Erfolgsfaktor Zufall - Christian Busch - E-Book

Erfolgsfaktor Zufall E-Book

Christian Busch

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Beschreibung

»Ein kluges, spannendes und lebensveränderndes Buch« (Arianna Huffington, Bestsellerautorin) »Hier können Sie Ihre Fähigkeit verbessern, zufällig Begegnungen und scheinbar zufällige Informationen auf kreative und produktive Weise zu nutzen. Dieses Buch kann Ihnen dabei helfen - sehr empfehlenswert!« (Reid Hoffmann, Gründer von LinkedIn) Ungewissheit und Unsicherheit regieren die Welt. Vieles ist nicht mehr planbar. Christian Busch hat als Forscher an der London School of Economics (LSE) und New York University (NYU) ein Jahrzehnt damit verbracht, zu erforschen, wie unerwartete Momente unseren sozialen Alltag erweitern und neue berufliche und private Möglichkeiten schaffen können. In diesem Buch schreibt er über die verborgene Kraft, die, mehr als wir glauben, unser Leben formt: der Zufall. »Erfolgsfaktor Zufall« zeigt, wie wir lernen, Zufälle zu erkennen und zu nutzen, wie wir die Ungewissheit als Weg zu einem zielgerichteteren und erfolgreicheren Leben nutzen können. Der Autor hat Hunderte von Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen interviewt, die ihr Leben verbessert haben, indem sie gelernt haben, im Unerwarteten Chancen zu sehen und Serendipity/Serendipität (»unerwartetes Glück«) zu kreieren.

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ERFOLGSFAKTORZUFALL

Christian Busch

ERFOLGSFAKTORZUFALL

Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können

Inhalt

Einleitung

1 MEHR ALS NUR PURER ZUFALL

2 SERENDIPITÄTSBARRIEREN ÜBERWINDEN

3 DER AUFGESCHLOSSENE GEIST

4 DER ANGEREGTE GEIST

5 SERENDIPITÄTSAUSLÖSER ERKENNEN UND ERMÖGLICHEN

6 ZUFÄLLIGE BEGEGNUNGEN IN MÖGLICHKEITEN VERWANDELN

7 DEN ERFOLGSFAKTOR ZUFALL VERSTÄRKEN

8 SERENDIPITÄTSBEDINGUNGEN FÖRDERN

9 SERENDIPITÄT BEWERTEN: DER SERENDIPITÄTSQUOTIENT (SQ)

10 DIE KUNST UND DIE WISSENSCHAFT DES KULTIVIERENS VON SERENDIPITÄT

+11 DURCH UNGEWISSHEIT NAVIGIEREN

Dank

Literaturverzeichnis

Personen- und Sachregister

»Ich bin immer überrascht, wenn ich Leute sehe, die erfolgreich waren, denn sie denken immer, dass sie so schlau waren. Und ich sage immer, na ja, ich habe hart gearbeitet und ich habe ein gewisses Talent, aber es gibt eine Menge hart arbeitender, talentierter Menschen da draußen. Aber es gibt dieses Element des Zufalls, der Serendipität … vielleicht kann man herausfinden, wie man das auf andere Menschen übertragen kann.«

Barack Obama, 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika

Einleitung

Wir alle mögen das Gefühl, dass wir unser Schicksal selbst in der Hand haben: dass wir die Kontrolle über unsere Zukunft haben, dass wir wissen, wie wir unsere Ziele und Ambitionen erreichen werden. Kurz gesagt, wir alle haben gerne einen Plan.

Dieser offenbar angeborene menschliche Wunsch, unsere Zukunft zu planen, spiegelt sich in fast jedem Aspekt des modernen Lebens wider. Organisationen, Regierungen und jede/r Einzelne von uns strukturiert ihre/seine Aktivitäten anhand von Plänen, Strategien und Zielen, die wir formulieren. Wir konstruieren Routinen, Regeln und Prozesse – vom Stellen des Weckers bis zur Organisation nationaler Wahlen –, um sicherzustellen, dass diese Pläne verwirklicht werden.

Aber wie viel Kontrolle haben wir wirklich über unser Leben? Trotz aller Planung, Konzeption und Strategie scheint ein weiterer Faktor sehr wichtig zu sein: das Unerwartete. Tatsächlich sind unvorhergesehene Ereignisse, zufällige Begegnungen oder scheinbar bizarre Zufälle nicht nur kleine Ablenkungen oder Streuverluste in unserem Leben. Der Zufall ist oft der entscheidende Faktor, die Kraft, die den größten Unterschied für unser Leben und unsere Zukunft ausmacht.

Vielleicht haben Sie Ihren Ehe- oder Lebenspartner »zufällig« kennengelernt, sind »unerwarteterweise« auf Ihren neuen Job oder Ihre neue Wohnung gestoßen, haben Ihren Mitgründer oder Investor »aus heiterem Himmel« getroffen oder haben »unversehens« eine Zeitschrift in die Hand genommen, um genau das zu finden, was Sie zur Lösung eines Problems wissen mussten! Wie haben derartige Momente, ob groß oder klein, Ihr Leben verändert? Wie hätte Ihr Leben verlaufen können, wenn alles nach Plan gegangen wäre?

Was auch immer wir im Leben anstreben, wir sind anfällig für den Zufall. Selbst in der wissenschaftlichen Forschung ist die Macht des Unerwarteten (fast) immer mit im Spiel. Studien zufolge sind etwa 30 bis 50 Prozent der großen wissenschaftlichen Durchbrüche das Ergebnis von Unfällen oder Zufällen: Eine Chemikalie läuft in eine andere über oder Zellen verbinden sich in schmutzigen Petrischalen. 1

Läuft also Erfolg überwiegend auf »blindes Glück« hinaus – auf Erfolg oder Misserfolg, das einfach durch bloßen Zufall und nicht durch eigenes Handeln herbeigeführt wird? Nein. Intuitiv realisieren wir, dass auch das nicht stimmt. Wir wissen zwar, dass die größten Wendepunkte und Veränderungen in unserem Leben oft zufällig zustande kommen, aber manche Menschen scheinen einfach mehr Glück und damit mehr Erfolg und Freude zu haben als andere.

Dies ist nicht nur ein modernes Phänomen: Der amerikanische Präsident Thomas Jefferson war überzeugt, dass er umso mehr Glück hatte, je härter er arbeitete, und der römische Schriftsteller und Staatsmann Seneca glaubte, dass Glück eine Frage der Vorbereitung sei, die auf eine Gelegenheit treffe. Ihre Überzeugungen spiegeln die Idee wider, dass der Zufall zwar eine reale Kraft ist, dass es aber im Leben mehr als blindes Glück gebe. Selbst alltägliche Redewendungen wie: »Jeder ist seines Glückes Schmied« weisen auf die Vorstellung hin, dass der Erfolg im Leben von einem Zusammenspiel – einer Synthese – zwischen reinem Zufall und menschlicher Anstrengung abhängt.

Was geschieht hier wirklich? Sind manche Menschen besser in der Lage, Bedingungen zu schaffen, damit positive Zufälle häufiger eintreten als andere? Sind sie besser in der Lage, diese Momente zu erkennen, zu nutzen und sie in positive Ergebnisse umzuwandeln? Können unsere Ausbildung und unsere Herangehensweise in Job und Alltag uns befähigen, das Unerwartete zu lenken und das für uns passende Glück zu kreieren?

Dies ist ein Buch über das Zusammenspiel von Zufällen und menschlichem Handeln. Es ist ein Buch über Serendipity – Serendipität, einen Begriff, der im Englischen gebräuchlicher ist als im Deutschen. Er lässt sich am besten definieren als unerwartetes Glück, das sich aus ungeplanten Ereignissen ergibt, in denen unsere Entscheidungen und unser Handeln zu positiven Ergebnissen führt. Serendipität ist die verborgene Kraft in der Welt, und sie ist überall um uns herum zu finden, von den kleinsten alltäglichen Ereignissen bis hin zu lebensverändernden und manchmal weltverändernden Durchbrüchen. Sie ist der »Erfolgsfaktor Zufall«.

Doch nur wenige von uns – darunter viele der Menschen, die Sie in diesem Buch kennenlernen werden – haben das Mindset entwickelt, das notwendig ist, um das Unerwartete in einen Erfolg zu verwandeln. Sobald wir erkennen, dass es sich bei Serendipität nicht nur um bloßen Zufall handelt, der uns einfach so begegnet, sondern um einen Prozess des Erkennens und Verbindens von Punkten, beginnen wir Brücken zu sehen, wo andere Gräben sehen.2

Wenn es geschieht, verwandelt sich das Unerwartete von einer Bedrohung in eine ständige Quelle der Freude, des Staunens, derSinnhaftigkeit – und des anhaltenden Erfolgs. In einer Welt, die von Kampf-oder-Flucht-Reaktionen charakterisiert ist, in der Angstmacherei, Populismus und Unsicherheit die Oberhand gewonnen haben, funktionieren die gewohnten Denkweisen und Strukturen einfach nicht mehr. Die Entwicklung des Erfolgsfaktors Zufall und die Gestaltung der damit verbundenen Bedingungen werden zum Lebensmotor für uns selbst, für unsere Kinder und unsere Organisationen.

Stellen Sie sich eine Welt vor, die von Neugier, neuen Möglichkeiten und einem Gefühl menschlicher Verbundenheit angetrieben wird, statt von Angst, Knappheit und Neid. Eine Welt, in der enorme Herausforderungen, wie Klimawandel und soziale Ungleichheit, mit mutigen Lösungen angegangen werden. In einer sich schnell verändernden Welt sind viele der aufkommenden Probleme so komplex, dass ein Großteil unserer Zukunft von Unerwartetem bestimmt werden wird. Die Entwicklung eines Serendipitätsdenkens ist daher eine evolutionäre Notwendigkeit und eine Gelegenheit, eine tiefere Begeisterung für das Leben zu entwickeln.

Serendipität ist ein beliebtes Thema – Millionen von Websites verweisen auf das englische Wort »Serendipity«. Viele der erfolgreichsten Menschen der Welt betrachten sie als das Geheimnis ihres Erfolgs.3 Aber wir wissen erstaunlich wenig darüber, welche konkreten, wissenschaftlich fundierten Methoden wir anwenden können, um in unserem Leben die Bedingungen für Serendipität zu schaffen. Und wir wissen wenig darüber, wie sich dies in verschiedenen Lebensbereichen auswirkt.

»Erfolgsfaktor Zufall« füllt diese Lücke. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen, die erklären, wie sich der Erfolgsfaktor Zufall entfalten kann, sowie anekdotischer Berichte und inspirierender Beispiele aus der ganzen Welt, die zeigen, wie wir die zugrunde liegende Serendipität bei uns selbst und bei anderen fördern können, bietet dieses Buch einen Rahmen und Übungen, die Ihnen bei Ihrem Bestreben helfen werden, unerwartetes Glück eher erleben zu dürfen. Diese aktive Sichtweise der Serendipität – eines »aktiven Glücks«, wenn Sie so wollen – unterscheidet sich vom »Losglück«, dem »einfachen« oder »blinden Glück«, das uns ohne Anstrengung widerfährt (beispielsweise in eine gute Familie hineingeboren zu werden). Wenn Sie Ihre eigene Zukunft und die Zukunft der Menschen um Sie herum gestalten wollen – auch wenn diese Zukunft nicht vorhersehbar ist –, dann ist dieses Buch genau das Richtige für Sie. Es bietet einen ganzheitlichen Einblick in die Art und Weise, wie glückliche (und unglückliche) Zufälle gefördert und genutzt, aber niemals wirklich nachgeahmt werden können. Es ist die erste umfassende, wissenschaftlich fundierte Methodik zur Entwicklung des Serendipitätsdenkens und der damit verbundenen Bedingungen.

Serendipität ist sowohl eine Lebensphilosophie, der sich viele der erfolgreichsten und glücklichsten Menschen der Welt zugewandt haben, um ihr Leben sinnvoll zu gestalten, als auch eine Denkweise und Fähigkeit, die jeder von uns entwickeln kann.

Neben Gesprächen mit Personen, die ich als Zufallsaktivistinnen und -aktivisten bezeichnen würde, ist dieses Buch das Ergebnis jahrzehntelanger Erfahrung als Forscher, Unternehmensberater, Universitätsprofessor, Co-Direktor am Innovationsinstitut der London School of Economics (LSE) und am Global Economy Programm der New York University (NYU), sowie von fünfzehn Jahren, in denen ich den Erfolgsfaktor Zufall in meinem eigenen Leben kultiviert habe. Diesem Interesse bin ich als Mitbegründer des Sandbox Networks nachgegangen, eines Netzwerkes inspirierender junger Menschen, das in mehr als zwanzig Ländern aktiv ist, sowie von Leaders on Purpose, einer Organisation, die Führungskräfte und politische Entscheidungsträger weltweit zusammenbringt. Durch meine beratende Tätigkeit für ein breites Spektrum von Organisationen und Einzelpersonen – von einem der größten Unternehmen Chinas bis hin zu kleinen gemeinnützigen Organisationen auf der ganzen Welt – hatte ich Zugang zu einer Vielzahl von Menschen sowie die Möglichkeit, den Erfolgsfaktor Zufall in den unterschiedlichsten Situationen und Umgebungen zu erleben. Das Leben in einer Vielzahl von Kontexten – von Heidelberg und Moskau bis Mexiko-Stadt – hat mir ein tiefes Verständnis für die unterschiedlichen Facetten vermittelt, die in diesem Buch diskutiert werden.

»Erfolgsfaktor Zufall« stützt sich auf meine eigene Forschung mit Kollegen an der New York University, der London School of Economics, der Harvard University, der Strathmore Business School und der Weltbank sowie die neuesten Studien aus den Bereichen Wirtschaft, Neurowissenschaften, Psychologie, Kunst, Physik und Chemie. Das Buch basiert auf Hunderten von wissenschaftlichen Arbeiten und über 200 Interviews und Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen aus allen Teilen der Welt. Es bietet inspirierende Geschichten und Erfahrungen aus erster Hand von Menschen aus allen Lebensbereichen – von ehemaligen Drogenabhängigen, die zu Lehrern in Kapstadts verarmtem Stadtteil Cape Flats wurden, bis hin zu mehr als einem Dutzend der weltweit erfolgreichsten CEOs.4 Obwohl jede dieser Geschichten, in denen das Unerwartete genutzt wird, sehr unterschiedlich ist, sind die Muster – wie wir später sehen werden – sehr ähnlich.

Eine Kollision mit dem Schicksal

Auch wenn ich heute Serendipität unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutieren kann, begann meine Reise mit einem persönlichen Vorfall, bei dem jugendliche Hybris auf ziemlich viel Pech traf. Mit achtzehn Jahren raste ich mit meinem Auto mit über 50 Stundenkilometer in mehrere geparkte Fahrzeuge. Glücklicherweise überlebte ich, aber die Autos, in die ich krachte, wurden erheblich beschädigt, ebenso mein eigenes. Ich hatte nie an Geschichten über Nahtoderfahrungen geglaubt, aber im Bruchteil einer Sekunde vor dem Aufprall, als mein Auto außer Kontrolle geraten war, zog mein Leben in der Tat an meinem inneren Auge vorbei, und ich fühlte mich absolut machtlos und war sicher, dass ich sterben würde.

In den folgenden Tagen stellte ich mir ziemlich viele Fragen. »Wenn ich gestorben wäre, wer wäre dann zu meiner Beerdigung gekommen?«; »Wen hätte es eigentlich interessiert?«; »War das Leben wirklich lebenswert?« Mir wurde klar, dass ich einige der wichtigsten Dinge im Leben vernachlässigt hatte, wie zum Beispiel tiefe und dauerhafte Beziehungen zu pflegen und stolz darauf zu sein, etwas Relevantes und Sinnvolles getan zu haben. Dem Tod nochmals von der Schippe gesprungen zu sein, veranlasste mich nachzudenken, was mein Tod in Bezug auf die verpassten Gelegenheiten bedeutet hätte: die Menschen, die ich nicht getroffen hätte; die Ideen und Träume, die ich nie erprobt hätte; die (zufälligen) Ereignisse und Begegnungen, die ich verpasst hätte. So begann meine Suche nach dem, worum es im Leben eigentlich geht.

Ich wuchs in Heidelberg auf, einer romantischen Stadt, die zwar wunderschön, aber etwas verschlafen ist, wenn man als Teenager herausfinden will, was es mit dem Leben auf sich hat. Seit ich mich erinnern kann, hatte ich immer das Gefühl, dass ich nicht dazugehörte. Da meine Familie öfters umgezogen war, war ich im Kindergarten und in der Schule oft ein Außenseiter. Mein Rückzugsort war ein Café, in dem ich mit 16 zu arbeiten begonnen hatte. Durch die Arbeit als Kellner lernte ich viel über menschliches Verhalten und Gruppendynamik. Ich lernte den Wert von Service kennen und was es heißt, von acht Uhr morgens bis 21 Uhr abends ohne Pause zu arbeiten. Mein Chef war ein echter Unternehmer, und schon bald half ich ihm bei allen möglichen Projekten, vom Verkauf importierter T-Shirts bis hin zum Ausliefern von Kuchen, nachdem ich meine Fahrprüfung bestanden hatte. Zu dieser Zeit fing ich auch an, nebenbei für ein Marktforschungsunternehmen zu arbeiten und die Leute in der Heidelberger Hauptstraße zu fragen, welche Wurst sie am liebsten kaufen würden und warum.

In meinen Teenagerjahren spürte ich viel Energie in mir, wusste aber nie so richtig, was ich damit anfangen sollte. Um sie zu kanalisieren, testete ich alle möglichen Grenzen aus und schwankte zwischen Extremen: Einerseits verbrachte ich Zeit in einer Gruppe linker Aktivisten (während meiner Reggae-Band-Groupie-Phase), andererseits investierte ich mein Gehalt in Aktien – meine Eltern zögerten zwar, gaben aber der Bank schließlich die Erlaubnis, dass ich als Minderjähriger aktiv sein konnte. Das Ende vom Lied: Ich verbrachte mehr Zeit mit dem Kauf und Verkauf von Aktien als im Klassenzimmer.

Natürlich trug meine Lebensführung nicht zu meinen Noten bei. Ich war ein unmöglicher Schüler, musste ein Jahr wiederholen, und mir wurde sogar »die Möglichkeit eröffnet, die Schule zu wechseln« – mit anderen Worten, ich flog von der Schule. Die nächste Schule zeigte sich glücklicherweise aufgeschlossener.

Als ich 18 Jahre alt wurde, bekam ich mein erstes Auto. Ich war begeistert – übertrug allerdings meine hedonistische und überoptimistische Einstellung auch auf meinen Fahrstil. Noch immer halte ich vermutlich den inoffiziellen Stadtrekord für die Anzahl von Strafzetteln, die ein Fahrer in einer Woche kassierte.

Ich hatte das Gefühl, mein Leben und mein Schicksal selbst in der Hand zu haben. Und dann, eines Tages, ging ich zu weit. Der Autounfall erschütterte mein Selbstvertrauen und das Gefühl, mein Leben im Griff zu haben.

Meine Freunde und ich waren unterwegs, um etwas Essen zu besorgen. Wir fuhren in zwei Autos, und ich wollte das Auto meines Freundes überholen. Ich erinnere mich noch, wie ich zu ihm hinübersah, als ich ihn überholte, und er mir hektisch zuwinkte und auf die Verkehrsinsel in der Mitte der Straße deutete, die ich übersehen würde. Und dann der Crash: Um die Verkehrsinsel nicht zu treffen, schlug ich das Lenkrad stark ein. Das Auto drehte sich ein paar Mal, und ich prallte in eine Reihe geparkter Fahrzeuge.

Die doppelwandigen Türen meines Volvos retteten mir das Leben. Die Beifahrerseite war völlig zerstört. Später erfuhr ich, dass mich jeder andere Aufprallwinkel höchstwahrscheinlich getötet hätte. Mein Freund, der als Beifahrer im anderen Auto saß, wollte ursprünglich mit mir mitfahren, erinnerte sich aber, dass er seine Jacke im anderen Auto vergessen hatte, und änderte seine Meinung in buchstäblich letzter Sekunde. Wenn er das nicht getan hätte, hätte er auf dem Beifahrersitz gesessen – und wäre höchstwahrscheinlich tot.

Ich weiß noch, wie ich aus dem Auto stieg und erstaunt war, dass ich noch laufen konnte. Meine Freunde und ich wechselten ein paar ungläubige Worte, als wir versuchten, zu begreifen, was passiert war. Was sollten wir der Polizei sagen? Meinen Eltern?

Während wir auf das Eintreffen der Polizei warteten, setzte ich mich schwindelig und erschöpft zurück hinter das Steuer. Der Polizeibeamte, der am Unfallort eintraf und das Wrack begutachtete, war verblüfft, dass ich noch lebte und abgesehen von einem leichten Schleudertrauma so gut wie keine Verletzungen aufwies.

In dieser Nacht schlenderte ich durch die Stadt, in einem seltsam süß-bitterlichen Zustand und wollte nicht nach Hause gehen. Ich hatte überlebt, aber es peinigte mich: Wenn ich gestorben wäre, hätte ich meiner Familie das Leben zur Hölle gemacht? Wäre mein Freund mit mir gefahren, hätte ich ihn jetzt auf dem Gewissen? Wie um alles in der Welt hatte das passieren können? Wie um Himmels willen hatte ich das zulassen können?

Der Unfall half mir in der Folge, mein Leben umzukrempeln, und gab mir eine neue Richtung. Ich bewarb mich bei Dutzenden von Universitäten (angesichts meiner miserablen schulischen Leistungen erhielt ich bei mehr als 40 Bewerbungen lediglich vier Zusagen). Ich begann, meine Energie in mein Studium, meine sozialen Beziehungen und meine Arbeit zu stecken. Ich fing an, bei Projekten mitzuarbeiten, die Menschen ein sinnvolles Leben zu ermöglichen hofften.

Diese Projekte waren oft selbst das Ergebnis von zufälligen Begegnungen. Je aktiver ich wurde, desto mehr erkannte ich die Muster in meinem eigenen Leben, im Leben anderer Menschen, und später auch in meiner Forschung.

Im Jahr 2009 begann ich meine Promotion an der LSE. Der Fokus meiner Forschung lag auf der Frage, wie Individuen und Organisationen ihre soziale Wirkung steigern können. Zu meiner Freude (und Überraschung!) tauchte die Idee des Erfolgsfaktors Zufall immer wieder auf. Viele der erfolgreichsten und glücklichsten Menschen, die ich für meine Forschung befragte, schienen intuitiv ein Kraftfeld – ein »Serendipitätsfeld« – zu kultivieren, das ihnen ermöglichte, positivere Lebensergebnisse zu erzielen als andere, die unter den gleichen Bedingungen begannen.

Heute macht mich nichts glücklicher, als den Funken zu sehen, der überspringt, wenn zwei Ideen oder Personen unerwartet »Klick« machen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es eine wunderbare Möglichkeit ist, Menschen dabei zu unterstützen, ihr wahres Potenzial zu entfalten und zu erkunden, was in einer Welt möglich ist, in der wir viele verschiedene Lebensentwürfe verfolgen könnten. Darum geht es bei der Kultivierung von Serendipität: Menschen auf ihrem Weg zu unterstützen, ihr Potenzial bestmöglich zu erschließen.

Beim Serendipitätsdenken geht es darum, zu erkennen, dass wir uns für das Unerwartete öffnen können. Und es geht darum, vorbereitet und frei von Vorurteilen zu sein, die bedingen, dass wir Opfer oder Nutznießer von Zufällen (ob gut oder schlecht) sind. Wir können dieses Mindset nähren, formen und zu einem Werkzeug der Lebensgestaltung machen. Ja, wir können das Glück sogar einfangen und in unserem Sinne beeinflussen.5 Das bedeutet, dass wir unser Lernen, unsere Fähigkeiten und unsere Aus- und Weiterbildungsprogramme darauf ausrichten können, diesen Prozess zu beeinflussen und zu meistern.

Es geht darum, von einem passiven Empfänger zu einem aktiven Gestalter unseres eigenen Glücks zu werden – darum, uns darauf einzustellen, unerwartete Veränderungen als Möglichkeit für Erfolge zu nutzen und Sinn und Freude darin zu finden. Der nächste Schritt besteht darin, in unseren Familien, Communitys und Organisationen Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, den Erfolgsfaktor Zufall zu fördern und anzuwenden, um neue Möglichkeiten und Wertschöpfung zu schaffen.

Dieses Buch führt Sie Schritt für Schritt durch den Prozess des Entschlüsselns, Erschaffens und Kultivierens des Erfolgsfaktors Zufall. Es geht um das, was wir kontrollieren können, also darum, wie wir Zufälle für uns und andere nutzen können. Dieser effektive Ansatz zur Freisetzung menschlichen Potenzials beinhaltet nicht nur, dass (aktives) Glück die Vorbereiteten begünstigt, sondern auch, dass es (wissenschaftlich untermauerte) Wege gibt, wie wir Serendipität in unserem Leben beschleunigen, fördern und nutzen können. Wir können die Bedeutung des Unerwarteten im Leben oder im Beruf niemals abschaffen, aber dieses Buch wird Ihnen helfen, diese von unkontrollierbaren Kräften, die unsere Pläne in Gefahr bringen, in Werkzeuge zu verwandeln, die Sie für Ihr persönliches oder das Gemein-Wohl einsetzen können.

Natürlich haben wir alle viel zu tun, und nur wenige von uns haben die Zeit, ihr Leben von einem auf den anderen Tag komplett zu ändern. Deshalb ist das Buch gespickt mit Beispielen für kleine zielgerichtete Anpassungen, die sich direkt auf Ihren Alltag auswirken und Ihnen helfen, ein sinnerfüllteres, freudigeres und erfolgreicheres Leben zu führen.

Anmerkungen

1 Denrell et al., 2003; Dunbar und Fugelsang, 2005.

2 Burt, 2004; de Rond und Morley, 2010. Serendipität wird entweder als eine Eigenschaft oder als ein Prozess verstanden (McCay-Peet und Toms, 2018). Bei der Serendipität geht es darum, »Paare« von Beobachtungen zu sehen, die möglicherweise nichts gemeinsam haben, außer dass sie in einem sinnvollen Zusammenhang stehen, sodass Definitionen, die sie als reines »pures Glück« bezeichnen, unzutreffend erscheinen (de Rond, 2014). Die Beobachtung ist zufällig, aber es ist die Reaktion darauf, die Klugheit des Beobachters, die aus dem Zufall die Serendipität entstehen lässt.

3 De Rond und Morley, 2010; Gyori, Gyori und Kazakova, 2019.

4 Ich wendete eine systematische Literaturanalyse an, die auf Suchbegriffen wie »Serendipität«, »Zufall«, »Koinzidenz«, »Glück« und »Exaptation« basierte, und nutzte einen Schneeballsystem-Ansatz, um Arbeiten aus anderen Bereichen zu integrieren (Flick, 2009). Von den über 900 Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen konzentrierte ich mich auf diejenigen, die einen sinnvollen Bezug zu haben schienen, und ergänzte sie durch Beobachtungen, Archivinformationen und Interviews. In den Interviews und Beobachtungen suchte ich nach sich abzeichnenden Mustern und fasste die gewonnenen Erkenntnisse zu Themen zusammen (siehe Flick, 2009; Yin, 2003). Das Buch integriert eine Reihe meiner Forschungsprojekte und neueren Arbeiten und Studien, darunter Erkenntnisse aus einer Leaders-on-Purpose-Studie, in der ich zusammen mit meinen Kolleginnen Christa Gyori, Leith Sharp, Maya Brahman und Tatjana Kazakova über dreißig der »CEOs des Jahres« der Harvard Business Review interviewt habe, darunter von Unternehmen wie BMW, Haier, MasterCard, PayPal und Philips (siehe auch Busch, 2019; Busch, 2022; Gyori et al., 2018). Ich folgte in allen Projekten einer ähnlichen Kodierungslogik, um zugrunde liegende Muster zu erkennen. Ich ergänzte diese verschiedenen Datenerhebungsmethoden mit meinen eigenen Erfahrungen aus fünfzehn Jahren der Kultivierung von Serendipität sowie mit Gesprächen mit inspirierenden Menschen auf der ganzen Welt. Eine aktuelle Literaturanalyse mit einem Fokus auf Serendipität ist auch in Busch (2022) verfügbar.

5 Brown, 2005; de Rond, 2014; Napier und Vuong, 2013.

1 MEHR ALS NUR PURER ZUFALL

»So demütigend diese Erkenntnis für den menschlichen Stolz auch sein mag, so müssen wir doch erkennen, dass wir den Fortschritt und sogar die Erhaltung der Zivilisation einem Maximum an Zufällen zu verdanken haben.«

Friedrich Hayek, Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 1974

Eine kurze Geschichte der Serendipität

Als König Giaffer, Herrscher des antiken Landes Serendip (ein altpersischer Name für Sri Lanka), sich Sorgen machte, dass seine drei Söhne zu behütet, privilegiert und unvorbereitet für die Herausforderungen des Herrschens im Königreich waren, beschloss er, sie auf eine Reise zu schicken, auf der sie einige wichtige Lektionen für das Leben lernen sollten.

Eines Tages trafen die Prinzen einen Händler, der ein Kamel verloren hatte. Aufgrund von Beobachtungen, die sie während der Reise gemacht hatten, beschrieben sie das Kamel so genau, dass der Händler glaubte, sie müssten es gestohlen haben. Der Händler führte sie daraufhin zum lokalen Herrscher, der sie fragte, wie sie das Kamel so genau beschreiben könnten, wenn sie es nie gesehen hätten. Sie erklärten, dass sie wüssten, dass das Kamel lahmte, weil sie die Abdrücke von drei Füßen und eines vierten Fußes, der hinterhergeschleift wurde, gesehen hatten. Und dass sie wüssten, dass es auf der einen Seite Butter und auf der anderen Seite Honig trug, weil Fliegen von der Butter und Ameisen vom Honig angezogen worden wären. Der Verdacht, dass die Prinzen das Kamel gestohlen haben könnten – weil sie es detailliert beschreiben konnten – wurde schließlich entkräftet, als ein anderer Reisender bestätigte, er habe ein solches Kamel gefunden.

Als sie ihre Beobachtungen machten, wussten die Prinzen noch nicht, dass ein lahmes Kamel mit Honig im Gepäck vermisst wurde. Aber als sie erfuhren, dass dies der Fall war, brachten sie diese Information mit dem in Verbindung, was sie zuvor beobachtet hatten. Sie stellten eine Verbindung her – sie »verknüpften die Punkte«.

Im Jahr 1754 schrieb der britische Schriftsteller und Politiker Horace Walpole an einen Freund über eine unerwartete Entdeckung, die er mit der Geschichte der drei Prinzen verglich. Indem er dies tat, prägte er das Wort »Serendipity« und beschrieb die Prinzen als Menschen, die »immer wieder durch Zufall und Scharfsinn Entdeckungen machten, nach denen sie nicht gesucht hatten«. Auf diese Weise fand das Wort Eingang in die Sprache, und obwohl es von vielen auf die Bedeutung »Glück« reduziert wurde, ist es klar, dass Walpole seine subtilere Bedeutung erkannt hatte.

Es gibt auch andere Definitionen von Serendipität, aber die meisten verstehen das Phänomen als das Zusammenkommen von Zufall und menschlichem Handeln, das zu einem (in der Regel positiven) Ergebnis führt – das ist die Definition, die ich hier anwende.1 Diese handlungsorientierte Perspektive ermöglicht es, uns zu verstehen, wie wir einen Entdeckungsraum entwickeln können, in dem Serendipität passieren kann.

Bei der Serendipität geht es darum, zu sehen, was andere nicht sehen, zufällige Beobachtungen bewusst wahrzunehmen und sie in Möglichkeiten zu verwandeln. Es erfordert eine gewisse Anstrengung – diese Momente, in denen scheinbar unzusammenhängende Ideen oder Ereignisse vor einem zusammenkommen und ein neues Muster bilden, herbeizuführen und zu nutzen. Einfacher ausgedrückt: Es geht darum, »die Punkte zu verbinden« (»to connect the dots«).

Von Vulkanen zu Weltmeistern

An einem sonnigen Samstag im April 2010 gelangte ein Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull in die Schlagzeilen, nachdem eine Aschewolke Tausende von Flügen in Europa storniert hatte. Am selben Morgen tauchte eine unbekannte Nummer auf meinem Handy auf. In der Leitung war ein Fremder, der selbstbewusst zu sprechen begann: »Hallo, Christian. Wir kennen uns noch nicht, aber ein gemeinsamer Freund hat mir deine Nummer gegeben. Ich würde dich gerne um einen Gefallen bitten.« »Erzähl mir mehr«, antwortete ich.

So trat Nathaniel Whittemore, ein Unternehmer und Blogger, in mein Leben. Nathaniel erklärte mir, dass sein Flug von London nach Südkalifornien gerade gestrichen worden war und er in London festsaß, zusammen mit vielen Teilnehmern des Skoll World Forum, einer großen jährlichen Konferenz für Sozialunternehmer und Vordenker an der Universität Oxford. Die meisten von ihnen kannten nicht viele Leute in London und hatten für das Wochenende einen leeren Terminkalender. »Warum also nicht eine Veranstaltung organisieren, um sie alle zusammenzubringen und das Beste aus der Situation zu machen?«, fragte Nathaniel. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits eine E-Mail an das TED-Team geschrieben.

Innerhalb von 36 Stunden organisierte Nathaniel die Konferenz TEDxVolcano, eine spontane Version der beliebten TED-Konferenz. Ohne Budget, an einem Wochenende und mit geringer Vernetzung in London verwandelte Nathaniel eine schwierige Situation in eine Veranstaltung mit 200 Teilnehmern, Hunderten auf der Warteliste, spannenden Rednern, wie dem ersten Präsidenten von eBay, Jeff Skoll, und einem aufgezeichneten Livestream, der von mehr als 10 000 Menschen verfolgt wurde.

Das erstaunte mich, und die beiden Fragen, die sich mir stellten, waren: 1. Wie hat er das hinbekommen? und 2. Was können wir daraus lernen?

Nathaniel war, wie wir alle, auf etwas Zufälliges und Unerwartetes gestoßen – in diesem Fall einen unvorhergesehenen längeren Aufenthalt in London. Aber er hatte den Scharfsinn, die Wahrnehmungsfähigkeit, die Kreativität und die Energie, um daraus etwas Positives zu machen. Viele von uns hätten den potenziellen Serendipitätsauslöser in einer solchen Situation vielleicht nicht erkannt. Nathaniel erkannte nicht nur, dass außergewöhnliche Menschen in London festsaßen, sondern auch, dass ihre Erfahrungen großartige Geschichten sein könnten, die man im Rahmen von TED erzählen könnte. Er überzeugte eine Co-Working-Location, einen Raum für die Veranstaltung zur Verfügung zu stellen, nutzte Sandbox (die von mir mitbegründete Innovationscommunity) um Freiwillige zu rekrutieren, und gewann Spitzenleute, wie den ehemaligen Geschäftsführer von Google.org (Googles karitativem Arm), Larry Brilliant, für Kurzvorträge.

Nathaniels Fähigkeit, die Punkte miteinander zu verbinden, führte innerhalb von eineinhalb Tagen zu einer Veranstaltung von Weltrang – ohne Budget, und das in einer Stadt, in der er kaum Leute kannte. Diese Zusammenfassung ist nur die Hälfte der Geschichte, auf die ich später in diesem Buch zurückkommen werde, aber der wichtige Punkt ist, dass solche Sachen häufiger vorkommen, als uns bewusst ist.

Ein anderes Beispiel ist Nico Rose, ein deutscher Organisationspsychologe, der 2018 auf einer Geschäftsreise war, als er im Fitnessstudio eines Bostoner Hotels auf den ehemaligen Schwergewichtsweltmeister (und derzeitigen Bürgermeister von Kiew) Wladimir Klitschko traf. Obwohl er das Fitnessstudio nur aufgesucht hatte, um den Jetlag zu bekämpfen, erkannte ein müder und verwirrter Nico gleichwohl Klitschko, eines seiner Idole. Er eilte zurück in sein Zimmer, um sein Handy zu holen und Klitschko um ein Selfie zu bitten, ohne dessen Trainingsprogramm zu unterbrechen.

Der ideale Moment kam, als Klitschkos Manager das Fitnessstudio betrat und ihn auf Deutsch ansprach. Nico erfuhr, dass die beiden nicht wussten, wo genau im Hotel das Frühstück serviert wurde. Er nutzte die Gelegenheit, um ihnen den Weg dorthin zu erklären, machte ein Selfie mit ihnen, und jeder setzte selbständig sein Training fort. Als sie fertig waren, konnte Klitschko den Aufzug nicht finden, sodass Nico ihn begleitete und sie sich weiter unterhielten. Schließlich fragte Klitschko Nico, ob er an der Universität, an der Nico beschäftigt war, einen Gastvortrag halten könnte. Nico wiederum erzählte ihm von seinem Buchprojekt, für das Klitschko letztlich das Vorwort schrieb.

Hatte Nathaniel erwartet, auf eine Aschewolke zu treffen? Hatte Nico erwartet, auf sein Idol zu treffen? Hatten sie damit gerechnet, ein globales Event in London zu organisieren oder in einer Hotelhalle in Boston einen der weltbesten Sportler als Autor für das Vorwort seines Buches zu finden? Sicherlich nicht – aber beide hatten den Grundstein für ein derartiges Ereignis weit im Voraus gelegt.

Ist Erfolg wirklich eine Frage des Glücks?

Vieles im Leben macht nur Sinn, wenn man Ereignisse rückblickend betrachtet und sie im Nachhinein miteinander verbindet. Wenn wir das tun, verwandeln wir oft zufällige Lebensentscheidungen und Zufallsereignisse in eine überzeugende und logische Dramaturgie, die wir anderen erzählen.

Wer von uns hat nicht schon mal seinen Lebenslauf so präsentiert, als sei sein oder ihr Leben ein schlüssiger, durchdachter Plan gewesen? In Wahrheit hatten wir vielleicht keinen klaren Plan für unsere Karriere. Die Realität war oft durch Zufälle und Zufälligkeiten geprägt, durch eine unerwartete Idee, eine Begegnung oder ein Gespräch.

Was aber, wenn wir lernen könnten, Punkte nicht nur im Nachhinein, sondern auch im Voraus zu verbinden? Was wäre, wenn wir den Boden bereiten könnten, um Zufälle zu nutzen und ein Feld zu schaffen, auf dem sie keimen und gedeihen können? Was wäre, wenn wir wüssten, wie wir sie fördern und kultivieren können? Und vor allem, was wäre, wenn wir dafür sorgen könnten, dass sie zu besseren Ergebnissen führen?

Nur wenige von uns können ein Erdbeben oder ein Treffen mit einem Superstar herbeiführen – aber wir können Ergebnisse (mit-)gestalten, indem wir uns auf das Unerwartete einstellen und es nutzen.

Was wir oft nicht erkennen, ist, dass erfolgreiche Menschen nicht nur »blindes Glück« hatten, selbst wenn es scheint, dass ein zufälliges Ereignis eine wichtige Rolle bei ihren Erfolgen gespielt hat. Vielmehr haben erfolgreiche Menschen bewusst oder unbewusst die notwendige Vorarbeit geleistet, um die Bedingungen für Glücksfälle zu schaffen.

Nicht nur die Richard Bransons, Oprah Winfreys, Bill Gates’ und Arianna Huffingtons dieser Welt haben Glück und können ein ebenso glückliches Umfeld für andere schaffen – jeder von uns kann den Erfolgsfaktor Zufall für sich selbst und für andere nutzen.

Serendipität ist allgegenwärtig

Erfindungen, wie Nylon, Klettverschlüsse, Viagra, Post-its, Röntgenstrahlen, Penicillin und Mikrowellenherde, haben alle mit Serendipität zu tun. Präsidenten, Superstars, Professoren, Geschäftsleute – darunter viele der weltweit führenden CEOs – schreiben einen großen Teil ihres Erfolgs der Serendipität zu.

Aber diese ist nicht nur eine treibende Kraft bei großen wissenschaftlichen Entdeckungen, wirtschaftlichen Erfolgen oder diplomatischen Durchbrüchen. Sie ist auch in unserem täglichen Leben präsent, in den kleinsten Momenten und den größten lebensverändernden Ereignissen.

Stellen Sie sich vor, Ihre Nachbarin mietet ein Gerüst, um einige überhängende Äste in ihrem Garten abzuschneiden. Sie sehen sie bei der Arbeit und erinnern sich plötzlich an den losen Ziegel auf Ihrem Dach. Es ist nichts Ernstes, also wollten Sie sich nicht die Mühe machen, es zu reparieren, aber hey …

Sie gehen nach draußen, kommen mit ihr ins Gespräch und helfen ihr, die Äste wegzuschleppen. Sie laden sie auf ein Bier ein und steigen danach auf das Gerüst, um die losen Ziegel zu reparieren (natürlich, bevor Sie das Bier getrunken haben). Außerdem stellen Sie fest, dass die Dachrinne lose ist und herunterzufallen droht. Sie wissen jetzt, dass Sie einen Fachmann mit der Reparatur beauftragen müssen.

Vielleicht waren Sie selbst kürzlich in einer ähnlichen Situation? So etwas passiert immer wieder. Ein zufälliges Ereignis taucht in unserem Leben auf, wir bemerken es, schenken ihm Aufmerksamkeit und verknüpfen es mit einem anderen Sachverhalt, der uns ebenfalls bewusst ist. Wir stellen eine Verbindung zwischen beiden her und gehen dann entschlossen weiter, was zu einer Lösung für ein Problem führt, von dem wir nicht einmal wussten, dass wir es haben.

Man könnte womöglich behaupten, dass auch die Liebe ein Kind der Serendipität ist. Ich habe fast alle meine Freundinnen in Cafés oder auf Flughäfen kennengelernt, oft wegen eines verschütteten Kaffees oder eines Laptops, auf den man aufpassen musste, was ein Gespräch zur Folge hatte, das gemeinsame Interessen ans Licht brachte. Viele der berühmtesten Liebesgeschichten – darunter die von Michelle und Barack Obama, die sich kennenlernten, als der junge Barack verspätet in Michelles Anwaltskanzlei kam und ihr als Mentee zugeteilt wurde – hatten einen unerwarteten Verlauf. (Und wie wir später sehen werden, ist Ausdauer oft entscheidend, um potenzielle Serendipität in ein positives Ergebnis zu verwandeln: Als Michelle zunächst von Barack Abstand hielt, indem sie ihm zu verstehen gab, dass sie als seine Mentorin nicht mit ihm ausgehen könne, deutete er an, dass er bereit sei, zu kündigen – es gab ein Hin und Her – der Rest ist Geschichte.)

Wenn Sie in einer Beziehung sind, wie haben Sie Ihren/Ihre Partner/in kennengelernt? Selbst wenn Sie sie/ihn »zufällig« kennen gelernt haben, war es wahrscheinlich nicht nur bloßer Zufall. Das würde ja bedeuten, dass Sie überhaupt keinen Anteil daran hätten. Es mag eine zufällige Begegnung gewesen sein, aber Sie haben weiter daran gearbeitet. Sie haben Wege gefunden, wie Sie sich gegenseitig ergänzen und inspirieren können. Sie haben ein zufälliges Ereignis genutzt, die Chance beim Schopf gepackt und daraus etwas gemacht. Das war nicht nur purer Zufall. Es war der Erfolgsfaktor Zufall.

Arten der Serendipität

Jeder Fall von Serendipität ist einzigartig, aber die Forschung hat drei Haupttypen herausgearbeitet.2 Bei allen dreien gibt es einen anfänglichen Auslöser (etwas Unerwartetes), aber sie unterscheiden sich je nach der ursprünglichen Absicht und dem Ergebnis. Dabei geht es um zwei grundlegende Fragen:

Haben Sie bereits nach etwas gesucht?

und

Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben, oder haben Sie etwas völlig Unerwartetes entdeckt?

Was sind nun diese drei Arten von Serendipität?

Archimedes-Serendipität: ein unerwarteter Weg zur Lösung des Problems, das wir lösen wollten

Dieser Typus tritt auf, wenn ein bekanntes Problem oder eine bekannte Herausforderung (etwa eine beschädigte Badewanne oder der Versuch, einen Traumjob zu bekommen) gelöst wird, die Lösung aber von unerwarteter Seite kommt. Nehmen wir die Geschichte, in der König Hiero II. von Syrakus den griechischen Mathematiker Archimedes bittet, herauszufinden, ob ein Goldschmied einen Teil des Goldes für die Krone des Königs durch Silber ersetzt hat. Die Krone hat das richtige Gewicht, aber wie kann man feststellen, ob sie aus reinem Gold ist?

Da er keine Lösung für das Problem findet, begibt sich der ratlose Archimedes in ein öffentliches Bad, um zu entspannen und beobachtet gedankenlos, wie der Wasserspiegel steigt und sich über den Rand ergießt, während er ins Becken steigt. Und dann – Heureka! – stellt er fest, dass eine Krone, die mit Silber vermischt ist, das leichter als Gold ist, voluminöser sein müsste, um das gleiche Gewicht zu haben. Daher würde sie, wenn sie ins Wasser getaucht wird, mehr Wasser verdrängen als eine reine Goldkrone mit demselben Gewicht.

Bingo, diese Art von Serendipität ist sowohl in unserem persönlichen Leben als auch in Unternehmen jeder Größe üblich. Für Unternehmer ist es vielfach selbstverständlich, ihren Kurs aufgrund von Zufallsbegegnungen oder unerwarteten Feedback-Prozessen zu ändern.

David Taylor, CEO des Konsumgüterunternehmens Procter & Gamble, sagte mir in einem Interview, dass er es mag, wenn sich unerwartet ein Ansatz ändert, weil sich dadurch Möglichkeiten eröffnen, die sein Team vorher oft nicht gesehen hat. In seinen Worten: »Es löst immer noch das Problem, das wir lösen wollten, aber es tut es auf eine andere Weise, als wir es uns vorgestellt haben. Man kann nicht alles planen, aber man muss eine Vorstellung davon haben, was man zu lösen versuchen will. Darin liegt ein Zauber, und der entsteht oft, wenn man Zugang zu unterschiedlichen Erfahrungen hat, zu Menschen, die sich in das Problem verlieben und offen für das Unerwartete sind.«

Einer der ersten Zufallsaktivisten, denen wir in diesem Buch begegnen, ist Waqas Baggia. Er arbeitet heute als Verkaufsberater bei Mercedes-Benz Canada. Der gebürtige Kanadier war mit seiner Frau in jungen Jahren nach Großbritannien gezogen und später wieder zurück nach Toronto. Dort arbeitete er im Einzelhandel. Mit der Zeit hatte er sich bei verschiedenen Unternehmen beworben und ein halbes Dutzend Vorstellungsgespräche absolviert, wobei er es nie in die Endauswahl geschafft hatte. Seine Freunde fragten ihn immer wieder, warum er so hart arbeitete. Sein Prinzip sei, antwortete er, dass er alles, was er tat, mit ganzem Herzen tat.

Eines Tages half er wie üblich einem Kunden mit großem Enthusiasmus. Beeindruckt erkundigte sich der Kunde nach seinem Werdegang, und Waqas erzählte ihm, dass er diesen Job nur tue, bis er eine Stelle im Verkauf von Luxusautos gefunden habe. Der Kunde war zufällig der Geschäftsführer eines Mercedes-Benz-Autohauses und bot Waqas sofort ein Vorstellungsgespräch an. Waqas wurde daraufhin der erste Verkaufsberater ohne Erfahrung im Kfz-Verkauf, den das Autohaus einstellte.

Post-it-Zettel-Serendipität: Eine unerwartete Lösung für ein anderes Problem als das, welches Sie lösen wollten

Die sogenannte Post-it-Zettel-Serendipität tritt ein, wenn Sie sich mit einem bestimmten Problem befassen und dabei auf eine Lösung für ein völlig anderes oder sogar bisher unerkanntes Problem stoßen. Ihre Reise geht dann in eine völlig andere Richtung, führt Sie aber dennoch an ein erfreuliches Ziel. Haben Sie sich jemals gefragt, wer auf die Idee mit den Post-its gekommen ist? In den späten 1970er-Jahren versuchte Spencer Silver, ein Forscher des Konsumgüterunternehmens 3M, einen stärkeren Klebstoff zu finden. Das Ergebnis war eine Substanz, die nicht besonders gut klebte. Aber dieser schwache Klebstoff war perfekt für eine neue Produktlinie, die 3M »Post-it-Zettel« nannte.3

Ein weiteres Beispiel stammt von dem niederländischen Nahrungsmittel- und Chemiekonzern DSM, der Schwierigkeiten hatte, eine Beschichtung für Bilderrahmenglas zu verkaufen, die das Licht durch das Glas lässt und so verhindert, dass es reflektiert wird. Das Produkt funktionierte gut, aber das Unternehmen konnte keinen Markt dafür finden. Der Projektleiter war kurz davor, die Idee aufzugeben, als er durch ein zufälliges Gespräch mit einem Kollegen aus einer anderen Abteilung auf die Idee kam, dass die Technologie für Solarpaneele, die so viel Licht wie möglich absorbieren müssen, sehr wirkungsvoll sein könnte. Diese unerwartete Lösung für ein anderes Problem als das ursprünglich gedachte, brachte den Geschäftsbereich Solar bei DSM in Schwung. Wir werden später sehen, warum Feike Sijbesma, der Vorstandsvorsitzende von DSM, Recht hatte, als er sagte: »Jemand anderes wird sagen: ›Das ist pures Glück.‹ Aber das ist Serendipität.«

In unserer Offenheit für unerwartete Lösungen landen wir oft an Orten, die wir kaum vorhersehen konnten. Peter Agnefjall, von 2012 bis 2017 CEO von IKEA, erzählte meinem Forschungsteam in einem Interview, dass er uns ausgelacht hätte, wenn wir ihm vor fünf Jahren gesagt hätten, dass IKEA Windpark- und Solaranlagen besitzen würde. »Aber wenn ich zurückblicke, ist es das, was wir jetzt tun!«

Blitzschlagserendipität: eine Lösung für ein unerwartetes oder unerfülltes Problem

Die Blitzschlagserendipität tritt ein, wenn kein bewusster Problemlösungsprozess im Gange ist. Sie folgt auf etwas völlig Unerwartetes, wie ein Blitz am Himmel, und eröffnet eine neue Möglichkeit oder löst ein zuvor unbekanntes oder ungelöstes Problem. Wir verlieben uns oft auf diese Weise, und viele neue Ideen und Ansätze entstehen aus dieser Art von Serendipität.

Sofar Sounds, eine globale Bewegung zur Neugestaltung von Live-Musikveranstaltungen, ist ein gutes Beispiel. Als Rafe Offer, Rocky Start und Dave Alexander auf dem Konzert der Indie-Rock-Band Friendly Fires waren, ärgerten sie sich über Konzertbesucher um sie herum, die laut palaverten. Mit der Erkenntnis, dass die Zeiten, in denen sich Konzertbesucher ausschließlich auf die Musik konzentrierten, längst vorbei waren, beschlossen sie im Jahr 2009, einen privaten Auftritt in Rockys Wohnzimmer im Norden Londons zu organisieren, bei dem Dave seine Songs vor einem kleinen, handverlesenen Publikum vortrug.

Sie wiederholten das Wohnzimmererlebnis in anderen Teilen Londons sowie in Paris, New York und anderen Städten und erhielten Anfragen von Menschen aus aller Welt, die ähnliche Veranstaltungen durchführen wollten. Sofar Sounds (ein Akronym für »Songs from a Room«) war geboren. Seitdem hat Sofar Sounds Tausende von privaten Konzerten in Wohnungen in mehr als 400 Städten auf der ganzen Welt veranstaltet und ist dabei Partnerschaften, etwa mit Airbnb und der Virgin Group, eingegangen.

Aber nicht alles passt in eine Kategorie

Jeder Versuch, Serendipität zu kategorisieren, wird etwas subjektiv sein, und einige Beispiele werden Elemente von einer oder mehrerer der drei oben beschriebenen Arten kombinieren. Obwohl der Kern konstant ist – die Verbindung zwischen unerwarteten oder scheinbar nicht zusammenhängenden Ereignissen oder Fakten –, entziehen sich viele Geschichten solchen Kategorisierungsbemühungen.

Ein solches Beispiel, das die Welt zum Besseren veränderte, war die Entdeckung von Penicillin durch Alexander Fleming. Dieser forschte an dem Bakterium Staphylokokkus, das in verschiedenen Formen eine Vielzahl von Infektionen beim Menschen verursachen kann, von denen einige tödlich verlaufen können. Eines Morgens im Jahr 1928 kehrte er in sein Labor im Keller des St. Mary’s Hospital in London zurück und stellte fest, dass eine seiner Petrischalen, die Proben der Bakterien enthielt, unbedeckt auf einer Fensterbank gestanden hatte. Doch etwas Unerwartetes war geschehen: In der Schale wuchs ein blaugrüner Schimmel. Noch merkwürdiger war, dass in dem Raum um den Schimmel herum die ursprünglich dort vorhandenen Staphylokokken-Bakterien verschwunden waren.

Der Schimmelpilz war Penicillium chrysogenum. So wurde Penicillin als ein Mittel entdeckt, das bestimmte Bakterien abtötet. Aus dieser Entdeckung entwickelten sich die Antibiotika, die Millionen von Menschenleben gerettet haben (übrigens wurde der Schimmelpilz, der eine dramatische Steigerung der Penicillin-Produktion ermöglichte, von Mary Hub entdeckt, einer Laborantin am Northern Regional Research Laboratory in den USA, die zufällig auf einen »goldenen Schimmelpilz« gestoßen war, der dutzendfach mehr Penicillin lieferte als der von Fleming).

Die wichtigsten Merkmale der Serendipität finden sich in dieser Geschichte wieder.4 Eine zufällige Kontamination führte zu einem Schimmelpilz, der sich als lebensrettendes Medikament entpuppte. Aber um welche Art von Serendipität handelt es sich? Die Antwort hängt davon ab, was wir glauben, was Fleming erreichen wollte. Auf jeden Fall begann es mit einem Auslöser (der versehentlichen Kontamination einer Petrischale), aber der entscheidende Moment war Flemings Reaktion. Anstatt seine eigene Schlampigkeit dafür zu verfluchen, dass er die Schale hatte offen herumstehen lassen – und anstatt sie in den Müll zu werfen –, war er neugierig. Er zeigte die Schale seinen Kollegen und führte weitere Untersuchungen durch. Andere folgten über viele Jahre hinweg – und so begann der lange Prozess, der aus einem »Unfall« eine lebensverändernde Medizin machte.

Auch wenn Penicillin zufällig entdeckt wurde, wäre es falsch, die Entdeckung Flemings als »reinen Glücksfall« abzutun und zu behaupten, dass menschliches Handeln bei diesem Durchbruch keine Rolle spielte. Entscheidend ist, dass Fleming die wichtige Entscheidung traf, eine Verbindung herzustellen (»die Punkte zu verbinden«) – was als »Assoziation« bekannt ist. Es mag Jahre gedauert haben, bis er diese Entscheidung traf, aber hätte Fleming nicht das Mindset gehabt, um diese Verbindung herzustellen, wäre der grüne Schimmelpilz, der seine Petrischale verunreinigt hatte, nur ein weiteres vergessenes Missgeschick im Labor geblieben. Tatsächlich war der Antagonismus zwischen Schimmelpilzen und Keimen schon Jahrzehnte zuvor beobachtet worden, aber niemand hatte ihm die nötige Aufmerksamkeit geschenkt.5

Das Unerwartete nutzen

Serendipität ist nicht einfach etwas, das uns passiv widerfährt, sondern ein Prozess mit verschiedenen Merkmalen, und jedes dieser Merkmale kann in unserem Leben gefördert werden. Um den Prozess wirklich zu verstehen und ihn nicht als eine äußere Kraft, sondern als ein magisches, aber auch effektives Werkzeug zu sehen, müssen wir noch genauer hinsehen.

Um dies zu tun, können wir auf der Grundlage bestehender Forschung drei miteinander verbundene Kerneigenschaften differenzieren: 6

1.Ein Mensch begegnet etwas Unerwartetem oder Ungewöhnlichem – sei es ein physikalisches Phänomen, etwas, das im Gespräch auftaucht, oder etwas anderes. Es gibt unzählige Möglichkeiten. Dies ist der »Auslöser«.

2.Die Person verknüpft diesen Auslöser mit etwas, das zuvor keinen Bezug hatte. Sie »verknüpft die Punkte« – stellt eine Verbindung her – und erkennt so den potenziellen Wert dieses scheinbar zufälligen Ereignisses. Diese Verknüpfung zuvor nicht zusammenhängender Fakten oder Ereignisse wird als »Assoziation« bezeichnet.

3.Entscheidend ist, dass der realisierte Wert – die Erkenntnis, die Innovation, die neue Art, etwas zu tun, oder die neue Lösung für ein Problem – nicht das ist, was erwartet wurde, und nicht das, wonach jemand gesucht hat, zumindest nicht in der Form, in der es auftrat. Sie ist unerwartet.

Ein zufälliges Ereignis ist zwar wichtig, aber nur der Anfang. Man braucht zusätzlich eine Person, die in der Lage ist, diese Zufallsfunde zu verstehen und etwas mit ihnen zu machen. Das bedeutet, Ereignisse, Beobachtungen oder Informationsfragmente kreativ neu zu kombinieren, wenn man (unerwartet) eine sinnvolle Verbindung erkennt. Oftmals entsteht Mehrwert aus der Verbindung zweier völlig unverbundener Ideen, die zuvor als »einander fremd« angesehen wurden.7

Bei Serendipität geht es um die Fähigkeit, den Wert von unerwarteten Begegnungen und Informationen zu erkennen und zu nutzen.8 Sie kann in jedem Schritt erlernt und gefördert werden. Wir können ein Mindset dafür entwickeln – die Fähigkeit, diese mächtige Kraft zu erkennen, zu begreifen und zu nutzen.

Während eine bestimmte zufällige Begegnung ein Ereignis oder ein Event ist, ist Serendipität ein Prozess. Zufall ist wichtig, aber nur als erster Schritt. Der wesentliche zweite Schritt besteht darin, die unerwartete Beobachtung zu verstehen und anderweitig zu nutzen (das heißt, eine Assoziation vorzunehmen). Wir müssen Verbindungen oder Brücken sehen, wo andere Gräben sehen. Und oft braucht es Scharfsinn – die Fähigkeit, zu filtern und den Wert zu erkennen – und die Ausdauer, etwas Neues durchzuziehen.9

Wenn wir allerdings Auslöser oder Assoziationen nicht sehen, können wir die Chance im Zufall verpassen. Stellen Sie sich nur die Momente vor, in denen Serendipität möglicherweise hätte passieren können, wir aber zu blind waren, um sie zu sehen (oder sie vielleicht sogar gesehen haben, aber nicht gehandelt haben)! Vielleicht hatten Sie kürzlich eine Situation in Ihrem Leben, in der es nur eines kleinen Anstoßes bedurft hätte, um etwas zu tun, aber Sie haben es nicht getan – und hinterher hatten Sie das Gefühl, dass »etwas hätte passieren können«? Zum Beispiel eine unerwartete Idee, die Sie im Meeting nicht erwähnt haben, oder eine zufällige Kollision mit einer spannenden Person, die sie nicht angesprochen haben?

Wir können auch die Bedingungen für Serendipität beeinflussen, zum Beispiel durch die Umstrukturierung unserer Organisationen, Netzwerke und physischen Räume. Serendipitätsdenken in Verbindung mit förderlichen Bedingungen bereitet den fruchtbaren Boden für ein Serendipitätsfeld, das wir wachsen lassen und ernten können.

Die folgende Abbildung veranschaulicht den Prozess und das entstehende Serendipitätsfeld. (Bitte beachten Sie, dass es sich hierbei um eine Vereinfachung handelt; oft finden der Auslöser und die Verknüpfung der Punkte gleichzeitig statt, und es gibt Feedback-Prozesse – wie wir später sehen werden, können anfängliche Bedingungen das Auftreten von mehr (oder weniger) Serendipität verstärken.)10

Vom Zufall zur Serendipität

In meiner Arbeit höre ich oft Dinge wie: »Wow, was für ein Zufall, dass XYZ passiert ist!« Aber wenn man im Nachhinein die Punkte miteinander verbindet, wird klar, dass das nicht immer die ganze Wahrheit ist. Diese glücklichen Zufälle ereigneten sich, weil jemand (oder etwas) die Vorarbeit geleistet hat.

Wie wir gerade gesehen haben, ist Serendipität das Herzstück vieler wissenschaftlicher Studien, auch wenn Wissenschaft und Serendipität auf den ersten Blick nicht zusammenpassen mögen.

Nehmen wir zum Beispiel den Bereich der kombinatorischen Chemie, in dem die Wahrscheinlichkeit von glücklichen Zufällen im Mittelpunkt steht: Zehntausende von chemischen Verbindungen werden gleichzeitig hergestellt und dann im Hinblick auf wertvolle neue Anwendungen ausgewertet. Im Wesentlichen geht es bei der kombinatorischen Chemie darum, Tausende von Zufällen zu erzeugen und bereit zu sein, dass einer von ihnen eine bahnbrechende Möglichkeit darstellt. Die Chemiker, die neue Medikamente erkennen, sind gut darin, diese Experimente vorzubereiten, und indem sie die richtigen Ansätze und Personen einsetzen, machen sie es wahrscheinlicher, dass »zufällige positive Entdeckungen« gemacht werden – und dass sie, wenn sie geschehen, auch erkannt und genutzt werden. Definitionsgemäß können sie das genaue Ergebnis nicht kennen oder wissen, wann genau es passieren wird – aber sie können sich relativ sicher sein, dass etwas passieren wird.

Qualitative Forschungsmethoden wie die Grounded Theory suchen ebenfalls nach überraschenden oder unerwarteten Erkenntnissen.11 In dieser Hinsicht haben Forscher viel mit Sherlock Holmes gemeinsam.

Angesichts der politischen, sozialen und ökologischen Veränderungen, mit denen die Welt konfrontiert ist, bestimmt das Unerwartete einen Großteil unserer Zukunft. Unter anderem bedroht es das Überleben von Organisationen. Unternehmen wie der weltweit führende Hersteller von Haushaltsgeräten, Haier, gehen damit um, indem sie nach den Worten ihres ehemaligen CEO Zhang Ruimin »uns disruptieren, bevor wir disruptiert werden«. Das Unternehmen hat die Wertschätzung des Unerwarteten zum zentralen Prinzip der Organisation erhoben. Wer hätte gedacht, dass chinesische Bauern Haiers Waschmaschinen zum Reinigen ihrer Kartoffeln verwenden würden? 12

Dies spiegelt die Erfahrungen eines der weltweit führenden Finanzdienstleistungsunternehmen wider, dessen CEO mir seinen Ansatz schilderte: »Glaub nicht, dass dies alles ein Masterplan ist. Es geschah einfach auf dem Weg, und wir haben es ergriffen.« Er und sein Team gaben eine Vision, eine Kultur und Praktiken vor, die dazu beitrugen, einen Orientierungssinn zu vermitteln, und ließen den Rest entstehen, oft an unerwarteten Orten und auf unerwartete Weise. Sie halfen dabei, ein Serendipitätsfeld für die Menschen zu entwickeln, mit denen sie arbeiten.

In meiner Forschung darüber, was Menschen und Organisationen fit für die Zukunft macht, ist eine Erkenntnis immer wieder aufgetaucht: Viele der führenden Köpfe der Welt, oft unbewusst, haben die Fähigkeit entwickelt, mit dem Unerwarteten umzugehen. Für Tom Linebarger, CEO des Fortune-500-Unternehmens Cummins, ist die Kultivierung von Serendipität das Herzstück seines Tuns – er betrachtet sie als einen aktiven statt passiven Führungsansatz in Zeiten der Unsicherheit.

Einige werden sich fragen (und ich habe mich selbst gefragt): »Ist Serendipität noch Serendipität, wenn wir eine aktivere Rolle darin spielen?«

Die Antwort ist ein klares »Ja«, denn genau das ist der Unterschied zwischen Serendipität und einfachem, purem Glück. Serendipität zu kultivieren, bedeutet in erster Linie, die Welt mit offenen Augen zu betrachten und die Punkte zu verbinden. Es geht nicht nur darum, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und etwas geschehen zu lassen, sondern vielmehr um einen Prozess, an dem wir aktiv beteiligt sein können.

Also …

Serendipität ist »aktives« Glück, das von unserer Fähigkeit abhängt, die Punkte zu erkennen und zu verbinden. Die drei Arten von Serendipität, die wir oben diskutiert haben, basieren alle auf einem Auslöser. Die Entwicklung eines Serendipitätskonformen Denkens hilft uns, den Auslöser zu erkennen, die Punkte zu verbinden und die nötige Ausdauer zu entwickeln, um wertvolle Ergebnisse herbeizuführen.

Wir können auch die verschiedenen Ermöglicher und Hemmnisse beeinflussen, wie etwa in Communitys und Unternehmen. Im Zusammenspiel ermöglicht uns dies, das zu erschaffen, was ich ein Serendipitätsfeld nenne – all die Punkte, die wir selbst – oder andere – potenziell miteinander verbinden können – und potenziell etwas mit ihnen zu machen. So schaffen wir mehr Zufälle mit positiven Auswirkungen (»create meaningful accidents«) – und machen mehr Zufälle sinnvoll (»make accidents meaningful«). Aber womit können wir anfangen?

Anmerkungen

1 Siehe z. B. Busch (2022). In diesem systematisch Literaturüberblick identifiziere ich die drei Hauptcharakteristiken von Serendipität als »Überraschung«, »menschliches Handeln« und »positivem Ergebnis« (welches abstrakt sein kann). Diese Charakteristiken helfen, Serendipität von ähnlichen Konzepten wie reinem Glück oder geplanter Innovation zu unterscheiden. Siehe auch Merton und Barber, 2004. Der Serendipität-Forscher Pek van Andel (1984) nennt es »die Kunst, etwas Ungesuchtes zu finden«. Andere Definitionen beschreiben Serendipität als »Suche, die zu einer unbeabsichtigten Entdeckung führt« (Dew, 2009) oder als »die einzigartige und zufällige Mischung aus Einsicht und Zufall« (Fine und Deegan, 1996). Ich wende eine weit gefasste Definition von Serendipität an, die sich auf die ursprüngliche Definition stützt und sowohl Arten wie die anfängliche Suche nach etwas anderem als auch die Nicht-Suche (keine aktive Suche nach etwas Bestimmtem) einschließt (siehe Napier und Vuong, 2013). Zum ursprünglichen Briefwechsel von Horace Walpole siehe Lewis, 1965.

2 Abhängig von einer Reihe von Überlegungen (einschließlich möglicher »Pseudo-Serendipität«) unterscheidet die Forschung in der Regel drei bis fünf Formen. Die drei von mir erörterten Formen decken das gesamte Spektrum ab. Während einige Forscher zwischen »echter« und »unechter« Serendipität unterscheiden, haben andere (z. B. Dew, 2009) Aspekte wie die Suche vordefiniert (und sich damit implizit für bestimmte Typen entschieden). Ausgehend von der Annahme, dass der Wert unerwarteter Begegnungen in allen Formen und Ausprägungen auftritt, deckt dieses Buch alle Arten ab (siehe z. B. de Rond, 2014; Napier und Vuong, 2013; und Yaqub, 2018, für ausgezeichnete Diskussionen).

3 Natürlich ist die Reise der Serendipität nicht auf eine einzige zufällige Begegnung beschränkt, sondern umfasst oft eine Reihe von unerwarteten Ereignissen - hier konzentriere ich mich auf die wichtigsten Teile des Prozesses (der weiter dekonstruiert werden könnte).

4 Einige Forscher haben argumentiert, dass Beispiele wie das von Fleming »pseudo-serendipitär« sind. Ihrer Ansicht nach ist »Pseudo-Serendipität« die Situation, in der man bereits nach etwas sucht und dann zufällig auf etwas stößt, das hilft, das ursprüngliche Ziel zu erreichen (also im Wesentlichen ein zufälliger Weg, um dasselbe Ziel zu erreichen). »Echte« Serendipität bezieht sich dann auf etwas völlig Unerwartetes. Nach dieser Logik würde beispielsweise die Entdeckung der DNA als Pseudo-Serendipität gelten, weil das ursprüngliche Ziel relativ klar war, aber zufällige Ereignisse die Entschlüsselung des Moleküls ermöglichten. Und im Falle von Penicillin war Fleming in gewisser Weise auf seine Beobachtung vorbereitet, denn er interessierte sich bereits für die antibiotische Wirkung von Substanzen. Folgt man der Logik dieser Forscher, so hätte die »wahre« Serendipität eine Änderung der Zielsetzung erfordert (Roberts, 1989). Die meisten Forscher (mich eingeschlossen) teilen diese enge Auffassung nicht und betrachten Vorfälle wie die Entdeckung der DNA als Serendipität im weiteren Sinne: ein Auslöser über eine Assoziation führte zu einem überraschenden positiven Ergebnis. Andernfalls würde fast jede Serendipität als Pseudo-Serendipität gelten (siehe auch Copeland, 2018; Sanger Institute, 2019).

5 The Conversation, 2015.

6 Die genaue Bezeichnung ist unterschiedlich, aber neuere Arbeiten legen den Fokus auf den Prozess und die wichtigsten Komponenten. Makri et al. (2014) sehen den Prozess zum Beispiel so: Unerwartete Umstände + Einsicht > Verbindung herstellen > Projektwert > Wert verwerten > wertvolles Ergebnis. Andere sprechen von der »Verbindung der Punkte« (z. B. Pina e Cunha et al., 2010; de Rond, 2014). Einige der interessantesten Erkenntnisse in dieser Hinsicht stammen aus Studien im Kontext der Informationswissenschaften und der Informations- und Kommunikations-Technologie. Stephann Makri und Kollegen haben beispielsweise gezeigt, wie in einem informationstechnologischen Umfeld die Wahrscheinlichkeit von Serendipität erhöht werden kann, indem verschiedene Teile des Prozesses angegangen werden, insbesondere durch die Ergreifung der sich bietenden Chancen. Eine unerwartete Begegnung allein reicht nicht aus (Busch, 2022; Makri et al., 2014).

7 Simonton, 2004.

8 Busch, 2018; Busch und Barkema, 2020a; McCay-Peet und Toms, 2018; Napier und Vuong, 2013; Van Andel, 1992.

9 de Rond, 2014; Fine und Deegan, 1996; McCay-Peet und Toms, 2018; Merton und Barber, 2004. Natürlich verläuft dieser Prozess nicht immer völlig »linear.« Zum Beispiel finden Auslöser und Assoziation oft gleichzeitig statt, oder es kann Feedback-Prozesse geben - aber durch die Betrachtung der verschiedenen Schritte können wir wichtige Erkenntnisse gewinnen. Die Serendipität mit ihrem Schwerpunkt auf einem aktiven Prozess unterscheidet sich von der Synchronizität (siehe Jung, 2010) als einer singulären bedeutungsvollen Begegnung.

10 In Teilen der Literatur, die sich auf die Arbeiten von Koestler (1964) und anderen stützt, wird manchmal der Begriff »Bisoziation« verwendet, um darauf hinzuweisen, dass Serendipität oft aus der gleichzeitigen mentalen Assoziation einer Idee oder eines Objekts mit Bereichen entsteht, die normalerweise nicht als verwandt angesehen werden; ich verwende den Begriff »Assoziation« im weitesten Sinne des Wortes, das sowohl »Paare« als auch ganze Konfigurationen von Verbindungen erfasst.

11 Zur (beschleunigten) Serendipität in der kombinatorischen Chemie siehe z. B. McNally et al., 2011; zu qualitativen Methoden siehe z. B. die Arbeiten von Glaser und Strauss (1967) zur »Grounded Theory« und von Merton (1949) zur Sozialtheorie.

12 Als Haier-Vertreter erfuhren, dass Landwirte Haiers Waschmaschinen auf andere Weise einsetzten, als sie es sich vorgestellt hatten, passten sie die Maschinen schnell an, um mit dem zusätzlichen Schmutz fertigzuwerden, den die Kartoffeln produzierten (und der die normalen Maschinen überforderte). Die »Kartoffelwaschmaschine« war geboren.

2 SERENDIPITÄTSBARRIEREN ÜBERWINDEN

»Das Leben ist das, was uns passiert, während wir andere Pläne schmieden.«

Allen Saunders, amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Karikaturist, 1957

Jedes Semester spiele ich im Rahmen meiner Lehrtätigkeit ein Spiel mit meinen neuen Studierenden. Ich frage sie: »Was glaubt ihr, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen in diesem Raum mit 60 Personen den gleichen Geburtstag haben?«

Normalerweise schätzen die Studierenden zwischen fünf und 20 Prozent. Das macht Sinn – das Jahr hat etwa 365 Tage, und so neigen wir logischerweise dazu, 60 (Menschen) durch 365 (Tage) zu teilen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich zwei Personen mit demselben Geburtstag im Raum befinden, ist nach dieser Logik sehr gering.

Dann bitte ich jede/n Studierende/n, kurz den Tag und den Monat seines/ihres Geburtstags zu nennen. Danach fordere ich die anderen Studierenden auf, für den Fall »Hier!« zu rufen, wenn sie ihren eigenen Geburtstag hören. Die Studierenden sind in der Regel schockiert, wenn nach etwa zehn Studierenden, die der Gruppe ihren Geburtstag verkündet haben, das erste »Hier!« aus einer Ecke kommt.

Dann noch eins und noch eins. In den meisten Veranstaltungen mit etwa 60 Studierenden habe ich festgestellt, dass sich oft drei bis sechs Geburtstagspaare bilden. Wie ist das möglich? Ist es Magie? Nein, das ist reine Statistik. Es handelt sich um eine exponentielle und nicht um eine lineare Problemstellung: Jedes Mal, wenn ein/e Studierende/r ihren/seinen Geburtstag erwähnt, gibt es viele mögliche »Paare«, die auftreten könnten. Studierende/r Nr. 1 hat zum Beispiel 59 andere Personen, die möglicherweise denselben Geburtstag haben wie er/sie; Studierende/r Nr. 2 hat immer noch 58 potenzielle Personen mit demselben Geburtstag (vorausgesetzt, der/die erste hatte einen anderen Geburtstag), und so weiter. Wenn wir alle diese möglichen Paare zusammenzählen, ergibt sich das sogenannte Geburtstagsparadoxon (siehe folgende Abbildung).

Das Paradoxon besagt, dass bei 23 Personen bereits eine 50-prozentige (!) Wahrscheinlichkeit besteht, dass zwei Personen in einer Zufallsstichprobe denselben Geburtstag haben (da es 253 Möglichkeiten oder potenzielle Paare gibt).1 Noch erstaunlicher ist, dass es bereits bei 70 Personen fast sicher ist (eine Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent), dass zwei Personen denselben Geburtstag haben.

Was bedeutet diese Erkenntnis?

Sie ist ein Indikator dafür, dass wir das Unerwartete oft unterschätzen, weil wir linear denken – oft »nach Plan« – und nicht exponentiell (oder in Eventualitäten). Aber das Unerwartete passiert ständig, auch wenn wir entweder überrascht sind, wenn wir es »sehen«, oder wenn wir es überhaupt nicht mitbekommen.

Alles – von lebensverändernden Turnaround-Erfahrungen bis hin zu kleinen Verbesserungen im Alltag – ist möglich, wenn wir erkennen, dass jeden Tag, jede Sekunde Serendipität eintreten kann. Wie ich weiter unten darlege, neigen unsere natürlichen und erlernten Denkweisen dazu, Serendipität zu verdrängen, sodass es schwieriger ist, sie zu erkennen und noch schwieriger, sie nutzbar zu machen. Die größten Hindernisse sind unsere vorgefassten Meinungen über die Welt (Biases), die Vorurteile, die oft unbewusst unser Denken lenken. Und wenn Sie glauben, dass Sie keine haben, dann könnte das bereits Ihre größte Voreingenommenheit sein!

Unsere Biases können uns blind machen für (potenzielle) Serendipität und können sogar dazu führen, dass wir bereits eingetretene Serendipität falsch interpretieren. Wenn man sie bittet, ihren Erfolg zu erklären, erwähnen viele Menschen ihre »konsequente« Arbeitseinstellung und sorgfältigen Planungsschritte, aber auch ihr langfristiges Visions- und Strategiedenken, die unweigerlich zu Ruhm und Erfolg geführt haben. Manchmal ist das richtig, aber oft auch nicht. Die entscheidenden Wendepunkte im Leben sind oft Momente der Serendipität (oder manchmal auch nur pures Glück), die im Nachhinein umgedeutet wurden, wie wenn Sie einem potenziellen Arbeitgeber Ihren Lebenslauf als eine stringente Reise von A nach B präsentieren.

Diese Biases können viele Formen annehmen, aber es gibt vier grundlegende Hemmnisse für Serendipität, die wir überwinden oder zumindest erkennen müssen. Ihre Bezeichnungen sind ein wenig technisch, aber was sie bedeuten, ist faszinierend: Unterschätzung des Unerwarteten, Anpassung an die Mehrheit, Post-Rationalisierung und funktionale Gebundenheit.

Wir unterschätzen das Unerwartete

Ein Schulfreund pflegte zu sagen: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches passieren wird.« Damals klang das geheimnisvoll, und erst im Laufe der Jahre begann ich wirklich zu verstehen, was er meinte. Das Unerwartete, das Unwahrscheinliche und sogar das ganz und gar Außergewöhnliche passiert immer wieder. Es kommt darauf an, ob wir es erkennen und aufgreifen können.

Ich habe ein Seminar für Verhandlungsführung unterrichtet, in dem eine der Übungen darin bestand, dass der Eigentümer einer unabhängigen Tankstelle diese an eine große Ölgesellschaft verkaufen wollte. Die Übung war so angelegt, dass ein Geschäft nicht zustande kommen konnte, wenn die beiden Partner bei ihrer ursprünglichen Position bleiben würden. Das Unternehmen wollte bis zu 500 000 Euro für die Tankstelle zahlen, die Mindestforderung des Eigentümers hingegen lag bei 580 000 Euro. Theoretisch gab es jetzt keinen Verhandlungsspielraum, kein Verhandlungsergebnis, das beide Partner akzeptieren konnten, wenn sie an ihren Positionen festhalten würden.

Dann bat ich die Studierenden – sowohl diejenigen, die den Tankstellenbesitzer spielen, als auch diejenigen, die die Vertreter/innen des Unternehmens darstellen –, ihre starren Positionen aufzugeben und offen dafür zu sein, die tatsächlichen Bedürfnisse und Interessen der/des Anderen zu erfassen. Sobald die Vertreter/innen der Ölgesellschaft anfingen, Fragen zu stellen, warum der Tankstellenbesitzer meint, 580 000 Euro zu brauchen, passierte etwas Unerwartetes: Der Tankstellenbesitzer erwähnte, dass er davon träumt, sich zur Ruhe zu setzen und mit seiner Frau segeln zu gehen, und dass dies der Betrag ist, den er zu brauchen glaubt, um dies tun zu können.