Maßstab, nach dem die Leistung des nach der Natur gebauten Produkts zu beurteilen ist.

In diesem Buch werde ich eine andere Strategie vorschlagen, um die Möglichkeiten und Prämissen der morphologischen Forschung im 20. und 21. Jahrhundert zu verstehen und die damit verbundene Entgrenzung des Technischen und des Biologischen zu untersuchen17. Ich werde mich weder auf die Charakteristika der technowissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Disziplinen oder Institutionen, die Formen untersuchen oder entworfen haben, konzentrieren noch auf die Gegenüberstellung von Form vs. Funktion oder Form vs. Materie. Vielmehr werde ich auf die Praxis eingehen, in welcher Form analysiert und hergestellt wurde. Der Fokus liegt also nicht auf der internalistischen historischen Untersuchung von einer oder mehreren natur-, ingenieur- oder technikwissenschaftlichen Disziplinen, sondern auf dem Untersuchungsgegenstand selbst, der Form, und wie dieser konkret von verschiedenen disziplinären Perspektiven und Zugängen untersucht wurde. Dabei wird der historische Blick auf die Form gerichtet, der zwischen verschiedenen Disziplinen zirkulierte und dadurch unterschiedliche Ansätze und neue Fragestellungen generierte. Wie am Ende dieses Buches erläutert wird, hilft uns der Fokus auf die Zirkulation statt auf disziplinäre Grenzen dabei, abstrakte Probleme oder metaphysische Abgrenzungskriterien sowie Aspekte und Eigenschaften der sogenannten Technowissenschaften und Naturwissenschaften neu zu lesen und zu definieren.

Science in Practice

In den folgenden Kapiteln wird nicht auf das Verhältnis zwischen möglichen abstrakten Formtheorien und der Welt eingegangen. Ich werde nicht die Grundlagen und Voraussetzungen allgemeiner Begriffe analysieren, wie den der Wahrheit, der Welt, des Wissens, der Rechtfertigung oder der Wissensgeltung. Ich werde auch nicht versuchen, eine transzendentale Analyse über die ganz allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit von morphologischem Wissen durchzuführen. Im Gegenteil werde ich mich, einer jüngeren Tradition innerhalb der Geschichte und Philosophie des Wissens folgend, auf das konzentrieren, was Wissenschaftler:innen tagtäglich tun: die tatsächliche Arbeit mit unterschiedlichen Werkzeugen und Instrumenten, um Objekte und Wissen zu produzieren und reproduzieren. Mit anderen Worten werde ich mich auf die Charakteristika und Modalitäten der von Wissenschaftler:innen verwendeten Praktiken konzentrieren und diese Praktiken innerhalb des breiteren sozialen und kulturellen Kontextes verorten, in dem sie agieren. Die Produktion von wissenschaftlichem Wissen wird also durch eine sorgfältige Untersuchung dessen, was Wissenschaftler:innen tun, materialisiert.

Diese Tradition hat tiefe philosophische und historische Wurzeln. Von den vielen Schriften dazu sind zwei besonders erwähnenswert. Zum einen hat sie ihre Wurzeln in einigen Aussagen von Kants Kritik der reinen Vernunft. Der Königsberger Philosoph stellt fest: »Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab; so ging allen Naturforschern ein Licht auf«18. Die von Torricelli selbst gewählte Schwere hat ein fundamentales Gewicht für die Möglichkeit, Wissen zu produzieren. Die verwendeten Praktiken erzwingen und ermöglichen die anschließende Bildung von Konzepten und Kategorien.

Der zweite Punkt wird von Edmund Husserl in seinem Text über den Ursprung der Geometrie angegeben. Die Geometrie geht von konkreten Operationen von Messfeldern aus. Die Praktiken, durch die praktisches Wissen produzierbar ist, sind also wesentlich und müssen analysiert werden. Also von unten nach oben.19

Wie ich auf den folgenden Seiten zeigen werde, bringt dies den Übergang vom Konzept der Form zum Studium des Werdens der Form. Oder, mit anderen Worten, vom Studium des Faktums der Morphologie zur Analyse der Formenlehre als Fieri.20 Bei diesem Übergang werden die Prozesse der Wissensproduktion in verschiedenen Praktiken materialisiert und so untersucht.

Für diese philosophische Analyse der Wissensproduktion sind daher sowohl die Untersuchungsobjekte wissenschaftlicher Disziplinen, in diesem Fall natürliche oder technische Formen, als auch die Praktiken, Technologien und theoretischen Konzepte und Überzeugungen, die zur Untersuchung und Produktion dieser Formen verwendet werden, von Relevanz. Diese Wechselbeziehung bietet die Möglichkeit zu verstehen, welche Art von Aktivitäten notwendig sind, um morphologisches Wissen zu generieren, mit dem man architektonische und ingenieurtechnische Formen herstellen kann, und ausgehend von letzterem zu erklären, wie die Morphogenese in natürlichen Organismen stattfindet. Mit dem Philosophen Hasok Chang können wir die Methode und Aufgabe der historisch-philosophischen Forschung folgendermaßen verstehen: »Anstatt über die Natur einer Definition nachzudenken, können wir uns überlegen, was man bei der Definition eines wissenschaftlichen Begriffs tun muss: formale Bedingungen formulieren, physikalische Instrumente und Verfahren zur Messung konstruieren, Leute in einem Komitee zusammentrommeln, um die vereinbarten Verwendungen des Begriffs zu überwachen, und Methoden entwickeln, um Leute zu bestrafen, die sich nicht an die vereinbarten Verwendungen halten. Mit einem Schlag haben wir alles Mögliche in Betracht gezogen, vom Operationalismus bis zur Soziologie der wissenschaftlichen Institutionen«.21

Diesen methodologischen Hinweisen folgend will diese Arbeit einen Beitrag zur breiteren Forschungsagenda der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie (History and Philosophy of Science) leisten. Indem die Wissenschaft in ihren historischen und sozialen Kontext gestellt wird und die Produktion von Wissen als dynamischer Prozess verstanden wird, hilft dieser integrative Ansatz (i) den Wissenschaftler:innen, umfassendere konzeptionelle Fragen zu klären und ihre philosophischen Annahmen hervorzubringen und (ii) abstrakte Kategorien zu materialisieren, um ihre Genese und Gültigkeit durch sorgfältige historische und philosophische Rekonstruktion zu untersuchen. Dabei wird diese Studie beleuchten, wie Wissen produktiv über disziplinäre Grenzen hinweg zirkulieren und so neue Erkenntnisse generieren kann.

Wissenszirkulation und das Prinzip des Werdens

In einer Reihe von Büchern und Artikeln haben Autoren wie Steven Shapin, Bruno Latour und Simon Schaffer und andere Wissenschaftssoziolog:innen die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass wissenschaftliches Wissen nicht irgendwie unabhängig von Praktiken, Handlungen, Technologien und sozialen Systemen entdeckt wird.22 Vielmehr sei wissenschaftliches Wissen konstruiert, insofern es sich aus sozialen, technologischen, ökonomischen und politischen Elementen zusammensetzt. Darüber hinaus haben diese Studien gezeigt, wie die Produktion von Wissen im Wesentlichen das Ergebnis von Aushandlungs- und damit sozialen Prozessen ist. Wie Shapin und Adi Ophir schrieben: »[Vielleicht] gehen die Zeiten, in denen Ideen frei in der Luft schwebten, wirklich dem Ende entgegen. Vielleicht werden wir das, was wir für einen himmlischen Ort des Wissens hielten, tatsächlich als das Ergebnis von Querbewegungen zwischen weltlichen Orten sehen.«23

Dieser Standpunkt wird die Grundannahme für die Durchführung meiner Analyse sein. Daraus ergeben sich zwei methodische Konsequenzen: Erstens legt dieser Standpunkt den Schwerpunkt auf die Querbewegungen, die die Entwicklung und Produktion von wissenschaftlichem Wissen charakterisieren. Wissen ist im Transit. Es wird nicht statisch in lokalen und isolierten Räumen erzeugt, sondern es entsteht durch eine Bewegung des Gehens, Umkehrens und Zurückkehrens. Anknüpfend an diesen Punkt stellte der Wissenschaftshistoriker Jim Secord in einem Vortrag die Aufgabe der Wissensforschung mit folgender Frage dar: »Wie und warum zirkuliert [wissenschaftliches] Wissen? Wie hört es auf, das exklusive Eigentum eines einzelnen Individuums oder einer Gruppe zu sein und wird Teil des selbstverständlichen Verständnisses von viel größeren Gruppen von Menschen?«24

Die von Secord formulierte Fragestellung wurde von anderen historischen Teildisziplinen, insbesondere in der Globalgeschichte und in der Kolonialgeschichte, übernommen, umformuliert und schließlich neu präsentiert. In diesen historischen Teildisziplinen hat es der Fokus auf die Zirkulation und den Übergang von Wissen erlaubt, antiquierte Modelle der Wissensproduktion (wie z. B. das Modell eines Zentrums und einer Peripherie des Wissens oder das Modell der Wissenschaftskommunikation als bloße Dissemination und Popularisierung von Wissen) zu überdenken und aufzugeben. Nach dem ›Zentrum-Peripherie-Modell‹ findet die Wissensproduktion durch das Sammeln von Informationen oder Objekten statt. Wissensakkumulation und -verarbeitung finden damit im abgeschotteten Raum des Labors statt, und erst anschließend beginnt nach diesem Modell die Verbreitung – und letztlich die universelle Akzeptanz – des so produzierten Wissens. Der Historiker Kapil Raj ist der Ansicht, dass der Fokus auf die Zirkulation von Wissen dagegen ermöglicht, »Wissenschaft als Koproduktion zu sehen, die durch die Begegnung und Interaktion zwischen heterogenen Fachgemeinschaften unterschiedlicher Herkunft entsteht«.25

Darüber hinaus impliziert die Erforschung der weltlichen Orte der wissenschaftlichen Produktion eine Definition von Wissenschaft nicht als abstrakte Ansammlung von Operationen, die auf frei in der Luft schwebenden Ideen und Prinzipien beruht. Vielmehr, wie Historikerin Lynn Nyhart dazu schreibt, »wäre ein passenderes Bild die Geschichte der Wissenschaft als eine dicht verflochtene Ansammlung von Menschen und materiellen Dingen, die von sozialem, kulturellem, wirtschaftlichem und religiösem Leben geprägt ist und sich über den gesamten Globus erstreckt. Die Aufgabe des Historikers besteht nun darin, herauszufinden, wie bestimmte Formen des Wissens und der Praxis innerhalb dieser Masse von Aktivitäten als ›Wissenschaft‹ verstanden wurden; was die Wissenschaft sozial, kulturell und materiell aufrechterhalten hat; und wer bei ihrer Entstehung profitiert und wer gelitten hat«.26

Dieses Buch erweitert diese methodischen Elemente und präsentiert so einen integrativen Ansatz, bei dem sich Philosophie, Technik- und Wissenschaftsgeschichte gegenseitig beeinflussen, um zu analysieren, wie die morphologische Forschung zwischen den Disziplinen zirkulierte und dadurch die metaphysischen und disziplinären Grenzen zwischen Natur und Technik überwunden hat.

Darüber hinaus ist die morphologische Produktion des 20. und 21. Jahrhunderts und der Verlust der Grenzen zwischen dem Technischen und dem Organischen tief verwurzelt in der starken naturphilosophischen Diskussion und Debatte über den Begriff und die Definition von Natur, Technik und Naturverhältnissen sowie über den Platz und die Rolle des Menschen in der Natur. Aus der heutigen Auflösung der Grenzen zwischen dem Technischen und dem Biologischen ergibt sich daher eine klassische Reihe an Fragen der Naturphilosophie: Was ist Natur? Was ist der Unterschied zwischen Natur und Technik? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Subjekt und dem Objekt? Gibt es einen Unterschied zwischen Lebendigen und Maschinen? Wie wird Wissen über Natur produziert? Und was ist seine Geltung? Mit anderen Worten: Das Problem der Produktion von Wissen fragt nach der Möglichkeit von Naturverhältnissen.

Dies impliziert, dass alle Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt – zwischen der natürlichen Formenwelt und den technischen Formen – analysiert werden müssen. In diesem Prozess kann philosophische Arbeit es sich nicht mehr leisten, die Technik »neben die anderen Gebiete und Gebilde zu stellen«27, sondern sie muss die Technik eingebettet in die Wissensproduktion untersuchen. Dies ist möglich, wenn man hier von der forma formata zur forma formans, vom Gewordenen zum Prinzip des Werdens zurückgeht.

Auf den nächsten Seiten28 wird meine Untersuchung der Zirkulation des morphologischen Wissens durch die Bewegung der Biologisierung der Technik und der umgekehrten Bewegung der Technisierung der Biologie folgen, beginnend mit einem Überblick über die wichtigsten Ansätze zur biologischen Morphologie im 20. Jahrhundert. Historisch wurden vier verschiedene Ansätze und daraus resultierende Definitionen der Form hervorgebracht. Die organische Form wurde mit einer Maschine, einem irreduziblen vitalen Prinzip, dem organischen Ganzen und damit nicht reduzierbar auf seine Bestandteile sowie mit einem architektonischen Prinzip identifiziert. Diese Definitionen und unterschiedlichen Betrachtungsweisen der organischen Form prägten das gesamte 20. Jahrhundert und strahlten bis ins 21. Jahrhundert aus.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den philosophischen und methodischen Grundlagen der Biotechnik, der heutigen Bionik. Im Anschluss an die Analyse der philosophischen Prämissen dieser Disziplin, die von dem Botaniker, Mikrobiologen und Naturphilosophen Raoul Heinrich Francé (1874–1943) und dem Philosophen Ernst Kapp (1808–1896) geprägt wurden, konzentriere ich mich darauf, wie dieses Wissen in den architektonischen Disziplinen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Praxis umgesetzt wurde. Untersucht wird dabei die konkrete Schnittmenge zwischen philosophischen Theorien und ihren Umsetzungen in morphologischen Praktiken.

Das dritte Kapitel setzt die Analyse der Bewegung zur Biologisierung der Technik durch den von dem schottischen Biologen D’Arcy Wentworth Thompson (1860–1948) vorgeschlagenen Ansatz zur Formanalyse fort. Er definierte Form als das Produkt von inneren und physikalischen Kräften, womit er die physikalischen, chemischen und geometrischen Eigenschaften, die den Prozess der Morphogenese bestimmen, fokussierte. Diese Ideen zirkulierten in der Architektur Mitte des 20. Jahrhunderts und fanden Eingang in die sogenannte Biotechnik, in Alan Turings morphogenetische Untersuchungen und bildeten das Gerüst des architektonischen Denkens des Architekten Christopher Alexander.

Das vierte Kapitel widmet sich den Versöhnungsversuchen zwischen den Technikern und den Biologen, die in den 1960er Jahren unternommen wurden. Insbesondere wird die Entstehung von Bionics und Biomimetik in den USA und von Bionik im geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert. Diese Analyse wird zeigen, wie die Vereinbarkeitsversuche sowohl Biologen und Architekten als auch Ingenieure und Philosophen involvierten.

Das fünfte Kapitel befasst sich mit dem Höhepunkt der Biologisierung der Technik. Dabei werden der fruchtbare Austausch und die Zirkulation von Methode und Technologie zwischen Biologie und Architektur im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert analysiert. Die Studie dieser Zusammenarbeit konzentriert sich auf die emblematische Zirkulation der Verwendung von Morphospace, einer Computerpraxis zur Visualisierung aller möglichen theoretischen Formen, ausgehend von den Parametern, die sie erzeugt haben. Dieses Werkzeug zirkulierte von der Paläontologie über die Architektur bis hin zum digitalen Design. Das Kapitel schließt mit einer Ausarbeitung der These zu den Dynamiken, Grenzen und Strategien dieser Wissenszirkulation und Grenzüberschreitung ab.

Das sechste Kapitel zeichnet die entgegengesetzte Bewegung der morphologischen Wissenszirkulation nach. Es wird untersucht, wie die Technologie die Erforschung ausgestorbener Formen von Organismen bestimmt hat. Indem sie zeigen, wie ›Papiertechnologien‹29, Computer und virtuelle Technologien das Studium fossiler Formen nicht nur erleichtert, sondern erst ermöglicht haben, legen diese Untersuchungen die Grundlage für die jüngste Technisierung der Tiefenzeit. Das Kapitel konzentriert sich auf den Einsatz neuer Technologien wie Scanner, 3D-Druck, virtuelle Realität und Augmentation, um einen Zugang zur geologischen Zeit der Erde zu erhalten.

Das siebte Kapitel setzt die Analyse des Eindringens der Technologie in die morphologischen Untersuchungen der Biologie des 21. Jahrhunderts fort. Insbesondere untersucht es den Einsatz von Robotik bei der Erzeugung neuer biologischer Fragestellungen und Praktiken. Der Einsatz von Robotern verändert nämlich massiv die Art und Weise, wie Naturformen untersucht und verstanden werden können. Nachdem ich mich auf die verschiedenen Modalitäten, die in der Bio-Robotik verwendet werden, konzentriert habe, werde ich untersuchen, wie Roboter verwendet wurden, um ein sehr vielfältiges Spektrum von Organismen zu untersuchen. Die allgemeineren Schlussfolgerungen des Kapitels beziehen sich auf den neuen material turn, der die Morphologie des 21. Jahrhunderts charakterisiert.

Das achte Kapitel legt einige der wirtschaftlichen und politischen Interessen offen, die für die Zirkulation von morphologischem Wissen im 20. und 21. Jahrhundert zentral sind. Mit Rekurs auf die Kritik am Konzept der Wissenszirkulation durch den Historiker Fa-ti Fan wird aufgezeigt, wie das Aufeinandertreffen zweier heterogener wissenschaftlicher Gemeinschaften auch unterschwellige politische und ökonomische Aspekte berührt. Das Kapitel schließt mit einer Reflexion über die Rolle von Werten in der aktuellen technischen und wissenschaftlichen Forschung.

Die Schlussfolgerungen des Buches beziehen sich sodann auf weitere Elemente, die das Studium der Formen in der heutigen Zeit auszeichnen. Schließlich wird die wichtige Rolle der Transdisziplinarität in der Geschichte und Theorie der Wissenschaftsforschung des 21. Jahrhunderts hervorgehoben.

1.DAS RÄTSEL DER ORGANISCHEN FORM: MORPHOLOGIE UND BIOLOGIE

Die Morphologie als das Studium der Struktur und Entwicklung der organischen Form geht auf Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) zurück.30 Goethe definierte die Morphologie als diejenige Wissenschaft, die in der Lage ist, »die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen«31. Der Universalgelehrte verstand diese Disziplin auf eine sehr dynamische Weise. Dabei unterschied Goethe zwei sprachlich und begrifflich voneinander verschiedene Formbegriffe, die im Deutschen bestehen:

Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei.

Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten, als von dem Hervorgebrachtwerdenden gehörig genug zu brauchen pflegt.

Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern, wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken.32

Damit lehnte Goethe eine statische Formdefinition ab und betonte vielmehr ihren dynamischen und sich ständig verändernden Status. Folglich konzipierte der deutsche Dichter die Morphologie als Morphogenese, das heißt als die Lehre von der Dynamik der Formbildung und -veränderung im Laufe der Zeit. Morphologie hingegen war, wie er es formulierte, »die Lehre von der Gestalt, Bildung und Umbildung der organischen Körper«.33

In Anlehnung an Goethes Ideen wurde die Morphologie am Ende des 19. Jahrhunderts von den meisten Biologen als »die erste Evolutionswissenschaft«34 betrachtet, da sie eine zentrale Rolle bei der Analyse und dem Verständnis von evolutionären Veränderungen durch die Zeit spielte35. Aufgrund des Ausschlusses der Morphologie aus der sogenannten modernen Synthese der Evolutionstheorie, d. h. der Verschmelzung der Darwin’schen Theorie mit der Mendel’schen Genetik in den 1930er- und 40er-Jahren, verlor die evolutionäre Morphologie im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich ihre zentrale disziplinäre Bedeutung. Sie wandelte sich zu einer Disziplin, die nach Ansicht des Biologen Ernst Mayr (1904–2005), einem der Hauptvertreter der modernen Synthese der Evolutionstheorie, in keiner Weise zur Weiterentwicklung des evolutionären Denkens beitrug.36 Trotz Mayrs recht einseitiger Rekonstruktion der Geschichte der Biologie, die einen Machtverlust der Morphologie signalisierte, durchzog ein Bedürfnis nach Morphologie das gesamte 20. Jahrhundert transversal.37 Innerhalb dieses starken Bedürfnisses, die Strukturen der Formen und die Mechanismen ihrer möglichen Veränderungen im Laufe der Zeit zu untersuchen, konnten mindestens vier verschiedene und widersprüchliche Definitionen organischer Formen und entsprechende Methodologien identifiziert werden.

Organische Form als Maschine

Zunächst wurde die organische Form mit einer klassischen Maschine gleichgesetzt. In seinem Hauptwerk Theoretische Kinematik definierte der deutsche Ingenieur Franz Reuleaux (1829–1905) eine Maschine, bzw. den Organismus, als »eine Kombination resistenter Teile, deren jeder eine spezielle Funktion hat unter menschlicher Kontrolle operierend, um Energie zu nutzen und Arbeit zu verrichten«.38 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das sogenannte mechanistische Weltbild, d. h. die Reduktion jedes Lebensprozesses auf physikalische und chemische Eigenschaften, eine weit verbreitete Sichtweise. Einer der wichtigsten Vertreter einer starken reduktionistischen und mechanistischen Auffassung war der in Deutschland geborene amerikanische Biologe Jacques Loeb (1859–1924). In The Dynamics of Living Matter stellte Loeb fest, dass »lebende Organismen insofern als chemische Maschinen bezeichnet werden können, als die Energie für ihre Arbeit und ihre Funktionen aus chemischen Prozessen gewonnen wird und als das Material, aus dem die lebenden Maschinen aufgebaut sind, durch chemische Prozesse gebildet werden muss«.39 Die Anerkennung der Identität von Organismen als chemische Maschinen rückte die alte Frage nach dem Eigenzweck des Organismus, dem die Autonomie der Form innewohnt, gegenüber ihrer möglichen Reduktion auf mechanische Prinzipien in den Vordergrund. Im Gegensatz zu Maschinen schienen Organismen eine Art Selbsterhaltung und zielgerichtetes Verhalten zu bewahren. Diesbezüglich postulierte Immanuel Kant an prominenter Stelle, dass Organismen als als ob Maschinen zu betrachten seien.40

Loeb antwortete auf diesen Einwand, dass »die Tatsache, dass die Maschinen, die vom Menschen geschaffen werden können, nicht die Kraft der automatischen Entwicklung, Selbsterhaltung und Reproduktion besitzen, für die Gegenwart einen grundlegenden Unterschied zwischen lebenden und künstlichen Maschinen darstellt. Wir müssen jedoch zugeben, dass nichts der Möglichkeit entgegensteht, dass die künstliche Produktion lebender Materie eines Tages vollendet sein könnte«.41 Die erste Annäherung an das Formproblem entstammte also einer rein mechanistischen Auffassung des Lebens, wie auch eines von Loebs Büchern42