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Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! »Ach, nein, nicht auch noch das!« Hanna von Schlee bremste mit einem Seufzen und ließ ihren Blick über die lange Schlange von Autos schweifen, die sich vor ihr bis zur Abfahrt Perlach aufreihte. Ungezählte bunte, glänzende Tupfen auf einem grauen Band inmitten von blauem Frühlingshimmel und Feldern, auf denen die erste Saat des Jahres grünlich schimmerte. Die hübsche Studentin der Psychologie öffnete das Seitenfenster ihres leicht verbeulten Minis, der noch aus dem letzten Jahrhundert stammte, und ließ ein wenig Frischluft ins Wageninnere. Drüben, auf einem Feld mit sprießenden Rüben, trällerten Lerchen im Himmelsblau. Hanna wunderte sich immer wieder über all die kleinen Ecken von Natur so nahe der Stadt. Bayern war ihre weißblaue Heimat, die Alpen in der Ferne, der Chiemsee in der Nähe, geboren und aufgewachsen war sie in München. Doch es hatte etwas gedauert, bis sie ihre Umgebung bewusster wahrgenommen hatte, als die anderen Städter das heute noch taten. Ihre Eltern hatten sie mit teuren Hobbys abseits der Wirklichkeit großgezogen. Reiten in der Halle, ebenso Tennis, ein bisschen Golf mit Papa, etwas klassischer Tanz mit Mama, die früher als Primaballerina die Bühnen der Welt verzaubert hatte. Hanna war nie wirklich warm geworden mit ihren Eltern. Dr. Paul von Schlee, der Augenarzt mit renommierter Praxis in Bogenhausen, unweit der eigenen Villa mit Pool und Bootshaus an der Isar. Und Helen, die elegante, kultivierte, gertenschlanke, disziplinierte Helen, wunderschön und kalt wie Eis. Keine Mutter, zumindest nicht dem Herzen nach. Hanna hatte sich in ihrer Kinderwelt voller Plüschtiere, rosaroter Mädchenträume und zierlichem Schmuck von Cartier immer nur nach einem gesehnt: Wärme. Gefunden hatte sie die schließlich ein paar Kilometer Stadtautobahn außerhalb der bayerischen Metropole, in einem kleinen, alten Haus mit großem Garten in Perlach. Bei Franziska Schuhmann, Helens Mutter, Hannas Großmutter. Sie war zum Herzensmenschen für das kleine, verwöhnte, vereinsamte Kind geworden. In einem Haus voller unordentlicher Zimmer, in raumgreifenden Nutzbeeten voller Bohnen, Erbsen, Erdbeeren und Mispeln.
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Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2021
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»Ach, nein, nicht auch noch das!« Hanna von Schlee bremste mit einem Seufzen und ließ ihren Blick über die lange Schlange von Autos schweifen, die sich vor ihr bis zur Abfahrt Perlach aufreihte. Ungezählte bunte, glänzende Tupfen auf einem grauen Band inmitten von blauem Frühlingshimmel und Feldern, auf denen die erste Saat des Jahres grünlich schimmerte.
Die hübsche Studentin der Psychologie öffnete das Seitenfenster ihres leicht verbeulten Minis, der noch aus dem letzten Jahrhundert stammte, und ließ ein wenig Frischluft ins Wageninnere. Drüben, auf einem Feld mit sprießenden Rüben, trällerten Lerchen im Himmelsblau. Hanna wunderte sich immer wieder über all die kleinen Ecken von Natur so nahe der Stadt.
Bayern war ihre weißblaue Heimat, die Alpen in der Ferne, der Chiemsee in der Nähe, geboren und aufgewachsen war sie in München. Doch es hatte etwas gedauert, bis sie ihre Umgebung bewusster wahrgenommen hatte, als die anderen Städter das heute noch taten.
Ihre Eltern hatten sie mit teuren Hobbys abseits der Wirklichkeit großgezogen. Reiten in der Halle, ebenso Tennis, ein bisschen Golf mit Papa, etwas klassischer Tanz mit Mama, die früher als Primaballerina die Bühnen der Welt verzaubert hatte. Hanna war nie wirklich warm geworden mit ihren Eltern.
Dr. Paul von Schlee, der Augenarzt mit renommierter Praxis in Bogenhausen, unweit der eigenen Villa mit Pool und Bootshaus an der Isar. Und Helen, die elegante, kultivierte, gertenschlanke, disziplinierte Helen, wunderschön und kalt wie Eis. Keine Mutter, zumindest nicht dem Herzen nach. Hanna hatte sich in ihrer Kinderwelt voller Plüschtiere, rosaroter Mädchenträume und zierlichem Schmuck von Cartier immer nur nach einem gesehnt: Wärme. Gefunden hatte sie die schließlich ein paar Kilometer Stadtautobahn außerhalb der bayerischen Metropole, in einem kleinen, alten Haus mit großem Garten in Perlach. Bei Franziska Schuhmann, Helens Mutter, Hannas Großmutter.
Sie war zum Herzensmenschen für das kleine, verwöhnte, vereinsamte Kind geworden. In einem Haus voller unordentlicher Zimmer, in raumgreifenden Nutzbeeten voller Bohnen, Erbsen, Erdbeeren und Mispeln. Und voller Erde.
Hannas erste Begegnung mit der Wirklichkeit war prägend gewesen. Mit vier oder fünf Jahren, so genau konnte sie es nicht mehr sagen, hatten sich drei dicke Regenwürmer in ihrer kleinen Hand geringelt. Zart und kalt und ein wenig kitzlig. Sie hatte kichern müssen. Und Franziska hatte sich eine Strähne ihres langen, grauen Haares hinters Ohr gestrichen, während ihre himmelblauen Augen mit dem kleinen Mädchen gelacht hatten.
Das war der sprichwörtliche Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen, die bis auf den heutigen Tag unverbrüchlich schien. Nun war Hanna Mitte zwanzig. Eine hübsche junge Frau, in deren ebenmäßigem Gesicht die himmelblauen Augen der Großmutter strahlten. Sie war längst ausgezogen aus ihrem Luxusreich in der elterlichen Villa, wohnte in einem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim, fuhr ein klappriges Auto, das schon mehr als zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte, und lebte ihre Leidenschaft. Psychologie, ihr Wahlfach, ihr Herzenswunsch. Die Mutter konnte damit nichts anfangen, der Vater hatte nur müde gelächelt. Medizin, schön und gut. Aber Seelenklempnerei? Wie garstig! Es brachte ja nichts ein, mit beiden Händen in den Psychosen und Traumata armer Kassenpatienten zu wühlen, bis einem die Puste ausging. Wo blieb die passende Partie, die schnieke neue Stadtvilla, wo blieben Enkelkinder, wie maßgeschneidert zum perfekten Plastikleben im gehobenen Mittelmaß?
Hanna hatte all diese Ansprüche lächelnd hinter sich gelassen.
Und sie war dabei nie allein gewesen, hatte sich deshalb nur als kleine Freizeitrebellin gefühlt. Da war immer Franziska gewesen, mit Nusskeksen und Malventee, mit einer weichen, selbst gehäkelten Decke und dem unwiderstehlichen Apfelgelee, das sie an kalten Wintertagen auf warme Semmeln strich.
Das kleine alte Haus in Perlach, ganz am Ende einer Sackgasse, mit der verwitterten Fassade, den vielen Hühnern, der etwas altersschwachen Gans, mit zwei erstaunlich exaltierten Hauskatzen, ungezählten Nistkästen voller Vogelbrut und mit Eddi, dem zahnlosen, von Arthrose geplagten, mittlerweile unfassbare vierzehn Jahre alten Rottweiler.
Als Hanna dem bulligen Hundebub zum ersten Mal gegenübergestanden und in sein knautschiges Gesicht mit den samtbraunen Augen geschaut hatte, war ihr erster Gedanke gewesen: Flucht!
Doch Franziska hatte sie ausgelacht, den Hund einmal mit beiden Armen umfasst und ihn ein Schaf mit dem Herzen eines Lammes genannt. Das war wohl ein wenig übertrieben gewesen, aber Hanna und Eddi hatten sich schließlich aneinander gewöhnt.
Je älter Franziska wurde, je mehr ihr das Rheuma zusetzte, je schwächer ihr Herz wurde, desto mehr hatte sie angefangen, sich mit Tieren zu beschäftigen. Jetzt, mit fast neunzig Jahren, ging die Gartenarbeit nur noch langsam und mühselig vonstatten. Aber für jedes von ihr aufgenommene Tierschutztier hatte sie alle Zeit dieser Welt.
Hanna hatte es sich angewöhnt, fast täglich zur Großmutter zu fahren. Jetzt im Frühling bestellte sie den Garten und genoss es, in der Erde zu wühlen, während die alte, weißhaarige Dame mit dem frechen Grinsen eines Gassenjungen ihr dabei zuschaute und Eddi kraulte. Hanna hatte gelernt in den vergangenen Jahren, sie kannte sich mittlerweile nicht nur in der Psyche des Menschen aus, sondern auch mit Mischkultur, Aussaat nach dem Mondstand, mit biologischen Spritzbrühen gegen Ungeziefer und Nützlingseinsatz. Sie erntete im Herbst ordentlich, und Katharina war stolz auf sie.
Es war eine wahre Seelenverwandtschaft zwischen Großmutter und Enkelin, und Hanna fühlte sich noch immer wie die Fünfjährige mit den Regenwürmern in der Hand, geborgen und behütet.
Endlich hatte der blecherne Lindwurm sich so weit nach vorne geschoben, dass Hanna abbiegen konnte. Sie verließ die Stadtautobahn Richtung Perlach. Nach dem nervigen Stop-and-go konnte sie nun wieder Gas geben und hatte ihr Ziel schon nach wenigen Minuten erreicht.
Franziska werkelte im Garten, als Hanna ankam. Sie wirkte zerbrechlich und schwach auf ihre Enkelin, wie bereits in den vergangenen Tagen. Es ging ihr nicht gut, auch wenn sie das vehement abstritt und sogar richtig wütend wurde, wenn Hanna darauf hinwies. Sie wollte nicht zum Arzt, sie wollte einfach ihre Ruhe. Hanna hatte dies schweren Herzens akzeptiert, auch wenn sie sich sehr um die Großmutter sorgte und der Instinkt ihr sagte, dass es falsch war, nachzugeben.
Franziska litt seit geraumer Zeit unter Herzbeschwerden, die sich ständig verschlimmerten. Einmal hatte Hanna es geschafft, sie zu einem Besuch bei ihrem Hausarzt zu überreden, doch sie hatte sich nicht an dessen Empfehlungen gehalten, und das verschriebene Medikament lag unangetastet im Küchenschrank.
»Hallo, Oma, wie geht’s dir?«, fragte Hanna und trat neben Franziska, die gerade damit beschäftigt war, Unkraut zu rupfen.
Diese seufzte, strich eine Strähne ihres mittlerweile schlohweißen Haares hinters Ohr und meinte: »Das feuchte Wetter bekommt mir nicht, ich fühle mich ziemlich schlapp. Und es sorgt dafür, dass das Unkraut noch schneller sprießt als sonst.«
»Lass mich mal machen. Du setzt dich hin und ruhst dich ein bisschen aus, einverstanden? Und nachher trinken wir dann zusammen eine Tasse Tee.«
»Na schön, Kindchen, wie du willst«, seufzte Franziska und steuerte eine nahe Bank an, unter der Eddi es sich bereits gemütlich gemacht hatte. Hanna war zufrieden, dass die Großmutter sich vernünftig zeigte, zugleich aber behagte ihr das ganz und gar nicht. Wann hatte Franziska schon mal das getan, was vernünftig war und von ihr erwartet wurde? Dass sie nachgab, war eindeutig kein gutes Zeichen. Die Sorge um die geliebte Großmutter wuchs in Hannas Herzen.
Während die Studentin das Nutzbeet, in dem bereits Möhren und Feldsalat gediehen, vom Unkraut befreite, warf sie immer wieder einen Blick auf Franziska. Die saß, scheinbar ganz entspannt, auf der Bank und kraulte den alten Eddi hinter den Ohren.
Hanna überlegte noch, was sie anstellen sollte, um die Großmutter endlich zu einer gründlichen Untersuchung bei ihrem Hausarzt zu bewegen, als Franziska plötzlich und ohne jede Vorwarnung von der Bank kippte und zu Boden fiel.
Hanna erschrak furchtbar. Sie ließ die Hacke fallen und eilte zu der Bewusstlosen, die wie leblos auf der Erde lag. Eddi schnüffelte an ihrem Gesicht und fiepte wie ein Welpe.
Die junge Frau schob den Hund beiseite, dann brachte sie Franziska in eine entlastende Lage und sprach leise auf sie ein. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder zu sich kam und sich fragend umschaute.
»Was ist denn passiert? Ich erinnere mich gar nicht …«
»Du bist von der Bank gefallen«, ließ Hanna sie wissen.
Sie half der Großmutter, sich wieder zu setzen, und schaute diese aufmerksam an. »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?«
Franziska verzog den Mund, in ihren himmelblauen Augen drückte sich deutlich der Unmut aus, als sie sich beschwerte: »Mist, mein Herz tut schrecklich weh. Es hört einfach nicht auf.«
»Warte, ich hol dir die Tropfen, die Dr. Wanninger dir verschrieben hat«, meinte Hanna, doch die Großmutter wehrte ab.
»Ich brauche nix, das wird schon wieder … aua!« Sie zuckte zusammen und krümmte sich. »Was ist das nur? Das gibt’s doch nicht! Die dumme alte Pumpe …«
Hanna mochte sich dieses Theater nicht länger mit ansehen.
»Wir fahren in die Behnisch-Klinik, da wirst du gründlich untersucht, und dort wird man dir bestimmt helfen!«, entschied sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Ich will nicht. Es wird schon wieder«, murrte Franziska, doch sehr viel weniger vehement als sonst. Tatsächlich schimmerte deutlich die Angst in ihren himmelblauen Augen.
»Wir fahren jetzt, komm«, bestimmte Hanna, denn auch sie spürte nun die Angst in sich aufsteigen. So schlecht war es der Großmutter noch nie gegangen. Sie brauchte sofort Hilfe. Und Hanna war fest entschlossen, ihr zu helfen, wenn nötig, auch gegen ihren Willen …
*
Wenig später hatten Hanna und ihre Großmutter die Behnisch-Klinik erreicht. Die junge Frau eilte zur Notaufnahme, und gleich darauf näherten sich zwei Pfleger mit einer Rollliege dem altersschwachen Mini. Franziska hatte in der Zwischenzeit wieder das Bewusstsein verloren. Während sie behutsam auf die Liege gebettet und zur Notfallambulanz gebracht wurde, sprach Hanna mit Schwester Anna, die gerade Dienst an der Anmeldung hatte. Sie beruhigte die junge Frau, die ganz aufgelöst erschien und kaum in der Lage war, auf ihre Fragen zu antworten.
»Keine Sorge, für Ihre Großmutter wird jetzt alles getan«, versicherte sie freundlich. »Wir gehen die Personalien durch, bis Dr. Berger mit Ihnen reden und Ihnen alles erklären wird.«
»Meine Großmutter hat schon seit einer Weile Herzprobleme«, gab Hanna da zu. »Sie hat so getan, als ginge es ihr gut. Nur einmal habe ich sie dazu überreden können, sich untersuchen zu lassen.«
»Wissen Sie zufällig, wie die Diagnose ausgefallen ist?«
»Nein, sie hat mir nichts gesagt. Der Doktor hat ihr Tropfen verordnet, aber die hat sie nicht genommen.«
Schwester Anna nickte. »Ihre Großmutter scheint eine starke Persönlichkeit zu sein.«
»Das ist sie«, seufzte Hanna.
»Wir erleben es oft, dass solche Menschen eine Krankheit einfach nicht ernst nehmen. Es war richtig, dass Sie sie hierher gebracht haben.«
Hanna lächelte schmal. »Hoffentlich geht es ihr bald wieder besser. Ohne ihren Garten und ihre Tiere wird sie wahrscheinlich sehr unglücklich sein.«
»Warten wir es ab«, schlug Schwester Anna begütigend vor. »Setzen Sie sich erst mal dort drüben hin. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn wir etwas wissen. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
Hanna schüttelte den Kopf. Sie nahm im Wartebereich der Notfallambulanz Platz, wo sich noch andere Menschen aufhielten. Alle waren angespannt, besorgt. Trotzdem fühlte die junge Frau sich sehr einsam und verlassen. Die Angst um Franziska machte ihr schwer zu schaffen. Immerhin war diese der wichtigste Mensch in Hannas jungem Leben …
Währenddessen untersuchte Dr. Erik Berger Franziska Schuhmann gründlich. Der Notfallmediziner mit den eisblauen Augen war an diesem Tag wieder einmal übellaunig. Er schnauzte Schwester Inga ständig an, denn alles, was sie tat, ging ihm gegen den Strich. Sie arbeitete zu langsam, reagierte nicht schnell genug auf seine Anweisungen und zog sich so seinen wachsenden Unmut zu.
Als sie bei der betagten Patientin einen Katheter legen wollte, riss er ihr kurzerhand die Kanüle aus der Hand und schnauzte sie an: »So macht man das!«
Schwester Inga hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, schwieg aber, denn Dr. Berger murmelte nun: »Das gefällt mir ganz und gar nicht. Sie muss auf die Innere. Sagen Sie Bescheid. Ich habe alles getan, was ich konnte.«
»Ihre Enkelin wartet draußen, wollen Sie …«
Erik Berger schnaubte: »Auch das noch! Ja, ich rede mir ihr.«
Hanna zuckte leicht zusammen, als Dr. Berger sie gleich darauf unwirsch anfuhr: »Ihre Großmutter hatte einen Infarkt. Sie muss stationär bleiben. Das hätte verhindert werden können, wenn man sich mehr um sie gekümmert hätte. Junge Leute, typisch!«
»Einen Infarkt?« Hanna erschrak zutiefst. »Heißt das …«
»Das heißt genau das, was ich gerade gesagt habe. Sie hätte behandelt werden müssen, dann wäre es nicht soweit gekommen.« Er musterte Hanna abfällig. »Das hat Ihr Zeitplan wohl nicht hergegeben?«
»Hören Sie mal, ich verbitte mir das!«, brauste Hanna da empört auf. »Sie wissen nichts von mir, also unterlassen Sie gefälligst diese Beschuldigungen!«
Dr. Berger lächelte abfällig. »Schuldgefühle?«
»Das ist doch … Wo ist meine Großmutter jetzt?«
»Sie wird auf die Innere verlegt. Vielleicht muss sie operiert werden, das entscheide nicht ich. Wenden Sie sich an den dortigen Kollegen.«
Er drehte sich um und wollte gehen.
»He, Moment mal!« Hanna ließ sich nicht so einfach abspeisen. »Wie geht es meiner Großmutter? Ich verlange …«
»Sie ist stabil, ihr Allgemeinzustand lässt allerdings zu wünschen übrig. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Aber sie wird doch nicht sterben«, murmelte Hanna, den Tränen nahe. »Nicht so plötzlich …«
Erik Berger, der bereits halb zur Tür heraus war, kehrte noch einmal um und versicherte ihr halbherzig: »Hier wird alles für Ihre Großmutter getan, keine Sorge.«
»Ich mache mir aber Sorgen, große Sorgen sogar!«, erwiderte Hanna da erbost. »Franziska ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie bedeutet mir einfach alles!«
Dr. Berger musterte sie schweigend, offenbar wusste er nicht, was er dazu sagen sollte. Schließlich riet er ihr nur lapidar: »Suchen Sie sich neue Freunde, das ist einfacher.«
Dann rauschte er hinaus und ließ Hanna, die ihm fassungslos hinterherschaute, einfach stehen. Schwester Anna hatte die Unterhaltung mitbekommen und näherte sich nun Hanna, die völlig verstört auf sie wirkte.
»Kommen Sie, ich bringe Sie auf die Innere«, bot sie freundlich an. »Dr. Norden wird sich um Ihre Großmutter kümmern, sie ist bei ihm wirklich in den besten Händen.«
»Was hat Dr. Berger gegen mich? Warum war er so gemein, so unfreundlich?«, fragte Hanna und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Schwester Anna seufzte. »Er hat nichts gegen Sie. Das ist seine normale Art. Er ist ein hervorragender Arzt, aber menschlich …«
»Wieso wird er hier beschäftigt?«, wunderte Hanna sich.
Die Schwester seufzte und drückte auf den Knopf, um den Lift anzufordern. »Wie gesagt, er ist ein hervorragender Arzt …«
*
Dr. Daniel Norden, Chefarzt und Klinikchef, hatte eben die Visite beendet, als die neue Patientin auf seine Station gebracht wurde. Dr. Alexander Schön kümmerte sich um Hannas Großmutter und zog auch den Chefarzt hinzu, denn der Zustand der alten Dame stabilisierte sich nicht so wie gewünscht.
Dr. Norden untersuchte Franziska Schuhmann gründlich und entschied dann: »Das Beste wird sein, wenn wir die Kollegin Rohde einbeziehen. Ich möchte bei dem Alter der Patientin nicht gleich zu einem Eingriff raten. Aber wenn sie sich nicht stabilisiert, könnte er doch unumgänglich werden.«
Der Internist Schön war der gleichen Meinung. Und auch Dr. Christina Rohde zeigte sich mit dem Zustand der Patientin nicht zufrieden. Sie führte eine Ultraschall- und Isotopenuntersuchung durch und erstellte eine Angiokardiographie. Diese zeigte deutliche Schäden in den Herzkranzgefäßen.
»Das war definitiv nicht der erste Myokardinfarkt der Patientin«, führte sie danach aus. »Wäre sie zwanzig Jahre jünger, würde ich mehrere Stents setzen, das ist immer noch der einfachste und sicherste Weg. Aber ihr Allgemeinzustand lässt zu wünschen übrig. Und ihr Alter spricht ebenfalls gegen eine solche Behandlungsmethode.«
»Was schlagen Sie vor, Frau Kollegin?«, fragte Dr. Norden.
»Konservative Therapie, sprich Medikation. Etwas anderes erscheint mir im Augenblick nicht sinnvoll. Das Risiko wäre einfach zu groß. Ich schlage vor, sie bleibt auf der Inneren.«
Dr. Schön nickte zustimmend.
»Also gut, dann versuchen wir es auf diese Weise. Hat sie Angehörige?«
»Eine Enkelin, sie wartet«, antwortete der Internist.
»Ich rede mit ihr«, beschloss Daniel Norden.
Hanna hatte in der Zwischenzeit wie auf heißen Kohlen gesessen. Die lange Wartezeit konnte nichts Gutes bedeuten, davon war sie überzeugt. Als dann eine junge Frau erschien und sie zum Chefarzt der Klinik brachte, rutschte ihr das Herz gleich noch eine Etage tiefer. Arme Franziska, hatte ihre unverbesserliche Sturheit sie in eine ausweglose Lage gebracht? Hanna hoffte von Herzen, dass es noch nicht zu spät war, dass ihrer Großmutter hier geholfen werden konnte. Denn was sollte sonst werden? Franziska war nicht nur ihr Herzensmensch, auch ihr Besitz in Perlach, das kleine Paradies, wie Hanna es nannte, würde ohne sie nicht mehr dasselbe sein …
Dr. Norden begrüßte die junge Frau freundlich und bot ihr Platz vor seinem Schreibtisch an. Katja Baumann, seine Assistentin, brachte Kaffee, bevor sie die beiden allein ließ.
»Herr Doktor, bitte sagen Sie mir, was los ist«, bat Hanna verstört. »Ist meine Großmutter … lebt sie überhaupt noch?« Ihre himmelblauen Augen füllten sich mit Tränen, und sie hatte Mühe, nicht völlig die Fassung zu verlieren.
Der sensitive Mediziner spürte sogleich, dass es hier zwischen zwei Menschen ein sehr enges Band gab. Er spürte die Verzweiflung, die tiefe Sorge. Und er lächelte begütigend.
»Ja, natürlich. Es geht ihr den Umständen entsprechend.«
»Und was heißt das?«
»Ihre Großmutter hatte einen Herzinfarkt. Es war nicht der Erste. Leider hat sie sich nicht behandeln lassen, weshalb ihr Zustand jetzt nicht der Beste ist. Wir haben sie stabilisiert, doch sie wird eine Weile hierbleiben müssen. Wir werden sie medikamentös behandeln. Und wenn das nicht genügt, eventuell operieren. Aber das wäre nur die letzte Option.«
»Kann sie denn eine OP in ihrem Alter noch überstehen?«, fragte Hanna ängstlich. Verschämt wischte sie sich über die Augen. Dass Franziska bereits mehrere Infarkte hinter sich hatte, war eine schlimme Neuigkeit. Bestürzt dachte Hanna an die vielen Gelegenheiten, wenn die Großmutter sich nicht gut gefühlt hatte. Immer hatte Hanna versucht, sie zu einem Arztbesuch zu überreden, doch stets hatte Franziska abgewiegelt.
»Das Risiko ist erhöht«, gab Dr. Norden zu. »Aber wenn ihr Herz sich nicht erholt, könnte ein Eingriff trotzdem eine lebensrettende Maßnahme sein.«
»Und wenn sie auf die Medikamente anspricht?«
»Das wäre natürlich wünschenswert. Auf jeden Fall behalten wir Ihre Großmutter hier. Die Behandlung kann eine Weile dauern. Und danach wird sie sich schonen müssen. Können Sie mir etwas über ihre persönlichen Verhältnisse sagen? Gibt es jemanden, der sich kümmern, sie pflegen könnte?«
»Sie lebt allein. Ihr Mann ist schon lange tot. Sie hat bis heute noch im Garten gearbeitet. Und all die Tiere, um die sie sich kümmert …« Hanna dachte kurz nach. »Ich könnte zu ihr ziehen. Ich studiere Psychologie und wohne im Studentenwohnheim. Dort das Zimmer zu kündigen, wäre kein Problem. Aber ob sie das will, keine Ahnung …«
»Das klingt nach einer eigenwilligen Frau.«
Hanna seufzte. »Ja, das ist sie, keine Frage. Ich mache mir jetzt doch Vorwürfe, weil ich nicht darauf bestanden habe, dass sie zum Arzt geht. Sie hat sich oft schlecht gefühlt in letzter Zeit. Allerdings ist das auch kein Wunder, wenn man bedenkt …«
Daniel Norden schaute Hanna aufmerksam an. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihm trauen konnte. Und sie brauchte nun einen Verbündeten. Denn wenn Franziska tatsächlich für längere Zeit ausfiel und dann auf Hilfe angewiesen wäre, würde die Lage noch schwieriger sein, als sie es ohnehin schon war …
»Ich will Sie nicht mit unseren familiären Problemen langweilen, Herr Doktor. Aber meiner Großmutter geht es erst schlecht, seit dieser unsägliche Streit herrscht …«
»Doch nicht zwischen Ihnen beiden, oder?«
»Nein, zwischen Großmutter und meinen Eltern.«
»Wenn Sie möchten, erzählen Sie mir davon, ich höre Ihnen zu.«
»Haben Sie denn dafür Zeit?«
Dr. Norden lächelte. »Die nehme ich mir. Schließlich möchte ich Ihrer Großmutter wirklich helfen. Und das kann ich am besten, wenn ich möglichst viel über sie weiß.«
Hanna nickte. Sie hatte sich also nicht in ihm getäuscht.
»Großmutter besitzt dieses Grundstück in Perlach. Ihr Haus ist klein und alt, aber der Grund ist einiges wert. Mein Vater ist nun der Meinung, dass es für Franziska besser wäre, in eine Wohnung zu ziehen und den Besitz zu verkaufen.«
»Ich nehme an, es geht um einen hohen Betrag.«
»Ein Gutachter hat das Grundstück auf 2,5 Millionen Euro geschätzt.« Sie schnaubte verächtlich. »Bei einer solchen Summe läuft manchen Leuten eben das Wasser im Munde zusammen, auch wenn sie schon mehr haben, als sie brauchen. Da zählen keine Familienbande mehr. Blut ist vielleicht dicker als Wasser. Aber in meiner Familie geht es letztendlich nur ums Geld.«
Dr. Norden warf einen Blick in die Patientenakte. »Ihr Vater ist Dr. Paul von Schlee, der Augenarzt?«
»Ja, Sie kennen ihn?«
»Wir haben zusammen studiert. Seine fachärztliche Ambulanz hat einen hervorragenden Ruf.«
»Mag sein. Fachlich hat er was auf dem Kasten, menschlich sieht es aber eher mau aus, das können Sie mir glauben.«
Daniel Norden erinnerte sich mit gemischten Gefühlen an den recht arroganten Kommilitonen, für den tatsächlich schon im Studium nur das Materielle gezählt hatte. Seine Tochter schien glücklicherweise nicht nach ihm geraten zu sein.
»Papa hat Franziska in den vergangenen Monaten ständig unter Druck gesetzt. Es gab eine Menge Streit und unschöne Szenen. Keiner wollte nachgeben.«
»Und wie steht Ihre Mutter dazu? Hat sie Partei ergriffen?«
»Mama? Nein. Das interessiert sie nicht.«
»Tatsächlich? Es geht doch wohl um ihr Elternhaus.«
»Sie war nie gerne dort. Franziska hat mir mal erzählt, dass sie sich schämte, wenn die anderen Kinder sie fragten, wo sie wohnte. Dann hat sie eine Adresse in Grünwald erfunden. Sie wollte schon von klein auf weg, zum Ballett. Sie hat die Großeltern gedrängt, ihr eine teure Ausbildung zu bezahlen, obwohl sie das eigentlich nicht konnten. Großvater war bei der Bahn, Lokführer. Franziska hat sogar eine Weile nebenher gearbeitet, um Mamas Ausbildung zu finanzieren. Sie hat geputzt und Zeitungen ausgetragen. Ihrer Tochter war das egal, Hauptsache, sie bekam, was sie wollte. Und das war ja auch der Fall. Sie wurde eine berühmte Primaballerina an der Pariser Oper und heiratete einen erfolgreichen, von Hause aus reichen Arzt. Seither lebt sie ein Hochglanzleben, das sich jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang nur um eine Person dreht: sie selbst. Alles andere ist ihr völlig egal.«
»Sogar ihre eigene Mutter?«
»Sogar ihre eigene Tochter. Und was Papa tut, ist ihr auch einerlei, solange er ihr alles bieten kann, was sie sich wünscht.« Hanna lächelte schmal. »Und sie hat eine Menge Wünsche, glauben Sie mir, Herr Dr. Norden.«
Daniel Norden musterte die junge Frau betroffen. Hanna von Schlee hatte sehr hart und bitter gesprochen. Er begann zu verstehen, warum sie so sehr an ihrer Großmutter hing.
»Unter diesen Umständen wäre es wohl sinnvoll, mit Ihrem Vater zu reden und ihn davon zu überzeugen, den Streit zu beenden.«
Hanna lachte freudlos auf. »Viel Spaß dabei!«
»Sie meinen, es wäre aussichtslos?«
»Sinnlos ist das bessere Wort. Papa mag Franziska nicht, er mochte sie nie. Das beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Für ihn symbolisiert sie die wenig glorreiche Herkunft seiner Frau. Er möchte das lieber vergessen. Wenn das Grundstück in Perlach verkauft und das Haus abgerissen wäre, könnte er das. Und zwar auf ein paar Geldsäcken mehr sitzen, die er so gerne hortet …«
»Wären Sie denn einverstanden, wenn ich mal mit Ihrem Vater rede? Wir kennen uns ja schließlich von früher.«
»Tatsächlich? Und dann wollen Sie sich für so etwas hergeben? Seien Sie mir nicht böse, Herr Dr. Norden, aber das erscheint mir für einen Mann in Ihrer Position doch reichlich naiv.«
Er musste schmunzeln. »Finden Sie? Das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt. Ich betrachte es als Kompliment.«
»Wenn Sie sich da wirklich einmischen wollen, wäre ich Ihnen natürlich dankbar. Ich kann jetzt, wo Franziska außer Gefecht ist, jede Unterstützung brauchen. Aber es wäre einfach unmoralisch, Sie nicht zu warnen.«
»Ihr Vater ist gewiss kein Unmensch. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass nicht sachlich mit ihm zu reden ist.«
»Papa hatte keine Skrupel, seine betagte Schwiegermutter so unter Druck zu setzen, dass sie schließlich hier gelandet ist. Was denken Sie, was passiert, wenn Sie sich als Außenstehender einmischen und ihm verbieten wollen, seine gierigen Finger nach dem Grundstück in Perlach auszustrecken?«
Der Klinikchef lächelte schmal. »Ich weiß es noch nicht. Aber ich muss zugeben, Sie haben mich neugierig gemacht …«
*
Hanna wollte die Behnisch-Klinik nicht verlassen, ohne ihre Großmutter gesehen zu haben. Obwohl Dr. Schön gegen einen Besuch war, durfte sie schließlich zumindest einen Blick auf Franziska werfen. Deren Zustand war nach wie vor instabil, es schien nicht ausgeschlossen, dass sie in den kommenden Stunden auf Intensiv verlegt werden musste.
Mit dem Bild der blassen, kranken Großmutter im Herzen fuhr Hanna wütend und ängstlich zugleich nach Perlach zurück, kümmerte sich um die Tiere und packte einen Koffer mit allem, was Franziska in nächster Zeit brauchen würde, um ihn in der Behnisch-Klinik abzugeben. Danach stattete sie ihren Eltern einen Besuch ab.
Mittlerweile war der Abend fortgeschritten. Als Hanna ihr Auto vor der Villa abstellte und über den gekiesten Weg lief, hörte sie weit oben in einer der alten Buchen eine Amsel singen. Das überraschte sie so sehr, dass sie einen Moment lang stehen blieb und dem sanften Schlaflied lauschte. Sie konnte sich nicht erinnern, während ihrer gesamten Kindheit hier so etwas gehört zu haben. Oder hatte sie es nur vergessen?
»Hanna, wie schön! Das ist eine Überraschung.« Helen von Schlee eilte die Freitreppe herunter, wie immer top gestylt in einem leichten Anzug aus heller Seide, das blonde Haar zu einem eleganten Knoten im Nacken geschlungen. Matt schimmernder Goldschmuck verlieh ihrem Auftritt das gewisse Etwas, irgendwo zwischen extravagantem Chic und Noblesse.
Hanna versuchte einen Moment lang, sie sich als kleines Mädchen vorzustellen, in Strickpullover und Cordhosen, wie sie auf der alten Schaukel in Franziskas Garten saß. Es wollte ihr nicht gelingen.
»Hallo, Mama«, sagte sie kühl. »Ist Papa auch da?«
»Leider nein, er ist in seinem Club. Hättest du angerufen …«
»Nicht schlimm.« Sie folgte der Mutter ins Haus, aus dem frühlingshaften Dämmerlicht eines Maiabends voller Blütenduft und Vogelgezwitscher hinein in die Kühle des Hauses, zwischen kostbaren Antiquitäten, erlesenen Designerstücken und einer Weitläufigkeit, die ans Protzige grenzte. Der große Wohnraum verfügte an seiner Stirnseite über bodentiefe Fenster, die einen Blick in den parkähnlichen Garten freigaben. Auf den gepflegten, tiefgrünen Rasen, den Pool mit Badehaus und die erhabenen Baumriesen, die wohl alle Bewohner der Jugendstilvilla gekannt hatten. Hier hatte sich nichts verändert, das würde es auch nie. Denn das Leben fand woanders statt …
»Setz dich, Schatz. Kann ich dir etwas anbieten?«
»Nein, danke. Ich bleibe nicht lang.« Hanna ließ sich auf dem englischen Chesterfield nieder. Der leise Ledergeruch war ihr ebenso vertraut wie das schwache Aroma teurer Zigarren, die ihr Vater rauchte. Plötzlich meinte sie, wieder zehn Jahre alt zu sein. Kein wirklich angenehmes Gefühl.
»Ist etwas vorgefallen?«, fragte die Mutter in ihre Gedanken hinein. »Du bist so blass. Geht es dir nicht gut?«
Hanna schaute sie an, schaute in ihre eisblauen Augen, so kalt und unnahbar wie ein Gletscher, und fragte sich, was sie hier überhaupt wollte. Es würde niemanden in diesem Haus wirklich interessieren, was sie zu sagen hatte.
»Oma liegt in der Behnisch-Klinik«, sagte sie dann doch. »Sie hatte einen Herzinfarkt. Es geht ihr ziemlich schlecht.«
Helen zuckte nicht mit der Wimper. Ihr Blick war und blieb kühl und ausdruckslos. Endlich raffte sie sich zu einem »Ach?« auf, das Hanna noch schlimmer erschien als das Schweigen zuvor.
Unvermittelt stieg heiße Wut in ihr auf. Sie verspürte den Wunsch, ihre Mutter zu schütteln, bis ihre wohlgeordnete Frisur sich auflöste, bis so etwas wie Leben in ihren Blick kam und sich endlich eine menschliche Regung zeigte. Doch der Funke erlosch, bevor er ein Feuer entzünden konnte, Resignation überdeckte und erstickte ihn. Hanna fühlte sich plötzlich wieder sehr klein, hilflos und ausgeliefert. Das war sonst der Punkt, an dem sie zu Franziska gelaufen war, um sich aufzuwärmen, für eine Portion Liebe, Verständnis und Halt. Nun empfand sie die Sorge um die geliebte Großmutter doppelt intensiv.
»Ich wollte euch nur Bescheid sagen«, quetschte sie schließlich hervor und erhob sich. Sie verspürte den dringenden Wunsch, zu gehen, bevor sie ausfallend wurde und einen sinnlosen Streit mehr vom Zaun brach. In dieser Disziplin war Helen ihr haushoch überlegen, denn sie stritt nicht mit dem Herzen, sondern mit Nüchternheit und Kälte. Und sie gewann immer.