Eros und Agape - Patrick Rabe - E-Book

Eros und Agape E-Book

Patrick Rabe

4,7

Beschreibung

Der Schriftsteller Roman Hallström leidet unter Albträumen und Panikattacken. Auf dem Weg zur Agape, der göttlichen Liebe, begegnet er seinem Schatten und lernt seinen Eros kennen. In der Kurznovelle "Eros und Agape" und in vielen weiteren Geschichten und Gedichten umkreist Patrick Rabe das Geheimnis der Liebe, das er ihr lässt, jedoch nicht ohne hie und da den Schleier zu lüften... Die Kurzgeschichten bewegen sich im urbanen Umfeld und zeigen Menschen im Glück und in Krisen. Die Sprache ist einfach und poetisch. In den Gedichten eröffnet Rabe das gesamte Spektrum von Liebe und Leidenschaft und öffnet sich gegen Ende des Bandes der spirituellen Dimension von Liebe. Spannung und Humor kommen auch nicht zu kurz. „Patrick Rabe sucht in seinen Kurzgeschichten und Gedichten teils melancholisch, teils frech humorvoll, immer sehnsüchtig nach Verwirklichung des Eros im Irdischen, im Ringen um die allumfassende, verzeihende Liebe.“ (Irene Beddies) „Die Erzählung ‚Eros und Agape‘ gehört zu den Besten, die ich hier jemals gefunden habe!“ (Christa Astl im Literaturforum e-stories)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 149

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (16 Bewertungen)
11
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Papa und Mox

Midnight is where the day begins.

(U2, “ Lemon”)

Die Nacht hat ihre Kerzen ausgebrannt,der munt’re Tag erklimmt die dunst’gen Höh’n!

(William Shakespeare, „Romeo und Julia“)

Liebe ist gewiss, sie lässt die Welt sich dreh’n,Liebe ist alles, so steht‘s in manchem Buch.Egal, was du drüber denkst, du kannst nicht leben ohnesie,glaube mir, ich hab’s versucht!

(Patrick Rabe, frei nach Bob Dylan „I threw it all away“)

It’s just one step away from here, babe,It’s called the land of permanate bliss.

(Bob Dylan, “Sweetheart like you”)

Uns trennt nichts vom Paradies,außer unsre Angst.

(Ton Steine Scherben, „Schritt für Schritt ins Paradies“)

Inhalt

Vorwort

licht

Eros und Agape

Gedanken eines gottgeküssten Durchgeknallten

Blues für Tanita

By my side

Jeanny’s work

Magdalena

Literarischer One-Night-Stand

Das Band

Das Schwimmbad

Die Begegnung

Liebeslied

Melancholie im Frühling

Herbstliebe

Pflänzchens Abenteuer

Don’t touch

Tier

Dämmerung

Verteufelt!

Zum Teufel

Wie tickt der Mensch in Liebesdingen?

Jahresendzeit

Geisterstadt

Perspektivwechsel

Trilogie für die Liebe

Jesus reloaded

Solveig

Das Band des ewig Seienden

Psalm

Gnade

Tag mit Dir

Aus Liebe

Heilung

Kurzbeschreibung des Autors

Ein Wort zuvor

Liebe Leser,

Sie halten ein Buch über die Liebe in den Händen. Über die Liebe? Gibt es das nicht schon mehr als genug?

Sicher, sie ist das meist besungene Thema der Dichter, Inhalt jeden Hollywoodfilms und Motor von unzähligen Selbsthilfebüchern. Lars von Trier lässt seine Heldin in dem Film „Nymphomaniac“ sagen: „Liebe ist überschätzt!“. Und sicher – viele können und wollen nichts mehr darüber hören, weil es sie nervt, weil sie an der Liebe gescheitert sind, oder weil sie nicht mehr länger einem nie erreichbaren Ideal hinterher hecheln wollen.

Der Autor meint: Ist die Liebe daran schuld, oder ist es/sind es unser (e) Bild (er) von der Liebe?

Ich habe in diesem Band versucht, möglichst frisch über dieses Thema zu schreiben, ich würde mich freuen, wenn ich auch liebesmüde Menschen damit wieder für die Triebfeder unseres Daseins entzünden könnte.

Was Liebe ist und wie sie gelebt werden soll, das müssen wir immer wieder in Frage stellen. Angesichts der auch in Europa um sich greifenden und teils staatlich verordneten (Russland) Homophobie halte ich es zum Beispiel für wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen etwas ganz Normales sein sollten. Ich würde mir wünschen, dass sie immer mehr den Nimbus des Anrüchigen und Lasterhaften verlieren. Auch die Frage, ob man mono-oder polygam leben will, muss immer wieder gestellt werden. Es kann keine Patentlösungen mit strengen Verboten – wie von der Kirche her – mehr geben. Verantwortliches Handeln ist angesagt.

Das ist schwer; und dennoch, wenn wir von Liebe erfüllt sind, ist es leicht. Auch Treue, bei den 68ern ein Unwort, ist zutiefst menschlich und darf im Zug der sexuellen Befreiung nicht verteufelt werden.

In vielen meiner Gedichte und Geschichten klingt der Zauber an, der entsteht, wenn man einen Seelenpartner findet, sei es für mehrere Jahre oder nur für eine Nacht. Das wilde Sich-Ausleben und der sexuelle Rausch finden hier ebenso ihren Platz wie das tiefe Vertrauen und die Innigkeit zwischen zwei Menschen, zwischen Eltern und Kind, zwischen Freunden, zwischen Fremden.

Liebe ist nichts auf Zweierbeziehungen Beschränktes, sondern dasjenige, was wir zu allen Menschen und Lebewesen, zur gesamten Natur empfinden können.

Je älter ich werde, desto mehr wird mir klar, dass Liebe in Beziehungen etwas ist, das kultiviert werden muss, Verletzungen und Enttäuschungen müssen hingenommen werden, und wenn man nicht innerlich verhärten will, dann sollte man vergeben lernen. Liebe brennt nicht immer wie ein Feuersturm. Mit zunehmendem Alter verliert sie alles Sensationelle und brennt mit ruhiger Flamme. Das erste Verliebtsein, die mystische Verzückung, die Erweckung und der Rausch müssen sich bewähren, müssen zu etwas werden, was uns tatsächlich trägt. Und dann kann Eros in die Agape münden. Die Agape ist die göttliche Liebe, deren Wunder wir nie schlussendlich begreifen werden. Dieses Erlösung-finden in der Liebe, dieses die Liebe leben können, bildet den Abschluss dieses Bandes. Eros und Agape sind nicht getrennt voneinander, denn Liebe ist niemals profan. Liebe ist das „Ja!“ zum Leben. Viel Freude mit meinem Buch, Ihr und Euer

Patrick Rabe

licht

ein licht kam in die welt. gleißend heiß und hell gleich einem

kometen nur dass es immer scheint. mirjam ritt schon lange auf

ihrem esel durch die wüste heiß war es so heiß. das maultier

schnaubte unter der last der jungen frau ihr bauch wölbte sich

im achten monat.ein präsident stand auf: das treiben der

homosexuellen wird mir zu bunt wir müssen die familie wieder

stärken. im 21. jahrhundert eine fatwa gegen schwule in

russland eine fatwa gegen salman rushdie wegen der satyrischen

verse eine fatwa gegen cat stevens, weil er moslem wurde 1979

als bob dylan den heiland jesus christus predigte. der i.s. köpft

guy fawkes puppen gunpowder treason and plot das empire

streikt back und die jediritter sind die spirituelle hoffnung des

universums während peter jackson an der vorgeschichte des

hobbits spinnt. schläfenlockige juden rufen muzzletov schmeißt

noch n paar raketen auf den gazastreifen wählt tevje den

milchmann vielleicht ist er der messias er hat doch immer gute

sprüche auf lager. mario barth beerdigt michael mittermaier

unter tosendem gelächter die comedywelle kommt tsunamiartig

über europa wie die evangelikalen die strahlen wie tschernobyl

seit 28 jahren und matiath rost? der landet auf dem

popelgrünen platz während udo linden berg das mikro schüttelt

nina hagen ist jetzt kristin der arabische frühling war kein strauß

blumen und kein sesam öffne dich und der syrienkrieg ist keine

muppetshow. graf (rübe-) zahl lacht irre: eine eins hahahaha,

eine zwei hahaha, eine drei nosferatu ist klaus kinski der hat

seine tochter missbraucht was für eine welt.

tausende sind traurig einsam verzweifelt wissen keinen ausweg

sitzen in der psychiatrie sterben vor angst oder vor seelischem

hunger mitten in der westlichen zivilisation wer reicht ihnen

seine hand?

schenke ein lächeln streichel ein gesicht ergreife eine hand

wisch eine träne ab gib hoffnung gib glauben gib liebe.…

Ein Licht kam in die Welt, gleißend heiß und hell, gleich einem

Kometen, nur dass es immer scheint.

für Jan

Eros und Agape

Wilde Träume peinigten Roman Hallström. Gerade saß er in einem dunklen Keller inmitten einer in Leder gekleideten Rockerbande. Der Anführer zog ein Taschenmesser hervor und ließ die Klinge aufschnappen. Der glänzende Stahl blitzte im Licht der roten Seemannslampe, die von der Decke des Kellers hing. „Lasst uns spielen!“, lachte der Anführer. Er warf das Messer mit der Schneide nach vorne in die Runde. Jemand fing es auf und warf es weiter. Roman begann zu schwitzen. Was wäre, wenn das Messer ihm zugeworfen würde? Was, wenn er sich an der Klinge verletzen würde? Kaum, dass er dies dachte, wurde das Messer in seine Richtung geworfen. Roman Hallström wich aus, und das Messer fiel zu Boden. „Was soll `n das!?“, bellte der Rockerchef, „Willst wohl nich mitspielen? Bist wohl was Besseres?“ Roman stand auf und blickte voll Ekel auf das Messer herab: „Ihr habt sie doch nicht alle! Ich gehe!“ „Nee, nee, so einfach is dat nich!“, grunzte der Rocker und stand nun seinerseits auf. „Pass mal auf, du Lusche! Mitgehangen is mitgefangen, klar? Du kommst hier nich raus. Wenn du nich freiwillig mitspielst, wirst du eben gefickt!“ Der Rockerchef packte Roman am Arm und drehte ihn hinter seinen Rücken. Dann presste er ihn zu Boden, bis er auf den kalten Fliesen des Kellers lag. Er riss ihm die Hose vom Leib und schlug ihm auf den Po. „Nen geilen Arsch hast du Lusche!“, schrie er mit heiserer Stimme. Dann ließ er seine Lederhose fallen und fickte Roman Hallström dampfhammermäßig durch. Dabei knallte sein Kopf immer wieder auf die kalten Fliesen. „Nein, aufhören!“, schrie Roman. Aber je länger dieser Vorgang dauerte, desto geringer wurde sein Widerstand. Schließlich ergab er sich und ließ sich fallen. Und da war es ihm für einen Moment so, als empfinde er Lust. Eine brennende, unbändige Lust.

Roman Hallström erwachte. Erschauernd schüttelte er den Kopf. Was war das wieder für ein schrecklicher Traum gewesen? Er tastete nach seinem Schlüpfer. Der war feucht. Er hatte tatsächlich im Traum einen Samenerguss gehabt, wie meist bei solchen Albträumen. Er würgte. Vielleicht war er pervers. Er schob einen Psychologentermin schon wochenlang vor sich her. Herr Seibold war ein alter Freund seiner Familie, und er hielt trotz seines stets vollen Wartezimmers schon seit Wochen einen Platz für Roman frei, der ihn stockend und stammelnd gebeten hatte, ihn mal auf seinen Geisteszustand hin zu untersuchen. Denn es waren nicht nur die Träume. Es waren auch gelegentliche Panikattacken, die ihn immer und überall heimsuchen konnten und jedes Mal völlig lahmlegten, das schleichende Gefühl, sein Gehirn würde ihm gar nicht gehören, und die ständige Angst, verfolgt und abgehört zu werden. Aber warum sollte er deswegen zum Psychologen gehen? Er kannte das Urteil doch: Schizophrenie. So viel verstand er von Psychologie, dass ihm das klar war. Und dennoch – vielleicht hatte Dr. Seibold ja auch noch eine andere Erklärung…

Roman stand auf. Claudia drehte sich kurz in den Kissen, stöhnte leise und schlief dann weiter. Roman betrachtete sie. Sie sollte von all dem nichts wissen. Jedenfalls nicht im vollen Ausmaß. Es war schon genug, dass er ihr sein unstetes Künstlerleben mit seinen ständigen Launen und Schwankungen zumutete. Roman Hallström war Schriftsteller und Claudia war seine Muse. Das war sie schon vor ihrer Beziehung gewesen. Sie war der Engel, der ihn gerettet hatte vor den Schatten, die immer wieder nach ihm griffen, vor den Selbstzweifeln und dem ewigen Hadern um die eigene Person. In ihrem Ozean war sein Höllenfeuer versiegt, Haut an Haut mit ihr war er sicher vor den Dämonen. Hatte er geglaubt. Fünf Jahre lang war es gut gegangen. Er war ein beinahe spießiger Lover von Claudia geworden, lebte in Gleichmut und Harmonie – in ihrer Beziehung hatte es nur selten Streit gegeben – und schrieb auch hauptsächlich vom Seelenfrieden, von der Liebe, der menschlichen und der göttlichen. ‚Eros und Agape‘, so hieß das Buch, an dem er gerade arbeitete. Der Titel war ihm plötzlich gekommen, er nannte dies eine Inspiration, in Wirklichkeit war es aber naheliegend, denn es war das Thema, das ihn ständig beschäftigte. Als er das Wort ‚Eros‘ im Kopf hatte, durchrieselte ihn ein wohliges Gefühl am Geschlechtsteil und ihm wurde bewusst, dass es um seinen Eros nicht mehr allzu gut bestellt war. Vor fünf Jahren waren Claudia und er sehr liebeslustig gewesen, hatten täglich mehrmals miteinander geschlafen. Doch das hatte sich längst auf einmal in der Woche eingependelt. Zunächst empfand Roman das nicht als Mangel, denn es war ohnehin die emotionale Beziehung zu Claudia, die ihm am wichtigsten war, doch je weniger sie Sex hatten, desto mehr waren die Schatten wieder in sein Leben eingedrungen, desto mehr manifestierten sie sich in psychoseähnlichen Symptomen, in Angstzuständen und Albträumen.

Roman beschloss, Claudia schlafen zu lassen und vorm Frühstück schon an seiner neuen Novelle zu arbeiten. „Eros und Agape“, murmelte er. Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch aus Eichenholz. Das hatte nichts mit „deutscher Eiche“ und seinem Los als deutscher Schriftsteller zu tun. Roman Hallström pfiff auf seine Nationalität, er sah sich als Kosmopolit, der den ewigen Werten verpflichtet war. Einer konservativen Journalistin, die ihn einmal als hoffnungsvollen jungen Schriftsteller des neuerwachten Deutschland porträtieren wollte, hatte er das Interview verweigert. Bei ‚deutscher Schriftsteller‘ den Schwerpunkt auf ‚deutsch‘ zu legen, wäre das falsche Signal gewesen. Er schrieb, um seinen Lesern die Universalität der Liebe nahezubringen, die Tatsache, dass vor ihr, vor der Agape, der göttlichen Liebe, alle gleich waren. Die Eiche war für ihn der Baum des Lebens.

Roman schlug seinen Schreibblock auf. Er wusste genau, was er mit seinem neuen Werk aussagen wollte, jedoch noch nicht, wie er es umsetzen sollte. Er wollte zeigen, wie der Eros aus der Agape hervorging, wie sich beide Formen der Liebe ständig durchdrangen und befruchteten, aber auch im Widerspruch und in Feindschaft zueinander standen, ja; wie der lustvolle, körperbetonte Eros immer wieder die rein geistige Agape befleckte. Schon mit Siebzehn hatte er sich darüber Gedanken gemacht und mit seinem Klassenkameraden Kai darüber debattiert, damals auf dem Zeltplatz auf Amrum.

‚Merkwürdig‘, dachte Roman. Merkwürdig, dass ihm gerade jetzt dieser Urlaub einfiel. Wie lange war das jetzt her? 18 Jahre! Vielleicht sollte er diese Sommerferien als Ausgangspunkt für seine Novelle nehmen? Immerhin hatte er damals seine Studien über Eros und Agape begonnen. Roman drehte seinen Bleistift zwischen Zeigefinger und Daumen. Irgendwie widerstrebte ihm dieser Gedanke, obwohl er naheliegend war. Die Zeit auf Amrum war nicht konfliktfrei gewesen. Aber – musste er über die Konflikte schreiben? Nein! Er konnte sich tragen lassen von den schönen Erinnerungen, von der Unbeschwertheit seiner Jugend, von der wärmenden Sonne auf seiner nackten Haut, von Tinas schöner, androgyner Gestalt…

Mit vielen anderen waren Kai, dessen Schwester Tina und er in jenem Sommer durch Sand und Dünen auf dem Weg zu ihrem Zeltplatz gewesen, die Sonne brannte und Kai, der vorneweg ging, zog das Zelt auf einem Fahrradanhänger hinter sich her. Roman schlenderte neben Tina, die er sehr anziehend fand. Schon während der Überfahrt nach Amrum hatte er dauernd Phantasien geschoben, wie er ihr näherkommen könne. Roman war überhaupt ein phantasievoller Junge. Die Realität war ihm nicht genug. Er dachte sich ständig irgendwelche Geschichten aus, die die Wirklichkeit bunter und interessanter machten. Er galt in der Schule deswegen als weltfremder Träumer, zumindest in manchen Kreisen, aber er war nicht einfach ein Hans-guck-in-die-Luft, er gestaltete seine Träume auch. Er schrieb Gedichte und Kurzgeschichten, sogar kleine Theaterstücke, die von seiner Klasse aufgeführt wurden, und er war Sänger der Schülerband, in der Kai Keyboard spielte. Für manche war er ein Spinner, für manche war er ein Held. Mehrere Mädchen standen auf ihn, aber er war von einem hehren Idealismus erfüllt. Er wollte sich erstmal richtig verlieben, bevor er mit einer ins Bett stieg. Und nun schien Tina die eine zu sein. Ihre schlanke Gestalt, ihr Pagenschnitt und ihr keckes Gesicht bezauberten Roman. Er hatte kurz vorher seinen Glauben an Gott verloren, was ihn etwas geschmerzt hatte, aber jetzt, durch seine Liebe zu Tina, glaubte er Gott wiedergefunden zu haben. Na klar: Es war, wie es in der Bibel stand, Gott war die Liebe, und Tina ebnete ihm jetzt wieder den Weg zu Gott. Er, der noch nie mit einer Frau geschlafen hatte, ahnte jedoch, hinter seinen zärtlichen Gefühlen steckte noch eine wilde, zügellose Bestie, die Tinas Körper wollte, um alles Mögliche mit ihm anzustellen. Zuweilen überkamen ihn diese animalischen Gelüste mit grenzenloser Macht, und er merkte, dass er die Kontrolle verlieren würde, wenn er sich diesen Trieben hingab, sein ruhiges Gleichmaß, was ihm die rein emotionale Liebe schenkte, die er ja auch für Tina empfand. Er hatte die zwei altgriechischen Wörter für die Liebe irgendwo aufgeschnappt: Eros, das war die menschliche, in erster Linie sexuelle Liebe, und Agape, das war die göttliche Liebe. Roman fühlte sich zwischen diesen beiden Spielarten stehend. Zwar verachtete er die sexuelle Liebe keineswegs, aber im Grunde sehnte er sich danach, sie zu transzendieren und von der göttlichen, rein emotionalen Liebe hinwegwaschen zu lassen. Sex war schmutzig, Sex war ungehörig. Warum dachte er das? Hatte das damit zu tun, dass seine Mutter ihn einmal beim Wichsen erwischt hatte? Er war damals zwölf gewesen. Seine Mutter hatte ihn nackt vor den Spiegel gezerrt und gesagt: „Schau an, was für ein Sexprotz du bist!“ Aber seine Mutter hatte einen Knall. Sie war von hintergestern. Sie hatte ihm erzählt, dass man vom Wichsen blind werden kann, als er ein Kind war. Außerdem wäre das unnötiger Samenverlust und wenn man Pech hätte, könne man so vor der Zeit alle Samen verlieren und wäre dann nicht mehr zeugungsfähig. An diese fragwürdige Erziehung dachte Roman aber nicht mehr. Natürlich war Sex okay. Für gewöhnliche Menschen. Aber er war anders. Er war auf der Gottesspur.

Als Roman jetzt neben Tina herschlenderte, tagträumte er über die Hippies. Er stellte sich vor, dass Kai, Tina, er und die anderen Leute Hippies auf dem Weg nach Woodstock waren. Er meinte schon die Musik von Jefferson Airplane zu hören: ‚Don’t you need somebody to love?‘ und begann zu tänzeln. Die Hippies, so dachte er, waren auch erfüllt gewesen von der Agape. Aber sie waren auch in den fleischlichen Eros abgerutscht. Und doch, sie waren Vorboten einer idealen Form des Menschen, einer Form, die Roman anstrebte. Er begann das Lied, das er innerlich hörte, mit zu summen. Tina umfasste seine Hüfte: „Na, du bist ja gut drauf!“. Roman war kurz verwirrt und aus seinen Gedanken gerissen. Bei Tinas Berührung spürte er, wie sich sein Glied in der Hose aufrichtete, ja, er spürte wieder jene wilde, zügellose Bestie des Eros, die ihm so unangenehm war. Er entwand sich Tinas Berührung und machte ein ernstes Gesicht. Tina seufzte enttäuscht, ging dann aber leichten Schrittes nach vorne zu ihrem Bruder und neckte diesen ein bisschen. Bald darauf hatten sie den Campingplatz erreicht. Roman fiel es sofort auf. Es war ein FKK-Campingplatz…

Als Roman Hallström an diesem Punkt seiner Erinnerung angelangt war, begann er leichten Schwindel zu spüren. Der Bleistift zitterte in seiner Hand. Oh nein, verflucht, jetzt keine Panikattacke! Doch es war schon geschehen. Roman spürte namenlose Angst, ja Todesangst in sich aufsteigen. Die Schatten bemächtigten sich wieder seines Gehirns! Er fühlte sich weggespült, so, als sei sein Bewusstsein ausgeschaltet, als sei er gar nicht mehr da. Mühsam versuchte er, die Kontrolle über seinen Körper nicht zu verlieren. Er klammerte sich krampfhaft am Schreibtisch fest und murmelte: „Jesus, Jesus,