Erlkönigs Töchter - Sibylle Knauss - E-Book

Erlkönigs Töchter E-Book

Sibylle Knauss

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Beschreibung

Sibylle Knauss zeichnet in ihrem Roman über drei Generationen einfühlsam und voller Sensibilität die Geschichte dreier Frauen nach, die im Gefängnis ihrer Sehnsüchte gefangen sind. Es sind Liebesgeschichten, die von der Macht des Mannes handeln, auch von der Macht des Mannes als Vater, der noch in seiner Abwesenheit das Leben der Frauen beherrscht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 264

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Sibylle Knauss

Erlkönigs Töchter

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

I DorotheeII MarthaIII Nina

I Dorothee

Irgendwann kam der Tag in Dorothee Niemeyers Leben, an dem alles anders geworden ist. Er kam zu früh. Sie war noch zu jung gewesen, um ihn zu erleben. Sie war erst elf.

Vor uns lag der Sommer, der der letzte der Kindheit ist. Der nächste war schon erfüllt von plötzlich auftretenden Müdigkeiten und banger Erwartung. Ich sehe uns tanzen. In meiner Erinnerung sehe ich uns noch auf dem Schulhof tanzen. Wir wußten nicht, daß es ein Tanz war. Wir glaubten, es sei ein Spiel, bei dem wir uns an den Händen faßten und drehten und drehten, bis wir ins Taumeln gerieten und der Nächstbesten, die hinter uns stand, in die Arme stürzten. »Ich kann nicht mehr, Dorothee, halt mich!«

War sie an dem Tag in der Schule, als es in der Zeitung stand? Nein, sie war nicht in der Schule. Ich glaube, sie fehlte für ein paar Tage. Es wäre auch nicht anders möglich gewesen. Ich habe sie nie gefragt, was sie in den Tagen mit ihr gemacht haben, als sie fehlte.

Alle sprachen davon. Alle wußten es schon, selbst bei uns in den unteren Klassen. Wir gingen schließlich zum Hausmeister, klingelten an seiner Tür und baten ihn um die Zeitung. Er wußte sofort, warum, auch er. Er gab sie uns aber.

Es stimmte. Es stand in der Zeitung. Auch der Name stand da. Arthur Niemeyer. Er war verhaftet.

»Wenn sie wiederkommt, müßt ihr so tun, als ob nichts wäre«, sagte Herr Funke im Religionsunterricht, »sie kann ja nichts dazu.« Ja sicher. Wir waren plötzlich alle sehr einsichtsvoll, sehr erwachsen und irgendwie christlich. Natürlich würden wir tun, als ob nichts wäre. Das brauchte der uns nicht extra zu sagen. Ich glaube, ich habe sie danach noch einmal mit all den anderen zu meinem Geburtstag eingeladen. Später dann aber nicht mehr. Sie hatte sich einfach verändert.

Die unter uns, die den Ausflug mitgemacht hatten, sprachen nicht mehr darüber, als wenn er nie stattgefunden hätte, und erst nach Jahren sagte Elisabeth einmal: »Wißt ihr noch, damals, mit Dorothees Vater …«, und Gisela fiel ihr ins Wort: »Ach Gott, ist das lange her. Weiß irgend jemand von euch, was aus Dorothee geworden ist?« Wir wußten es nicht. Sie war aus der Klasse und aus unserem Leben verschwunden, ohne daß ich mich an einen Abschied erinnern kann, bei dem man Adressen aufschreibt und sich zu besuchen verspricht. Es sollte sehr lange dauern, bis ich sie wiedersah.

Wir wußten damals nicht, Dorothee selber wußte nicht, daß es der schönste Tag in ihrem Leben gewesen war, als ihr Vater, Arthur Niemeyer, an einem Samstag im Mai vor der Schule geparkt hatte und sie mit vier ihrer Freundinnen in den Mercedes einsteigen ließ, dessen Türen er mit einer komischen, gespielten Verbeugung aufhielt. Er hatte sie alle zu einer Wochenendfahrt in seine Jagdhütte eingeladen. Dorothee saß wie eine kleine Ehefrau vorne, fast starr vor Stolz, ihren Blick auf den hellfunkelnden Stern gerichtet, der immer vorwegfuhr. Wir saßen hinten, vorläufig ebenso still, Elisabeth, Gisela, Margret und ich, und kosteten den Triumph dieser Abfahrt aus, so öffentlich und schwarzglänzend, wie es nur möglich war. Ich sehe sie vor mir, Dorothee, wie sie sich umsah, in ihren dunklen Augen etwas vom Strahlen des Sterns. Etwas Schöneres gab es nicht. Schöneres als diese Abfahrt und was ihr folgte konnte es in ihrem Leben nie wieder geben.

Ich kann mich erinnern, daß meine Eltern die Einladung zu dieser Fahrt für übertrieben gehalten hatten. Jagdhütten waren zur Jagd und nicht zur Kinderbelustigung da. Aber bitte. Wenn sich ein Vater zum Narren der einzigen Tochter machen will – bitte. Es waren auch ausschließlich Töchter aus den besten Familien eingeladen. Giselas Vater war Arzt, Margrets Rechtsanwalt, und Elisabeths Vater war Teilhaber unserer Firma. Mein Gott, wie peinlich war ihnen das später, an diesen Ausflug ihrer Töchter zu denken.

In kleineren Städten ist es nicht immer möglich, die Grenzen zu ziehen, wo man sie natürlich erkennt. Herr Niemeyer spielte als Bankdirektor eine zu wichtige Rolle im Wirtschaftsleben der Stadt. Man hätte ihn unmöglich als gesellschaftlich nicht akzeptabel behandeln können, wenn auch seine Herkunft weder räumlich noch familiär als geklärt gelten konnte und außerdem offenbar war, daß er die Tochter eines ländlichen Metzgermeisters aus der Umgebung geheiratet hatte. Mit gewissen Einschränkungen war man bereit, persönliche Tüchtigkeit anzuerkennen.

Er war, soweit ich mich erinnern kann und ohne daß mir das damals bewußt gewesen wäre, ein gutaussehender Mann. Er hatte tiefschwarze Haare mit dem Grauschimmer, der seinem Alter und seiner beruflichen Position entsprach. Wahrscheinlich trug er Loden an diesem Tag. Vielleicht war es auch zu warm, um Loden zu tragen. Das weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, daß wir sangen. Als wir durch irgendeine Stadt hindurchfuhren, fing er an zu singen: Hab’ mein Wagen vollgeladen, voll mit jungen Mädchen … Es war Arnsberg oder Neheim-Hüsten. Danach begann bald der Wald. Wir waren ausgelassen und sangen ein Lied nach dem anderen. Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen … in einem Polenstädtchen, da lebte einst ein Mädchen … Und Herr Niemeyer, der schon lange nicht mehr mitsang, hob seine Hand wie zum Schlußakkord und rief: »Bald könnt ihr das Haus schon sehen!« Aber nein, aber nein, sprach sie, ich küsse nie … Das letzte Stück war fast unbefahrbar, ein steiler Weg mit tief ausgewaschenen Querrinnen, und über uns lag das Haus mit geschlossenen grünen Fensterläden. Ich hab’s einmal probiert und bin krepiert, sangen wir.

Ich glaube, es gab einen Kachelofen, in dem wir am Abend Feuer machten. Wir spielten das Spiel »Kraut bleibt Kraut und Brautkleid bleibt Brautkleid«, wer das am schnellsten sagen kann, und ich war die beste. Zu dumm. Zu dumm, daß selbst die Erinnerung auf die eigenen kindlichen Siege fixiert ist und daß ich nicht weiß, was Herr Niemeyer tat, wenn wir ihn im Eifer der Spiele vergaßen. Woran man erkannte, daß ihn die Verzweiflung befallen hatte, vor der er mit uns auf der Flucht war, ein plötzliches Sichabwenden, ein Zusammenziehen der Brauen, die schwarz und dicht bei ihm waren, ein bißchen angsteinflößend, obwohl er sehr nett war. Er war damals wirklich sehr nett, auch wenn später niemand mehr über ihn sprach.

Er muß gewußt haben, was bald kommen würde. Ich will ihr das schenken, muß er gedacht haben. Diese Erinnerung will ich ihr noch schenken. Und nicht bedacht haben, wie qualvoll die Erinnerungen sind, wenn etwas eintritt, das sie nachträglich auslöscht. Sie können nicht ausgelöscht werden. Mußte das sein, wird sie ihr Leben lang denken. Mußte er mir das auch noch antun? Alle meine Freundinnen! Denn keine von denen, die mitgewesen waren, konnte danach noch ihre Freundin bleiben. Das hatte sie klar erkannt.

Für Dorothee war es das Spiel mit der Dunkelheit, das am stärksten in ihrer Erinnerung blieb. Er hatte Geld ausgesetzt, fünfzig Pfennig für die, die es wagte, den ganzen Weg von der Jagdhütte hinunter bis zur Fahrstraße im Dunkeln zu gehen. Hatte er damit gerechnet, daß sie es tat? Sie mußte. Das hätte er wissen können. Sie hatte zu oft schon von diesem Haus gesprochen, das ganz im Wald lag, man glaubt es kaum, mitten im Wald, und ihrem Vater gehörte, so daß man dort gar keine Angst zu haben brauchte, wenn er einen mitnahm. Jetzt mußte sie es tun.

Sie sagte: »Ich gehe«, machte einfach die Tür auf und verschwand in der Nacht, die wirklich schwarz war, ohne Mond, ohne Sterne, und noch schlimmer: Wind war aufgekommen, ein Wind, der in einzelnen Stößen kam und die Bäume zum Ächzen brachte. Dann wieder Stille. »Was soll schon passieren?« sagte Elisabeth irgendwann ohne die geringste Überzeugungskraft, denn uns allen war längst etwas Seltsames geschehen: Wir, wir fingen an, uns zu fürchten. Wir irrten im finsteren Wald herum und waren vom Weg abgekommen. Herr Niemeyer war es, vor dem wir Angst hatten, eine Angst, die aus ganz unbedeutenden Anfängen immer mehr wuchs: Was hatte er denn mit Dorothee gemacht? Warum tat er nichts, um sie zu retten? Er saß, etwas abseits, im Sessel und – wahrscheinlich rauchte er Pfeife. Die Erinnerung hält einen dunkelhaarigen, mittelgroß-untersetzten Pfeifenraucher bereit, der aber auch ein Lückenbüßer sein kann. Wer weiß?

Dann ging die Tür auf. Ein neuer Windstoß ließ plötzlich die Tür aufgehen, und mit der finsteren Nacht, die von draußen hereindrang, kam Dorothee: strahlend. Sie hatte die Nacht und die Dunkelheit und den Wind und den Wald besiegt. Sie hatte von weitem immer die hellerleuchteten Fenster gesehen. Da hatte sie keine Angst mehr gehabt und sich langsam von Baumstamm zu Baumstamm getastet. Da war sie. Und sie bekam fünfzig Pfennig.

Wir aber waren in einen Zustand geraten, der anhielt, auch als wir oben in den Etagenbetten lagen und tief in den Schlafsäcken drin uns Gruselgeschichten erzählten, die in den einsamen Waldhäusern spielten. Sei ruhig, Kind, das ist nur der Wind. Sei ruhig, das ist nur der Wind …

Als wir aufwachten, war ein heller, aber kalter Maimorgen angebrochen, und alles verlor sich in der Atemlosigkeit eines Tages mit langen Waldspaziergängen, auf denen wir uns rechts und links von den Wegen ein Stück weit ins Dickicht jagten, wo sonnendurchflutetes Blattwerk uns für Momente unfindbar machte, bis nur noch Stimmen mitspielten, auf die ferne Kuckucksrufe zu antworten schienen.

Am Ende also hatten die skeptischen Blicke, mit denen unsere Eltern die Schilderungen des Wochenendes mit Herrn Niemeyer bedachten, doch recht behalten. Dies unausgesprochene Fragen: Und? Was hat er sich dabei gedacht? Was wollte er denn von euch?

Als später alles herausgekommen war, wurden die Väter von überraschenden, seltsamen Ahnungen befallen, die sie sofort wieder vergaßen. Ahnungen, wie so qualvoll eine Tochter geliebt werden kann. Jedes Geschenk für sie verwandelt sich noch in der Hand … Sie mochten diese Gedanken nicht weiterdenken. Sie waren so ungeübt darin, sich, sei es auch nur in Gedanken, vernichten zu lassen, und sie rechneten lange an dem Verlust herum, der der Bank durch das ganz unbegreiflich verantwortungslose Verhalten von Herrn Niemeyer entstanden war. Man sprach von Hunderttausenden, die sich zu Millionen hochrechnen ließen, und man zögerte nicht, es ein Verbrechen zu nennen.

Er hatte Geld unterschlagen.

Was hatte er getan? Wir versuchten herauszufinden, was das bedeutet. Hat er gestohlen? Nicht direkt. Er hat veruntreut. Ein Bankdirektor braucht keine Maske und keine Handschuhe, um ein Dieb zu sein. Nachträglich erschienen auch uns die Bemerkungen, die Dorothee immer über die Wochenendreisen ihrer Eltern gemacht hatte, in einem anderen Licht. Sie waren in Bad Neuenahr und in Travemünde gewesen, und wenn sie Dorothee sonntags abends bei ihrer Großmutter, der verwitweten Metzgersmeistersfrau, abgeholt hatten, dann war etwas um sie, was schwer zu beschreiben war, ein Hauch Travemünde oder Bad Neuenahr, der noch aus Dorothees Worten am Montagmorgen herausklang, etwas Besonderes, etwas aufregend Elegantes, von dem wir und unsere Eltern uns bestimmt nie etwas träumen ließen. Wir meinten, den Schlüssel zu finden in dem Wort Spielbank, das mehrmals fiel und uns dazu brachte, auf eine verschwommene Weise davon auszugehen, daß das ein Ort war, an dem Bankdirektoren ihre Wochenenden verbrachten, nachdem sie die ganze Woche in wirklichen Banken gearbeitet hatten.

Es war aber ein Ort der Unmoral, wie ich jetzt wußte, nicht unähnlich den Freudenhäusern, die es in einer benachbarten Großstadt geben sollte, die allein deshalb schon ein ganz ungeeigneter Aufenthaltsort für junge Mädchen ohne Begleitung ihrer Eltern war, obwohl »Freudenhaus« wie auch »Spielbank« nach etwas klang, das wie Kirmes oder das Weihnachtsmärchen im Schauspielhaus etwas für Kinder besonders Verheißungsvolles und Geeignetes versprach. Das war aber nicht der Fall. Im Gegenteil.

Wir wußten jetzt mehr als vorher. Wir hatten eine kräftige Nase voll von dem Geruch des Anrüchigen geschnuppert. Wir waren jetzt wachsam. Wir würden es wiedererkennen. Er war eben zu labil. Ein schwacher Charakter. Solche Menschen werden getrieben und lassen sich treiben – Sätze aus den Gesprächen der Erwachsenen, die schon bei uns auf Verständnis stießen. Sogar das Wort »labil«, das ich noch nie gehört hatte, entwickelte beim Nachsinnen ein gewisses Aroma. Und erst »Sichtreibenlassen«. Ganz klar, daß das Ganze eine Charakterfrage war.

Übrigens lief es eben doch auf Gestohlenhaben hinaus. Denn wäre Herr Niemeyer sonst im Gefängnis?

 

Eins, zwei, eins, zwei, beim zweiten Hieb war der Knochen durchgetrennt, und das Beil drang mit einem dumpfen Geräusch in das Hackbrett ein. Eins, zwei, hin und wieder wurde auch dreimal zugeschlagen. Und immer wieder die Angst und die Vorstellung von einem grauenhaften Nichteinhaltenkönnen vor Fingerkuppe, Handrücken, Unterarm. Die Leute im Laden wußten nicht, daß sie von ihr gesehen wurden. Sie dachten, der Spiegel hinter der Theke wäre nur dazu da, das Fleischangebot in den Kühlvitrinen zu spiegeln und ihren Käufersinn zu verwirren. Dorothee saß in der Küche, und wenn sie die Tür offenließ, hatte sie beinahe den ganzen hellgrün gekachelten Laden im Blick. Durch den Spiegel. Sie sah die Leute von vorne, die nicht einmal merkten, daß sie gespiegelt wurden, weil ihre Blicke nur über das Fleisch und die Würste wanderten. Unruhige Blicke. Sie kauften alle zuviel. Dorothee wußte genau, daß sie mehr kauften, als sie hinterher essen konnten. Wie hungrig sie waren. Fast alle, die hereinkamen, waren so furchtbar hungrig. Sie mußten den Speichel hinunterschlucken, bevor sie sprachen.

Es war der Geruch. Diese Mischung aus Fleischwurst und Scheuermittel, die flüchtig den Blutgeruch zudeckte, den Dorothee trotzdem wahrnahm, je länger sie in der Küche saß, desto intensiver. Zwar war die Wurstküche nachmittags aufgeräumt, die Messer und Beile, lange und kürzere, spitze und weniger spitze, hingen wie Kochlöffel in Mamas Küche von einem Wandbord herab und zeigten alle nach unten, wie es sein mußte, und die Wände glänzten dort ebenso kachelhellgrün wie im Verkaufsraum – aber Dorothee roch es. Sie hatte schon morgens hineingeschaut, wenn der Geselle, die Ärmel hochgekrempelt, mit beiden Händen etwas bläulich Gequollenes, zäh Tropfendes faßte, das er zu dem Zinkeimer hintrug, aus dem es dampfte, während ihr Onkel die Säge führte und sägte, als wenn er Holz sägen wollte. Es klang nur anders. Dann waren die Wände bespritzt, und Tropfen, die herabrannen, hatten Straßen gebildet, Blutstraßen, an deren Rändern sich die Trennung von Serum und Plasma vollzog. Man konnte es sehen, wenn man ganz nah herantrat.

Sie konnten mittags die Arbeitstische und Wände abspritzen mit dieser Maschine, sie konnten hinterherreiben, alles, was Fleisch war, in die Kühlkammer tragen und fest die Türen verschließen, sie roch es trotzdem. Schon wenn sie hereinkam, vom Hof her, nicht durch den Laden, dann hatte sie diesen Blutgeruch in der Nase, der sich verstärken konnte, bis es ihr übel wurde.

Sie hatte die Leute im Blick, wie sie das Fleisch an den Haken musterten. Sie wußte es immer kurz vorher, wenn es passierte. Eine Unruhe entstand, die schon da war, bevor sie sich in den Gesichtern zeigte und in Worten entlud. Ruckartige Bewegungen der Köpfe. Seitwärtsblicke, die Nebenstehenden übers Gesicht fuhren, quer von einem Ohr bis zum anderen, und manchmal sogar Gebrauch von Ellenbogen und Schultern. Es hatte sich wieder eine vorgedrängt. Wieder stand eine am falschen Ende der Theke. »Hör’n Sie mal, junge Frau, hier wird sich hinten angestellt, ich war zuerst da!«

Es gab welche, die protestierten und selber plötzlich diesen Blick hatten: »Ich? Warum stell’n Sie sich nicht hinten an? Ich warte schon lange!« Und andere sagten: »Verzeihung. Verzeihung, das wollte ich nicht.« Das waren auch immer die, die gar nicht viel kauften und niemals merkten, daß Großmutter mit dem Schwung, mit dem sie das Fleisch auf die Waage klatschte und einen Moment zu früh wieder wegnahm, bevor der Zeiger vollständig ausgependelt war, immer auch etwas Luft mit abwog. Nicht viel, aber etwas. Und abends um sechs, wenn sie die Ladentür abschloß und mit einer kräftigen, immer noch schwungvollen Armbewegung die Jalousie herabzog, dann hatte sie doch eine Menge von dem Fleischwurstgeruch im Laden mitverkauft.

Dorothee saß in der Küche. Die Leute. Sie sah die Leute und konnte selbst nicht gesehen werden. Ein sicherer Platz. Sie tat so, als ob sie lernte. Sie hatte die Schulbücher aufgeschlagen und tat so, als ob sie lernte. The frog – der Frosch. The well – der Brunnen. Es war alles sinnlos. Englisch war eine stupide, sinnlose Sprache. Sie wurde nie das Gefühl los, daß sie sich lächerlich machte, wenn sie Englisch sprach, tief über das Buch gebeugt, die Hände verschwitzt und die ganze Klasse im Rücken, Fred, the frog, was sitting in the well. Da hatte er sich die Welt ganz anders vorgestellt, als sie war, und als er herauskam, hatte er sich ganz furchtbar blamiert. So geht es. Der Brunnenfrosch. Wär er im Brunnen geblieben. Zu denken, daß sie heraus mußte, wieder heraus aus dieser Küche und hinein in die Klasse.

Sie wußte, was in der Zeitung gestanden hatte. Sie hatte es selber gelesen. Sie wußte, daß alle es wußten.

Es war aber nicht wahr. Und sie war die einzige. Sie war die einzige, die wußte, daß es nicht wahr war.

Papa. Er hatte sich über die Lügen, die plötzlich alle – nicht einige, alle – sich über ihn erzählten, so furchtbar aufgeregt, daß er krank war. Armer Papa. Er war krank geworden. Man hatte ihn abgeholt. Mit was? Mit dem Krankenwagen. Natürlich mit einem Krankenwagen. Mit einem grünen? Mit einem grünen.

Sie glaubten, sie wäre so dumm. Sie wußten, daß sie nicht so dumm war. Aber sie waren beruhigt zu denken, daß sie das glaubte. Sie selber beruhigte sich so: Ihn in einem Bett zu denken, in einem Krankenhauszimmer, in dem man, zugegeben, ihn nicht besuchen durfte.

Sie lernte entsetzlich schnell in diesen Tagen. Zum Beispiel, daß einige Wörter um jeden Preis zu vermeiden waren. Verhaftung. Gefängnis. Man kam auch ohne sie aus.

Es war überhaupt ganz schlimm geworden, die falschen Sätze zu sagen: Wenn Papa wiederkommt … »Mein Gott, wie siehst du denn aus!« rief die Großmutter dann. »Kämm dich und wasch dir die Hände!« Eins hatte sie aber fragen müssen: »Wo ist denn Mama?« Es stellte sich heraus, daß sie auch krank war. »Was?« – »Nein, anders. Es war zuviel für sie, Kind, verstehst du, es war einfach zu viel für sie.«

»Und wann kommt sie wieder?« Dorothee schluckte ein paarmal. Sie wußte, sie durfte nicht weinen. Da war ja niemand, der sie hätte trösten können. Außer der Großmutter. Und sie begriff, daß sie bisher immer auch aus Liebe zu Mama und Papa geweint hatte. Nicht nur aus Wut oder Ärger. Es war auch immer Liebe dabeigewesen. Sie hatte geweint, daß sie kamen.

Sie wünschte, er wäre gestorben. Nicht wirklich. Doch seine Beerdigung malte sie sich lange aus. Wie Mama und sie bewundert wurden wegen des Unglücks, das sie so tapfer ertrugen, Mama, die eigentlich viel zu dick war, ganz schlank geworden von all dem Schmerz. Sie trug einen Schleier vor dem Gesicht, wie Dorothee es nur in Filmen gesehen hatte, und sie selbst, auch sie trug einen wunderschönen schwarzen, weichkrempigen Hut. Im Leiden sah sie ein bißchen wie die Töchter von Charly Chaplin aus, die irgendwo in der Schweiz unter der Aufsicht von Gouvernanten auf Parkwegen spielten und diese zweireihig geknöpften Mäntel mit weißen Kragen anhatten. Weißer Kragen wäre aber vielleicht zu fröhlich auf der Beerdigung ihres Vaters. Sie würde darauf verzichten.

Wenn nur Beerdigung wäre! Alle, die ihn jetzt schlecht machten, alle, die glaubten, was in der Zeitung stand, würden Blumen werfen und Tränen in ihren Augen haben, wenn sie bei Mama und ihr vorbeigingen, um ihre Hände zu drücken, nachdem sie Papa in seinem Grab die letzte Ehre erwiesen hatten.

Sie löschte schnell das Wort Ehre in ihrem Kopf aus. Sie wußte nicht, was das hieß, und wollte es jetzt auch nicht wissen.

Das schlimmste war nicht, daß er weg war und daß sie nicht wußte, wann er wiederkommen und ob er überhaupt wiederkommen würde – sie würde ihn ohnehin suchen und finden und eines Tages auch irgendwie retten –, das schlimmste war, wieder in die Schule zu müssen.

»Ich will nicht!«

»Du gehst.«

Man hatte ihr eine Woche Zeit gelassen. Die Großmutter gab sich Mühe, ihr zu erklären, daß längeres Fernbleiben von der Schule alles noch schlimmer machte.

»Ich will nicht!«

»Du gehst.«

Sie sagten ihr schließlich, daß sie geholt werden würde, wenn sie nicht freiwillig ginge. »Von wem?« – »Von der Polizei.«

Sie hatte ein neues Weinen gelernt. Sie brauchte es nicht zu lernen, es war einfach da, und sie war selber erschrocken, daß sie das konnte, lang anhaltend heulen. Schriller werden. Sich ins Unerträgliche steigern.

Sie brachten sie trotzdem dazu, in die Schule zu gehen. Großmutter ging mit und machte alles noch schlimmer. Sie brachte sie hin wie an ihrem ersten Schultag. Kurz vor dem Schulhof machte sie einen letzten Versuch. »Ich kann jetzt allein gehen«, sagte sie zu ihr, in deren Busenschatten sie lief, und es gab nichts an ihrer Großmutter, dessen sie sich nicht schämte. Wie sie die halbgroße Tasche am angewinkelten Arm trug, wie sie die Hände in den hellbeigen Schweinslederhandschuhen unter der riesigen Ausbuchtung ineinandergelegt hielt und wie sie das alles vor sich herschob, die halbtellergroßen Knöpfe ihres Mantels geschlossen, der vorne, wie immer, spannte. Und während sie klein, noch kleiner, beinah unsichtbar neben ihr herlief und mit ihr den Schulhof durchquerte, spürte sie schon im Rücken die Berührung von Großmutters Mantelbusen, weich, aber unerbittlich, mit der sie sie vor sich her in die Klasse stoßen würde, und sie lief etwas schneller, weil sie jetzt doch nichts mehr aufhalten konnte.

Es war zwar alles sehr plötzlich gekommen, doch auch dies Plötzliche lief mit einer zeitlupenhaft zerdehnten Langsamkeit ab, in einer zähen Bewegung, von der sie schon gar nicht mehr hoffte, daß sie jemals an ihr Ziel kam.

So schien es zum Beispiel zu Anfang, daß ihre Freundinnen alle ganz und gar unberührt waren von den Veränderungen in Dorothees Leben. Die gleichen Spiele, die gleichen Rufe in den Pausen, die gleichen Verabredungen an Nachmittagen. Ein Klumpen Angst in ihr löste sich von Schultag zu Schultag mehr auf. Aber bald schon begann sich ein neuer dafür zu bilden, der täglich zunahm. Sie selbst hatte sich verändert. Sie war einfach nicht mehr dieselbe. Es konnte nicht lange dauern, bis das die anderen merkten.

Es fing beim Volleyball an. Sie wußte es immer schon vorher. Bevor sie zum Schlag ausholte, wußte sie, daß der Ball ins Netz oder ins Aus gehen würde. Was er auch tat. Nicht daß sie früher besonders gut gewesen wäre. Es war ein eher schleichender Übergang vom mittelgut-akzeptablen zum ganz und gar miesen Volleyballspielen, das niemand mehr akzeptabel fand. Sie wurde nicht mehr gewählt. Wenn Gisela und Annette als Spielführerinnen die Mannschaften wählten, dann stand sie zum Schluß noch bei denen, die kurzerhand von der Sportlehrerin aufgeteilt wurden. In Gottes Namen …

Das schlimmste war, daß sie es selber wußte: sie konnte nichts. Sie hatte nur früher von irgendwoher die Fähigkeit besessen, es nicht zu zeigen. Die hatte sie nicht mehr. Das schwere Werk des Soscheinens, wie man gern wäre, ging jetzt über ihre Kraft. Sie hätte es ganz allein vollbringen müssen. Früher hatten ihr alle geholfen, Mama und die Großmutter und auch die Lehrer, vor allem Papa hatte ihr dabei geholfen. Sie konnte es noch nicht allein.

Es war auch das Gift der Faulheit in ihrem Leben wirksam. Insofern war alles ihre eigene Schuld. Sie vergaß einfach. Sie kam aus der Schule und wußte wirklich nicht mehr, was sie aufhatte. Wenn sie sich auf ihr Gefühl verließ, sagte ihr das, daß sie gar nichts aufhatte. Jedenfalls nichts von Bedeutung. Das seltsame war, daß es ihr am Morgen einfiel, und zwar sofort nach dem Aufwachen. Beim Aufwachen schon. Sie wachte auf mit dem Gedanken an die Schularbeiten, die sie am Tag zuvor nicht gemacht hatte. Die ganz bestimmten. Seite 87, rief ihr Bewußtsein in dem Moment, in dem es vom Schlaf erwachte, Seite 87, a bis c! Aber dann war es zu spät. Sie mußte sich anziehen, um den Bus noch zu kriegen. Sie waren nämlich zur Großmutter gezogen, und sie mußte jetzt immer mit dem Bus in die Schule fahren.

Das schöne Haus! Die große Diele, die Treppe, die in so wundervollem Bogen nach oben führte. Ihr Zimmer mit dem Balkon davor und dem Vogelhäuschen, das ihr Papa gebaut hatte. Wo noch im vergangenen Winter, im letzten Winter, alle die lustigen Vögel kamen und Körner fraßen, die sie ihnen ausgestreut hatte, Kohlmeisen, Dutzende grau-gelbe Kohlmeisen – Mama, die manchmal, wenn sie allein miteinander waren und wenn Großmutter nicht zuhören konnte, den Satz aussprach: »Wenn Papa zurückkommt«, Mama hatte gesagt, sie zögen wieder dorthin. »Wenn Papa zurückkommt.« Aber es klang nicht danach, als wenn es im nächsten Winter sein würde.

Das Haus war vermietet worden. Da wohnten jetzt andere Leute. Sie hatten zwei Zimmer über der Metzgerei, wo genügend Platz war, und Mama kochte in Großmutters Küche, wenn Großmutter Wurst und Fleisch verkaufte. Man konnte sich an den Geruch auch gewöhnen. Sie merkte eigentlich kaum noch etwas. Nur Mama schien es zu stören. Sie hatten entsetzlichen Streit gehabt. Sie hatten geschrien, als Dorothee abends im Bett lag. Da war sie aufgestanden und hatte die Tür von ihrem Zimmer geöffnet, damit sie hören konnte, worum es ging: Mama weigerte sich zu verkaufen. Sie würde sich nicht in den Metzgerladen stellen und Fleisch verkaufen.

Warum sollte sie das auch?

»Ihr lebt ja schließlich davon!« hatte Großmutter geschrien, »hast du noch nicht genug vom Hochhinauswollen und Feintun? Dieser Laden«, schrie Großmutter, »hat die Familie seit Generationen ehrlich ernährt. Wir brauchen keine Bankdirektoren, die ins Gefängnis wandern und ihre Familie an den Bettelstab bringen.« Und das Wort »ehrlich« schrillte noch lange durchs Haus.

Sie hatte darüber nachgedacht. Sie dachte mehr nach, als die anderen glaubten. Sie hatte Angst, daß sie als nächste mit dem Verkaufen von Fleisch an der Reihe sein könnte. Nie. Nie würde sie das tun. Sie versprach sich, es niemals zuzulassen, daß so etwas aus ihr würde. Selbst wenn sie sitzenbliebe. Alles. Aber das nicht.

Sie lag im Bett und hatte niemanden mehr, bei dem sie sich wärmen konnte. Bei Papa hatte sie das gemacht. Sie war manchmal morgens zu ihm rübergegangen und hatte sich an seinen warmen Rücken gelegt. Sie hatte gewußt, daß das irgendwann, sogar bald schon, aufhören würde. Sie hatte auch deutlich gespürt, daß ihre Mutter es nicht gemocht hatte, wenn sie zu Papa ins Bett gekommen war, daß sie es lange vorher schon nicht mehr gemocht hatte, und sie war entschlossen gewesen, es nicht mehr zu tun. Das hätte sie auch geschafft. Sie war, kurz bevor das mit Papa passierte, beinah soweit gewesen. Sie hatte es nur noch sonntags gemacht, und sonntags war Papa ja meistens in Travemünde oder Bad Neuenahr.

Jetzt war er ganz woanders. Eines Morgens, kurz nach dem Umzug in Großmutters Haus, warf sie die Tiere aus ihrem Bett. Zuerst den Löwen, dann warf sie das Lamm hinterher. Ihre Schulter war eingeschlafen, der ganze Arm taub und gefühllos, weil sie auf den Tieren gelegen hatte. Sie war ja kein Kind mehr, das mit Steifftieren schlief. Sie sah sie im Morgendämmerlicht auf dem nackten Fußboden liegen und empfand nichts dabei. Sie hätte sie mit dem Fuß unter den Schrank stoßen können. Sie würde sie aber später ordentlich wegräumen. Ordentlich und für immer. Es machte sie sogar unruhig, sie noch im Zimmer zu wissen, als wenn eine Katzenleiche dagewesen wäre, die man wegschaffen muß, weil sie sonst anfängt zu stinken. Sie stand leise auf und fand auf dem Kleiderschrank ein Kinderköfferchen, das sie früher an der Hand gehabt hatte, wenn sie mit Mama und Papa wegfuhr. Seine Verschlüsse schnappten zu mit einem Knacks, der sie früher entzückt hatte. Sie schob ihn ganz weit nach hinten.

Sie würde auch nicht zu Mama ins Bett gehen. Nein, das würde sie nicht. Und unter dem schweren Federbett, das noch ganz warm war, hatte sie plötzlich ein neues, ein ganz feierliches, erregendes Gefühl von ihrem Alleinsein. Sie sah mit weit offenen Augen zur Decke.

Niemand würde sie jemals wieder verstehen. In ihren Gedanken suchte sie einen Weg, der zu ihrem Vater führte. Dorthin, wo er saß, allein, auf dem Rand eines Bettes, das Pritsche hieß, in einem Zimmer, das Zelle hieß und in dem außer der Pritsche nur ein Tisch und ein Stuhl waren und ein Fenster, vergittert und sehr hoch oben, das kaum genug Licht hereinließ. Da saß er und hatte den ganzen Tag nur das Klirren von riesigen Schlüsseln im Ohr. Und Schritte, die lange in den Fluren nachhallten.

Mein Gott, wie mußte er sich dort nach Dorothee sehnen. Das war das schlimmste, an Papas Sehnsucht zu denken, mit der er sich dort nach ihr sehnte. Sie sprang auf den Bus, der schon im Abfahren war, er hielt nirgendwo an, er jagte um alle die Kurven. Dann wurde die Gegend öder und immer öder, trostlose Backsteinbauten, fast ohne Fenster – und ihr fiel ein, daß sie gar nicht wußte, wo sie hätte hinfahren müssen. Sie wußte ja gar nicht, wo er war. In welcher Stadt überhaupt.

»Mama, ich wollte dich fragen, wo Papa eigentlich ist?«

»Dorothee! Mein Gott, du weißt doch –«

»Ich meine, in welcher Stadt?« Sie hatte nie gehört, daß es hier – also daß es hier so etwas gab.

»Warum willst du das wissen?«

Es wäre nicht weit gewesen. Sie dachte jetzt ernsthaft darüber nach, auch was die Fahrkarte kosten würde, und verwarf dann den Plan. Wie sollte sie durch den Stacheldraht und über die hohen Mauern – wie sollte sie das überwinden? Trotzdem sah sie sich manchmal von hinten heranschleichen, vorsichtig, wenn der diensttuende Wärter auf seinem Gang an den vielen Türen vorbei an eine gewisse Ecke kam, an einen Mauervorsprung, der sie verbarg, die Schlüssel, man mußte die Schlüssel haben … Man hätte vielleicht auch versuchen können, mit dem Gefängnisdirektor zu sprechen. Er saß in seinem Büro, als ein adrett gekleidetes Mädchen hereinkam, das für seinen Vater bat, das so inständig flehte. Und der Gefängnisdirektor sah auf das Mädchen, wie es dastand und sprach, was ihm seine Liebe eingab. Er nahm seine Brille ab, gütig, alle Menschen sind gütig, und sagte: Ja. Ja, sagte er, natürlich. Und rief den Beamten, der sie begleiten sollte: Bringen Sie dieses Mädchen zu seinem Vater. Der Wärter hatte den Schlüsselbund schon in der Hand.

Eines Tages war Mama nicht dagewesen, und nachmittags auch nicht und abends immer noch nicht. Dorothee, die schon lange nachmittags nicht mehr mit anderen Kindern spielte – sie spielte eben nicht mehr, sie war ja kein kleines Kind mehr –, hatte die ganze Zeit in der Küche gesessen, die Schulbücher vor sich, die Leute im Laden im Blick. »Wo ist denn Mama eigentlich?« fragte sie, als die Großmutter die Ladentür zugemacht hatte. »Deinen Vater besuchen.«

Sie konnte es gar nicht glauben. Sie war zuerst wie betäubt, als wenn es gar nicht sie selber gewesen wäre, der man das antat, sondern ein anderes Mädchen, das schon begriffen hatte und losschrie, während sie dasaß und immer noch ganz erstaunt ihr eigenes Herz klopfen hörte und fühlte, wie ihr Gesicht brannte.

Später klopften sie an ihre Tür. »Mach doch auf! Warum machst du nicht auf?« Sie hörte, daß ihre Mutter auch geweint hatte. Sie hörte es an der Stimme, mit der sie rief, und es war nur noch die Tür, die Widerstand leistete und sie nicht hereinlassen wollte. Sie hatte sie abgeschlossen, vor vielen Stunden, als sie noch Wut und Kraft gehabt hatte. Sie schleppte sich aus ihrem Bett und drehte den Schlüssel herum und ließ sich widerstandslos umarmen. Irgendwie hatte sie sich zurückgeweint in einen Zustand, den sie schon lange für überwunden gehalten hatte. Sie mußte gestreichelt werden, gehalten, getröstet. Es war ihr egal von wem. Sie wußte, daß sie das nie wieder einholen würde, den stolzen Vorsprung, den sie gehabt hatte vor dem Kind, das sich wie Kinder benahm.