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Nicht nur Dietrich Bonhoeff er hat es erfahren, sondern auch Hilde Domin, Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela sowie viele gänzlich unbekannte Menschen: In der dunkelsten Zeit ihres Lebens und sogar angesichts des Todes spürten sie die Gewissheit, dass sie getragen sind, dass da etwas ist, das sie hält. Aber müssen wir erst in existenzielle Not geraten, um Ähnliches zu erfahren? Ist es nur eine besondere "Gnade", die solchen Menschen widerfährt, oder kann sich jeder dieser Erfahrung öffnen? Was trägt uns wirklich durchs Leben? Das vorliegende Buch geht diesen Fragen auf den Grund. Dabei geht es um ein praxisorientiertes Nachdenken über solche Zeugnisse – und die Erkenntnis, dass diese häufiger zu finden sind, als es uns oft erscheint. Und bei Weitem nicht nur in Extremsituationen anzutreffen ist. Jedes Kapitel endet mit einigen Fragen und weiterführenden Überlegungen, die zum eigenen Tun einladen. So wird es Leserinnen und Lesern möglich, selbst zu erfahren, dass sie Getragene sind – und zu einem Vertrauen finden können, das sie durch ihren Alltag begleitet.
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2025
ISBN 978-3-7365-0691-6
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2025
ISBN 978-3-7365-0709-8
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken und Bumiller
Covermotiv: marukopum/iStock
www.vier-tuerme-verlag.de
Daniel Rumel
Erleben, was trägt
Ein spirituelles Praxisbuch für unsere Zeit
Vier-Türme-Verlag
»Es kann nicht dunkel werden« – Eine kurze Einführung
Biografische Einübung
Grundübung: Die allgemeine Meditationspraxis
Die Erfahrung von Getragensein
Das Phänomen
Hilde Domin und die Luft, die trägt
Übung: Ich auf der Erde
Die Angst verlernen – Pater Ha-Jo Lohre
Übung: Die göttliche Wirklichkeit finden in allen Dingen
Von guten Mächten geborgen – Dietrich Bonhoeffer
Übung: Den Alltag bewusst wahrnehmen
Linda und die Tiefe dessen, was trägt
Übung: Naturerfahrung
Das Verstehen von Angst und Abgeschnittenheit
Warum so ängstlich?
Die Erfahrung von Abgeschnittensein und Tod
Übung zur Beziehungspflege
Das Gegenteil von Angst ist Liebe
Übung des Zusammenklangs von Meditation und Liebe
Die biblische Botschaft des unbedingten Vertrauens
Auf dass wir das Leben haben
Übung: Eintauchen in die Evangelien
Allein mir fehlt der Glaube
Übung: Das Aufwecken des inneren Christus
Wenn ein Fels in Wasser fällt
Übung des tiefen Vertrauens
Leben aus Ganzheit
Übung der Ganzheit
Eine Liebe, stärker als der Tod
Übung: Auf den Frieden lauschen
»Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?«
Übung der Meditation
Der buddhistische Weg
Das Leben und Leiden des Buddha
Die Stufen der Versenkung
Die Vierte Edle Wahrheit
Übung der buddhistischen Praxis der Stille
Die Weisheit vom anderen Ufer
Die Inschrift in das vertrauende Herz
Offenheit, Lieben und Sterben – Haltungen des Vertrauens
Das Geheimnis des weiten Herzens
Die Botschaft der Nahtoderfahrung
Stirb, bevor du stirbst
Übung: Die Praxis der Hingabe
Was am Ende trägt
Anmerkungen
Cover
Impressum
Buchtitel
»ES KANN NICHT DUNKEL WERDEN« – EINE KURZE EINFÜHRUNG
Ich war ungefähr sieben Jahre alt. Damals hatte ich Schwierigkeiten, mich in der Welt zurechtzufinden. Ich wollte nicht Fußball spielen, und es war nicht leicht für mich, Freunde zu finden. Nach dem Tod meines Großvaters ging es auch meinem Vater sehr schlecht. Er hatte mehrere Schlaganfälle hintereinander. Die kleine Welt um mich herum, die sich zu einem großen Teil im alten Dorf-Hof abspielte, auf dem ich aufwuchs, brach Stück für Stück zusammen. Mein junger Verstand konnte nicht begreifen, was geschah. Jeden Tag nach der Schule saß ich auf meiner Schaukel hinter dem Haus. Es beruhigte mich zutiefst, einfach über die Erde zu schaukeln. Alle sechs Monate mussten daher die Karabiner an der Aufhängung erneuert werden.
Es fällt mir schwer, mein Lebensgefühl in dieser Zeit zu beschreiben, aber irgendwie verlor ich den Boden unter den Füßen. Die Welt wurde bedrohlich für mich und um mich herum schien es sich zu verdunkeln. Nichts trug mich mehr.
Als ich an einem Tag wie immer auf der Schaukel saß, veränderte sich plötzlich mein Erleben. Alle Gedanken und Sorgen fielen von mir ab. Es war still. Ich sah einen Fasan aus dem Gebüsch fliegen, der schrill aufschrie, als mich mit einem Mal ein Gefühl tiefsten Friedens erfüllte. Alles Grübeln war wie weggeblasen und ich war zum ersten Mal in der Gegenwart angekommen. Doch dieser tiefe Frieden hatte auch einen Inhalt. Er brachte ein Verstehen mit sich. Ich erlebte, dass das, was ich wirklich bin, niemals sterben kann und dass ich deshalb um nichts Angst haben muss. Ich fühlte eine tiefe, innige Verbundenheit mit allem, was ist: mit den Bäumen, mit den Tieren, mit den Menschen. Das genaue Gegenteil meines sonst so tiefen Gefühls von Isolation. Obwohl mein siebenjähriger Verstand mit dieser Erfahrung überfordert war, veränderte sie meine ganze Situation. Fassungslos stand ich vor meiner Schaukel, tief berührt von der Wirklichkeit, die mich gerade erfüllt hatte.
Verzweifelt suchte ich nach Worten, denn ich musste erzählen, was mit mir geschehen war. Ich lief zu meiner Mutter und sagte: »Mami, Mami, es kann nicht dunkel werden. Ist das nicht wunderbar? Wir brauchen vor nichts Angst zu haben. Das ist alles nicht nötig.« Damals hat sie mich nicht verstanden. Ich habe es eigentlich auch nicht verstanden. Ich habe es nur erlebt. Die Erfahrung dauerte nicht lange. Die Angst kam wieder, und ich ging durch Zeiten, die alles andere als leicht waren.
Kinder sind oft sehr offen für ein solches Erleben. Doch das Aufwachsen in dieser Welt scheint es schwer zu machen, solchen Erfahrungen langfristig zu trauen. Sie scheinen wie aus einer anderen Welt, der man kaum glauben schenken darf angesichts des Leidens, das man erlebt und durch das man andere Menschen gehen sieht. Ich habe damals nicht mehr über mein Erlebniss gesprochen. Im Nachhinein glaube ich, dass es mich nie ganz losgelassen hat. Ich habe es zwischendurch immer wieder einmal gefunden, auch wenn es lange sehr tief vergraben lag.
Mehr als zehn Jahre später traf ich Pater Willigis Jäger. Er war damals Benediktinermönch und ließ sich in Japan zum buddhistischen Zen-Lehrer ausbilden. Als ich ihm gegenüberstand, erlebte ich zum ersten Mal einen Menschen, der wirklich »da« war. Ganz im Augenblick. Ich merkte sehr schnell, dass er diese Erfahrung, die ich als Kind gemacht hatte, auch kannte. Durch ihn kam ich mit vielen anderen Menschen in Kontakt, denen es ähnlich ergangen war. Aber das Beste war, dass sie eine Praxis kannten, die es ihnen ermöglichte, sich dieser Erfahrung tiefer zu öffnen. Sie nannten es den spirituellen Weg. Er bestand aus der Praxis der Meditation, der Lektüre von Texten der Mystikerinnen und Mystiker aller Kulturen und einigen Vorträgen. So lasen wir von Menschen, die aus der Tiefe dieses Erlebens sprachen, begaben uns selbst in die Praxis und hörten Berichte und Gedanken zur Reflexion eines solchen Erlebens. Das alles war für mich sehr neu, aber ich wusste, dass ich ein Zuhause gefunden hatte.
Ich war plötzlich auf meinem Weg nicht mehr allein. Mit mir wahren Menschen, mit denen ich mein Leben und auch meinen spirituellen Weg teilen konnte. Einfach war es deshalb immer noch nicht. Ich ging weiter durch leichtere und schwerere Zeiten. Die Praxis öffnete mich aber immer mehr und brachte eine tiefere Stabilität in meine Wahrnehmung, die mich durch alle Zeiten zu tragen begann. Ich teilte meine Erfahrungen weiterhin mit anderen und entdeckte, wie unterschiedlich ihre Wege waren, aber dass sie alle auf ein gemeinsames Erleben hinwiesen: Wenn uns unsere Konzepte, Ideen und Gedanken verlassen, wenn es uns gelingt, ganz im Augenblick zu sein, dann werden wir als Menschen innerlich offen für eine Größe, die uns von innen her trägt. Diese Größe schenkt uns einen Frieden, den uns diese Welt mit all ihrer Not nicht geben kann. Manchen gelingt dieser Zugang durch bewusst erlernte Übungen, anderen wird er einfach geschenkt, oft in unglaublich schwierigen Situationen, wie eine Art Gnade. Vielen Menschen ist dieser Zugang aber einfach gar nicht gegeben.
Diese Größe im Inneren hat in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Namen erhalten. Christlich nennt man sie Gott, im alten China nannte man sie das Dao (übersetzt: der Weg), im jüdischen Kontext schwieg man den Namen aus. Gerade das Letztere ist mir eine der liebsten Umgangsweisen geworden.
Damals begann ich, diese Erfahrungen zu sammeln, sie zu studieren und die Wege zu erlernen, die mich für sie offenhalten. Im Lauf der Zeit wurde es mir zu einem tiefen Anliegen, Menschen auf ihren geistlichen Wegen zu diesem Erleben zu begleiten. Eigentlich bin ich meinem siebenjährigen Ich gar nicht so unähnlich: Ich gehe hinaus in die Welt und erzähle den Menschen, dass es nicht wirklich dunkel werden kann. Aber das klingt oft unglaubwürdig, gerade in Zeiten wie diesen, in denen sich die weltpolitische Lage dramatisch verschlechtert, Pandemien die Gesundheit bedrohen und die enormen Transformationsprozesse immer mehr Menschen in große Ängste stürzen. Doch gerade dann, wenn äußerlich kaum noch etwas trägt, kann man erfahren, dass man von innen getragen wird. Vielleicht gerade dann.
Dieses Buch ist eine Einladung, sich auf die Erfahrung des Getragenseins einzulassen. Es liefert keine Dogmen oder philosophische Konzepte. Stattdessen versuche ich, Geschichten zu erzählen – Geschichten von Menschen, denen das oben beschriebene Erleben geschenkt wurde. Einige sind bekannte Persönlichkeiten, andere nicht. Zwischen den Geschichten möchte ich aber auch versuchen, die geschilderten Erfahrungen etwas besser zu verstehen und, wenn nötig, kritisch zu hinterfragen. Dabei geht es mir immer um ein Verstehen, das ins Leben hineinspricht.
Diesem Grundanliegen steht noch ein zweites Anliegen gegenüber: Als pastoraler Mitarbeiter einer Kirchengemeinde erlebe ich immer wieder, dass die Bilder und Geschichten christlicher Prägung für Menschen unserer Zeit unverständlich geworden sind. Sie sprechen nicht mehr in ihr Leben hinein und so werden sie auch nicht mehr erlebbar als Antworten auf tatsächlich gestellte Fragen. Dies liegt meines Erachtens vor allem daran, dass der Zugang zur spirituellen Tiefenerfahrung nicht mehr vermittelt wurde und wird. Wenn ich die Ebene, aus der heraus die Texte sprechen, nicht selbst erlebe, bleiben sie für mich unverständlich. Sie erschließen sich erst im tatsächlichen Erleben. Aus diesem Grund hat der Theologe Karl Rahner im Jahr 1966 einen wichtigen, oft zitierten Satz aufgeschrieben: »Der Fromme von morgen wird ein ›Mystiker‹ sein, einer, der etwas ›erfahren‹ hat, oder er wird nicht mehr sein […].« Mir geht es in diesem Buch nicht um fromme Personen oder die Haltung der Frömmigkeit. Wir müssen auch nicht alle Mystikerinnen oder Mystiker werden. Aber ich glaube, dass jede Spiritualität für Menschen von heute auf einem Erleben gründen sollte. Wir dürfen tatsächlich erfahren, was uns trägt, um dann nicht einfach das Erfahrene in dogmatische Zwangsjacken zu pressen, sondern miteinander ins Gespräch über dieses Geheimnis zu kommen, in das wir alle eingebettet sind.
Dieses Buch möchte eine Hilfestellung sein, den Mut dazu zu finden, sich in die Tiefe dieses Erlebens hineinzuwagen. Dazu versuche ich, allgemeinverständlich zu sprechen. Ich erlaube es mir auch, dich, liebe Leserin, lieber Leser, zu duzen, weil ich glaube, dass dies eine persönliche Ansprache ermöglicht, die mir wirklich am Herzen liegt. Aufgrund meiner eigenen Beschäftigung mit dem Thema beschränke ich mich vor allem auf die christliche, aber auch auf die buddhistische Tradition. Kleinere Passagen zur islamischen Mystik füge ich ergänzend bei. Wichtiger als der Text selbst bleibt aber das Erleben, in das er versucht hineinzuführen. Meine Erfahrung ist, dass Texte und Berichte, die etwas darstellen, was man selbst nicht erlebt und womit man selbst nichts zu tun hat, wertlos sind. Wertvoll werden sie erst dann, wenn sie uns in unsere eigene Erfahrung hineinführen. So soll dieses Buch dazu einladen, die eigene Wahrnehmung zu vertiefen und sich selbst als Getragene, als Getragener zu erfahren. Um dies zu erleichtern, sind den einzelnen Kapiteln praktische Übungen angefügt. Auch sie sind als Einladung zu verstehen.
Die Erfahrung des Getragenseins ist kein Ziel, das man sich setzen kann. Sie lässt sich nicht erzwingen. Auch das Lesen von Büchern allein hilft nicht weiter. Es ist ein Weg, den man geht und auf dem man sich öffnet für ein tieferes Erleben dessen, was um einen herum geschieht. Meines Erachtens müssen wir auch nichts dafür tun, getragen zu werden. Wir sind es schon längst und werden es immer sein. Wir nehmen es nur nicht wahr. Deshalb geht es oft zentral darum, wirklich wahrzunehmen, was geschieht.
Ich möchte an dieser Stelle denen danken, die mich auf meinem Weg begleitet haben. Das sind vor allem die Gruppen und Menschen, die nun schon seit Jahren wöchentlich mit mir in die Praxis gehen. Sie haben mich letztlich ermutigt, dieses Buch zu schreiben und mir auch vieles von seinem Inhalt vermittelt. Dafür erreicht sie mein herzlichster Dank. Herzlich danken möchte ich auch meiner Lektorin Marlene Fritsch für die geduldige und sorgsame Begleitung der Veröffentlichung und dem Vier-Türme-Verlag für die Aufnahme in das Programm. Meinem eigenen Geistlichen Begleiter Benedikt verdanke ich spirituell mehr, als ich hier aufschreiben kann. Deshalb gilt auch ihm mein schlichter, aber tiefer Dank für den Weg der letzten Jahre.
Biografische Einübung
Markiere den Anfang dieses Zeitstrahles mit deinem Geburtsdatum.
Gibt es für dich Momente, an die du dich erinnerst, in denen du dich getragen gefühlt hast?Wann war das? Versuche die Punkte auf dem Zeitstrahl einzutragen.Wenn möglich, schreibe kurz einige Erinnerungen auf.Grundübung: Die allgemeine Meditationspraxis
Die folgende Anleitung ist die Grundpraxis für den Weg, den ich hier anbieten möchte. Wenn du dich darauf einlässt, wird schon nach kurzer Zeit eine neue Aufmerksamkeit in dein Leben treten und es wird dir leichter fallen, wirklich im Augenblick zu sein. Dieser Augenblick, in dem du dann wirklich da bist, ist immer wieder aufs Neue das Einzige, was wirklich zählt, weil es das Einzige ist, was im gegenwärtigen Moment wahr ist.
Meditation ist in aller Munde. Ich weiß nicht, welches Bild von dieser Praxis bei dir gerade vorherrscht. Ich möchte dir aber einen Weg anbieten, der sich in meiner Arbeit als sehr hilfreich erwiesen hat. Eine Vorstellung, die ich oft antreffe, ist die, dass man den Geist dabei freihalten sollte von Gedanken. Auf der Grundlage dieser Vorstellung versuchen viele am Anfang, ihre Gedanken zu unterdrücken oder zu stoppen. Fast alle, die das versuchen, erleben dasselbe: Ihr Gedankenstrom wird noch unruhiger als vorher. Weil wir ein Bild vor Augen haben und versuchen, einen scheinbar schönen Zustand zu erreichen, entfernt sich dieser immer weiter von uns. Das führt zu Frustration und nicht selten dazu, dass viele den Weg aufgeben oder sehr schnell zu dem Schluss kommen: Das ist nichts für mich.
Ich schlage an dieser Stelle einen anderen Ansatz vor, der etwas zurückhaltender ist und deshalb oft gut funktioniert. Es geht darum, einfach wahrzunehmen, was da ist, und nichts von dem, was da ist, zu bewerten. Dabei kann helfen, deine Aufmerksamkeit mit deinem Atem zu verbinden. Das Wunderbare am Atem ist, dass er einfach da ist, ohne dass du etwas tun musst. Alles, was dann zum Atem hinzukommt (Gedanken, Empfindungen, Gefühle, äußere Geräusche), fällt einfach in den Raum der nicht wertenden Aufmerksamkeit, den du öffnest. Es kann zudem hilfreich sein, beim Ausatmen innerlich ein Wort auszusprechen. Dabei geht es nicht darum, es zu verstehen oder deine Gedanken mit dem Wort zu verknüpfen, sondern einfach darum, die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Mein eigenes Wort, das mich schon lange begleitet, ist Frieden. Andere nutzen Begriffe wie: Schalom, Dasein, Christus oder Shanti. Wähle einfach ein Wort, das für dich stimmig ist. Aber hänge keine großen Gedanken und Konzepte daran. Es ist einfach ein Werkzeug, das dir hilft, in den Moment zu kommen. Hier ist eine kurze Schrittfolge:
Suche dir einen festen Platz, den du dir so einrichtest, dass du dich dort gut 20 Minuten ungestört aufhalten kannst.Nimm eine entspannte, aber aufrechte Sitzhaltung ein.Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Atem. Beobachte genau, wie er in deinen Körper strömt, deine Lungen füllt und deinen Körper wieder verlässt. Kontrolliere deinen Atem nicht. Lass ihn einfach fließen und beobachte ihn ganz genau, fünf Atemzüge lang.Dann verbinde deinen Atem mit dem Wort, das du dir ausgesucht hast. Sprich es innerlich beim Ausatmen. Du wirst merken, wie es in dir ruhiger wird. Lass dich einfach nieder.Wenn du beginnst, einen inneren Frieden zu erleben, der dich trägt, dann kannst du auch das Wort loslassen und dich einfach dem Frieden anvertrauen.Wenn du innerlich abschweifst und dich in Gedanken verlierst, dann ist das ganz natürlich. Kehre einfach zu deinem Wort und deinem Atem zurück.Wiederhole dies so oft wie nötig, bis du etwa 20 Minuten in dieser Haltung verbracht hast.Kehre dann langsam in deinen Alltag zurück und nimm, wenn möglich, etwas von der Stille mit. Das heißt nicht, dass es dafür in deinem Leben still sein muss. Ich selbst erziehe zwei Kinder und habe sehr viele turbulente Momente. Diese werden aber nach einer Zeit von einer inneren Stille begleitet, die sich eher in einer Form von Präsenz bemerkbar macht. Vielleicht spürst du, dass eine Art Aufmerksamkeitsqualität in dein Leben tritt, die vorher nicht da war.Diese Übung ist die Basisübung für die Praxis, die dieses Buch zu vermitteln versucht. Wenn es dir möglich ist, übe das in einer gewissen Regelmäßigkeit. Wenn du es schaffst, dich eine Woche lang jeden Tag für 20 Minuten hinzusetzen, wirst du schon einen deutlichen Unterschied spüren. Nach einer Weile wirst du merken, dass sich ein gewisser Frieden ganz von selbst in deinem Alltag breitmacht und eine wunderbare Ruhe mit sich bringt.
DIE ERFAHRUNG VON GETRAGENSEIN
Das Phänomen
Ein Phänomen ist etwas, dessen Existenz wir eigentlich nicht leugnen können, weil es uns im Leben begegnet. Freiheit zum Beispiel ist ein solches Phänomen. Wir können sie nicht fassen, und doch erleben wir Menschen uns oft als frei. Zum Beispiel, wenn wir vor großen oder auch kleinen und alltäglichen Entscheidungen stehen und wir dann eine Option auswählen. Mit der Erfahrung dessen, was uns trägt, ist es nicht anders, nur ist sie uns nicht so vertraut, weil wir sie nicht alle teilen. Und doch hat sich diese Wirklichkeit in fast allen spirituellen Traditionen durch die Geschichte der Menschheit hindurch niedergeschlagen. Ich halte das Erleben dessen, was uns in aller weltlichen Gebrochenheit und Leiderfahrung trägt, für ein Urphänomen religiöser Erfahrung und spiritueller Praxis. Die großen Traditionen vermitteln uns oft ein anderes Bild: Wir hören von Himmel und Hölle, von dogmatischen Festlegungen und komplizierten Gedankengebäuden, die scheinbar nur Menschen bewohnen können, die sich lange damit beschäftigen. Dabei geht es um ein einfaches, zutiefst menschliches Phänomen. Im Inneren unseres Geistes gibt es einen bedingungslosen Frieden, der durch nichts gestört werden kann. Wir nehmen ihn aber meist nicht wahr, weil wir mit der Oberfläche unseres Geistes identifiziert und beschäftigt sind. Spannend ist, dass uns dieses Erleben also zunächst nicht nach außen verweist, sondern nach innen.
Das Bild des Meeres kann hier hilfreich sein und wird uns in diesem Buch noch öfter begegnen, weil es auch in vielen Traditionen als Bild für dieses Erleben gewählt wird. Die Oberfläche des Meeres ist oft sehr aufgewühlt, wenn der Wind heftig bläst, dann türmt sich Welle um Welle auf. Manchmal ist es aber auch windstill, dann liegt das Meer ruhig und kristallklar da und spiegelt den Himmel, wie es Kierkegaard im Text zu Beginn des Buches beschreibt. Wenn wir aber tiefer ins Meer gehen, also unter Wasser, dann sehen wir zuerst eine Ebene, die immer noch von den Wellen bewegt, aber nicht zerrissen wird. Noch tiefer ist da nur noch Stille und Ruhe. Das ist ein wunderbares Bild für unser Bewusstsein. Stille und Ruhe haben dann nichts mit kühler Distanz zu tun, sondern mit einer sensiblen Wahrnehmungsfähigkeit für eine Wirklichkeit, die uns von innen her ausmacht.
Folgen wir diesem Bild, dann ist das, was uns trägt, auch keine äußere Wirklichkeit. Es scheint nicht so zu sein, dass etwas von irgendwoher in unser Leben tritt und uns zu tragen beginnt, sondern wir sind von innen her Getragene. Wir erleben uns nur meist nicht so. Deshalb werden viele vielleicht irritiert auf diese Darstellung reagieren, weil sie diese innere Ruhe so noch nicht gespürt haben. Das liegt jedoch daran, dass wir meist nur die Oberfläche unseres eigenen Geistes kennen.
Es mag sein, dass diese Aussage jetzt noch etwas irritierender ist, aber sie folgt der einfachen Erkenntnis der Psychologie von ihren Anfängen bis heute: Das Unbewusste macht einen großen Teil unseres Bewusstseins aus. Vielleicht haben einige jetzt das Bild des Eisbergs vor Augen, dessen Spitze aus dem Wasser ragt, dessen größter Teil aber im Wasser verborgen ist. Dieses Bild wurde häufig für das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Unbewusstem benutzt. Das, was wir von uns wahrnehmen, ist nur ein geringer Teil dessen, was uns eigentlich geistlich ausmacht. Wenn man nun die Psychologie befragt, dann sind in diesem verborgenen Teil verschiedene Inhalte zu finden.
Für Sigmund Freud waren es vor allem sexuelle Triebe und Komplexe. C. G. Jung dagegen identifizierte verschiedene psychodynamische Prozesse und verband sie mit seiner Archetypenlehre. Die Erfahrung der spirituellen Praxis aller Zeiten und Kulturen hat jedoch etwas anderes in diesem unbewussten Teil unseres Selbst ausgemacht: einen Bereich absoluten Friedens, der durch nichts gestört werden kann. Der moderne Mystiker Martin Gutl beschreibt es so: »Zuckende Feuer in den Augen der Menschen und tief in ihm der stille Gott.« Die meisten von uns kennen auch das Bild der großen Welle vor Kanagawa des japanischen Künstlers Hokusai. Auch er bildet genau dieses Phänomen ab. Die Mönche im Fischerbot werden im nächsten Moment unter der großen Welle begraben. Im Hintergrund aber steht der heilige Berg Fuji in denselben Farben in absoluter Symmetrie. Dieser Holzschnitt weist ebenfalls auf das Phänomen der inneren Spannung zwischen einer menschlich dramatischen Situation und dem ruhigen, fast natürlichen Getragensein.
Es geht nicht darum, die göttliche Wirklichkeit auf ein psychologisches Phänomen zu reduzieren. Ich glaube aber, dass wir vor allem in der christlichen Tradition unter einer starken Veräußerlichung Gottes leiden. Genau hier kann uns das beschriebene Erleben helfen. Das, was uns trägt, ist tatsächlich die Wirklichkeit Gottes selbst. Diese ist uns aber im Inneren gegenwärtig. Wir sind nicht so sehr getrennt von ihr, wie es uns oft scheint.
Wenn wir versuchen, ein Phänomen zu verstehen, sind wir gut beraten, die vielfältigen Formen zu betrachten, in denen es uns begegnet. Hören wir daher einige Geschichten von Menschen, die diesen tiefen Frieden, diese Größe in uns in unterschiedlichen Kontexten erfahren haben.
Hilde Domin und die Luft, die trägt
Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug.
Hilde Domin schrieb diese Zeile nicht in einem ihrer Gedichtbände, sondern in einen Brief an ihren Bruder. Ob sie ihn abgeschickt hat, wissen wir nicht. Wir wissen nur, worauf er sich bezieht. Die Dichterin Hildegard Dina Löwenstein hat in ihrem Leben Zeiten durchlebt, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann. War ihre Kindheit noch unbeschwert gewesen, musste sie als Jüdin schon früh vor den Nationalsozialisten fliehen. Bei einem Auslandssemester in Rom gelangte sie so über England in die Dominikanische Republik, wo sie lange Jahre im Exil lebte – daher auch das Pseudonym »Domin«, unter dem sie dann veröffentlichte. Getragen wurde sie von ihrem Lebensgefährten Erwin Palm, den sie später heiratete. Er trug sie auch durch die Zeit der Entbehrungen, der finanziellen Not, der Orientierungslosigkeit und Einsamkeit im Exil. Lieben und geliebt werden, so lässt sich die Erfahrung des Getragenseins für Hilde Domin bis 1950 beschreiben. Solange sie wusste, dass ihre geliebte Mutter lebte, hatte sie einen Grund, nach Hause zurück zu wollen. Solange sie sich von Erwin geliebt wusste, hatte sie die Kraft, zu schreiben und zu arbeiten. Durch alle Schwierigkeiten hindurch trugen sie die Beziehungen zu anderen Menschen.
Doch 1951 brach plötzlich alles zusammen: Ihr Mann lernte eine andere Frau kennen und verließ sie von jetzt auf gleich. Kurz darauf starb ihre Mutter. Es ist schwer, eine solche Situation einfühlsam nachzuvollziehen, aber man kann sich vorstellen, dass es sich für sie anfühlte, als sei der Boden unter ihr weggebrochen. Alles, was sie getragen hatte, war innerhalb von zwei Wochen verschwunden. Dann machte sie eine merkwürdige Erfahrung: Sie fand Halt in der Poesie, in der Sprache. Etwas wollte sich in ihr ausdrücken. Die Menschen, die sie getragen hatten, waren verschwunden. An ihre Stelle trat erst eine Leere, dann eine Weite und schließlich ein seltsames Erleben: Da war nichts mehr, und doch wurde sie getragen wie von Luft.
Was Hilde Domin beschreibt, erinnerte mich an das, was ich als Kind auf der Schaukel erlebt habe. Sicherlich ist es anders, wenn einem so etwas als Erwachsener widerfährt. Zumindest ist es dann leichter, das Erlebte in Worte zu fassen und so weiterzugeben, dass andere vielleicht ansatzweise verstehen, was geschehen ist. Aber im Nachhinein könnte ich genau diesen Satz unter mein Erlebnis als Kind schreiben: Ich setzte meinen Fuß in die Luft und sie trug mich. Interessanterweise waren meine Füße auf der Schaukel immer in der Luft, und plötzlich begann sie zu tragen. Aber wie kann man den Inhalt, die Erkenntnis eines solchen Erlebnisses etwas besser verstehen?
Vielleicht hilft es, ein wenig darüber nachzudenken, was es bedeutet, als Mensch getragen zu werden. Wir alle kommen auf die Welt, ohne dass wir gefragt werden, ob wir uns auf dieses Abenteuer einlassen wollen. Dann bekommen wir einen Namen, den wir uns nicht ausgesucht haben, und ganz langsam, in den ersten Jahren, wird uns bewusst, dass wir eigentlich nur ein zerbrechlicher Körper sind, der sich auf einem unbedeutenden Sandkorn am Rande einer Galaxie bewegt, eingebettet in einen schier unendlichen Raum. Dieses Bewusstwerden bleibt aber paradoxerweise oft unbewusst. Dann befällt viele von uns eine Angst, die sie sich kaum erklären können. Bedrohliche Situationen erleben wir häufig schon sehr früh: Der erste Fieberanfall, die Krankheit der Eltern, der Tod von Haustieren, Eltern oder Großeltern. Kinder begreifen oft schneller, dass ihr Leben bedroht wird, als uns lieb ist. Zum Beispiel, wenn das Radio oder der Fernseher laufen, ohne dass man es als Erwachsener bewusst wahrnimmt. Bilder und Worte aus Kriegsgebieten und von unmenschlichen Verbrechen dringen dann in den Raum. Kinder verstehen, worum es da geht. Das macht Angst.
Das natürliche Gegengift zur Angst ist Geborgenheit. Wenn es gut läuft, wirkt sie schon sehr früh: Das Baby liegt auf dem Arm des Vaters oder der Mutter. Der beängstigend große Raum schließt sich und wird winzig klein, nur so groß wie der Elternteil, der uns im Arm hält. Dieser Raum um uns herum strahlt einzig ein Gefühl aus: Geborgenheit. Versucht man, den Inhalt dieses Erlebens in Worte zu fassen, stößt man schnell auf eine tiefe Gewissheit: »Mir kann nichts passieren. Ich bin ein geborgener, ein getragener Mensch. Diese Welt ist ein sicherer Ort.« Aber noch darunter, noch tiefer steht dahinter das Gefühl: »Ich bin ein geliebter Mensch. Es ist gut, dass ich da bin.« Natürlich ist das Baby noch nicht in der Lage, das in seinem Bewusstsein zu formulieren. Es hat noch kein Bild von sich. Aber gerade deshalb geht die Qualität des Gefühls viel tiefer, als es jedes spätere Gefühl reflexiv einholen könnte.
Ich erinnere mich gut an die Geburt meines Sohnes. Meine Frau und ich waren noch sehr jung und ein wenig überfordert. Unser Kind schrie die ersten drei Monate fast ununterbrochen. Das Einzige, was ihm half, war, ihn zu tragen. In meinen Armen beruhigte er sich meist sehr schnell. Da die Kraft meiner Arme aber begrenzt ist, haben wir bald ein Tragetuch gekauft und uns unser Kind fast die ganze Zeit abwechselnd vor den Bauch gebunden. Erst nach drei Monaten schien es mehr und mehr in der Welt anzukommen, uns anzuschauen und wahrzunehmen. Das Schreien wurde weniger und es konnte die Welt entdecken. Es war spannend zu beobachten, wie das Getragenwerden nun anders vermittelt wurde: durch Blicke, Präsenz und Aufmerksamkeit. Auch das sind sehr reduziert vorhandene Ressourcen für ein junges Paar. Aber diese Zeit hat mich eines gelehrt: Wenn das erste Grundgefühl von Getragensein vermittelt ist, dann wird es immer wieder auf unterschiedliche Weise nachgefragt.