Erdgeschichte(n) und Entwicklungsromane - Kathrin Schär - kostenlos E-Book

Erdgeschichte(n) und Entwicklungsromane E-Book

Kathrin Schar

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Beschreibung

Entwicklungsromane und Erdgeschichte(n) entstanden um 1800 im Kontext der Verzeitlichung und sind über den Entwicklungsbegriff miteinander vergleichbar. Wissenspoetologisch analysiert Kathrin Schär teleologische, ateleologische und zyklische Entwicklungsverläufe sowie die Neuverhandlung der Subjektkonstitution durch geologisches Wissen in Cuviers Recherches sur les Ossemens Fossiles, Lyells Principles of Geology, Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und Stifters Nachsommer. Ihre Untersuchung macht deutlich, wie sehr das geologische Wissen nicht nur die hier explorierten Entwicklungsromane, sondern auch die Ästhetik der Moderne prägte.

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für Andreas

Kathrin Schär, geb. 1980, ist Dozentin für Deutsch und Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie forscht zu Erdgeschichte( n) und Entwicklungsromanen und lehrt Schreiben im Beruf.

Kathrin Schär

Erdgeschichte(n) und Entwicklungsromane

Geologisches Wissen und Subjektkonstitution in der Poetologie der frühen Moderne. Goethes Wanderjahre und Stifters Nachsommer

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Dissertation, Université de Neuchâtel, 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext:https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld© Kathrin Schär

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-5716-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5716-0 EPUB-ISBN 978-3-7328-5716-6https://doi.org/10.14361/9783839457160

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Danksagung

Einleitung

1Erdgeschichte(n) um 1800

1.1Erdgeschichte und Geologie

1.1.1Die Ausdifferenzierung der Geologie als Fachrichtung

1.1.2Von Neptunisten, Vulkanisten, Katastrophisten und Aktualisten

1.2Erdgeschichte(n): die Texte Buffons, Cuviers und Lyells

1.2.1Vom chaotischen Bild zur linear-teleologischen Epochengeschichte: Buffons Histoire naturelle und Époques de la nature

1.2.2Der Ich-Erzähler als Forscher und Reiseführer: Cuviers Recherches

1.2.3Vom Raum über die Kartenserie zur Zeit: Lyells Principles

1.3Erdgeschichtliche Konzepte

1.3.1Entwicklungskonzepte

1.3.2Erdgeschichte(n) zwischen Literatur und Wissenschaft

1.4Erdgeschichte und Reisebericht

1.4.1Von der konkreten Reise im Raum zur imaginierten und metaphorischen Reise in der Zeit

1.4.2Beschreibungen gefährlicher und friedlicher Landschaften

1.4.3Vom Entdecker zum Spurensucher

1.4.4Die Erdgeschichte als unvollständiges Ganzes

1.4.5Von der mathematischen Formel zur Regellosigkeit

1.4.6Panoramasicht und Überblicksverlust

2Erdgeschichte und Entwicklungsroman im ersten Drittel des 19. JahrhundertsGoethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829)

2.1Goethes geologisches Wissen

2.1.1Die Entdeckung der Erdgeschichte vor 1800

2.1.2Die Erdgeschichte nach 1800

2.1.3»Geologische Anfänge«: Textgenese und geologisch-geognostische Passagen in beiden Fassungen der Wanderjahre

2.2Interpretation der geogonostisch-geologischen Stellen der Wanderjahre

2.2.1Felix und die klassifizierend-beschreibenden Wissenschaftszweige der Mineralogie und Geognosie

2.2.2Die erste Stufe des geologischen Wissens

2.2.3Die zweite Stufe des geologischen Wissens

2.2.4Von Granit und Basalt: ver(w)irrt im Riesenschloss

2.2.5Die Wanderjahre und das Buch der Erdgeschichte

2.2.6Erdgeschichtliches Wissen in szenischer Kürze: Verlorene Steine als Quellen des wissenschaftlichen Irrtums

2.2.7Das Bergfest: Grenzverwischung zwischen Literatur und Wissenschaft

2.3Die Wanderjahre: ein Entwicklungsroman?

2.3.1(Erdgeschichtliches) Archiv und (erdgeschichtliche) Archivfiktion

2.3.2Einstimmigkeit beim Oheim und Mehrstimmigkeit bei Montan

2.3.3»Der treue Referent«: Inszenierung und Demontage der Wissenschaftlichkeit des Herausgebers

2.3.4Der »Künstler«-Wissenschaftler und die Wanderjahre als erdgeschichtliche Archivfiktion

2.3.5Re-Signare Entwicklung: Montan

2.3.6Re-Signare Entwicklungsvorstellung: Wilhelm

2.3.7Re-Signare Entwicklungsgeschichte: Wilhelm

2.3.8Die Wanderjahre und Cuviers Ansichten von der Urwelt: (erdgeschichtliches) Reisejournal und (erdgeschichtlicher) Entwicklungsroman

3Erdgeschichte und Entwicklungsroman im zweiten Drittel des 19. JahrhundertsStifters Der Nachsommer (1857)

3.1Stifters geologisches Wissen

3.1.1Die Textgenese des Nachsommers

3.1.2Ausbildung und Lehrtätigkeit

3.1.3Mineralogie, physikalische Geographie und Erdgeschichte

3.2Heinrichs Entwicklungsgeschichte zum Geologen 1: von der Natur- zur Erdgeschichte

3.2.1Heinrich und die Naturgeschichte

3.2.2Heinrich und die physikalische Geographie

3.3Heinrichs Entwicklungsgeschichte zum Geologen 2: die Krise und die Dezentrierung des Erkenntnissubjekts

3.3.1Das Nachdenken über Erdgeschichte und die Krise Heinrichs

3.3.2Erdgeschichte und Reisebericht: Heinrich zwischen Zentrierung und Dezentrierung

3.4Heinrichs Entwicklungsgeschichte zum Geologen 3: die Überwindung der Krise durch die Integration von Literatur

3.4.1Heinrich und die schöne Literatur: erzählte Geschichten

3.4.2Die Veränderung des Reisejournals

3.5Heinrichs Entwicklungsgeschichte zum Geologen 4: der Weg zur Autorschaft

3.5.1Liebe: Natalie und die Erdgeschichte

3.5.2Heinrich lernt zu erzählen

3.5.3Wissenschaftlicher und literarischer Reisebericht

3.5.4Spätes Glück: Heinrich und sein literarischer Nachsommer

3.6Der Geologe erzählt

3.6.1Die Kunst ahmt die Natur nach

3.6.2Der Nachsommer und Lyells Principles: erdgeschichtlicher Entwicklungsrhythmus und geologische Tiefenzeit

Schlusswort

Abkürzungs- und Literaturverzeichnis

Danksagung

Die vorliegende Arbeit zu Ende zu führen, bedurfte nicht nur der Unterstützung zugewandter Menschen; auch die Faszination des Themas Erdgeschichte(n) und Literatur war entscheidend für den erfolgreichen Abschluss.

Diese intrinsische Motivation führt mich zum ersten Dank, der meinem Betreuer Prof. Dr. Peter Schnyder gilt. Die Arbeit ist aus seinem SNF-Projekt Zeiten-Räume. Literatur und Geologie nach der Romantik (1820-1890) an der Université de Neuchâtel hervorgegangen. Peter Schnyder hat mir nicht nur die Möglichkeit zu dieser Dissertation eröffnet, sondern mir ebenso mit Begeisterung für das Thema und wissenschaftlichem Weitblick zur Seite gestanden.

Ein besonderer Dank gebührt auch meinen Gutachtern Prof. Dr. Rudolf Käser und Prof. Dr. Hans-Georg von Arburg. Rudolf Käsers unterstützende Expertise liess Hürden kleiner und die Arbeit realisierbar werden. Hans-Georg von Arburg verdanke ich inspirierende Hinweise, die den Text präzisierten und gedanklich vorantrieben.

Zudem wurde die Dissertation mit der verdankenswerten finanziellen Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds geschrieben und publiziert.

Für das professionelle Lektorat und Korrektorat danke ich Dr. Janine Wilhelm und Sigrid Weber.

Dem transcript-Verlag sei Dank erwiesen für die Publikation des Buches; insbesondere Katharina Kotschurin.

Dank gebührt sowohl für Zuspruch als auch inhaltliche und formale Unterstützung meinen lieben Arbeitskolleg*innen Eva Bachmann, Dr. Renate Kummer, Dr. Jill Bühler, Prof. Dr. Evelyn Dueck, Prof. Dr. Felix Steiner, Dr. Roger Müller Farguell und François Spangenberg.

Und zu guter Letzt – für die notwendige emotionale Unterstützung ein kaum in Worte zu fassendes Dankeschön an meine Freundinnen Anna Bühler, Nadine Brändli, Dr. Rahel Beeler und Dr. Monika Müller und meine Familie Margrit, Christa und Bärbel Schär sowie Andreas, Nelly und Basil De Boni.

Zürich, April 2021

Einleitung

Nach Reinhart Koselleck setzte in Westeuropa um ca. 1750 eine Übergangszeit von der frühen Neuzeit zur Moderne ein, in der eine Veränderung der Zeiterfahrung erfolgte.1 Das humanistisch geprägte Bildungssubjekt verortete sich danach am Anfang einer neuen Epoche mit offener Zukunft. Grundlegend für eine neuartige historische Vorstellung war die Hervorhebung der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit des geschichtlichen Prozesses. Die Verzeitlichung führte dazu, dass die Geschichte des Menschen und der Menschheit ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt wurde, so auch in der Literatur. Dort entstanden im Verlauf des 18. Jahrhunderts sogenannte »Entwicklungsromane«2, die auch während des 19. Jahrhunderts weit verbreitet blieben.3 Die Romane beschreiben Individuationen des nun als entwicklungsfähig geltenden Menschen. Im Zentrum steht der psychische und soziale Werdegang des Protagonisten. Doch nicht nur der einzelne Mensch und die Gattung wurden »verzeitlicht«, sondern auch die Natur, indem man den Fokus von einer Naturgeschichte zu einer »Geschichte der Natur« lenkte.4 Die Natur wurde historisiert, also als sich verändernd und entwickelnd wahrgenommen. Am Beispiel der Geologie erklärt meint Historisierung der Natur, dass sich die Forscher intensiv mit Fragen der Erdgeschichte auseinandersetzten und Entwicklungsgeschichten der Erde verfassten.

Dieses Thema der historischen »Entwicklung« in der Literatur und der Naturgeschichte steht im Fokus der vorliegenden Forschungsarbeit. Das Nomen »Entwicklung« wurde im 17. Jahrhundert vom Verb »entwickeln« abgeleitet. »Entwickeln« beschrieb bis um 1800 eine Tätigkeit wie beispielsweise das Entwirren einer verhedderten Schnur. Nach 1800 erhielt der Begriff eine zusätzliche Bedeutung und wurde auch für »sich kontinuierlich herausbilden« benutzt.5 Diese Bedeutungserweiterung kann mit der Verzeitlichung erklärt werden. Entwicklung im Sinne eines historischen Prozesses bildete eines der Schlagwörter des 19. Jahrhunderts.6 Um 1800 steht der Begriff »Geschichte« vornehmlich für den Entwicklungsprozess der Gattung Mensch. Dies geht so weit, dass die Begriffe »Geschichte« und »Entwicklungsgeschichte« oftmals gleichbedeutend verwendet werden.7 »Geschichte der Natur« wiederum kann für den älteren Begriff »Naturgeschichte«, aber auch für die zeitliche Entwicklung der Natur bzw. die Wissenschaft von dieser Entwicklung stehen.8 Obwohl die Begriffe »Entwicklung«, »Entwicklungsgeschichte« und »Geschichte« im vorliegenden Untersuchungszeitraum häufig synonym für einen verzeitlichten Entwicklungsverlauf benutzt werden, gilt es je nach Kontext eine Differenz im Auge zu behalten, was die dem jeweiligen Begriff zugrunde liegende Vorstellung von Entwicklung betrifft. Sowohl in der Literatur als auch in der Geologie wurden Entwicklungserzählungen verfasst. Beide Bereiche – Literatur und Geologie – sind für die vorliegende Arbeit zentral. Dabei ist die Betonung einer einmaligen und unwiederholbaren Geschichte für die literarischen und geologischen Entwicklungsnarrative, die hier analysiert werden, entscheidend.

Bei den literarischen Entwicklungserzählungen wird das Ich als wandelbar wahrgenommen und die Individualität des Einzelnen und seiner Geschichte hervorgehoben. Im Vordergrund steht die fiktionale Beschreibung der inneren Bildung eines Protagonisten, der sich von einem sich selbst unbewussten Jugendlichen zu einem vollständig gereiften Erwachsenen entwickelt, der seine Aufgaben in der Gesellschaft bejaht und erfüllt. Als Paradebeispiel für einen solchen linear-teleologischen Bildungsgang gilt in der (traditionellen) Literaturwissenschaft derjenige der Hauptfigur in Goethes 1795/96 erschienenem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre.

Die geschilderte Vorstellung von Entwicklung zählt zwar zu den vorherrschenden Modellen des 19. Jahrhunderts, stellt aber bei Weitem nicht das einzige zeitgenössische Bildungskonzept dar – und auch nicht das einzige in Wilhelm Meisters Lehrjahre.9 In der Forschung wurde eine allzu harmonische Interpretation des Romans durch das Aufzeigen von Brüchen bereits vor einiger Zeit relativiert. Und auch die Beschränkung auf ein linear-teleologisches Erzählmuster wurde aufgehoben.10 Dennoch gilt der nachfolgend beschriebene linear-teleologische Werdegang nach wie vor als prototypisch für den klassischen Entwicklungsroman. Der Bildungsgang wird als Prozess beschrieben, der über verschiedene Erfahrungen wie Freundschaft, Liebe und Krisen zur Ausformung der natürlichen geistigen Anlagen führt. Jede Erfahrungsstufe steht für sich und führt zu einer höheren Stufe. Dargestellt wird die Ausformung des Ich. Durch die eigene Individuation soll sich der einzelne Mensch als wertvoller Teil in die Gesellschaft integrieren, um diese ebenfalls weiterzuentwickeln.11 Es handelt sich dabei um ein Entwicklungsnarrativ, das im 18. Jahrhundert entstand und am Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise durch Wilhelm Dilthey12 als das anzustrebende und beizubehaltende Modell bestätigt wurde. Bei dem hier geschilderten Entwicklungskonzept geht es zum einen um eine Geschichte, in der das menschliche Subjekt im Zentrum der Erzählung steht. Zum anderen wird die geglückte Individuation als zielgerichteter und funktionaler, also teleologischer Prozess beschrieben.13

Die geologischen Entwicklungserzählungen thematisieren die Geschichte der Erde. Gemäß Martin Rudwick verlaufen Erdgeschichten anders als die sogenannten Geotheorien nicht nach einem vorprogrammierten Muster. Eine der bekanntesten Geotheorien stammt von Georges-Louis Leclerc de Buffon, der in seiner Schrift Les époques de la nature (1778) einen sich kontinuierlich und unausweichlich abkühlenden und schließlich vereisten Planeten beschreibt. Dieser Verlauf der Erdentstehung ist demnach nicht variabel. Deshalb gelten Geotheorien als ahistorisch. Erdgeschichten hingegen sind in ihrem Verlauf eben nicht vorprogrammiert, sondern kontingent und somit historisch.14 Ausgehend von empirischen Erkenntnissen festigte sich der Gedanke einer Erdgeschichte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts immer mehr. Forscher kamen im Zuge ihrer Untersuchungen zur Erdentwicklung zu dem Schluss, dass unser Planet sehr alt ist. John McPhee, ein Geologe des 20. Jahrhunderts, bezeichnet die kaum vorstellbare Dauer der Vergangenheit der Erde als »Tiefenzeit«15. Spätestens ab 1830 war die neue Vorstellung zur Zeitdimension weithin etabliert und löste die bis dahin gängige, auf der Bibel basierende Vorstellung eines 6000 Jahre umfassenden Zeitrahmens ab.16 In den Erdgeschichten tritt der Mensch als Gattungswesen erst sehr spät auf. Diese Marginalisierung der Gattung dezentriert auch das Individuum. Dieser Aspekt der zeitlichen Dezentrierung des menschlichen Subjekts ist in vielen geologischen Entwicklungserzählungen identisch.17 In den Verlaufsformen weichen die Erdgeschichten voneinander ab, wie die Schriften von Georges Cuvier und Charles Lyell, die beide zu den renommiertesten Forscherpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts zählen, exemplarisch zeigen.

Cuvier rekonstruiert in seinen Recherches sur les ossemens fossiles18 (1812) aus den verschiedenen Erdschichten eine Erdgeschichte auf der Grundlage der darin enthaltenen Fossilien. Da die Fossilbestände in den einzelnen Schichten voneinander abweichen, ermittelt er, dass es innerhalb der Erdgeschichte immer wieder zu »Umwälzungen« von katastrophalem Ausmaß gekommen sein muss. Dadurch könnten sich auch die Naturbedingungen verändert haben.19 Es handelt sich also im Gegensatz zur vorher geschilderten teleologischen Individuation in der Literatur um keine zielgerichtete – oder zumindest um eine nicht kontinuierliche – Entwicklung der Erde.

Ein weiteres Entwicklungsnarrativ beschreibt Lyell, der lange Zeit als der Geologe des 19. Jahrhunderts galt.20 Lyell positioniert sich in seinem 1830 bis 1833 erschienenen Werk Principles of Geology21 gegen das Katastrophennarrativ Cuviers, indem er argumentiert, dass die Naturphänomene immer die gleichen waren und sein werden. Diese Annahme ermöglicht es, aus der Gegenwart die Vergangenheit zu erschließen.22 Die Idee von aktuellen Naturbedingungen veranlasste den »Katastrophisten« William Whewell dazu, Lyell als »Aktualisten« zu bezeichnen.23 Der Begriff »Aktualismus« hat sich bis heute durchgesetzt. Lyell beschreibt ein zyklisches Erdnarrativ, das einer zielgerichteten Entwicklungsgeschichte zumindest skeptisch gegenübersteht. Die konstanten und sich nicht verändernden Naturphänomene schaffen eine feste Ordnung. Die Veränderungen laufen im kleinen Bereich ab und bilden einen Kreislauf.24

Wie diese kurze Darstellung zu literarischen und geologischen Entwicklungsnarrativen verdeutlicht, sind beide über die Entwicklungsthematik miteinander vergleichbar. Zudem existieren unterschiedlichste Verlaufsformen. Inwiefern nicht-teleologische und zyklische Erzählmuster auch für die Entwicklungsromane fruchtbar gemacht werden können, muss demnach unter Zuzug des geologischen Diskurses untersucht werden.25 Des Weiteren treten die geologischen Entwicklungsnarrative in einen Kontrast zur Subjektwahrnehmung, die es nun neu auszuhandeln gilt. An dieser Stelle offenbart sich eine psychologische Spannung zwischen den literarischen Geschichten, die den Menschen ins Zentrum der Erzählung rücken, und den geologischen, in denen Menschen kaum existieren. Damit ist ein großer Unterschied zwischen den literarischen und den geologischen Entwicklungskonzepten markiert: Das menschliche Subjekt steht weder als Individuum noch als Gattungswesen im Zentrum der geologischen Geschichte, sondern wird an den äußersten Rand eines Entwicklungsverlaufs gedrängt. So ergibt sich zwischen literarischen und geologischen Entwicklungserzählungen zum einen eine Spannung zwischen Subjektzentrierung und Subjektdezentrierung, zum anderen zeigen sich unterschiedliche Entwicklungsverläufe. Daraus resultieren folgende Fragen:

•Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen geologischen und literarischen Erzählmodellen?

•Wie wirkte sich geologisches Wissen in der frühen Moderne auf die menschliche Subjektkonstitution aus?

Zur Beantwortung der beiden Fragen ist ein Vergleich zwischen verschiedenen Entwicklungserzählungen aus den Bereichen Literatur und Geologie lohnenswert. Die vorliegende Arbeit stützt sich hierfür auf die Entwicklungserzählungen Cuviers Recherches (1812)26, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1821/29) von Goethe, Lyells Principles of Geology (1830-1833)27 und Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857). In den beiden Romanen spielt die Geologie eine große Rolle. So fragt Felix in Wilhelm Meisters Wanderjahre den Protagonisten Wilhelm bereits auf der ersten Seite: »Wie nennt man diesen Stein, Vater?«28 Des Weiteren wird der zeitgenössische geologische Diskurs an zahlreichen Stellen thematisiert, zum Beispiel in den Unterhaltungen zwischen Montan und Wilhelm über die Tätigkeiten eines Bergmanns29 und in verschiedenen Gesprächen über die Entstehung und Erschaffung der Welt.30

Auch im stifterschen Nachsommer sind geologische Aspekte vielfältig dargelegt. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass der Roman in Form einer fiktiven Autobiografie bzw. Ich-Erzählung die Ausbildungsgeschichte des Protagonisten Heinrich Drendorf zum Geologen schildert. Indem er seine eigene Lebensgeschichte aufschreibt, ergänzt Heinrich seine Tätigkeit als Geologe interessanterweise um die des Literaten. Beide literarischen Texte sind demnach von einem geologischen Diskurs durchzogen.

Literatur und Wissen: Forschungsüberblick

Ein Vergleich geologischer und literarischer Texte setzt eine Auseinandersetzung mit dem historisch wandelbaren Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft und dem wissenschaftlichen Diskurs darüber voraus, die in den folgenden Abschnitten vorgenommen wird.

Das Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft beschäftigte die Forschung bereits im frühen 20. Jahrhundert. Im deutschsprachigen Raum überwogen bis in die 1990er Jahre zwei Vorstellungen dazu, wie sich die beiden Domänen der Welterfassung zueinander verhalten: Innerhalb der ersten wurde die Literatur als »Kompensation« der Naturwissenschaften wahrgenommen, wohingegen die zweite eine »Konkurrenzsituation« beschrieb.31 Lange Zeit dominierte die erstgenannte Vorstellung, wonach der Literatur eine Funktion der »Wiedervertrautmachung«32 des Menschen mit einer durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse veränderten Weltwahrnehmung zukomme. Ein wichtiger Vertreter dieses Konzepts ist Odo Marquard mit seiner Schrift Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften (1985). Dieser Ansatz spricht der Literatur ein innovatives Moment ab und reduziert sie im Grunde auf eine Form der Psychotherapie. Er ist insofern anfechtbar, als die Literatur ebenfalls ein Teil der Kultur ist. Literatur reagiert nicht nur, sondern bringt auch hervor.33 Auch die zweitgenannte Vorstellung, dass sich Literatur und Wissenschaft in einer »Konkurrenzsituation« befänden, wurde zur Diskussion gestellt. Zwar ist es für die Naturwissenschaften im Rahmen ihrer Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert tatsächlich wichtig, sich durch einen wissenschaftlichen Schreibstil vom erzählend-literarischen Duktus zu distanzieren, doch treten die beiden damit nicht nur, wie z.B. Wolf Lepenies für das 19. Jahrhundert feststellt, in einen »Krieg« gegeneinander.34 Unter Vermeidung solch eher reduktiver Polarisierungen wird in der vorliegenden Arbeit von einem gemeinsamen Wissensraum von Literatur und Wissenschaft ausgegangen, zumal wissenschaftliche Texte ebenfalls sprachlich konzipiert sind.

Diese Arbeit positioniert sich folglich innerhalb des weiten Felds der »Literature and Science Studies«, in denen die sprachliche Verfasstheit nicht nur von literarischen, sondern auch von wissenschaftlichen Texten hervorgehoben wird. Innerhalb der Literature and Science Studies sind in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche Zugänge zur Wechselwirkung von Literatur und Wissenschaft entwickelt worden. Nicolas Pethes ermöglicht mit seinem Forschungsbericht Literatur- und Wissenschaftsgeschichte einen raschen Einstieg in dieses Themenfeld.35 Wie vielseitig die Ansätze innerhalb der Literature and Science Studiesim englischsprachigen Raum sind, zeigt das 2011 erschienene Handbuch The Routledge Companion to Literature and Science. Der Band ist in drei Teile gegliedert. Im ersten werden verschiedene Zugänge in Bezug auf eine wissenschaftliche Disziplin erörtert, im zweiten stehen theoretische und disziplinäre Annäherungen im Vordergrund und im dritten werden die Diskussionen zu Literatur und Wissenschaft zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Gesellschaften von der Antike bis zur Postmoderne erläutert. Allen dort dargestellten Zugängen ist die Sensibilität für die rhetorische Verfasstheit von Texten eigen, wodurch wissenschaftliche, populärwissenschaftliche und literarische Schriften miteinander vergleichbar werden. Alle Texte partizipieren also an fächerübergreifenden Wissensbeständen und Wissensstrukturen. Im englischen Sprachraum handelt es sich dabei vorwiegend um Arbeiten, denen das Konzept des »New Historicism«,dessen wichtigster Vertreter Stephen Greenblatt ist, zugrunde liegt.36 Ebenso facettenreich wie im englischsprachigen Raum ist die Auseinandersetzung mit Literature and Science Studiesim deutschsprachigen. Dies manifestiert sich zum Beispiel im 2013 publizierten Handbuch Literatur und Wissen. Das Handbuch greift zunächst die vielfältigen Zugänge zur Thematik wie etwa »Diskurs« oder »Poetologie des Wissens« auf, um die verschiedenen Ansätze gleichwertig nebeneinanderzustellen. Danach werden die zentralen wissenschaftlichen Disziplinen vorgestellt, die sich in den letzten Jahrhunderten nicht zuletzt im Zuge der Auseinandersetzung mit Literatur ausgebildet haben. Anschließend werden die sich im Laufe der Zeit wandelnden Paradigmen zum Schreiben thematisiert. Darüber hinaus stehen zentrale Textsorten im Fokus, die sich in der Literatur und Wissenschaft herauskristallisiert haben und als Fundament für die Analyse der Wechselwirkung zwischen den beiden Bereichen dienen. Abgerundet wird das Handbuch mit Beispielinterpretationen, die zeigen, wie in literarischen Schriften vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart (naturwissenschaftliches) Wissen thematisiert, verhandelt und hervorgebracht worden ist.37 Die deutschsprachige Forschung verortet ihre Beiträge im Rahmen der Literature and Science Studies zumeist im Umfeld einer durch Joseph Vogl begründeten »Poetologie des Wissens«.38 Beide Ansätze – sowohl der »New Historicism« als auch die Poetologie des Wissens – können in die Tradition von Michel Foucaults Wissensgeschichte39 gestellt werden und erweitern dann diese zu einer »Wissenspoetik«.

Foucault prägt mit seinen Schriften noch heute die Diskussion darüber, was Wissen in der Literatur ist, obwohl sich seine Arbeit nicht explizit auf den Untersuchungsgegenstand der literarischen Texte richtet. Er untersucht Denk- und Redeformationen, die sich als Diskurse nicht nur in Texten, sondern auch in kulturellen Praktiken und anderen gesellschaftlichen Institutionen zu bestimmten Zeiten ausbilden. Diese Diskurse bringen gemäß Foucault Wissen erst hervor.40 Während Foucault die literarische Kommunikation vorwiegend zur Illustration seiner Erkenntnisse nutzt, wird sie im Rahmen einer Poetologie des Wissens aufgewertet. Die Wissensgeschichte wird zur Wissenspoetologie. Der Kulturwissenschaftler Vogl begründet das entsprechende Konzept damit, »dass jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet und privilegiert. Forschende, die sich eines wissenspoetologischen Zugangs bedienen, interessieren sich demnach für die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und die Darstellungen diktiert, in denen er seine performative Kraft sichert.«41 Wissenspoetologen suchen nach den »Regeln, nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird« und setzen an die Stelle der Frage nach dem Wahrheitsgehalt in den Wissenschaften diejenige nach den Bedingungen der Wahrheitsbildung, weil jegliches Wissen rhetorisch und narrativ inszeniert und dargestellt werden muss.42 Demnach produziert Literatur genauso Wissen wie Wissenschaft,43 und dieses ist somit anhand literaturwissenschaftlicher Mittel greifbar.

Wie bei Foucaults Wissensgeschichte ergeben sich bei einer Wissenspoetologie Diskussionen um eine »entgrenzte Philologie«.44 Da Wissen nicht mehr nur an wissenschaftliche Texte gebunden ist, die nach bestimmten sprachlichen Standards und mit dem Anspruch auf einen verifizierbaren Inhalt verfasst sind, werden Wissenskategorien und ihr Geltungsanspruch unterschiedlich wahrgenommen.45

Die Diskussion darum, was Wissen ist und ob bzw. wie sich die einzelnen Textsorten und Kontexte voneinander abgrenzen lassen, hat immer wieder zu Kontroversen geführt.46 Dezidiert ablehnend gegenüber dem wissenspoetologischen Ansatz äußert sich Stiening in seinem Aufsatz Am »Ungrund«oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ›Poetologien des Wissens‹ (2007).47 Ihm geht es in erster Linie darum, der Entgrenzung von Wissen entgegenzuwirken, das heißt, Wissen anhand von Wissenskategorien zu unterscheiden und an Erkenntnis zurückzubinden.48 Der Vorwurf, dass bei wissenspoetologischen Zugängen die Unterscheidungen von Fakten und Fiktionen zu wenig Schärfe aufweisen, scheint nicht gerechtfertigt, zumal dabei sehr wohl differenziert wird.49 Da die vorliegende Arbeit wissenspoetologisch ausgerichtet ist, sollen die Unterscheidungen von Kontext und Text oder Fakten und Fiktionen nachfolgend kurz diskutiert werden.

Dass literarische Texte nicht dieselbe Form von Wissen produzieren wie wissenschaftliche, liegt auf der Hand. Offensichtlich handelt es sich um verschiedene Wissenskategorien. Johannes Süssmann zeigt in seiner Dissertation Geschichtsschreibung oder Roman? (2000) auf, dass beispielsweise fiktionales und historiographisches Schreiben bei Schiller und Ranke zwei verschiedene Textsorten zur Folge hat. Die Erzählformen treten unverwechselbar auseinander.50 Damit drängt sich unvermeidlich die Frage auf, um welche Wissenskategorien es sich dabei handelt und wie sich diese beschreiben lassen. Ebenso müssen die jeweiligen Entstehungsbedingungen sowie allfällige Funktionen der Texte ermittelt werden. In wissenspoetologischer Perspektive werden wissenschaftliche und literarische Texte zwar miteinander vergleichbar, sind aber keineswegs dasselbe. Es kann sogar behauptet werden, dass Wissenspoetologen diese Unterschiede aufgrund der Anwendung von literaturwissenschaftlichen Verfahren bei der Textanalyse deutlicher herausstellen können.

Geht man davon aus, dass alle Texte narrative Strukturen und rhetorische Elemente aufweisen, so lässt sich sowohl in wissenschaftlichen als auch literarischen Schriften gezielt nach diesen Elementen suchen. Gleichzeitig partizipieren beide an textübergreifenden Wissensbeständen. Dennoch besteht zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten ein deutlicher textsortenspezifischer Unterschied, was eng mit den jeweiligen Wissenskategorien und dem dazugehörigen Entstehungskontext in Zusammenhang steht. So wird auch in keinem Forschungsbeitrag, der sich des wissenspoetologischen Zugangs bedient, bestritten, dass es textsortenspezifische Unterschiede oder solche im Bereich der Wissenskategorien gibt. Auch Vogl geht davon aus, wenn er anführt, dass Unterscheidungen von Dichtung und Wissenschaft, Text und Kontext in seinem Verständnis »heuristische Dichotomien« sind, die über keine absolute Aussagekraft verfügen.51 In dieser Aussage werden die Dichotomien zwar minimiert, aber nicht gänzlich aufgehoben. Besonders deutlich wird dies bei Pethes, der sich dafür ausspricht, dass zwischen Literatur und Wissenschaft zwar ein gemeinsames Wissensfeld besteht, dies aber nur dann zulässig untersucht werden kann, wenn die jeweiligen Differenzen mitberücksichtigt werden.52 Somit sind kontextuelle Unterschiede und Funktionen von Texten bei der Analyse entscheidende Aspekte. Daher werden die Texte nach ihrer wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen sowie literarischen Bestimmung gruppiert und entsprechend der Fragestellung auf die Inszenierung und Darstellung von Entwicklungsmodellen hin analysiert. Die Ermittlung der verschiedenen Entwicklungskonzepte und deren Auswirkungen auf die Ästhetik und Subjektkonstitution in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt das verbindende Wissensfeld aller Texte dar.

Das 19. Jahrhundert zeichnet sich durch den Aufstieg der Naturwissenschaften aus. Es erstaunt deshalb nicht, dass innerhalb der Literaturwissenschaft das Zusammenspiel von Literatur und Naturwissenschaft ein wichtiges Thema ist, zu dem seit längerer Zeit eine Forschungstradition existiert. Insbesondere haben sich die Literaturwissenschaftler mit den literarischen Epochen der Romantik und des Naturalismus beschäftigt, da bei beiden eine enge Beziehung zwischen Literatur und Wissenschaft vorherrscht.

Mit der Romantik und dem Naturalismus stehen der Anfang und das Ende des 19. Jahrhunderts im Zentrum der Untersuchungen. Hingegen hat sich die Forschung mit dem Verhältnis zwischen der Wissenschaft und dem Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden literarischen Realismus lange Zeit kaum befasst.53 Im Zuge der Sensibilisierung für die sprachliche Verfasstheit von Texten im Zusammenhang mit den Literature and Science Studies richtete man die Forschung neu aus, entwickelte andere Fragen und untersuchte vermehrt das gesamte 19. Jahrhundert.54 Insbesondere die Forschungsbeiträge zum Darwinismus verdeutlichen exemplarisch, wie der Wissensraum zwischen Literatur und Wissenschaft nach 1860 aufgearbeitet wurde und nach wie vor wird: Während in der Anglistik bereits seit Gillian Beers StandardwerkDarwin’s Plots (1983) ein Forschungsschwerpunkt zur Konvergenz von Literatur und Wissenschaft in Bezug auf den Darwinismus besteht,55 blieb dies in der Germanistik zunächst aus. Dieser Forschungslücke56 wurde jedoch in der Zwischenzeit mit verschiedenen Arbeiten und Ansätzen entgegengewirkt.57

Auffällig unberücksichtigt bleibt in allen angeführten Forschungsbeiträgen zu Darwin dessen Verhältnis zur Geologie, hat doch Darwin selbst von sich als Geologe gesprochen und auch seine Freundschaft zu dem Geologen Lyell und die Vertrautheit mit dessen Werk sind bekannt.58 Ohne die Vorarbeit, die Lyell59 in seinem berühmten Werk Principles of Geology (1830-1833) geleistet hatte, wären die Forschungen Darwins wohl nicht zustande gekommen. Die Geologie mit ihren erdgeschichtlichen Konzepten beschreibt unfassbar lange Zeiträume, die für die Evolutionstheorie Darwins, wie er sie in On the Origin of Species (1859) postuliert, grundlegend sind. Während im englischsprachigen Raum bereits Untersuchungen zu diesen geologischen Erderzählungen und ihren Wechselwirkungen mit der Literatur existieren,60 setzten die Untersuchungen dazu in der Germanistik später ein.

Bis vor einigen Jahren analysierten Germanisten geologische Quellentexte nicht in erster Linie auf ihre narrativen und rhetorischen Elemente hin.61 Auch wird in keiner dieser Analysen auf den Aspekt der Historisierung der Geologie, wie er im wissenschaftshistorischen Kontext bereits länger ermittelt wurde, fokussiert.62 Erst in jüngster Zeit sind einige Aufsätze erschienen, denen ein wissenspoetologischer Zugang zum Wissensraum Geologie und Literatur zugrunde liegt.63

Natürlich bedeutet dies nicht, dass das Thema Literatur und Geologie in der germanistischen Forschung bis vor Kurzem keine Rolle gespielt hätte. Es zeigt sich aber, dass entsprechende Beiträge in der älteren Forschungstradition verwurzelt bleiben und die sprachliche Verfasstheit der geologischen Texte oder der wissenschaftshistorische Kontext nur bedingt berücksichtigt werden. Die Arbeiten zum »Bergbaumotiv« befassen sich vorwiegend mit der Literatur der Romantik. Die Psychologisierung des Ich wird mit dem Bergbaumotiv parallelisiert.64 In diesem Rahmen werden insbesondere Texte von Schriftstellern wie Novalis, E.T.A. Hoffmann oder Henrich Steffens, die bei Abraham Gottlob Werner in Freiberg Bergbau studierten, diskutiert. Im Umfeld Werners wird auch Goethe verortet. Bekannt ist sowohl Goethes Beschäftigung mit geologischen Fragestellungen als auch seine Sympathie für Werners geognostische Arbeiten. Darüber hinaus gilt Werner als Vertreter des »Neptunismus«, wobei betont wird, wie sehr Goethe ebenfalls ein solcher gewesen sei.65 Der Neptunismus beschreibt eine Erdentstehungstheorie, gemäß der das Wasser die treibende Kraft bei der Entstehung der Erde gewesen sei. Da es sich dabei um einen kontinuierlichen und ruhigen Verlauf handelt, sind diese Ansichten unter anderem mit der Goethe’schen Morphologie vergleichbar. Dementsprechend werden Goethes Texte immer wieder in die Nähe zu Werner gerückt.66 Werner und seine Forschungen sind für die Ausbildung der Geologie als Wissenschaft zwar zentral. Viel zu wenig beachtet wurde aber bislang, dass sich die geologische Fachrichtung zwischen 1780 und 1860 ausdifferenzierte und Werner mit seinen Schriften an den Anfang dieses Prozesses verortet werden muss und bei Weitem nicht der einzige wichtige Vertreter seines Gebiets war – weder im deutschen noch im europäischen Raum.67 Allgemein lässt sich sagen, dass zur Zeit Werners das entscheidende Moment, um von der Geologie als einer Fachrichtung zu sprechen, nicht vorlag: ein erdgeschichtliches Konzept, basierend auf einer empirischen Methode. Eine erste Erdgeschichte wurde von Cuvier 1812 mit den Recherches geschrieben, während der Umstand, dass die Erde eine Geschichte hat, erst seit Lyells Principles of Geology (1830-1833) als akzeptiertes Wissen gilt.68

Ziel und Aufbau dieser Arbeit

Ziel ist es, die unterschiedlichen Inszenierungen von Entwicklungsverläufen und der Subjektkonstitution im kulturellen Diskurs sowie in den kulturellen Praktiken zwischen 1780 und 1860 nachzuzeichnen. Die Wanderjahre und der Nachsommer sind mit den Erdgeschichten von Cuvier und Lyell über die Entwicklungsthematik miteinander verbunden. Mit einem wissenspoetologischen Zugang können nicht nur fiktionale Werke wie die Wanderjahre und der Nachsommer, sondern auch wissenschaftliche Texte als Entwicklungserzählungen verstanden werden. Dadurch bietet sich die Möglichkeit, geologische und fiktionale Werke miteinander zu vergleichen. Interessant ist dabei zu beobachten, ob durch die Berücksichtigung von geologischen Ko-Texten zwei Aspekte ebenfalls vermehrt als Genremerkmale diskutiert werden müssten: Zum einen könnten alternative Entwicklungsverläufe als Erzählmuster für die Entwicklungsromane eine Rolle spielen. Zum anderen müsste die Vorstellung einer rein subjektzentrierten Erzählung relativiert werden. Subjektzentrierung und die Vorstellung eines linear-teleologischen Entwicklungsverlaufs im Sinne einer Fortschrittsgeschichte sind nicht nur Charakteristiken der Gattung Entwicklungsroman, sondern gelten ebenso als Merkmale des 19. Jahrhunderts.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts differenziert sich die Geologie als Wissenschaft mit einem erdgeschichtlichen Konzept aus. Geologische Erkenntnisse prägten das 19. Jahrhundert intensiv, da diese weit über die Fachkreise hinaus wahrgenommen wurden. So erfuhren geologische Fachwerke und populäre Schriften eine breite Rezeption, naturhistorische Museen präsentierten geologische Ausstellungen und auch in der Literatur und Kunst wurden geologische Aspekte vermehrt thematisiert.69 In Anbetracht dieser enormen Verbreitung geologischen Wissens müssen die Charakteristiken des 19. Jahrhunderts wie Subjektzentrierung und Fortschrittsglauben ebenfalls problematisiert werden. Um diesen Kontext aufzeigen zu können, nehmen die Ausdifferenzierung der Geologie als Wissenschaft und die daraus resultierenden Vorstellungsveränderungen in der vorliegenden Arbeit einen wichtigen Platz ein und werden in Kapitel 1 entsprechend ausführlich dargelegt. Darüber hinaus dienen diese wissenschaftshistorischen Ausführungen dazu, erdgeschichtliche und geologische Ko-Texte für Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829) von Goethe und Der Nachsommer (1857) von Stifter fruchtbar zu machen. Der Umfang und die Ausführlichkeit dieses wissenschaftshistorischen Teils sind auch deshalb wichtig, weil bei der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Geologie bislang sowohl die Geschichte der Geologie als Fachdisziplin70 als auch die Verzeitlichung viel zu wenig integriert wurden.71 Deshalb werden die geologischen Interessen und Aktivitäten von Autoren wie Goethe und Stifter noch zu wenig vielfältig verhandelt.72 Ein umfassender wissenschaftshistorischer Teil erlaubt es, solchen Reduktionen sowohl in Bezug auf Goethe als auch Stifter vorzubeugen und eine Basis für weitere Forschungen dieser Art zu schaffen. Goethe73 und Stifter74 haben sich ein Leben lang für Geologie interessiert. In den Kapiteln 2 und 3 wird deshalb dargestellt, mit welchen geologischen Schriften die beiden Autoren bekannt waren. Anschließend wird untersucht, welches geologische Wissen in den literarischen Schriften konkret verhandelt wird, um dann das Genre des Entwicklungsromans ergänzend zu diskutieren.

Die literarischen Klassiker Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden von Goethe und Stifters Der Nachsommer werden – wenn auch mit Einschränkungen – der Gattung Entwicklungsroman zugeordnet. Bei den Wanderjahren handelt es sich um die Fortsetzung des genrebegründenden Entwicklungsromans Wilhelm Meisters Lehrjahre. Im Nachfolgeroman fallen aber wichtige Merkmale für die Gattungszuordnung weg: Erstens tritt das Subjekt Wilhelm in den Wanderjahren in den Hintergrund und zweitens verläuft seine Geschichte alles andere als linear-teleologisch. Bis heute bleibt deshalb umstritten, ob es sich bei den Wanderjahren überhaupt um einen Entwicklungsroman handelt.75Der Nachsommer wird in der Forschung oft in die Tradition von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre gestellt, eben weil die Subjektkonstitution linear-teleologisch erfolgt.76 Für beide Romane können freilich anhand von geologischem Wissen und des Vergleichs mit erdgeschichtlichen Entwicklungsverläufen zusätzliche Lesarten erschlossen werden.

Die Frage, ob bei Wilhelm Meisters Wanderjahren eine für das 19. Jahrhundert angeblich typische Subjektzentrierung und ein zielgerichtetes Entwicklungskonzept vorliegen, ist Teil der Analyse in Kapitel 2 Erdgeschichte und Entwicklungsroman im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.77 Hier wird gezeigt, wie geologische Erkenntnisse subjektdezentrierende sowie den progressiven Entwicklungsdiskurs störende Elemente hervorbringen. Nicht nur undefinierte zeitliche Sprünge unterbrechen die Rahmenhandlung, sondern auch eingeschobene Briefe, Novellen, Gedichte und Aphorismen. Vergleicht man aber die Entwicklungsgeschichte mit dem ateleologischen Entwicklungskonzept Cuviers, könnten sich erstaunliche Parallelen zur schwer fassbaren Form des Romans zeigen.78 Mittels der Berücksichtigung geologischer Entwicklungserzählungen – nicht zuletzt derjenigen Cuviers – wird überprüft, ob der Nachfolgeroman des klassischen Bildungsromans, Wilhelm Meisters Wanderjahre, an das Genre der Entwicklungsromane79 angeschlossen werden kann.80

Beim Nachsommer wurde in jüngster Zeit der Zusammenhang zwischen dem Entwicklungskonzept Lyells und demjenigen im Romaneröffnet.81 Auf ebendiese Erkenntnisse baut Kapitel 3 Erdgeschichte und Entwicklungsroman im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auf. Zusätzlich zur Schrift Lyells werden zur Analyse weitere Schriften, wie etwa Alexander von Humboldts Reiseberichte, herangezogen. Humboldts Texte und viele weitere Schriften, die sich mit Erdfragen befassen, werden im Roman nämlich explizit erwähnt: »Ich [Heinrich] that die Dichter bei Seite, und nahm Alexander von Humboldts Reise in die Äquinoctialländer, die ich zwar schon kannte, in der ich aber immer gerne las.«82 Die Analyse zeigt, wie das Wissen um eine Geschichte der Erde im Nachsommer mit dem Entwicklungskonzept des menschlichen Subjekts verknüpft wird und sich auf den vermeintlich reibungslosen Bildungsgang Heinrichs auswirkt. Die Frage um die harmonische Entwicklungsgeschichte der Hauptfigur wird dementsprechend kritisch durchleuchtet.

Abgerundet wird die Arbeit durch die Darlegung der wichtigsten Forschungsergebnisse und das Aufzeigen von Anschlussmöglichkeiten.

1Vgl. Koselleck,Wie neu ist die Neuzeit?, S. 227.

2In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff »Entwicklungsroman« verwendet und keine Unterscheidung zwischen Bildungs- und Entwicklungsroman vorgenommen. Da der Begriff »Entwicklungsroman« breiter gefasst ist, lässt er mehr Spielraum für unterschiedliche Erzählungen, die sich mit vielseitigen Formen der Entwicklung auseinandersetzen. Zudem entspricht dieses Vorgehen einem neueren Forschungsansatz, der davon ausgeht, dass Entwicklung ein kontroverses und vielschichtiges Thema ist und war. Vgl. dazu Hillmann und Hühn,Der europäische Entwicklungsroman, S. 9, 10 und 12.

3Vgl. Gutjahr,Einführung in den Bildungsroman, S. 10.

4Vgl. Lepenies,Das Ende der Naturgeschichte, S. 16 und 17. Standardtexte, in denen der Übergang von einem räumlichen zu einem zeitlichen Wissenschaftssystem beschrieben wird, sind: Lepenies,Das Ende der Naturgeschichte (vgl. dazu besonders S. 52-71); Lovejoy,The Great Chain of Being, S. 242-287; sowie Toulmin/Goodfield,The Discovery of Time (auf S. 33-54 erfolgt die Darlegung des räumlichen und auf S. 141-158 diejenige des zeitlichen Vorgehens).

5Vgl. Pörksen,Plastikwörter, S. 31-35, hier S. 32.

6Vgl. Gutjahr,Einführung in den Bildungsroman, S. 10.

7Vgl. Scholtz,Geschichte der Natur, Sp. 362.

8Vgl. Scholtz,Geschichte der Natur, Sp. 399f.

9Vgl. dazu Hillmann, Die ironische Gründung der schönen Biographie, S. 22f. Einen Forschungsüberblick über die Interpretation der Entwicklungsthematik inWilhelm Meisters Lehrjahre bietet Schößler:Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 10-14.

10Vgl. zur Kritik einer ausschließlich linear-teleologischen Auslegung: Schlechta,GoethesWilhelm Meister (1953); Swales,The German Bildungsroman (1978); Sorg,Gebrochene Teleologie (1983) oder Fick,Das Scheitern des Genius (1987, S. 50ff.).

11Vgl. Schweikle,Bildungsroman, S. 55.

12Die soeben geschilderte linear-teleologische Bildungsgeschichte wird von Dilthey (Leben Schleiermachers, S. 299) am Ende des 19. Jahrhunderts als typisch deutsche Variante der Entwicklungsnarrative beschrieben. Dilthey versucht, den Bildungsgedanken der Goethezeit für die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins dienstbar zu machen, indem er das Entwicklungskonzept inWilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) als dezidiert deutsch ausgibt (vgl. Gutjahr,Einführung in den Bildungsroman, S. 15-20).

13Das menschliche Subjekt machte sich – zumindest intellektuell – auf den Weg, seine eigene Zukunft in die Hände zu nehmen und zu gestalten. Die Hervorhebung der Machbarkeit, »des Wollens, des Subjektiven und des gesteigerten Selbstwertgefühls bleibt für die Moderne ein andauerndes Charakteristikum« (Müller,Moderne, S. 449).

14Vgl. Rudwick,Bursting, S. 139ff.

15Vgl. McPhee,Basin and Range, S. 77.

16Der Zeitrahmen von 6000 Jahren wurde bereits im 18. Jahrhundert beispielsweise in den Schriften von Buffon gesprengt. Wirklich breitenwirksam wurde die Vorstellung einer sehr alten Vergangenheit der Erde aber erst ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (vgl. Rudwick,Bursting, S. 637f. und Rossi,I segni del tempo).

17Vgl. hierzu Buffon, Époques, S. 19f.; Cuvier,Ansichten, S. 84 oder Agassiz, Études, S. 101.

18Der vollständige französische Titel des Originals lautetRecherches sur les ossemens fossiles de quadrupèdes, où l’on rétablit les caractères de plusieurs espèces d’animaux que les révolutions du globe paroissent avoir détruites. Der Titel wird im Lauftext mitRecherches abgekürzt.

19Vgl. Heuer,Vorwort, S. 26. Cuvier verwendet in seinenAnsichten den Begriff »Naturbedingungen« nicht. Wie sich durch die Katastrophen die Naturbedingungen verändert haben, lässt er offen und verweist lediglich auf die »Aenderungen der Natur« (Cuvier,Ansichten, S. 11). Gleichzeitig muss es sich gemäß Cuvier um massive Veränderungen gehandelt haben. Cuvier schreibt, dass die aktuell zu beobachtenden Ursachen, die auf der Erde tätig sind und zur Veränderung der Erdoberfläche beitragen (wie etwa Erosion), keinen Rückschluss auf die Vergangenheit zulassen. Dies, weil die Wirkkraft aktueller Ursachen die tiefgreifenden Veränderungen der Floren und Faunen in der Vergangenheit nicht zu erklären vermag (S. 19f.). »[D]er Faden der Operationen ist zerrissen, der Gang der Natur ist verändert, und keines der Agentien, die sie [die Natur] anwendet, würde zugereicht haben, um ihre alten Wirkungen hervorzubringen« (S. 20). Obschon Cuvier den Begriff der sich verändernden Naturgesetze nicht verwendet, gehen seine Überlegungen in diese Richtung. Dies belegt auch der Umstand, dass sich Lyell in deutlicher Abgrenzung zu Cuvier dezidiert für immer gleichbleibende Naturgesetze ausspricht (vgl. dazu zum einen den Untertitel von LyellsLehrbuch, zum anderen die konkrete Verwendung des Begriffs »Gesetz« in Bezug auf die konstanten Abläufe in der Natur auf S. 82 desselben). Lyells Hauptargument sind dabei die ungeheuer langsamen Veränderungen, die im Laufe der Zeit das Aussehen der Erdoberfläche ebenfalls verändern. Folglich wäre es wohl legitim, in Bezug auf Cuvier von veränderten Naturgesetzen zu sprechen. Trotzdem wird in der vorliegenden Forschungsarbeit etwas vorsichtiger von Veränderungen der Natur oder veränderten Natur- bzw. Rahmenbedingungen gesprochen. Zur Begründung, weshalb sich die vorliegende Forschungsarbeit auf die deutschen Übersetzungen von Cuviers und Lyells Schriften stützt, vgl. die Fußnoten 26 und 27 in der Einleitung.

20Vgl. Gould,Die Entdeckung der Tiefenzeit, S. 165-170.

21Der englische TitelThe Principles of Geology, Being an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface by Reference to Causes now in Operation wird im Folgenden mitPrinciples oderPrinciples of Geology abgekürzt.

22Vgl. Rudwick,Worlds, S. 300.

23Vgl. Secord,Introduction, S. 18f.

24Vgl. Rudwick,Worlds, S. 489. Die Beschreibungen im Lauftext könnten auf eine Geotheorie schließen lassen. Nach Gould ist das Entwicklungsnarrativ Lyells jedoch keine Geotheorie, weil ein historischer Ablauf z.B. bei der Geschichte der Menschen beschrieben wird. Gould bezeichnet Lyell als Vertreter des Zeitkreises mit historischen Dimensionen. Vgl. hierzu Gould,Die Entdeckung der Tiefenzeit, S. 222-227. Wie Goulds Verweis auf den Zeitkreis expliziert, ist die Vorstellung der zyklischen Zeit nicht neu. Seit der Antike bildet die zyklische Zeit den kosmischen und natürlichen Prozess ab (vgl. hierzu Assmann,Zeit, Sp. 1187). Dementsprechend sind auch zyklische Verlaufsformen und deren Darstellung von Zeit in Texten ein altbekanntes Erzählmuster. Hier soll es jedoch um den Zeitkreis mit einer historischen Komponente gehen, was eine neuartige Variante wäre. Ob für die Entwicklungserzählungen ein solch neuartiges Erzählmuster fruchtbar gemacht werden kann, ist Teil der Analyse der vorliegenden Forschungsarbeit und wird im Hauptteil geklärt.

25Selbstverständlich gibt es auch bei den literarischen Texten nicht-teleologische Verläufe von Zeit, wie Laurence SternesTristram Shandy (1759-1766) exemplarisch zeigt. Mit äußerster Virtuosität wird im Roman das diskontinuierliche Erzählen von Zeit vom Ich-Erzähler praktiziert, der den Leser mit undefinierten Zeitsprüngen narrt. (Vgl. hierzu Sterne,The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, II, S. 770f., wo in Band 9 in Kapitel 18 und 19 durch das Auslassen von Inhalt ein Zeitsprung erzeugt wird: Mit Ausnahme der Kapitelüberschriften bleiben die Seiten vollkommen leer.) Trotzdem gilt das linear-teleologische Erzählmuster – wie bereits ausgeführt – nach wie vor als grundlegendes Charakteristikum des Entwicklungsromans, was es durch den Beizug von geologischen Verläufen zu relativieren gilt.

26DieRecherches erschienen 1812 in erster und 1821-1824 in zweiter, erweiterter Auflage in Paris. Ins Deutsche wurden dieRecherches erstmals 1822 von Jakob Nöggerath übersetzt. Nöggeraths Übersetzung beruht auf der zweiten französischen Auflage. Im Folgenden wird aus Nöggeraths deutscher Übersetzung mit dem TitelCuvier’s Ansichten von der Urwelt zitiert. Dass die Zitate nicht aus dem französischen Originaltext stammen, hat folgenden Grund: Es kann nachgewiesen werden, dass Goethe mit den deutschen Übersetzungen von Nöggerath bestens vertraut war. Goethe besass nicht nur die französische Ausgabe derRecherches von 1821-24, sondern auch die deutsche Übersetzung von Nöggerath aus dem Jahr 1822 (vgl. LA I, 8 S. 349f. und LA II 8B/1, S. 725).

27Obwohl in Bezug auf den lyellschen TextThe Principles of Geology die Gründe, mit der ÜbersetzungLehrbuch der Geologie von Hartmann (1833) zu arbeiten, schwächer sind, existieren trotzdem welche. Zum einen dient die Verwendung der Übersetzung der Einheitlichkeit der Zitate und der Leserfreundlichkeit. Darüber hinaus lässt sich nachweisen, dass sich wichtige Geologen, deren Werke Stifter regelmäßig konsulierte, ebenfalls auf diese Übersetzung stützten (vgl. hierzu Morlot,Erläuterungen, S. 37). Um jedoch dem Standard einer wissenschaftlichen Arbeit gerecht zu werden, werden die Originalzitate in den Fußnoten ausgewiesen.

28Goethes Schriften werden mit der Sigle FA (= Frankfurter Ausgabe), Band und Seitenzahl zitiert: FA I, 10, S. 263.

29Vgl. FA I, 10, S. 293-303.

30Vgl. FA I, 10, S. 533.

31Vgl. zu den nachfolgenden Abschnitten: Gamper,Elektropoetologie, S. 12-15.

32Marquard, Über die Unvermeidlichkeit, S. 104. Die Deutung der Literatur als eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen, erklärt sich aus dem lange Zeit vorherrschenden Selbstverständnis der Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum.

33Kritik in diesem Sinne äußert Manfred Engel: Engel,Kulturwissenschaft/en, S. 8-35. Vgl. hierzu auch: Brauneis, »Schöne Literatur«, S. 183-210.

34Vgl. Lepenies,Krieg, S. 6-78. Lepenies betont die »Konkurrenz-Situation« zusätzlich mit seinem aussagekräftigen TitelDer Krieg der Wissenschaften und der Literatur. Während Lepenies in dieser Publikation das Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts als polarisiert wiedergibt, zeigt er mit seinem BeitragDie drei Kulturen (2002), wie die Literatur in England, Frankreich und Deutschland für die Geneaologie der Soziologie als Wissenschaft eine konstitutive Rolle spielte.

35Vgl. Pethes,Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 181-231.

36Als einer der Grundlagentexte Greenblatts giltShakespearean Negotiations (1988).

37Vgl. hierzu Borgards/Neumeyer/Pethes/Wübben,Literatur und Wissen, S. 1 und 2.

38Vgl. Vogl,Für eine Poetologie, S. 117-127.

39Vgl. Neumeyer,Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 177-194. Neumeyer bietet einen schnellen Überblick zu Foucaults Wissensgeschichte und die darauf aufbauenden literaturwissenschaftlichen Modelle des New Historicism und der Poetologie(n) des Wissens. Ihm geht es darum, die gemeinsamen Nenner eines kulturwissenschaftlichen Vorgehens herauszukristallisieren und deren Vorteile anhand eines Beispiels explizit zu machen.

40Vgl. Foucault,Die Ordnung des Diskurses, S. 24.

41Vogl,Einleitung, S. 7 und 13.

42Vgl. Vogl,Einleitung, S. 7.

43Vgl. Vogl,Für eine Poetologie, S. 123.

44Vgl. Borgards/Neumeyer,Der Ort der Literatur. In ihrer programmatischen Schrift mit dem TitelDer Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens: Für eine entgrenzte Philologie plädieren Roland Borgards und Harald Neumeyer für einen solchen Umgang mit Literatur und Wissenschaft.

45Vgl. Vogl,Einleitung, S. 7-10.

46Die bekannteste ist wohl diejenige zwischen Gideon Stiening und Joseph Vogl in der ZeitschriftKulturPoetik (2/2007).

47Vgl. hierzu Stiening,Am »Ungrund«, S. 234-248 und Vogl,Robuste und idiosynkratische Theorie, S. 249-258.

48Vgl. Stiening,Am »Ungrund«, S. 237 und 238.

49Vgl. Vogl,Für eine Poetologie, S. 125.

50Vgl. hierzu Süssmann,Geschichtsschreibung oder Roman?

51Vgl. Vogl,Für eine Poetologie, S. 125.

52Vgl. Pethes,Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 367.

53Vgl. Rohe,Roman aus Diskursen, S. 211. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen in Fußnote 54 in der Einleitung.

54In den letzten Jahren sind zahlreiche Forschungsarbeiten mit unterschiedlichen Zugängen zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im 19. Jahrhundert entstanden. Es fällt auf, dass die Beiträge, die sich mit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befassen, vorwiegend die Romantik verhandeln, z.B. Lange/Neumeyer,Kunst und Wissenschaft um 1800 (2000) und Brandstetter/Neumann,Romantische Wissenspoetik (2004). Daiber,Experimentalphysik des Geistes (2001) befasst sich mit Novalis’Heinrich von Ofterdingen (1802) und ist somit auch für die Auseinandersetzung mit der Geologie interessant. Nicht explizit mit der Romantik, aber zeitlich vorwiegend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu verorten ist der Beitrag von Bierbrodt,Naturwissenschaft und Ästhetik 1750-1810. Jüngst erschienen (2017) mit einem neuen Ansatz zur Vorstellung von Wissenschaft und Literatur ist der sich vorwiegend auf das 18. Jahrhundert fokussierende und deshalb das 19. Jahrhundert nur streifende BeitragZwischen Literatur und Wissenschaft von Rudolf Freiburg, Christine Lubkoll und Harald Neumeyer. Die folgenden Beiträge sind zeitlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verorten: Bayertz’ WerkWeltanschauung (2007), das sich auf verschiedene Kontroversen wie den Materialismus-Streit, die Debatte um Darwins Theorie und den Ignorabimus-Streit bezieht; Maillard,Die Arbeit am Mythos Wissenschaft, S. 157-173 (2005) und Hamacher,Die Literatur und die Wissenschaften (1993). Beiträge zum gesamten 19. Jahrhundert – und so auch je einer zu Goethe und Stifter – finden sich in Danneberg,Wissen in Literatur (2002). Insgesamt zeigt sich, dass die Lücke zur Auseinandersetzung mit dem Realismus und der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar nach wie vor besteht, momentan aber geschlossen wird.

55Neben BeersDarwin’s Plots zählt George LevinesDarwin and the Novelists zu den Standardwerken. Ein weiterer wichtiger Beitrag ist O’HanlonsJoseph Conrad and Charles Darwin (1984). In den letzten Jahren sind mehrere namhafte Monographien entstanden, darunterLiterature after Darwin von Richter (2011),Colonies, Cults and Evolution von Amigoni (2007) undEvolutionary Theory and Victorian Culture von Fichman (2002).

56Sprengel (Darwinismus und Literatur, S. 140-182) hat vor rund 20 Jahren auf ebendiese germanistischen Desiderate hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Darwinismus hingewiesen, die nun erforscht werden. Ebenfalls richtungsweisend für die Auseinandersetzung mit Darwin und Literatur ist SprengelsDarwin in der Poesie (1998).

57In folgenden Beiträgen wird der Darwinismus mit literaturwissenschaftlichen Mitteln erschlossen:Darwinismus und Literatur von Peter Sprengel (1999),Raabes Antwort auf Darwin von Katharina Brundiek (2005),Darwins Bilder von Julia Voss (2007) undErzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus von Philip Ajouri (2007). Eine andere Form der Darwinismus-Rezeption unterscheidet sich von dieser Variante durch ihre Fragen nach dem menschlichen Bedürfnis nach Kunst und Literatur und deren evolutionsbiologischen Erklärungen, wie dies beispielsweise Joseph Carroll praktiziert. Kritik an Carrolls Ansatz äußert Frank Kelleter (A Tale of Two Natures, S. 153-89). Kelleter streicht heraus, dass der Mensch nicht nur über seine Biologie, sondern auch über seine Geschichte zu bestimmen sei.

58Vgl. Rudwick,Lyell and Darwin.

59Das Zusammenspiel von geologischen Tiefenzeiterzählungen und der Evolutionstheorie ist in der geologischen Wissenschaftsgeschichte bereits mehrfach dargestellt worden. Lyell ist bei Weitem nicht der einzige Geologe des 19. Jahrhunderts, aber im englischsprachigen Raum der wohl berühmteste. Warum und wie Lyell zum Geologen des 19. Jahrhunderts stilisiert wurde, beschreibt Stephen Gould inDie Entdeckung der Tiefenzeit. Ohne den Status von Lyell zu mindern, relativiert Gould dessen Position und hebt die Bedeutung anderer Geologen hervor (vgl. hierzu Gould,Die Entdeckung der Tiefenzeit, S. 154-170).

60Dabei handelt es sich um folgende Beiträge: Zimmerman,Excavating Victorians; Buckland,Novel Science; Tomko,Varieties of Geological Experience; Sommer,The Romantic Cave?; Heringman,Romantic Rocks.

61Dies ist nicht nur bei Schellenberger-Diederich (Geopoetik) und Haberkorn (Naturhistoriker und Zeitenseher) der Fall, sondern auch in folgendem Aufsatz: Braungart,Apokalypse, S. 107-120 und neuerdings auch Häge,Dimensionen des Erhabenen (2018).

62Bemerkenswerterweise bildet die Historisierung auch in der Dissertation von Michaela HaberkornNaturhistoriker und Zeitenseher (2004) kein zentrales Element.

63Mit einem wissenspoetologischen Ansatz arbeitet: Schnyder,Die Dynamisierung, S. 540-555 und ders.Schrift – Bild – Sammlung – Karte, S. 235-248. Bereits der TitelDynamisierung verweist auf die Verschiebung von einem räumlichen zu einem zeitlichen System in der Wissenschaft um 1800. Schnyder weist nach, dass die Poetologie desNachsommer-Romans von der Geologie geprägt ist. Er hat noch weitere Aufsätze zum Thema Geologie und Literatur geschrieben, auf die im Laufe der vorliegenden Arbeit Bezug genommen wird. Schneider (Kulturerosionen) befasst sich mit dem Zusammenhang von geologischen Erosionen und politischen Erschütterungen. Michler (Vulkanische Idyllen) gibt einen Überblick über Stifters philologische Kenntnisse im Bereich der Geologie.

64Vgl. zum Bergbaumotiv: Gold,Erkenntnisse unter Tage.

65Vgl. Wagenbreth,Neptunismus/Vulkanismus, S. 801. Der Eintrag von Wagenbreth zum »Neptunismus/Vulkanismus« im Goethe-Handbuch zeigt exemplarisch auf, dass es sich bei der Bezeichnung Goethes als Neptunist um einen unter Germanisten weitverbreiteten Allgemeinplatz handelt. Wagenbreth schreibt: »G.[oethe] war und blieb Neptunist, auch nachdem nach Abraham Gottlob Werners Tod 1817 die vulkanistischen Anschauungen allgemein dominierten.« Obwohl jüngst zwei Supplements zum Goethe-Handbuch erschienen sind, in dem der Themenkomplex Goethe und Geologie differenzierter betrachtet wird, hält sich diese Forschungsmeinung weiterhin hartnäckig.

66Vgl. Haberkorn,Naturhistoriker und Zeitenseher, S. 118-127 oder Wagenbreth,Geschichte der Geologie in Deutschland, S. 41.

67Es kann behauptet werden, dass im deutschsprachigen Raum eine Reduzierung auf Werner vorherrscht, wie sie im englischsprachigen Raum lange in Bezug auf Lyell bestand. Vgl. hierzu das Kapitel 1.1.2.

68Vgl. Rudwick,Bursting, S. 389.

69Wie intensiv die geologische Thematik die Menschen des 19. Jahrhunderts beschäftigte, zeigt die Flut an populären und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Bernhard von CottasGeologische Bilder (1851) beispielsweise wurde bis 1871 fünf Mal aufgelegt. Die viktorianische Publizistin Harriet Martineau vermerkte: »Leute aus dem Mittelstand erwarben im Allgemeinen fünf Exemplare eines teuren geologischen Werkes auf einen der beliebtesten Romane ihrer Zeit.« (Zit. nach Mason,Geschichte der Naturwissenschaft, S. 487). Vgl. zum Marketing auch: O’Connor,The Earth on Show, S. 191ff.

70Im englischsprachigen Raum ist der Bereich der Geologie anhand von neuesten wissenschaftshistorischen Ansätzen von Wissenschaftshistorikern wie Gould (Die Entdeckung der Tiefenzeit) oder Rudwick (Bursting undWorlds before Adam) längst aufgearbeitet worden.

71Vgl. hierzu exemplarisch Haberkorn,Naturhistoriker und Zeitenseher, S. 66. Haberkorn verweist in ihrer Publikation aus dem Jahr 2004 zwar in einer Fußnote auf einschlägige wissenschaftsgeschichtliche Beiträge wie Stephen GouldsTime’s Arrow (1987), RudwicksGeorges Cuvier (1997) oder David OldroydsThinking about the Earth (1996). Es bleibt aber bei einer eher kursorischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Geologie, die im Rahmen der Interpretation der literarischen Schriften ebenfalls an der Oberfläche bleibt. Wie ungemein wichtig eine Berücksichtigung der Geschichte der Geologie für neue Forschungsperspektiven jedoch ist, zeigen die verschiedenen Beiträge auf, die in Fußnote 63 in der Einleitung angeführt werden.

72Goethes Interesse wird zumeist auf die wernersche Geognosie und das damit verbundene neptunistische Konzept reduziert (vgl. hierzu exemplarisch Wagenbreth,Vulkanismus/Neptunismus, S. 801). In Bezug auf Stifter weist Bollnow darauf hin, dieser habe sich nicht für Erdgeschichte interessiert, sondern sei dem für die Epoche des Biedermeiers typischen Sammeln und Klassifizieren verpflichtet gewesen: »StiftersNachsommer verkörpert das Bildungsideal des Biedermeier in seiner edelsten und reinsten Gestalt.« (Bollnow,Der Nachsommer und der Bildungsgedanke, S. 14).

73Selbstverständlich wurde in der Forschung beachtet, dass sich Goethe ein Leben lang für die Geologie interessierte (vgl. hierzu Engelhardt, Überblick, S. 541ff. [LA II, 7]). Nicht nur die Leopoldina-Ausgabe, sondern auch der Überblick von Engelhardt zeugt von einer enormen Bandbreite des goetheschen Interesses. Diese Bandbreite wird auch im Supplement zum Goethe-Handbuch ersichtlich. Vgl. hierzu Wyder,Geologie bis 1800, Sp. 143-165 und Ho,Zu G.s geologischer Forschung nach 1800, Sp. 166ff.

74Die folgenden Beiträge bieten einen allgemeinen Überblick über das Thema Geologie bei Stifter: Wagner,Schick, Schichten, Geschichte; Selge,Adalbert Stifter; Banitz,Das Geologenbild Adalbert Stifters. Mit einem wissenspoetologischen Ansatz arbeiten die bereits in Fußnote 63 in der Einleitung genannten Beiträge. Des Weiteren befasst sich Braun (Naturwissenschaft als Lebensbasis) mit Stifters lebenslanger naturwissenschaftlicher Tätigkeit, wobei er auch auf geologische Aspekte eingeht. Bulang betont inDie Rettung der Geschichte, dass Stifters historisches Verständnis ausgeprägter sei als vielfach angenommen. Begemann setzt sich inDie Welt der Zeichen differenziert mit dem Geologie-Thema auseinander, wenn auch nicht mit einem wissenspoetologischen Ansatz. Begemann ist auch einer der prominentesten Vertreter der Forschungsansicht, die Natur imNachsommer verändere sich nur im Rahmen des Jahreszeitenwechsels (vgl. hierzu Begemann,Die Welt der Zeichen, S. 321ff.). Vgl. zum Thema Geologie und Stifter auch Braungart,Die Geologie und das Erhabene undDer Hauslehrer.

75Zu den bedeutendsten Vertretern der Meinung, dass es sich bei denWanderjahren um einen Entwicklungsroman handelt, zählt Wundt. Wundt bezeichnet in seinem BeitragGoethes Wilhelm Meister dieWanderjahre als Weiterentwicklung derLehrjahre. Wurde in denLehrjahren die Entwicklung des Individuums dargestellt, zeigen dieWanderjahre gemäß Wundt die Entwicklung der Gesellschaft auf (Goethes Wilhelm Meister, S. 54-68). Obwohl Wundts Ansicht grundsätzlich zuzustimmen ist, handelt es sich bei seiner Darlegung um eine allzu harmonische Interpretation dieses gesellschaftlichen Entwicklungskonzepts. Auch Neumann und Dewitz sprechen sich in ihremKommentar in der Frankfurter Klassikerausgabe zu denWanderjahren dafür aus, dass die Entwicklungsthematik eine gewichtige Rolle spielt. Sie gehen davon aus, dass die Entwicklung des Subjekts zu einem nützlichen Teil der Gesellschaft die Hauptthematik darstellt (vgl. Dewitz/Neumann,Kommentar, S. 918). Auch Saße und Vosskamp sprechen sich dafür aus, dass die Thematik der Bildung und Entwicklung ein zentrales Leitmotiv in denWanderjahren ist (vgl. Saße,Auswandern in die Moderne, S. 14 und Vosskamp,Der Roman des Lebens, S. 13).

76Vgl. Bahr,Nachwort Nachsommer, S. 860.

77Dass die Themen Entwicklung und Fortschritt im Roman zentral sind, bestätigt auch ein Herausgeber vonWilhelm Meisters Wanderjahre, Erhard Bahr, indem er im Schlusswort wiederholt auf Herders Entwicklungs- und Fortschrittsverständnis verweist, auf das sich Goethe im Roman beziehe (vgl. Bahr,Nachwort Wanderjahre, S. 547-564).

78Bahr verweist ebenfalls auf die kaum fassbare Form des Textes, der beispielsweise durch Novellen, Märchen, Essays und andere Schriften unterbrochen wird. Diese Absage an eine Totalität wurde in der Forschung lange negativ gewertet. Heute hingegen gilt Goethes Spätwerk als Vorläufer des modernen Romans (vgl. Bahr,Nachwort Wanderjahre, S. 552 und 557).

79Die Gattungsbezeichnung »Entwicklungsroman« gilt zumeist als Oberbegriff für Romane, in denen die Lebensgeschichte eines Protagonisten dargelegt ist. Das Erzählen des Entwicklungsgangs des Helden ist dabei zentral (vgl. hierzu Gutjahr,Einführung in den Bildungsroman, S. 12).

80Bisher wurde der Zusammenhang zwischen Cuviers Arbeit und GoethesWanderjahren einzig von Ho hergestellt. Ho befasst sich inKnochenbau in der durch einen Aufsatz gebotenen kursorischen Kürze mit anatomischen Studien als Grundlage für dieWanderjahr-Interpretation (vgl. Ho,Knochenbau der Erde, S. 122-135). Für ihre Analyse verwendet Ho zwar Ko-Texte von nach 1800; Schriften, die in der vorliegenden Arbeit als erdgeschichtliche Schriften gelten, spielen aber keine Rolle.

81Vgl. Schnyder,Die Dynamisierung und Schneider,Kulturerosionen.

82Stifters Schriften werden mit der Sigle HKG (= historisch-kritische Gesamtausgabe), Band und Seitenzahl zitiert: HKG, 4.1, S. 57.

1Erdgeschichte(n) um 1800

Vor 1780 diente zumeist die Schöpfungsgeschichte als Referenzerzählung zur Entstehung und Entwicklung der Erde und der Lebewesen.1 Dieser tritt ab 1860 mit dem Darwinismus eine völlig andere Entwicklungsgeschichte des Lebens zur Seite. Sowohl die Schöpfungsgeschichte als auch der Darwinismus sind heute in breiten Teilen der Gesellschaft bekannt. Wenig verbreitet ist hingegen das Wissen darüber, dass die Neukonzeptualisierung einer Vorgeschichte2 der Menschheit von der Schöpfungsgeschichte hin zum Darwinismus ohne die Erforschung der Erdgeschichte nicht denkbar gewesen wäre.

Mit dem Schreiben anderer Vorgeschichten der Menschheit durch erdgeschichtliche Forschung wird die göttliche Schöpfungsgeschichte ergänzt, variiert und verändert. Besonders deutlich kommt eine alternative Erzählung erstmals in Buffons Histoire naturelle (1749) zum Ausdruck. Im ersten Band Théorie de la terre wird die Entstehung und die Entwicklung der Erde durch einen auf die Sonne aufprallenden Kometen angenommen. Als Folge des Aufpralls spaltet sich ein Teil der Sonne (die zukünftige Erde) ab und weil sich dieser Teil allmählich abkühlt, wird mit der Zeit Leben möglich.3 Da die Reaktion der Theologen der Sorbonne auf die alternative Geschichte zur Genesis kritisch ausfiel, veröffentlichte Buffon in seinem zweiten Band folgende Erklärung:

I. Daß ich nie einige Absicht geheget habe, dem Texte der Schrift zu widersprechen, daß ich alles festiglich glaube, was daselbst von der Schöpfung, sowohl in Absicht auf die Ordnung der Zeiten, als auf die Umstände der Begebenheiten selbst, erzählet ist, und daß ich dasjenige, was in meinem Buche die Bildung der Erde, und überhaupt alles, was der Erzählung des Moses zuwider seyn könnte, fahren lasse; Da ich meine Hypothese von der Bildung der Planeten nur als eine bloße philosophische Voraussetzung gegeben habe.4

Buffon bezeichnet den Inhalt seiner Théorie de la terre zur Entstehung der Erde als »Hypothese« und »bloße philosophische Voraussetzung«. Unbestritten gelten seine Forschungen, die im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Bänden publiziert wurden, jedoch als wissenschaftliche Meisterleistungen, die weit bis ins 19. Jahrhundert nachwirkten.5

In seiner 1778 herausgegebenen Schrift Les époques de la nature verhandelt Buffon die Idee eines Kometenaufpralls auf die Sonne erneut. In den Époques finden sich nähere Erläuterungen darüber, wie er zu seiner Überlegung gelangt. Mithilfe eines Experiments6, das die Temperaturverhältnisse auf der Erde simuliert, ermittelt der Forscher einen kontinuierlichen Wärmeverlust, durch den sich die Erde allmählich abkühlt. Indem er eine Eisenkugel erhitzt und danach die Dauer der Abkühlung misst, berechnet er die Zeitdauer der Erdabkühlung. Die Berechnung ergibt eine Lebensdauer der Erde von rund 165 000 Jahren. In den Époques jedoch erfolgt die Geschichte der Abkühlung der Erde und der Entstehung des Lebens in Anlehnung an die sieben Tage der Schöpfung in Form von sieben Epochen der Erdentwicklung. Des Weiteren beinhaltet der einleitende Teil der Époques einen ausführlichen Kommentar zur Genesis:

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.

Dies heißt nicht, daß Gott im Anfang den Himmel und die Erde so schuf, wie sie itzt sind, weil gleich darauf gesagt wird, dass die Erde wüste und leer war; und daß die Sonne, der Mond und die Gestirne erst am vierten Schöpfungstage am Himmel erschienen. Man würde daher die Schrift mit sich selbst in Widerspruch bringen, wenn man behaupten wollte, daß Gott im Anfang den Himmel und die Erde so schuf, wie sie itzt sind. […] Dieser Anfang aber, diese erste, älteste aller Zeiten, in der die Materie des Himmels und der Erde ohne eine bestimmte Form war, scheint von sehr langer Dauer gewesen zu seyn. Wir müssen nur aufmerksam die Worte des göttlichen Schriftstellers anhören.7

Buffon eröffnet seinen an ein Glaubensbekenntnis angelehnten Kommentar mit einem Zitat aus der Genesis, dessen Bedeutung mittels einer doppelt so großen Schrift typographisch deutlich hervorgehoben wird. Der Kommentar dient zur Erläuterung, weshalb die Bibelstelle mit der eigenen Forschung kompatibel ist: nämlich aufgrund des relativierten Zeitverhältnisses, sprich des Zeitraums, in dem Gott die Erde geschaffen haben soll. Buffon verweist darauf, dass die Anfangszeit in der Genesis zeitlich undefiniert bleibt und man daher davon ausgehen könne, dass sie »von sehr langer Dauer gewesen seyn« müsse.8 Dieses Verfahren, zunächst ein Bibelzitat darzulegen und es im Anschluss mit der eigenen Forschung in Verbindung zu bringen, wird in den Époques mehrfach wiederholt. Die Anlehnung an die sieben Tage der Schöpfung bei der Beschreibung der sieben Epochen ist unverkennbar. Trotzdem bestehen auch deutliche Differenzen zwischen dem christlichen Heilsplan und Buffons Erdtheorie. Buffon sprengt die christliche Zeitdimension einer 6000-jährigen Vergangenheit der Erde bei Weitem und dehnt den Zeitraum auf 75 000 Jahre aus.9

Vergleicht man die Kompatibilität zwischen der Schöpfungsgeschichte und der Théorie de la terre von 1749 mit derjenigen zwischen der Schöpfungsgeschichte und den Époques von 1778 zeigen sich deutliche Unterschiede. Während es sich beim ersten Band in gewisser Weise um eine Alternative zur Schöpfungsgeschichte handelt, beschreiben die Époques eine starke Variation. Buffons Schriften markieren zum Ende des 18. Jahrhunderts den Beginn einer neuen wissenschaftlichen Textsorte, die sich mit der Entwicklungsgeschichte der Erde befasst. Gleichzeitig handelt es sich hierbei um den Zeitpunkt, an dem sich die Geologie als Fachrichtung mit einem erdgeschichtlichen Konzept auszudifferenzieren beginnt. Während Buffons Schriften am Anfang dieses disziplinären Ausdifferenzierungsprozesses stehen, sind Lyells Schriften gegen dessen Ende zu verorten.

Lyell publizierte seine Beobachtungen zu den aktuellen Naturphänomenen von 1830 bis 1833 in drei Bänden unter dem Titel Principles of Geology. Er belegt darin, dass sich die Erde durch die zerstörende und aufbauende Wirkung von Feuer und Wasser dauernd auf- und wieder abbaut. Der in Zyklen erfolgende Prozess verläuft dabei über ungeheure Zeiträume hinweg. Bedenkt man, wie lange es dauern würde, bis ein Gebirge durch Erosion abgetragen und am Ende verschwunden wäre, kann man die von Lyell etablierte Idee langsamer Veränderungen auf der Erdoberfläche in etwa nachvollziehen. Die auf Lyell basierende Vorstellung unglaublich langer und langsamer Entwicklungsverläufe wird in der Geologie seit den 1980er-Jahren mit dem Begriff »deep time« bezeichnet.10 Weiter ergeben sich beim Vergleich mit den Erzählungen der Schöpfungsgeschichte und des Darwinismus Parallelen. Die unglaublich langen Zeiträume des Auf- und Abbaus bilden die Basis für das evolutionstheoretische Denken Darwins, der sich mit seiner Widmung im Werk Journal of Researches into the Natural History and Geology (1845) explizit in die Tradition Lyells stellt:

TOCHARLES LYELL, ESQ., F.R.S.

This second edition is dedicated with grateful pleasure, as an acknowledgment that the chief part of whatever scientific merit this journal and the other works of the author may possess, has been derived from studying the well-known and admirable  

PRINCIPLES OF GEOLOGY.11