Erholung für müde Seelen - Rolf Sons - E-Book

Erholung für müde Seelen E-Book

Rolf Sons

0,0

Beschreibung

Ein handlicher Resilienz-Ratgeber für alle, deren Seele müde und erschöpft ist, von dem evangelischen Pfarrer und Seelsorger Dr. Rolf Sons. Der Glaube an Gott bewahrt nicht vor Krisen, Druck und Überforderung. Er kann allerdings dazu beitragen, besser damit umzugehen, seelisch gesund zu bleiben, müden Seelen neue Kraft zu geben. Wie, das zeigt der erfahrene Seelsorger Dr. Rolf Sons in diesem Buch. Dabei nutzt er die alte christliche Weisheit der Psalmen und der Wüstenväter. Sie zeigen: Bei Gott dürfen wir sein, wie wir sind, aussprechen, was uns auf der Seele liegt, und von ihm Entlastung, Trost und Segen erfahren. So können wir gestärkt zurück in den Alltag gehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 208

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ROLF SONS

Erholung für müde Seelen

Wohltuendes in christlicher Weisheit entdecken

Bibelzitate folgen dem Bibeltext der Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

© 2023 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

www.brunnen-verlag.de

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: Brunnen Verlag GmbH

ISBN Buch 978-3-7655-4384-5

ISBN E-Book 978-3-7655-7687-4

Inhalt

Vorwort: Signale der Seele

I. Seelennot

1. „Wie geht es eigentlich deiner Seele?“

2. Beziehungsnot

3. Die bedürftige Seele

4. Leib und Seele

5. Die vierfache Entfremdung der Seele

II. Mit den Psalmen die Seele pflegen

1. Die Psalmen als Spiegel der Seele

2. Die meditierende Seele

3. Die klagende Seele

4. Die erquickte Seele

5. Die unruhige Seele

6. Die entlastete Seele

7. Die getröstete Seele

8. Die sich an Gott freuende Seele

9. Die lobende Seele

10. Die gesegnete Seele

III. Lernen von den Wüstenvätern

1. Begegnung mit einem Wüstenvater

2. Vom Geist des Übens

3. Sich in Demut üben

4. Dem Überdruss begegnen

5. Maß halten

6. Negativen Gedanken entgegentreten

7. Das äußere Chaos ordnen

8. Entscheidungen treffen

9. Den Gottesdienst besuchen

Anmerkungen

VorwortSignale der Seele

Die Seele ist kein Organ wie andere Organe des menschlichen Körpers. Weder über ihre Lage noch über ihr Gewicht oder ihre Beschaffenheit lassen sich Aussagen treffen. Sie ist, wie der evangelische Theologe Manfred Seitz einmal treffend festgestellt hat, nicht zu sehen und nur schwer zu ergründen.

Doch auch wenn man sie nicht sehen kann, so äußert sich die Seele. Sie lässt sich hören und macht sich verständlich. Sie spricht ihre eigene Sprache und wir nehmen ihr Reden in den unterschiedlichsten Facetten wahr. So drückt sie sich aus in unseren Stimmungen und Gefühlen. Mitunter meldet sie sich in Form von körperlichen Befindlichkeiten. Sie artikuliert sich bei jedem Menschen auf etwas andere Weise. Dennoch sind ihre Signale kaum zu überhören.

Therapeuten und Seelsorger versuchen ihre Sprache zu verstehen und ihre Reaktionen zu erklären. Wir selbst machen die Erfahrung, wie verletzbar unsere Seele ist oder wie sie an manchem schwer trägt. Wir wissen um die Gefahr der seelischen Erschöpfung und haben vielleicht schon selbst eine seelische Krise durchgemacht. Und mancher fühlt sich gar seelisch am Ende.

Die Anforderungen an unsere Seele sind groß. Erlebtes will verarbeitet werden. Schweres will getragen und Bedrohliches will ausgehalten werden. Das Leben in Beziehungen kostet seelische Kraft. Wer berufsbedingt täglich mit Menschen zu tun hat, weiß, wie viel es an Energie kostet, sich auf sie einzulassen, mit ihnen zu reden, ihnen geduldig zuzuhören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Mitarbeiter in vielen Sozialberufen können davon ein Lied singen. Nicht wenige unter ihnen sind seelisch erschöpft.

Was für den Beruf gilt, trifft selbstverständlich auch auf den privaten Bereich zu. Beziehungen sind nicht nur eine große Bereicherung und ein Segen für uns Menschen. Sie verlangen uns auch einiges ab. Die Erziehung der Kinder, das Kümmern um einen bedürftigen Angehörigen, die Pflege von Freundschaften und die Gestaltung eines guten Miteinanders in der Familie fordern einen hohen Aufwand an seelischer Energie. Kommen Krisen dazu, fühlt man sich selbst überfordert. Soziale und wirtschaftliche Nöte lassen unsere Seele nicht unberührt. Die großen Krisen unserer Zeit können unsere Seele wie Mehltau befallen.

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg liefert in seinem zum Bestseller gewordenen Buch „Das erschöpfte Selbst“ eine aufschlussreiche Zeitanalyse.1 Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der Mensch von einer ganz spezifischen Anstrengung müde geworden sei, nämlich von der Anstrengung, er selbst zu werden. Ehrenberg spielt dabei auf die Beobachtung an, dass der Mensch des 21. Jahrhunderts ständig über sich selbst hinausgehen müsse. Wie ein Unternehmer darauf angewiesen sei, immerfort Erfolge zu verbuchen, so stehe auch das menschliche Selbst unter dem Druck, sich erfolgreich zu präsentieren. Dazu müsse es sich immer neu selbst entwerfen, erfinden und über sich hinauswachsen. Dies aber führe zu einer seelischen Dauererschöpfung.

Ehrenbergs Analyse ist bedenkenswert. Unsere Seele oder sagen wir unser Selbst, unser Ich, scheint vermehrt unter Daueranspannung zu stehen. Wie aber kann sich die Seele erholen? Wie kann sie ein Ventil finden, um sich Luft zu verschaffen? Wie kann unsere Seele neue Energie tanken? Wie bleibt sie ausgeglichen? Die Fragen und Themen, die wir im Folgenden zu erörtern haben, liegen damit auf dem Tisch.

Dieses Buch reiht sich nur teilweise in die zahlreiche Ratgeberliteratur zur seelischen Gesundheit und Achtsamkeit ein. Es kann diese wohl ergänzen. Es geht aber auch über sie hinaus. Denn in erster Linie will das vorliegende Buch aus den Quellen der Bibel und des Glaubens schöpfen. Es will ein geistliches Buch sein. Es leitet die Überzeugung, dass ein ganzheitlicher Glaube, ein mit dem dreieinigen Gott geführtes Leben eine kraftvolle Ressource zur seelischen Gesundheit darstellt.

Wir haben uns deshalb auf Spurensuche im biblischen Buch der Psalmen begeben. Wir wollen sehen, was die „Schatzkammer Davids“ zur Seelenpflege beitragen kann. Darüber hinaus tauchen wir in die Welt der frühen Wüstenväter ein. Diese wortkargen Mönche hatten sich durch ihr Leben in Stille, Schriftstudium und Gebet einen reichen Erfahrungs- und Wissensschatz über die menschliche Seele erworben. Als „Seelenführer“ sind diese geistlichen Männer und auch Frauen unzähligen zur Hilfe und zum Segen geworden – bis heute.

I. SEELENNOT

1. „Wie geht es eigentlich deiner Seele?“

Es ist eine kleine Frage und doch hat sie große Bedeutung: die Frage „Wie geht’s?“ oder noch persönlicher: „Wie geht’s dir?“ Wir benutzen diese Frage gerne als Gesprächseinstieg. Manchmal ist es nur eine Floskel, die im Grunde auf keine wirkliche Antwort aus ist. Fast wie ein Gruß, ist sie nicht mehr als ein freundliches Hallo. Hoffentlich nimmt der Angesprochene die Frage dann nicht allzu ernst. Man müsste ihm ja zuhören. Manchmal steckt hinter der Frage aber auch echtes Interesse. Dann signalisieren wir ihm, dass wir ihm jetzt Raum geben zu erzählen. Die Frage „Wie geht’s?“ kann daher auch ein Ausdruck von Wertschätzung sein.

Als Pfarrer stelle ich diese Frage häufig – wohl wissend, was ich damit auslösen kann. Die Antworten fallen allerdings unterschiedlich aus. Die einen geben ein kurz angebundenes „Gut“ zurück oder auch ein „Ich kann nicht klagen“. Schnell merke ich, dass mein Gegenüber jetzt keine große Lust hat, über sich zu reden.

Besonders knapp und bündig ist auch die folgende Antwort: „Muss!“ Obschon sie nur aus einem Wort besteht, sagt sie eigentlich alles. Dabei kann der Grad der Entschlossenheit und Überzeugungskraft, mit der man diese Antwort gibt, sehr unterschiedlich sein. Auf jeden Fall will man damit zum Ausdruck bringen, dass es nichts zu reden oder zu diskutieren gibt. Man „muss“ irgendwie mit den Dingen klarkommen. Hier im Schwabenland höre ich diese Antwort immer wieder. Doch sicher kennt man sie auch anderswo.

Eine andere Art des Umgangs mit der Frage nach dem Ergehen ist die Gegenfrage. Dann bekommt man ebenfalls keine Antwort. Vielmehr hört man wie aus der Pistole geschossen: „Und selber?“ Auch damit zeigt der Angesprochene, dass er jetzt lieber in Ruhe gelassen werden will. Es gibt also viele Möglichkeiten, dieser Frage und ihrer Beantwortung auf höfliche Weise auszuweichen.

Ab und zu allerdings entwickelt sich aus der Frage auch ein Gespräch. Wenn die Angesprochenen spüren, dass sie jetzt Raum bekommen, und wenn sie dazu das Bedürfnis haben, etwas von sich preiszugeben, kann die Frage „Wie geht’s?“ ein echter Gesprächsöffner sein. Manche nutzen die Gelegenheit, sich mitzuteilen oder sich sogar etwas von der Seele zu reden.

Angenommen, jemand würde ihnen die Frage so stellen: „Wie geht es eigentlich deiner Seele?“ Zugegeben: Die Frage klingt ungewöhnlich, befremdend und ziemlich pastoral. Würde ich meinen Kindern diese Frage stellen, würden sie vermutlich die Augenbrauen hochziehen oder sie mit einem Grinsen beantworten.

Es hat Gründe, dass wir uns nicht oder nur selten nach unserem seelischen Ergehen erkundigen. Die Frage wirkt oft persönlich und zu intim. Höchstens einem Seelsorger gegenüber oder einer anderen vertrauten Person mag man sich mit dem, was einen im Inneren beschäftigt, öffnen. Außerdem scheuen wir uns als Fragesteller völlig zu Recht, in die Seele eines anderen einzudringen oder gar darin herumzubohren.

Trotzdem besitzt die Frage nach dem seelischen Ergehen ihr Recht und auch ihre Notwendigkeit. Denn die Seele will sich mitteilen. Ja, sie muss sich sogar äußern. Eine Seele, die sich nicht mehr äußern kann oder äußern darf, wird krank. Und wenn wir uns als Menschen, sei es im Beruf, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft oder innerhalb der christlichen Gemeinde nicht mehr darauf ansprechen, wie es uns wirklich geht, werden unsere Beziehungen unpersönlicher und oberflächlicher. Sie werden verarmen.

Nun ist innerhalb der biblischen Schriften eine große Bandbreite an Aussagen über die Gemütslage der Seele zu finden. Mit einem knappen „gut“ oder einem trotzigen „es muss“ ist es da jedenfalls nicht getan. In der Bibel lesen wir: Die Seele kann sich freuen und kann jubeln. Sie kann ermattet sein oder Angst haben. Die Seele kann dürsten. Sie kann verzagen oder müde sein. Sie kann hassen oder bitter sein. Sie kann betrüben oder Todessehnsucht in sich spüren. Sie kann zerfließen, sich grämen oder sich erschrecken. Sie kann sich sorgen oder stille sein. Sie kann schlafen, wachen oder sich vor Verlangen verzehren. Die Seele kann beben oder erschüttert sein. Sie kann quicklebendig und satt sein. – Es gibt wohl keinen menschlichen Gemütszustand, der sich nicht in den biblischen Schriften findet. Nicht umsonst verstehen viele die Bibel als Seelsorge-Buch. Gott weiß um die unterschiedlichen Zustände der menschlichen Seele und kümmert sich darum.

Nun ist es das eine, wenn Menschen nach dem Ergehen unserer Seele fragen. Wie aber wäre es, wenn Gott Sie danach fragen würde? Wenn er sagen würde: „Wie geht’s dir eigentlich?“ Gottes Frage wäre mehr als nur ein oberflächliches „Hallo!“ und mehr als nur ein netter Gesprächs-Opener.

In den Evangelien sehen wir, dass Jesus nicht im Allgemeinen und Unverbindlichen bleibt, sondern ziemlich konkret nachfragt. Eindrücklich ist die Erzählung von den Emmausjüngern. Nach dem Schock von Karfreitag verlassen zwei der Jünger Jerusalem und machen sich auf den Weg in das nahe gelegene Emmaus. Traurig und mit schweren Gedanken sind sie unterwegs. Jesus nähert sich ihnen und begleitet sie unerkannt auf ihrem Weg. Dabei fragt er nach und gibt ihnen damit Raum zum Erzählen. Sie sollen und dürfen sich äußern. Lange hört er zu. Erst am Ende des Weges vernehmen sie seinen Zuspruch.

Die Emmauserzählung ist eine Schlüsselgeschichte für die Seelsorge. Sie zeigt uns, dass der Herr sich für die Seelenlage der Seinen interessiert. Das Schöne ist, dass er sich Zeit nimmt, wirklich zuzuhören, dass er mitgeht und einen am Ende nicht ohne Zuspruch wieder entlässt. Nur wo die Seele Gelegenheit findet, sich echt und ehrlich zu äußern, kann sie auch Trost finden.

Viele Menschen haben niemanden, zu dem sie gehen können, dem sie von sich erzählen und ihre Seele öffnen können. Vielfach bleiben sie mit ihrer inneren Not allein. Was aber geschieht, wenn die Seele sich nicht mitteilen kann? Sie wird nicht nur einsam, sondern auch beziehungslos. Dies mag der Grund sein, weshalb so viele sich im Internet auf die Suche nach Trost und Beziehung machen.

Gott hat ein viel größeres Interesse an unserer Seele, als wir es gemeinhin ahnen. Mein Lehrer, der bereits erwähnte Theologe Manfred Seitz, hat einmal gesagt, dass Gott auch deshalb Mensch wurde, damit wir einen haben, zu dem wir immer gehen können. Gott ist uns in Jesus Freund, Bruder, Gefährte, Seelsorger und Hirte geworden. Er ist die eine wirklich hilfreiche Adresse für unsere Seele. Dies schließt das Gespräch mit Menschen, Seelsorgern und Freunden keinesfalls aus. Im Gegenteil. Und doch macht es einen Unterschied, wenn ich um Gott weiß, zu dem ich mit wirklich allem gehen kann. Auch mit dem, was ich keinem Menschen sagen möchte.

Wir werden sehen, wie radikal ehrlich die Beter der biblischen Psalmen vor Gott ihr Innerstes aussprechen. Angst und Wut, Schuld und Versagen, Traurigkeit und Ohnmacht werden schonungslos ausgesprochen. Gott hält unsere seelische Wirklichkeit, unsere Abgründe und Not aus. „Die Liebe erträgt alles, sie hofft alles und duldet alles“ (1. Korinther 13,7). Vor Gott darf alles sein. Darf alles gesagt werden.

Wo wir in dieser Weise unsere Seele vor Gott öffnen und ihm erzählen, wie es uns geht, befinden wir uns bereits auf dem Weg zur inneren Gesundung. Ich erinnere mich an eine Seelsorgesituation, in der es einer Person gegeben war, ihre gesamte Seelenlage vor Gott zu bringen. Wir saßen zu dritt beieinander, eine Seelsorgerin, ich als Seelsorger und dazu die Rat suchende Person. Auf dem kleinen Tisch vor uns stand ein Kreuz. Die Ratsuchende wusste, dass sie vor dem Kreuz ehrlich werden durfte. Nun war nicht mehr interessant, dass wir als Seelsorger im Gespräch dabei waren und ihr Gebet mitanhörten. Sie öffnete sich in diesem Moment Jesus ganz bewusst. Sie saß allein vor ihm. Er allein war jetzt ihre Adresse.

Erstaunlich war, mit welchen Worten, Bildern und Empfindungen sie ihr Inneres zum Ausdruck bringen konnte. Die Seele besitzt eine eigene Sprache. Sie äußert sich auf verschiedenen Wegen und bedient sich dabei unterschiedlicher Mittel. Je differenzierter und anschaulicher dies geschieht, desto hilfreicher ist es. In diesem Fall konnte die Ratsuchende ihre innersten Empfindungen so präzise wiedergeben, dass wir nur noch staunten.

Gerade in unserer Zeit ist es wichtig, Gefühle und innerliche Befindlichkeiten in einem geschützten Raum äußern zu dürfen. Wo eine Seele sich öffnet, muss sie geschützt bleiben, und deshalb ist Jesus die beste Adresse.

2. Beziehungsnot

„Wie geht’s unserer Seele?“ Ich habe den Eindruck: Nicht gut! Zwar sind wir verglichen mit dem Weltmaßstab materiell noch relativ gut aufgestellt. Die Bildungsmöglichkeiten, die Besitztümer und die Lebenserwartung sind bei uns gestiegen. Noch haben wir Frieden in unserem Land. Noch floriert die Wirtschaft. Und doch hat sich ein Gefühl der Verunsicherung breitgemacht. Wir spüren den gesellschaftlichen Wandel. Die globalen Krisen lassen in uns das Gefühl hochkommen, dass nichts so bleiben wird, wie es einmal war. Wohlstandsverluste setzen Existenzängste frei. Krieg und Kriegsgefahr wirken bedrohlich. Die Stimmung im vereinten Hause Europas ist ungemütlich. Die Logo-Therapeutin Elisabeth Lukas bringt die Stimmungslage wie folgt auf den Punkt:

Die Corona-Pandemie hat die menschliche Gesellschaft vor unerwartete alarmierende Probleme gestellt. Allerdings ist ein weltweiter gemeinsamer Feind eine Novität. Früher gab es ein „wir“ und die „anderen“. Heute stehen eher „wir und die anderen“ gefährlichen Bedrohungen gegenüber. Das „wir“ schützt uns nicht mehr, und die „anderen“ sind genauso arm dran wie wir. Das alles nährt allerorts ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit. Der Boden unter unseren Füßen scheint zu wanken. Gibt es irgendeinen Haltegriff fürs Gemüt?2

Hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten mit regionalen Krisen zu tun, die in aller Regel weit weg waren, so spüren wir derzeit die weltweite Vernetztheit der Krisen. Keiner kann mehr auf den anderen verweisen. Wir sitzen als Menschheit zusammen in einem Boot, das in stürmische See geraten ist. Elisabeth Lukas fragt völlig zu Recht nach einem „Haltegriff fürs Gemüt“.

Es ist schon kurios. In einer sich immer stärker vernetzenden Welt leben wir immer mehr voneinander isoliert. Analoge Begegnungen werden seltener. Wir verbringen deutlich mehr Zeit am Bildschirm als im Gespräch oder im Zusammensein mit unseren Mitmenschen. Paare starren abends stundelang in das Fernsehprogramm, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Wir leben zu sehr auf uns selbst bezogen. Die Gefahr der Vereinsamung nimmt zu. Wir leben zwar in großen Häusern mit teuren Möbeln. Doch leben wir darin allein.

Die Pandemie liefert uns dazu das Anschauungsmaterial. Als das öffentliche Leben wochenlang heruntergefahren war, blieben die Menschen zu Hause und mussten feststellen, dass all die teuren Dinge, die sie sich angesammelt hatten, wenig nützten. Was ihnen blieb, waren das Fernsehgerät bzw. die digitalen Medien. So konnten sie wenigstens die Nachrichten verfolgen oder sich über Streaming-Angebote unterhalten lassen. Was in Notzeiten ein wahrer Segen war, konnte allerdings das Eine nicht ersetzen, das unverzichtbar zum Leben gehört: nämlich die Begegnung mit seinen Mitmenschen. Die digitale Kommunikation konnte diese Lücke nicht wirklich füllen. Elisabeth Lukas schreibt: „Je weniger ‚wirklich‘ der andere da ist, desto ‚wirklicher‘ fühlt sich die eigene Einsamkeit an.“3

Die Journalistin Ursula Weidenfeld zitiert eine Studie, nach der sich zwischen 2000 und 2012 jeder fünfte Teenager einsam gefühlt habe. Im Zeitraum zwischen 2012 und 2018 habe sich der Prozentsatz verdoppelt. Infolge der Pandemie dürfte der Anteil inzwischen weit höher liegen. Die sogenannten „sozialen Medien“ spielen dabei eine wichtige Rolle. „Ein Hauptproblem ist sicherlich, dass man im Grunde keine Alltagsgespräche mehr miteinander führt, dass sich Jugendliche in der Schule oder in der Mensa nicht mehr unterhalten, sondern jeder schaut auf sein Smartphone. Dass man morgens in der Bahn mit niemandem mehr redet.“4

Das Gefühl der Einsamkeit kann selbst dann auftreten, wenn Jugendliche zu einem großen Freundeskreis gehören. Viel entscheidender ist, ob sie jemanden haben, dem sie sich anvertrauen und mit dem sie reden können. Smartphone und Social-Media-Kanäle können bestenfalls zusätzliche Möglichkeiten sein, um in Kontakt zu bleiben. Die unmittelbare Begegnung und das direkte Gespräch ersetzen sie nicht.

Nun macht Einsamkeit nicht automatisch krank. Doch das Risiko, seelisch zu erkranken, nimmt zu. Die Mainzer Psychologin Ana Tibubos hat den Zusammenhang zwischen Depressionen, Angst und Einsamkeit ausgewertet. In einer Studie wurden 15 000 Menschen aus der Rhein-Main-Region befragt und medizinisch untersucht.5 Bei den Einsamen unter ihnen war die Neigung zu Angststörungen und zu Suizidgedanken signifikant erhöht. Mehr als die Hälfte derjenigen, die unter extremer Einsamkeit leiden, leidet auch unter Depressionen.

Ein großes Thema ist die Einsamkeit unter Senioren und Seniorinnen. Spätestens im Alter dünnen die mitmenschlichen Beziehungen aus. Wer aus dem Beruf ausscheidet, verliert die Kommunikation mit seinen Arbeitskollegen. Wer erwachsene Kinder hat, muss sie ziehen lassen. Wer verwitwet ist, muss mit dem Verlust klarkommen. Lässt die Gesundheit nach, verringert dies die eigene Mobilität zusätzlich.

Kommt nun eine Pandemie mit all ihren Begleiterscheinungen, dann trifft dies die Gruppe der Senioren mit besonderer Wucht. Sie kommen kaum mehr aus dem Haus. Weil sie als besonders gefährdete Personengruppe gelten, meiden sie soziale Kontakte. Der tägliche Einkauf wird von einem Einkaufsdienst übernommen. Den Gottesdienst verfolgen sie nur noch digital. Der Besuch von Kindern und Enkeln bleibt aus. „Auf sich zurückgeworfen haben sie das Rätsel zu lösen, wie sie sich in ihren vier Wänden unbeschadet bei Laune halten können.“6

Seit den Anfängen der Menschheit kämpft Gott gegen die Einsamkeit des Menschen. Schon auf den ersten Seiten der Bibel hören wir, dass es nicht gut ist, dass der Mensch allein sei (1. Mose 2,18). Der Mensch braucht Ergänzung und Hilfe, Zwiesprache und Zweisamkeit, jemanden, der ihn versteht und mit ihm geht. Der Mensch ist von Natur aus ein geselliges Wesen. Fehlt der Mitmensch, so fehlt das Gegenüber, das ihn anspricht, beim Namen nennt, dessen Stimme er hört, dessen Körper er spürt, dessen Herz er fühlt.

Die Frage „Wer kennt mich?“ ist daher überlebenswichtig. Wenn mich niemand mehr kennt und niemand mehr grüßt, wenn mir niemand mehr zulächelt, verkümmere ich innerlich. Wir brauchen es, dass man uns persönlich wahrnimmt, kennt und mit uns spricht.

Die digitale Kommunikation kann nicht ersetzen, wonach die Seele sich sehnt. Mir ist aus diesem Grunde auch unverständlich, warum die Kirchen immer mehr in der rein digitalen Kommunikation ihrer Gottesdienste ihr Glück suchen. Natürlich sind Streaming- und YouTube-Angebote in Notzeiten eine Alternative. Gerade für ältere Menschen waren und sind Streaming-Gottesdienste eine echte Brücke zur Gemeinde. Einen Ersatz zur reellen Begegnung können diese Gottesdienste nicht darstellen. Der Mensch ist auf reale und personale Gemeinschaft angelegt. Er will seinen Mitmenschen sehen, spüren und in echter und nicht nur digitaler Begegnung mit ihm Zeit verbringen.

Der Seelsorger Larry Crabb hat sich in einem seiner Bücher intensiv mit der Frage des „Connecting“ auseinandergesetzt.7 Wörtlich übersetzt heißt es so viel wie „verbunden“ oder auch „verknüpft“ sein. Crabb versteht darunter die Begegnung zwischen Menschen und was sich darin abspielt. Denn in jeder echten Begegnung geschieht etwas. Die Gesichter hellen sich auf. Freude entsteht und manchmal schlägt das Herz höher. Jede gute Begegnung lässt eine Art von Gemeinschaft entstehen und vermittelt das Gefühl: „Ich bin nicht allein, sondern Teil eines Ganzen, einer Gemeinschaft.“

Crabb legt dar, wie solche Begegnungen Kraft vermitteln und die menschliche Seele gesunden lassen können. Aber auch auf das Gegenteil, den unheilvollen Mangel an Beziehung und Gemeinschaft, kommt er zu sprechen:

Hinter dem, was unsere Kultur als psychische Störung bezeichnet, verbirgt sich der Schrei nach etwas, was nur die Gemeinschaft geben kann. … Wir müssen mehr tun, als Experten heranziehen, die unsere psychischen Schäden heilen. Psychische Schäden sind nicht das Problem. Das eigentliche Problem ist unsere beziehungslose Seele.8

Crabb trifft den Nagel auf den Kopf. Hinter vielen psychischen Nöten verbirgt sich schlicht und ergreifend eine akute Beziehungsnot. Was wir brauchen, sind freundschaftliche Gespräche, wo wir einander zuhören und miteinander reden, wo ich mich öffnen und ehrlich sein kann. Kein Bildschirm kann solche Begegnungen ersetzen.

Das Besondere an echten, zwischenmenschlichen Begegnungen ist, dass sie aus einem Geben und Nehmen bestehen. Man beschenkt einander mit guten Worten oder, wenn es sein muss, auch mit ehrlicher Kritik. In jedem Fall aber geschieht ein gedanklicher und oft auch emotionaler Austausch, der uns als Menschen lebendig macht und weiterbringt. Wir leben auf.

Während des harten Lockdowns im Februar 2021 hatte ich mich morgens zwischen 10 und 11 Uhr auf den Weg ins Dorf gemacht. Dort traf ich die Menschen beim Bäcker oder auf dem Weg zur Apotheke. Viele kurze Begegnungen und Gespräche kamen zustande. Es tat einfach gut, einander zu sehen, zu grüßen, sich ein Lächeln und ein paar gute Worte zu schenken. Unser Informationsbedürfnis wird täglich überreich gestillt. Wie aber ist es mit dem Bedürfnis unserer Seele, die sich mitteilen und empfangen will?

In unserer Gemeinde hat sich eine Schar von Konfirmanden zu einer Jugendgruppe zusammengefunden. Allesamt sind sie Medienkids. Die sozialen Medien prägen ihren Alltag mehr als alles andere. Zufällig kam ich neulich an unserem Gemeindehausgarten vorbei, und was ich dort sah, versetzte mich ins Staunen. Diese Jungs saßen mit dem Leiter der Jugendgruppe zusammen, lachten und hatten jede Menge Spaß. Jungs, deren Eltern mir erzählten, dass sie zu Hause nur noch am Bildschirm sitzen, waren nun Teil einer Gruppe, in der sie sich offensichtlich wohlfühlten. In der Gruppe waren sie akzeptiert und erlebten sich selbst und die anderen Gruppenmitglieder nicht virtuell, sondern höchst real und lebendig. Miteinander und manchmal auch übereinander konnten sie lachen. Ich habe die Szene eine Zeit lang beobachtet und in meinem Herzen Gott für diese Jungs gedankt. Jungs und Mädchen brauchen (wie wir alle) Gemeinschaft mit anderen, um in ihrer Seele gesund zu bleiben.

Was uns zu seelischer Stabilität hilft, sind nicht die Dinge, die wir uns leisten können, sondern der zwischenmenschliche Austausch und die Begegnung. Einer, der dies vor allem in Krisenzeiten für sich und für andere erkannt hat, war Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer scharte in den Jahren 1935 bis 1937 im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde eine junge Theologengruppe um sich. Mit ihnen wollte er gemeinsames Leben einüben. In Zeiten äußerer und innerer Anfechtung wollte er der allgemeinen Vereinzelung und Isolierung entgegenwirken. Ihm war klar, dass gerade in schweren Zeiten der Einzelne nur als Teil der Gruppe seelisch und auch geistlich überleben konnte.

Im gemeinsamen Beten, Studieren der Schrift, in Unterhaltungen über das Zeitgeschehen sowie Sport und Geselligkeit hatte Bonhoeffer ein Modell vorgegeben, das uns auch heute eine Hilfe sein könnte. In der zunehmenden Diaspora-Situation des Glaubens braucht es Gruppen, Hauskreise und Gemeinschaften, in denen wir als Menschen auftanken können.

Im Sommer 1938 verfasste Bonhoeffer innerhalb von vier Wochen sein berühmtes Buch „Gemeinsames Leben“. Einer der Spitzensätze dieser Schrift lautet: „Die leibliche Gegenwart anderer Christen ist dem Gläubigen eine Quelle unvergleichlicher Freude und Stärkung.“9

Die Gründung kleiner Gemeinschaften scheint mir das Gebot der Stunde zu sein. Den Kampf gegen die Vereinsamung gilt es aufzunehmen. An dieser Stelle kommt den Kirchen und Gemeinden eine wichtige Aufgabe zu. Seinem Wesen nach besteht das Christentum in der Gemeinschaft. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr polarisiert, auseinanderdriftet und in der sich der Einzelne immer stärker isoliert, bedarf es „kleiner Feuerherde“, an denen man sich wärmen kann. Die Begegnung in kleinen Gemeinschaften und Zellgruppen wird zur seelischen Überlebensfrage des Einzelnen und der Gesellschaft.

3. Die bedürftige Seele

Noch haben wir nicht geklärt, was wir eigentlich unter der menschlichen Seele verstehen. Im Allgemeinen bezeichnet man die Seele als das Innenleben eines Menschen. Darunter versteht man alles an Gefühlen und Gedanken, die sich im Inneren des Menschen abspielen. In diesem Sinne wäre die Seele gleichbedeutend mit der „Psyche“, dem griechischen Wort für die Seele. Die gängige Ratgeberliteratur folgt diesem Verständnis weitestgehend und hilft so zu besserer Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit.

Der Vorteil dieses allgemeinen Seelenbegriffs ist, dass er uns zu einem bewussteren Umgang mit dem eigenen Erleben, den eigenen Gefühlen und Gedanken sensibilisiert. Dies trägt dazu bei, dass wir besser mit uns selbst und anderen umgehen können. Es hilft uns auch, die eigenen Konflikte besser in den Blick zu nehmen und Strategien zu ihrer Lösung zu finden.

Eine andere Auffassung die Seele betreffend sieht in ihr den unvergänglichen Wesenskern. Die Seele wäre damit der Teil des Menschen, der nach dem Tod weiterlebt.

Nicht weit ist es von dort aus zum Gedanken der Seelenwanderung. Diese vor allem im Hinduismus verankerte Vorstellung geht davon aus, dass die Seele nach dem Tod sich in einem anderen Lebewesen einnistet. Auch im Westen verbreitete sich diese Vorstellung mehr und mehr, doch im Grunde ist es ein trauriger Gedanke. Denn wer will die Seele erlösen, die in einem nie endenden Kreislauf von Sterben und Wiedergeburt eingebunden ist? Hoffnung vermittelt dieser Gedanke jedenfalls nicht.