Erleuchtung gefällig? - Bernd Kramer - E-Book

Erleuchtung gefällig? E-Book

Bernd Kramer

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Beschreibung

Pendeln, Tarot, Rutengehen und Geistheilerei – es gibt kaum etwas, woran nicht geglaubt wird. Fast 40 Prozent der Deutschen sind laut Umfragen der Astrologie gegenüber aufgeschlossen. Die Esoterik ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Warum schwören so viele Menschen auf offensichtlichen Unsinn?
Bernd Kramer geht diesen Fragen nach und unternimmt dafür einen esoterischen Selbstversuch. Er taucht in die Szene ein: Bei einer Reinkarnationstherapie geht er seinem früheren Leben als Mönch nach; er hat erstaunlichen Erfolg als Berater bei einer Astro-Hotline; und auf einer Esoterik-Messe repariert er mittels Rückenkratzer, Salzstreuer und in »Transzendenzzapfen« umgetauften Weihnachtsschmuck die beschädigte Aura seiner begeisterten Kundschaft.
Nach dem Lesen dieser Reportage freut man sich wieder auf den gesunden Menschenverstand.

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Seitenzahl: 294

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Bernd Kramer

Erleuchtung

gefällig?

Ein esoterischer Selbstversuch

Ch. Links Verlag, Berlin

Inhalt

Prolog

Einleitung

Warum sich plötzlich alle als spirituell und ganzheitlich begreifen

Urwissen

Wie ein Heiler durch Schütteln meiner Hände vergangene Existenzen aufspürt, und warum die Esoterik-Bewegung irdische Ursprünge hat

Selbstoptimierung

Wie ich bei einer Reinkarnationstherapeutin meine karmische Vergangenheit aufbereite, und warum ich mich anschließend trotzdem nicht besser fühle

Geistesgaben

Wie ich in einem Seminar ein Wochenende lang das Hellsehen übe und wider Erwarten darin sogar ziemlich gut bin

Selbstanmaßung

Wie ich mit Christbaumschmuck energetische Behandlungen durchführe und einen Job als Lebensberater bei einer Astroline finde

Täuschung

Warum es nur auf die richtigen Methoden ankommt, um als Guru Erfolg zu haben, und warum man sich sogar selbst hinters Licht führen kann

Schluss

Anhang

Quellenverzeichnis

Angaben zum Autor

Editorische Notiz

Die Namen der Protagonisten sind, sofern sie nicht mit Vor- und Zunamen auftreten, verändert, ebenso wie weitere Details. Die Dialoge sind aus dem Gedächtnis heraus wiedergegeben.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von Mai 2013)

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: Burkhard Neie, www.blackpen.xix-berlin.de, unter Verwendung eines Fotos von Andrea Michele Piacquadios / Shutterstock

Satz: Agentur Marina Siegemund, Berlin

ISBN 978-3-86284-243-8

Prolog

»Kannst du mir vielleicht auch noch etwas mitgeben für mein Buch? Siehst du da etwas?«

»Okay, ich nehme mal das Kartendeck der aufgestiegenen Meister. Konzentriere dich mal auf das Buch und sage stopp.«

»Stopp.«

»So, ich habe hier jetzt Erzengel Michael liegen. Und er sagt dir: Diese Arbeit wird dich zu deinem inneren Reichtum führen.«

»Ah, Geld?«

»Innerer Reichtum.«

»Erkenntnis?«

»Ja, Erkenntnis. Was ist dein Thema?«

»Na ja, es geht, grob gesagt, um Spiritualität und meine Zweifel daran.«

»Um Wahrheit und Täuschung also?«

»Illusion und Wirklichkeit.«

»Ein superwichtiges Thema. Es gibt nur wenige, die das voneinander unterscheiden können.«

»Und ich werde das können?«

»Absolut.«

Dialog mit einer hellsichtigen Beraterin bei Questico, einem Unternehmen, das mit esoterischer Lebenshilfe per Telefon Millionen umsetzt.

Einleitung

Warum sich plötzlich alle als spirituell und ganzheitlich begreifen

Vielleicht bin ich aus der Zeit gefallen. Weil ich wahrscheinlich immer noch diesem kalten, unbarmherzigen Rationalismus anhänge, der sich doch längst als gescheitert erwiesen hat. Der die vergangenen 200 Jahre unser Denken dominierte. Aber was hat er gebracht? Eine Wissenschaft, die sich allein aufs Vermessen kapriziert; Bürokratien, denen das Schicksal des Einzelnen egal ist; Unternehmen, die in ihren Mitarbeitern vor allem eine verwertbare Arbeitskraft sehen; ein Gesundheitssystem, das den Menschen als reparierbare Maschine betrachtet und nicht als das beseelte Wesen, als das er begriffen werden will. Wer heute etwas auf sich hält, denkt anders. Spirituell. Ganzheitlich. Postrational.

Nur ich bekomme das nicht hin. Ich weiß noch nicht einmal, was das heißt. Ich verharre weiter in der alten, stahlharten Welt und werde partout nicht empfänglich für das neue Numinose.

So könnte man es beschreiben.

Irgendwann habe ich bemerkt, dass ein Teil meines Umfeldes und ich auseinanderdrifteten. Viele, die ich für intelligent und aufgeklärt hielt, fingen an, sich für die seltsamsten Dinge zu begeistern. Mir fiel auf, wie viele meiner Bekannten Dingen Glauben schenkten, deren Unsinnigkeit ich für ausgemacht hielt.

Da ist zum Beispiel eine Kommilitonin, die mir erzählte, dass sie ihre Klausuren mit der Unterstützung einer Freundin zu meistern pflegte, die ihr zur Prüfungszeit per Fern-Reiki positive Energien schickte. Nicht dass sie wirklich daran glauben würde, aber es habe zumindest nicht geschadet.

Da ist zum Beispiel ein entfernter Verwandter, der, wie ich höre, inzwischen zusätzlich zu seinem Hausarzt eine Geisthei­lerin konsultiert. Diese Heilerin, sagt er, trete sehr bodenständig auf, keine Hexe, keine überakzentuierte Spinnerin, nicht eingebildet oder überheblich, bescheiden im Auftreten, eine ganz gewöhnliche Frau mittleren Alters in Jeans und Bluse. Als ob allein durch Attribute der Alltäglichkeit die Geistheilerei plausibler würde.

Die Menschen in meinem Umfeld sind vielleicht noch vorsichtig und unbestimmt in ihrem abschließenden Urteil darüber, ob an Geistheilerei, Fern-Reiki oder wirkstofffreien Arzneimitteln wirklich etwas dran ist. Als offenkundigen Unsinn ablehnen wollen sie es wiederum auch nicht. Was geht hier vor sich?

***

Die Esoterik boomt. Bevölkerungsumfragen zeigen, dass mitunter 40 Prozent der Deutschen der Astrologie gegenüber aufgeschlossen sind. Jeder Vierte glaubt an Wiedergeburt und damit potenziell auch daran, dass Ereignisse aus vergangenen Leben das Dasein im Hier und Jetzt beeinflussen.1 Eine Studie der Universität Hohenheim vermaß vor einigen Jahren die Gruppe der »spirituellen Sinnsucher«, die ihre ganz persönliche Erleuchtung außerhalb der traditionellen Kirchen und Konfessionen zu finden hofft. Zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung zählten die Forscher dazu.2 Selbst Konfessionslose, selbst solche, die auf den ersten Blick atheistisch erscheinen, bezeichnen sich zu einem beträchtlichen Teil als spirituell.3 Das gesellschaftliche Klima hat sich verschoben. Die Kirche mag man noch als engstirnig und autoritär ablehnen, ohne auf großen Protest zu stoßen. Aber das Spirituelle kratzt man nicht mehr so ungestraft an. Spiritualität ist gut. Wer sie ablehnt, ist gefühllos, engstirnig, verschlossen. So wie ich.

Verlässliche Zahlen darüber, wie viel die Deutschen Jahr für Jahr für Esoterik ausgeben, gibt es genauso wenig wie einen Konsens, was überhaupt Esoterik ist. Der Trendforscher Eike Wenzel bezifferte den Jahresumsatz mit dem Übersinnlichen immerhin auf bis zu 25 Milliarden Euro. Tendenz steigend.4 »Die Esoterik dringt zunehmend in den ganz normalen Alltag ein«, meint Hartmut Zinser, Professor für Religionswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Die Folge: »Viele nehmen sie schon gar nicht mehr als esoterisch wahr.«5

Wie weit die Esoterik die Gesellschaft schon durchdrungen hat, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. Die Bundesagentur für Arbeit etwa fördert mit dem Bildungsgutschein die Umschulung zum Astrologen. Es gibt Unternehmen, die sich dafür interessieren, wie sie Mitarbeiter anhand der Schädelform auswählen können, und zahlreiche Personalberater, die ihnen dabei helfend zur Seite stehen.6 Bürgermeister halten Eröffnungsreden auf Esoterik-Messen.7 Jürgen Klinsmann lässt Buddha-Statuen auf dem Trainingsgelände aufstellen, weil das den Spielern »einen gewissen Energiefluss« gebe.8 Auch die Polizei schreckt vor metaphysischen Ermittlungsmethoden nicht zurück: Beamte in Hamburg konsultierten einen Geisterbeschwörer, der Kontakt zu einem von den Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ermordeten türkischstämmigen Gemüsehändler aufnehmen sollte. Auf die richtige Fährte führte dieser angebliche »Gigant unter den Metaphysikern« die Ermittler nicht. »Versuch macht klug«, meinte lapidar einer der Beamten in einer Mail an die Kollegen, »und verlieren können wir letztlich nichts.«9 Selbst an Universitäten, dem vermeintlichen Hort der Aufklärung, wird, häufig mit Geld aus der Wirtschaft, an Hellseherei und dergleichen geforscht. Esoterik ist mittlerweile Mainstream.

Was Shakespeare seinem Hamlet in den Mund legte, scheint zum Motto unserer Tage geworden zu sein. Nachdem der Prinz von Dänemark zur mitternächtlichen Stunde dem Geist seines verstorbenen Vaters begegnet war, sagte er zu seinem Freund Horatio den Satz, den heute auch alle Apologeten der Esoterik als Totschlagargument gegen jeden Zweifel herbeizitieren: »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.«

Mag ja sein.

Aber was folgt daraus? Dass die geschmähte Schulweisheit prinzipiell unfähig wäre, nicht doch eine schlüssige Erklärung zu finden? Oder dass es tatsächlich andere zuverlässige Möglichkeiten gibt, Phänomene zu erkennen und brauchbar zu machen, wenn uns Schulweisheit und Alltagsverstand nicht weiterhelfen?

***

Bei mir löst dieser Mainstream keinen Sturm der Begeisterung aus, sondern einen diffusen Schauer. Mag sein, dass ich mich als Kind in der Geisterbahn auf dem Dorfjahrmarkt so sehr erschrocken habe, dass ich seither einen großen Bogen auch um die guten Gespenster mache, um die Elfen und Engel. Ob die Geister nun schön oder schaurig sind, ist zweitrangig. Sie bleiben Geister, und das grundsätzliche Problem bleibt das gleiche: Wie können wir wir selbst bleiben, wenn wir zu Mitteln greifen, die unseren Verstand übersteigen, auch wenn diese Mittel noch so menschenfreundlich und nützlich erscheinen? Die Esoterik belässt es nicht beim Gebet, bei dem der Gottesfürchtige von Anfang an einkalkulieren muss, dass der unergründliche Allmächtige es möglicherweise nie erhören wird. Auf dem Gebiet der Esoterik gilt Unwirksamkeit von vornherein eher als Ausnahme und nicht als Regel. Für eine Weile tragen uns ihre Methoden vielleicht tatsächlich über eine schwierige Situation, aber plötzlich stellen wir fest, dass wir die Geister, die wir riefen, so schnell nicht wieder loswerden. Goethes Zauberlehrling, der im Übermut das Haus unter Wasser setzt, ist Beispiel genug.

Nicht nur, dass die Selbstauslieferung an das Übersinnliche eine unheilvolle Eigendynamik entfalten kann. Etwas an der Esoterik wirkt schief, widersprüchlich, suspekt. Irgendetwas, scheint mir, passt bei ihr nicht richtig zusammen. Die Arbeit der Heiler und Wahrsager, Energiearbeiter, Astrologen und Schamanen wirkt wie der Versuch, Ephemeres in Portionen zu pressen, Weiches hartzubekommen und Hartes seelenweich. Das Bemühen, Geist mit Materie zu vereinen, scheint mir genauso zum Scheitern verurteilt zu sein wie die Idee, man könne die Luft, die uns umgibt, in Würfel schneiden und mit der Post in alle Welt verschicken. Die Esoterik wirkt unecht und lügnerisch. Sich an ihr kurieren zu wollen, ist, als würde man seine Wunden mit Watte aus Eisenspänen betupfen. Oder mit Verbänden aus Sonnenlicht. Es passt nicht zusammen.

Theodor Adorno schüttelte den Kopf über diese so offensichtlich inkonsistent gefertigten Plastikreligionen. Da schimpfen ihre Anhänger so sehr über den Materialismus unserer Tage. »Aber den Astralleib wollen sie wiegen«, schreibt Adorno. »Die Objekte ihres Interesses sollen zugleich die Möglichkeit von Erfahrung übersteigen und erfahren werden. Es soll streng wissenschaftlich zugehen; je größer der Humbug, desto sorgfältiger die Versuchsanordnung.«10

Vor allen Dingen kommt mir das alles nicht vor wie etwas Religionsähnliches, wie etwas, an das man ernsthaft glauben könnte. Transzendentes, das sich dazu herablässt, Steinchen zu beseelen oder Prüfungserfolge zu befördern, diskreditiert sich selbst. Das Übersinnliche macht sich lächerlich, wenn es sich in so Banalem äußert wie einem Kartendeck oder einer Kristallkugel und buchbar ist auf dem Therapie- und Seminarmarkt. Als Weltenlenker halte ich Gott schon für unplausibel, als Hausmeister erst recht. Als Patchwork-Religion unterläuft die Esoterik durch die willkürliche Verbindung von Wiedergeburtglaube und Bibelexegese, Engeln und Energieströmen außerdem so offensichtlich jeden absoluten Wahrheitsanspruch, dass sie für mich unmöglich als glaubwürdige Alternative in Betracht kommt. Lieber glaube ich nichts.

Anfang der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts besuchte Thomas Mann einige Séancen im Hause des Münchener Parapsychologen Freiherr Albert von Schrenck-Notzing, einem Star der damals blühenden Geisterbeschwörerszene, der etwas düsteren Vorläuferbewegung der heutigen Esoterik. Thomas Mann beschreibt seine »Okkulten Erlebnisse«: das Betreten der abgedunkelten Bibliothek, in der er zu seiner Überraschung im Pub­likum auch einen Zoologieprofessor der Universität erblickt, die Verlegenheit, als die beiden sich als Männer von Verstand Wähnenden in dieser Situation aufeinandertreffen, die gespannte Atmosphäre, die »ein wenig an die Stimmung junger Leute erinnerte, die sich zu ihrem ersten Besuch bei Mädchen anschicken«. Thomas Mann wird gebeten, das Medium, einen jungen Kerl namens Willi, an dessen Stuhl festzuhalten. Bald darauf fällt Willi in Trance, und im Halbdunkel lässt er ein Taschentuch sich erheben und über die Köpfe des Publikums hinwegfliegen und einen Geist auf einer mechanischen Schreibmaschine tippen.

Etwas billig kommt dem Bildungsbürger Mann dieses Schauspiel vor. »Würde gibt es nur in der Sphäre des reinen Geistes, zu dessen Provinzen die Metaphysik im Sinne erkenntnistheoretisch-transzendenter Spekulation gehört. Wenn aber Metaphysik empirisch wird, wenn sie sich herbeiläßt oder die Verpflichtung zu fühlen beginnt oder der Verführung unterliegt, dem Weltgeheimnis experimentell auf die Spur zu kommen – und das tut sie im Okkultismus, da dieser nichts ist als empirisch-experimentelle Metaphysik –, so darf sie nicht darauf rechnen, ihre Hände rein zu halten, ihrer Haltung Würde zu wahren«, schreibt er. »Denn im Mediumismus und Somnambulismus, der Quelle der okkulten Phänomene, mischt sich das Geheimnis des organischen Lebens mit den übersinnlichen Geheimnissen, und diese Mischung ist trüb.«11 Die Addition von Oben und Unten ergibt nichts Größeres, sondern allenfalls ein Dazwischen.

Und trotzdem ist Thomas Mann die Faszination am Ende anzumerken. »Nachdem ich gesehen, halte ich es für meine Pflicht, Zeugnis abzulegen, daß bei den Experimenten, denen ich beiwohnte, jede Möglichkeit mechanischen Betruges, taschenspielerischer Illusionierung nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen war«, beteuert der Schriftsteller.12 Künftig wolle er, ein Mensch des »klaren und humanen Gedankens«, das Haus des geheimnisvollen Freiherrn von Schrenck-Notzing meiden, schließt Thomas Mann seinen Bericht. Um dann kleinlaut hinzuzufügen, dass er doch vielleicht versuchsweise noch einmal wiederkommen würde, »zwei- oder dreimal, nicht öfter«13.

Bloß warum?

Warum schwören heute so viele Menschen auf dieses trübe Gemisch? Woher rührt die Begeisterung für Esoterik? Warum sind viele hingezogen zu dem, was mir Unbehagen bereitet? Was fasziniert sie am Pendeln und Kartenlegen, an Tarot und Astrologie, Geistheilerei und magieschwangerer Alternativ­medizin? Warum wird dafür auch noch eine Menge Geld ausgegeben? Und wer sind die Leute, die daran verdienen?

Mich interessiert, was die Esoterik mit dem Einzelnen macht. Und was aus einer Gesellschaft wird, die zunehmend esoterisch geprägt ist, in der immer mehr Lebensbereiche einen übersinnlichen Anstrich erhalten.

Um das herauszufinden, wage ich ein Experiment. Ich will mich hineinbegeben in diese Welt, vor der mir graut. Ich erwarte und ich hoffe nicht, am Ende bekehrt zurückzukehren. Ich starte einen esoterischen Selbstversuch, rede mit Betroffenen, mit Anbietern, stöbere als Kunde auf dem Markt der Sinnangebote. Und ich versuche, selbst Fuß zu fassen in der Szene, mich und meine Fähigkeiten anzubieten auf diesem Markt der Übersinnlichkeiten. Es ist eine Reise an die Grenze der Vernunft und darüber hinaus, ohne Schutzhelm, ohne doppelten Boden.

1 Rauner, Max: Die neue Religion. Die Esoterik durchdringt den Alltag. Religionsforscher prophezeien eine stille spirituelle Revolution, Sektenbeauftragte warnen, in: Zeit Wissen, 4/2011, S. 84f.

2 Pressemitteilung der Identity Foundation und der Universität Hohenheim vom 7. 6. 2006: »Jeder siebte Deutsche ein ›spiritueller Sinnsucher‹« (http://identity-foundation.de/images/stories/downloads/PM_Lang_Studie_Spiritualitaet.pdf).

3 Pressemitteilung der Universität Bielefeld vom 23. 2. 2012: »Eher spirituell als religiös« (http://idw-online.de/de/news464746).

4 Kramer, Bernd: Hinters Licht geführt. Der Esoterik-Markt wächst und wächst. Aber nicht alle Angebote sind so harmlos, wie sie klingen, in: Die Zeit 28/2010.

5 Ebd.

6 Kramer, Bernd: Die falsche Nase. Manche Unternehmen wählen Mitarbeiter nach der Schädelform aus, in: Zeit Campus 6/2011.

7 Messe EINHEIT – Bürgermeister Manfred Horf (CDU) unterstützt Scharlatanerie, in: Psiram-Blog, 11. 5. 2010 (http://blog.psiram com/2010/05/messe-einheit-burgermeister-manfred-horf-cdu-unterstutzt-scharlatanerie/).

8 Trauriges Ende für Klinsmanns Buddhas, in: Die Welt, 3. 9. 2008.

9 Medick, Veit: Polizei suchte mit Geisterbeschwörer nach NSU-Mörder, in: Spiegel Online, 14. 6. 2012 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/polizei-suchte-mit-geisterbeschwoerer-nach-den-nsu-moerdern-a-838795.html).

10 Adorno, Theodor W.: Thesen gegen den Okkultismus, in: Ders.: Minima Moralia. Notizen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 2001, S. 274.

11 Mann, Thomas: Über mich selbst. Autobiografische Schriften, Frankfurt am Main 2010, S. 226.

12 Ebd., S. 254.

13 Ebd., S. 258.

Urwissen

Wie ein Heiler durch Schütteln meiner Hände vergangene Existenzen aufspürt, und warum die Esoterik-Bewegung irdische Ursprünge hat

Locker lassen. Nichts kann anstrengender sein, als einfach einmal locker zu lassen. Wie macht man das? Wie findet man zu sich selbst? Wie lässt man sich in sein Innerstes hineinfallen?

Ich habe in einem hellbraunen, abgewetzten Ledersessel Platz genommen, und der Herr, der mir gegenübersitzt, erklärt, dass er seine Behandlung nicht wird beginnen können, wenn ich nicht locker lasse. Er schüttelt den Kopf über meine Verkrampftheit. Ich frage mich, was der Herr genau ist. Ein Guru? Ein Trainer? Ein Coach? Jemand, der einfach nur sein Handwerk ausführt? Oder jemand, der über Fähigkeiten verfügt, die ich nicht einmal zu erahnen wage?

Er hat eine blonde Surflehrerfrisur, schulterlang, durchdringende blaue Augen und spricht in einem weich gebrochenen Deutsch, einem zischenden Akzent, der irgendwie zwischen Polnisch und Französisch changiert.

Ich habe meine Arme ausgestreckt. Er hält meine Hände. Er wiegt sie in der Luft, lässt los, sie fallen ein Stück, er fängt sie auf. Das Einzige, was er mir vorab zu seiner Methode gesagt hatte, war, dass er mit dem Unter­bewusstsein arbeite, irgendwie. Warum er dafür meine Hände schaukelt, was er an der Art, wie ich sie halte, erkennen will, wozu das führen soll, ist mir unklar. Ich merke nur, dass ihm das alles noch nicht so recht passt. Und dass es an mir liegt. An mir allein. An meiner mangelnden inneren Bereitschaft vielleicht. An meiner skeptischen Haltung, von der ich befürchte, dass er sie durchschauen könnte.

Mir ist natürlich vollkommen klar, dass mir niemand gegenübersitzt, der hellsichtig ist. Alles was er kann, kann ich potenziell auch. Trotzdem kommt mir mein Vorsatz, ihm kein Wort zu glauben von dem, was er erzählen würde, illoyal vor, unfair.

»Du lässt nicht locker«, ermahnt er mich. »Guck einmal. Du kontrollierst. Du hast Angst, die Kontrolle abzugeben«, sagt er. »Aber wenn du nicht locker lässt, werde ich dich nicht untersuchen können. Dann werde ich in Wahrheit nur mich untersuchen und dir etwas Falsches erzählen.«

Mein Experiment hat mich auf eine Esoterik-Messe geführt, einen Jahrmarkt für Sinnstiftung und Selbstoptimierung. Das Angebot ist weit und widersprüchlich. Es gibt Profanes mit sakralem Anspruch, Räucherstäbchen, Edelsteine und Teesortimente. An manchen Stellen erinnert die Messe an einen Kitsch­laden voller Deko-Artikel, an anderen wirkt sie wie ein Aufgebot von Wanderpredigern. Das Angebot, das der Herr, dem ich nun gegenübersitze, macht, nennt sich nur ganz allgemein: »Die Heilung«. So steht es an seinem Stand.

Ich müsse ihm nur sagen, was ich weghaben will, hatte er mir erklärt. »Wenn dich an deiner Person oder an deinem Charakter irgendetwas stört, kann ich das beheben. Egal was.«

Vielleicht ist es das, was am besten mit der Sakralisierung des Selbst zu beschreiben ist: Wir sind Superhelden, unsere Seelen omnipotente Götter, zu allem in der Lage. Egal was.

Wenn man sich nur aus dem Würgegriff einer kontrollwütigen Vernunft befreit. Wenn man nur locker lässt.

»Egal was dich stört und blockiert. Ich werde das löschen«, hatte mir der Herr erklärt.

Mein Auftrag erscheint mir überschaubar. Ich würde mich gerne von meiner inneren Unruhe lösen, hatte ich ihm gesagt. Ein ganz gewöhnlicher, kleiner Selbstoptimierungswunsch. Wer will das nicht? In sich ruhen. Von der Arbeit heimkommen und das Smartphone in die Ecke werfen, anstatt bis Mitternacht noch im Bett Dienstmails zu lesen.

Der Heiler hat sich das Anliegen notiert. »Unruhe«, hat er mit dem Füller auf das Umweltpapier geschrieben, mit schwarzer Tinte und in kleiner, teigiger Schrift. Der Zettel liegt auf einem kleinen Schemel neben seinem Sessel, der Füller darauf. Seither kommen wir nicht weiter.

Er wiegt meine Hände und lässt sie los. »Einfach fallen lassen, nicht steuern«, sagt er. Ich versuche einfach, nichts zu tun. An etwas anderes zu denken. Die Kontrolle abzugeben. Auch auf die Gefahr hin, dass er mich dann erst recht durchschaut. Meine Hände sacken herunter. »Schon besser«, sagt er. Ein, zwei Mal probiert er es noch, ehe wir endlich die richtige Geschmeidigkeit erreicht haben. »Okay, perfekt.«

Er rückt ein Stück auf seinem Sessel vor, nimmt meine Hände auf Schoßhöhe, locker, wiegt sie, stellt dabei eine Frage, lässt los und erkennt offenbar in dem, was meine Hände dann tun, die Antwort. Es erinnert an den Muskeltest der Kinesiologie, ein alternativmedizinisches Verfahren: Ein Kinesiologe meint zum Beispiel Krankheiten diagnostizieren zu können, indem er auf den ausgestreckten Arm des Patienten drückt. Entweder der Arm bleibt stark, oder er wird weich, woraus der Kinesiologe je nach Untersuchungsfrage seine Schlüsse zieht. Die Körperspannung drücke die Informationen aus, heißt es. Aus medizinischer Sicht ist das Unsinn.

Jetzt, da ich offenbar locker bin, geht es Schlag auf Schlag. Immer wieder nimmt er meine Hände, lässt sie in meinen Schoß fallen, nimmt sie erneut. Daraus scheinen sich für ihn Antworten auf Ja-Nein-Fragen zu ergeben.

»Unruhe? Ja. Können wir das löschen? Ja. Gebrochener Wille? Nein. Überlastet? Nein. Überfordert? Ja. Machtlos? Ja.«

Er lässt meine Hände auf meine Knie sinken, in überkreuzter Ruheposition, beugt sich zu seinem Schemel und notiert mit schwarzer Tinte auf das Umweltpapier: »Machtlosigkeit.«

Es ging so schnell, dass ich kaum folgen konnte. Und ein wenig fühle ich mich daher jetzt tatsächlich machtlos. Weil meine Hände Antworten auf Fragen geben, die ich nie gestellt habe, die ich vielleicht nie stellen würde. Es kommt mir vor, als beobachte ich zwei Freunde bei einer Plauderei über mich, als würde er, der Heiler, mit einem Teil von mir kommunizieren, der nicht zu mir gehört. Meine Arme wirken wie etwas, das nicht mehr zu meinem Körper zählt. Sie baumeln einfach nur noch.

Machtlosigkeit also. Meine innere Unruhe entspringt angeblich einem Gefühl der Machtlosigkeit. Woher kommt diese Machtlosigkeit? Was hat sie zu bedeuten?

Er nimmt meine Hände.

»Groll? Nein. Hass? Nein. Etwas nicht verarbeitet haben? Ja.«

Ich schalte mich dazwischen: »Was denn nicht verarbeitet?«

»Das weiß ich noch nicht«, sagt er und beugt sich zur Seite, um zu notieren. »Noch sind wir nicht so weit.«

Er nimmt meine Hände, senkt den Kopf und schaut voller Konzentration auf sie herab.

»Woher stammt das? Dieses Leben? Nein. Früheres Leben? Ja.«

Er hält kurz inne. Das sei natürlich jetzt schwierig, sagt er. Es sei immer schwierig, wenn die Ursache in einem früheren Leben liege, weil der Klient selbst dann kaum Hinweise geben kann. Weil alles in den Händen liegt. In meinen Händen. In seinen Händen.

Er nimmt sie.

»Spiritualität? Ja. Also irgendetwas mit Spiritualität. Von den Eltern übernommen? Nein. Warst du etwas bei der Kirche? Ja. Kreuzritter? Nein. Priester? Nein. Mönch? Ja.«

Er zieht mit dem Füller einen Strich unter das zuvor Notierte und schreibt auf: Mönch. Meine innere Unruhe entspringt einem Gefühl der Machtlosigkeit, das ich aus einem früheren Leben als Mönch mit mir herumtrage. Ich bin neugierig.

»Du warst Mönch. Wolltest du das sein? Nein. Deine Familie hat dich dazu gebracht? Ja. Wolltest du da raus? Ja. War der Grund dein Glaube? Nein. Die Gräueltaten, die die verübt haben? Ja. War der Grund auch einmal Liebe? Ja. Liebe zu einem anderen Mann? Nein. Zu einer Frau? Ja.«

Langsam entspinnt sich eine Geschichte, eine Erklärung. Und allmählich meine ich zu durchschauen, wie das Prinzip funk­tioniert. Er nimmt meine Hände, formuliert eine Frage, lässt los. Fallen meine Arme dann so in meinen Schoß, dass die linke Hand über der rechten liegt, ist die Frage mit Ja beantwortet. Liegt die rechte Hand über der linken, heißt das Nein. Oder umgekehrt.

Eine Geschichte zumindest entwickelt sich in jedem Fall. Wenn man darüber nachdenkt, ist das auch nicht verwunderlich. Früher oder später werden meine Hände eine Frage bejahen, die dann die Richtung für die nächste weist, bis wir uns durch das Gesetz des Zufalls und die Fantasie des Therapeuten schließlich tief in die Details meiner früheren Existenz verirrt haben. Er nimmt meine Hände.

»Ist da etwas Schlimmes passiert? Ja. Selbstmord? Nein. Haben sie dich weggesperrt? Ja. Haben sie auch irgendetwas mit deiner Geliebten gemacht? Ja. Verbrannt? Nein. Umgebracht? Nein. Gefängnis? Ja. Und du hast dir Vorwürfe gemacht? Ja. Hast du deswegen jetzt auch diese Unruhe? Ja. Weil du nicht weißt, wie es ihr geht? Ja. Das belastet dich immer noch? Ja.«

Das also ist die Geschichte, zu der wir uns, zu der meine Hände uns manövriert haben. Meine Hände sinken in den Schoß, er greift zum Füller und notiert in kleiner, teigiger Schrift mein vorgeburtliches Dasein.

»Ich war wirklich einmal ein Mönch?«, sage ich.

»Ja.«

Er selbst habe übrigens eine ähnliche Biografie. In einem früheren Leben, lange, lange bevor er zum Heiler auf Esoterik-Messen wurde, sei er Priester gewesen, sein Schicksal habe meinem geglichen, auch er habe wegen einer Liebe mit seiner Religion gehadert. Daher komme übrigens auch seine heutige Abneigung der Kirche gegenüber, der Institution Kirche, nicht der Spiritualität gegenüber. In einem leeren Gotteshaus, abseits der Messen, sitze er auch heute noch gerne, um der Magie nachzuspüren.

»Ist vielleicht bei dir auch so. Ist oft so«, sagt er. »Dass spirituelle Menschen in ihrem früheren Leben irgendwas mit der Kirche zu tun hatten.«

***

Die Frommen von einst inkarnieren sich in den Spirituellen von heute. Ein ewiges karmisches Gesetz. Vielleicht ist das die Antwort auf die Frage, warum die »Entzauberung der Welt«, die der Soziologe Max Weber zu Anfang des 20. Jahrhunderts heranziehen sah, doch nicht eingetreten ist.14 Warum sich das Religiöse eben nicht verflüchtigt hat in der Moderne. Oder zumindest nicht so, wie es zu erwarten war.

Dabei war selbst Weber nicht so naiv zu glauben, dass eine »entzauberte« Welt uns keine Rätsel mehr aufgeben würde. Er ging nicht davon aus, dass das Leben einfacher wird, wenn man die unergründlichen Kräfte, die man früher hinter allen Dingen sah, Gottes geheimnisvolles Schalten und Walten, durch vollständige Klarheit eines jeden über alles ersetzen würde. Im Gegenteil: Der Alltag in der entzauberten Welt ist Weber zufolge sogar noch undurchsichtiger, nur dass ihm nicht mehr der Ruch des Mysteriösen anhaftet. Der steinzeitliche Jäger kannte die Waffen und Werkzeuge, die ihn durchs Leben begleiteten; wir dagegen verstehen kaum, wie die Straßenbahn funktioniert, in die wir morgens einsteigen, oder welchen Einfluss die Zinspolitik der Zentralbank auf unser Gehalt hat. »Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht«, schreibt Weber. »Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit prinzipiell erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen Mächte gebe, die da hineinspielen«.15

Lange gingen Soziologen deshalb davon aus, der Glaube würde zu einer Randerscheinung unserer Gesellschaft, verbannt hinter Kirchenmauern, beschränkt auf den Gottesdienst am Sonntagmorgen. Und selbst da kann man inzwischen ausschlafen, ohne die ewige Verdammnis in der Hölle befürchten zu müssen. Dass wir uns auf die Vernunft verlassen statt auf Gottesworte und Gebete, ist keine unsympathische Vorstellung, wenn man sich vor Augen führt, mit wie viel Blut die Religion jahrhundertelang die Erde überzog. »Gott ist tot«, sagte Friedrich Nietzsche vor gut 130 Jahren, noch halb erschrocken von den unendlichen Möglichkeiten, die der Menschheit damit offenstünden, entlassen aus der Obhut eines allmächtigen Vaters. Heute müssten wir ihn nur noch fröhlich beerdigen.

Und vordergründig scheint die These vom Bedeutungsverlust der Religion ja auch zu stimmen. Wir sind christlich geprägt, aber immer weniger noch eine christliche Gesellschaft. 1991 gehörten in Westdeutschland 11 Prozent der Bevölkerung keiner Kirche an, 2008 lag der Anteil der Bekenntnislosen schon bei 16 Prozent.16 Andere Quellen zeichnen einen noch deutlicheren Bedeutungsverlust der Kirchen und schätzen den Anteil der Konfessionslosen deutschlandweit bereits auf mehr als ein Drittel der Bevölkerung.17 Im Osten bildeten sie seit jeher die Mehrheit. Und auch diejenigen, die noch in den Kirchen sind, fühlen sich ihnen immer weniger verbunden; die Zahl der Christen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, sinkt.

Wäre da nicht diese seltsame neue Form der – ja was eigentlich – »Religion«. Eben die Welt der Schamanen und Heiler, der Wahrsager und Reinkarnationstherapeuten. In den vergangenen Jahren stellten Soziologen und Philosophen in Zweifel, ob wir tatsächlich in einer säkularisierten Gesellschaft leben. Alternative Spiritualität, das zeigt eine Untersuchung, findet vor allem in den Ländern Anklang, die vordergründig als besonders modern und säkular gelten. Es sind vor allem Länder in West- und Nordeuropa, eher protestantische als katholische Gesellschaften, in denen die neue Religion besonders große Teile der Bevölkerung erfasst hat. Und es sind vor allem diejenigen, die viel Wert auf Selbstverwirklichung legen, die ein Faible fürs Esoterische entwickeln.18

Der Soziologe Thomas Luckmann hat die These aufgestellt, dass die Religion nicht einfach verschwindet in der modernen Welt, sondern sich nur nicht mehr an die Begrenzungen der Kirchenmauern hält, aus ihnen heraus diffundiert. Die alther­gebrachten scharfen Konturen der Religionen verwischen, und deren Elemente vermischen sich mit anderem; alltägliche Bereiche werden so sakralisiert. Diese neue Form von Spiritualität kolonialisiert Teile des Lebens, die längst nicht mehr als religiös gelten, das Berufsleben, für das wir in Meditationsgruppen Kraft tanken, die Medizin, in der sich spekulative Verfahren etablieren. Das im weitesten Sinne Religiöse löst sich nicht auf, es lässt sich nur nicht mehr so einfach an den Kirchenstatistiken ablesen – es wird unsichtbar. Unter dem vagen Begriff der Spiritualität wird es allgegenwärtig, aber auch schwerer zu greifen.19

Luckmann zufolge birgt die Säkularisierung der Gesellschaft ihre Esoterisierung bereits in sich. Je mehr die Religion in einer ihr zugewiesenen Ecke der Gesellschaft gebündelt wird, desto stärker ist ihr Drang zum Ausbruch. Der Absolutheitsanspruch des Heiligen verträgt sich nicht mit einem Alltag, der jenseits von ihm stattfindet. Je stärker die Kirche zu einer spezialisierten Institution unter vielen wird, desto weiter verflüchtigt sich das Religiöse und verteilt sich über die anderen Bereiche der Gesellschaft.20 »Neben den Formen wandern auch typisch religiöse Inhalte, Themen und Topoi aus dem ›heiligen Kosmos‹ aus«, meint der Religionssoziologie Hubert Knoblauch.21

Die Szene bezeichnet dieses Phänomen mit dem Modewort der Ganzheitlichkeit. Und ganzheitlich heißt, Gegensätzliches als Gleiches zu betrachten. »Technikfaszination und Magie­begeisterung schließen sich in der Alltagswelt dieser Nutzer nicht aus, sondern ergänzen sich in ihrem Lebensgefühl auf scheinbar sinnvolle Weise«, urteilt etwa Matthias Pöhlmann von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) über innere Widersprüche in der Welt der Esoterik-Anhänger.22 »Esoterik und Okkultismus sind schwankende Gestalten: Mal behaupten ihre Anhänger, dass es sich bei Esoterik und Okkultismus um Wissenschaft handle«, schreibt ganz ähnlich der Berliner Religionsforscher Hartmut Zinser. »Mal stellen ihre Anhänger Esoterik und Okkultismus als Glaubenssystem dar, das an die gesamten, vor allem vergessenen und ausgegrenzten Teile der Religionsgeschichte der Menschheit anknüpfe und die in den institutionalisierten Religionen eingetretenen Verkrustungen wieder auflöse.«23 Es wird zusammengebracht, was ganz offenkundig nicht zusammengehört. Wissenschaft und Religion, die sich mit der Aufklärung auseinanderentwickelten, macht die Esoterik wieder zu einem; manche Historiker sehen in ihr insofern sogar ein Kind der Aufklärung, das deren Streben nach Erkenntnis und Emanzipation teilt und Mythisches in die Sprache einer säkularen technischen Welt übersetzt.24 Die Anhänger der Esoterik teilen deshalb auch ihre Begriffe mit den Physikern; seit dem 19. Jahrhunderten reden beide immerzu von Energie – und meinen natürlich Unterschiedliches. Neuerdings ist die Quantentherorie der letzte Schrei in der Szene der Erleuchteten. Die Esoterik ist eine Wiederverzauberung der Welt mit den Mitteln ihrer Entzauberung. Sie schafft Zauberei mit den Methoden der modernen Technik. »Die zweite Mythologie ist unwahrer als die erste«, meint daher Theodor Adorno.25

Es ist schwer zu sagen, wann die zweite Mythologie beginnt. Vielleicht im Jahr 1848.

In Europa gehen Bürger auf die Barrikaden gegen die Obrigkeit, im Februar wird der französische König abgesetzt, Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlichen das »Kommunistische Manifest«, Gold wird in Kalifornien gefunden und löst einen Rausch aus. Und in Hydesville, einem Städtchen im Staate New York, gelingt es am 31. März drei Schwestern im Teenageralter, endlich die merkwürdigen nächtlichen Klopfgeräusche in ihrem Haus zu entschlüsseln.

Im Vorjahr war die Familie Fox in das als verwunschen geltende Gebäude gezogen. Gleich in der ersten Nacht kam das Klopfen, und die Familie suchte im Kerzenlicht alle Räume nach einer Ursache ab. Vergebens. Es klopfte weiter. Es klopfte auch in den folgenden Nächten. Immer wieder, immer lauter. Sogar die Betten sollen gebebt haben wegen des Klopfens.

In jener Märznacht im Jahre 1848 fasst Kate Fox, zwölf Jahre alt und die Jüngste der drei Töchter des Hauses, allen Mut zusammen. Sie klatscht in die Hände. »Mach es mir nach«, ruft sie. Und tatsächlich, das Klopfgeräusch imitiert den Takt. Margaret, die andere Schwester, probiert es ebenfalls. Wieder reagiert das Klopfen auf die Herausforderung. Als die Mutter schließlich darum bittet, das Alter der Kinder zu klopfen, ist die Familie endgültig überzeugt, dass höhere Mächte am Werke sind.

Noch in derselben Nacht lädt die Familie Nachbarn ein, sie bezeugen das Klopfen und stellen Fragen. »Wurdest du ermordet?«, fragt ein Nachbar. Ein Klopfen bestätigt das. Konnte der Täter bestraft werden? Kein Klopfen. In der Art tastet man sich an das Geschehene heran, ähnlich dem Heiler auf der Esoterik-Messe, der aus den bejahenden und verneinenden Antworten meiner Hände eine Biografie meines früheren Lebens konstruiert. Der Mord soll im östlichen Schlafzimmer des Hauses passiert sein, fünf Jahre zuvor, mit einem Schlachtermesser. Der Name der ermordeten Person, die keine Ruhe findet: Charles B. Rosna, ein Hausierer.

Die Fox-Teenager werden zu Stars. Im November 1849 treten sie erstmals öffentlich in der Stadthalle von Rochester auf. Im Sommer 1850 halten sie Séancen in einem Hotel in New York City ab, Journalisten der Großstadt berichten begeistert bis verstört über die seltsamen Fähigkeiten der Schwestern zur Kommunikation mit Toten.

Eine neue Bewegung ist geboren. Immer mehr Medien tauchen auf, die die Jenseitsschranke aufzuheben versprechen, die angeblich Kontakte zu Geistern und Verstorbenen herstellen können.26 Es bilden sich spiritistische Zirkel, die in abgedunkelten Räumen mit dem Klopfen und dem Pendeln experimentieren, Gläser oder Tische rücken oder später gar Geisterstimmen auf Tonband bannen wollen.

1844 wurde die erste lange Telegrafenlinie von Washington nach Baltimore eröffnet, am 24. Mai sendete Samuel Morse aus der Hauptstadt Washington eine Kombination aus langen und kurzen Signalen nach Baltimore, wo sein Mitarbeiter Alfred Vail sie als Bibelvers entschlüsselt: »Was hat Gott gewirkt!«, 4. Buch Moses, Kapitel 23, Vers 23. Es ist nicht verwunderlich, dass sich vier Jahre später im Hause Fox der Geist des Hausierers Charles B. Rosna nun durch ein an das Morsealphabet erinnerndes Klopfsystem bemerkbar macht. »Offenbar folgten die Klopfgeister dem damals fortschrittlichsten Stand des Wissens«, schreibt der Journalist Thomas Steinfeld, »und offenbar ist Okkultismus ein wenn schon nicht wissenschaftliches, so doch nach einem Ideal von Wissenschaft gebildetes Programm.«27

Es ist bemerkenswert, wie die geistige Welt seither dem technischen Fortschritt folgt: Inzwischen soll sich das Jenseits gar der E-Mail bedienen, um sich uns mitzuteilen. Kürzlich sorgte in den USA dieser Fall für Aufsehen: Im Juni 2011 verstarb Jack Froese, mit 32 Jahren. Die Trauer war groß. Wenige Monate später, im November, saß Tim, Jack Froeses bester Freund, auf der Couch, strich ohne große Erwartung mit dem Finger über den Touchscreen seines Smartphones und fand plötzlich eine Nachricht in seinem Postfach, verschickt vom E-Mail-Account des Verstorbenen. Der Betreff: »I’m watching« (»Ich beobachte dich«). Die Nachricht war kurz, aber verstörend: »Hörst du mich?«, schrieb Jack Froese. »Ich bin in deinem Haus. Mach den verdammten Dachboden sauber.« Tim wurde kreidebleich. Kurz vor dem Tod hatte Jack ihn im Scherz tatsächlich auf den erbärmlich verstaubten Zustand des Dachbodens aufmerksam gemacht. Tim schrieb zurück, aber erhielt keine Antwort. Auch Jim, der Cousin von Jack Froese, hatte eine Nachricht bekommen, am 21. November 2011 um 22.31 Uhr: »Hey Jim«, schrieb der Verstorbene, »ich habe es kommen sehen, dass du dir den Knöchel brichst. Ich wollte dich noch warnen.« Jim hatte sich tatsächlich eine Woche vorher den Knöchel gebrochen. Hatte jemand das Passwort zu Jack Froeses Account? Machte da jemand einen schlechten Scherz? So genau wollten es die Empfänger doch nicht wissen, die Nachrichten, die sie erhalten hatten, mochten sie lieber als ein Geschenk ansehen.28

»Wenn es um das Okkulte geht«, meint Thomas Steinfeld, »gibt es ein populäres Missverständnis: dass nämlich sich das Okkulte einer Entscheidung zur Irrationalität verdanke, dass also der Okkultist sich von allem, was Wissen und Vernunft heißen kann, abwende, um sich einer religiösen Fantasie, einer Mystik hinzugeben.«29 Das Gegenteil ist der Fall: Die Klopf­geräusche versichern den Fox-Schwestern und allen Nachbarn und auch allen Zuschauern, die bald die öffentlichen Sitzungen in Scharen besuchen, dass es da etwas gibt, ein Jenseits im Diesseits, eine Welt hinter der Materie, hinter den Dingen, ein Leben nach dem Tod. Was vorher nur unbewiesen geglaubt werden konnte, wird nun zur experimentellen Gewissheit. Transzendente Erkenntnis kann quasi in strenger Versuchsanordnung erlangt werden – das ist die Verheißung der spiritistischen Bewegung. In der Faszination geht völlig unter, dass Margaret Fox, die mittlere der Schwestern, 1888, 40 Jahre nach dem vermeint­lichen Entschlüsseln der ersten Klopfgeräusche, gesteht, dass alles nur eine Fälschung gewesen sei. Sie hätten das Klopfen damals selbst verursacht, mit einem Apfel, der an einem Band hing und den sie verdeckt auf den Boden plumpsen ließen.