Eros, Wollust, Sünde - Franz X. Eder - E-Book

Eros, Wollust, Sünde E-Book

Franz X. Eder

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Beschreibung

Regiert "König Sex" die Welt? Und war das schon immer so? Wie gestalteten sich vor dem 18. Jahrhundert sexuelle Beziehungen vor, in und außerhalb der Ehe? Welche Probleme warfen Verhütung und Geschlechtskrankheiten auf? Wie ging man mit Prostitution und Pornografie um? Welche Möglichkeiten gleichgeschlechtlichen und queeren Begehrens und Handelns gab es in der Vormoderne? Dieses Buch gibt erstmals einen weitgespannten Überblick über die Geschichte der europäischen Sexualkulturen von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Anhand zahlreicher Beispiele und Quellen zeigt Franz X. Eder, dass das Sexualleben in früheren Jahrhunderten einen elementaren Stellenwert für das Zusammenleben von Paaren und Gemeinschaften, für die Selbst- und Fremdsicht der Individuen und für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung hatte. Er spannt dabei den Bogen von der Politisierung und Sozialisierung des Eros in der griechisch- römischen Antike über den skeptischen Umgang mit dem Sexuellen im frühen Christentum und die ambivalente Sexualwelt des Mittelalters bis zu deren Regulierung und Disziplinierung während und nach der Reformation.

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Franz X. Eder

Eros, Wollust, Sünde

Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Regiert »König Sex« die Welt? Und war das schon immer so? Wie gestalteten sich vor dem 18. Jahrhundert sexuelle Beziehungen vor, in und außerhalb der Ehe? Welche Probleme warfen Verhütung und Geschlechtskrankheiten auf? Wie ging man mit Prostitution und Pornografie um? Welche Möglichkeiten gleichgeschlechtlichen und queeren Begehrens und Handelns gab es in der Vormoderne?

Dieses Buch gibt erstmals einen weitgespannten Überblick über die Geschichte der europäischen Sexualkulturen von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Anhand zahlreicher Beispiele und Quellen zeigt Franz X. Eder, dass das Sexualleben in früheren Jahrhunderten einen elementaren Stellenwert für das Zusammenleben von Paaren und Gemeinschaften, für die Selbst- und Fremdsicht der Individuen und für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung hatte. Er spannt dabei den Bogen von der Politisierung und Sozialisierung des Eros in der griechisch- römischen Antike über den skeptischen Umgang mit dem Sexuellen im frühen Christentum und die ambivalente Sexualwelt des Mittelalters bis zu deren Regulierung und Disziplinierung während und nach der Reformation.

Vita

Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Er forscht zur Geschichte der Familie, der Arbeitsorganisation und des Konsumierens, des Körpers und der Sexualität.

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung: Sexualität historisch erforschen

Das soziale Konstrukt Sexualität

Im Dickicht der Begriffe

Sexualität und Geschichtsschreibung

Zielsetzungen dieses Bandes

2. Regentschaft des Phallus: Griechische Antike

2.1 Eros und oikos

2.2 ›Prostituierte‹ und ›Pornografie‹ in der Polis?

2.3 Ein Himmel für Schwule und Lesben?

3. Infamia und pudicitia: Römische Antike

3.1 Koitus als Bürgerpflicht

3.2 Im Bordell und auf der Straße

3.3 Tribas, cinaedus und die Zweigeschlechtlichkeit

4. Wie der ›böse‹ Stachel in das Fleisch kam: Judentum und frühes Christentum

4.1 Damit Euch Satan nicht in Versuchung führt

4.2 Sodom und porneia

5. Widersprüchliche Sexualwelten: Mittelalter

5.1 Auf dem Weg zur Verkirchlichung: Bußbücher und erotische Rätsel

5.2 Ein ehlich weip soll die mynne regelmäßig vollziehen

5.3 Byzantinische, christlich-orthodoxe, muslimische und jüdische Sexualkulturen

5.4 Gemeine Frauen und öffentliche Bordelle

5.5 Schamlose Augen- und Ohrenlust

5.6 Die Sünde wider die Natur

6. Reformation und Disziplinierung: 15. bis 17. Jahrhundert

6.1 Fleischeslust – gerichtlich, anatomisch und philosophisch betrachtet

6.2 Von sündlichem Samen und unfletigem Fleisch – Reformatio vitae

6.3 Fornicatio, Übermächtigung und Geheimnisse der Frauen

6.4 Das Sexualleben der ›Wilden‹ und ›Ungläubigen‹

6.5 Gottlose Hurenhäuser und Franzosenkrankheit

6.6 Blick- und Schamregime in Kunst und Literatur

6.7 Abscheuliche Sünder auf dem Scheiterhaufen

7. Ausblick

8. Literatur

Personen-, Orts- und Sachregister

Vorwort

Sexualität ist ein irritierender Teil unseres Lebens. Zum einen sind wir überzeugt, eine individuelle sexuelle Begierde zu besitzen, die in den Tiefen unseres Körpers als Gene und Hormone und in den Grundstrukturen unserer Psyche verankert ist. Kaum etwas empfinden wir als so echt und aus unserem Inneren stammend wie die sexuelle Lust, die uns unwillkürlich ergreift, uns dazu bringt, körperlich zu begehren und in der Erregung und im Orgasmus zwei der intensivsten Gefühle zu erleben, zu denen wir fähig sind. Auch die Absenz des Begehrens und die Abneigung gegenüber bestimmten sexuellen Praktiken gehören zu diesem authentischen Erleben. Zum anderen wissen wir aus der eigenen Erfahrung, dass sich das sexuelle Begehren im Laufe des Lebens sowohl in Stärke, Orientierung als auch im Ziel verändern kann. Kultur- und sozialhistorisch sowie über längere Zeiträume betrachtet, erweist sich die Sexualität sogar als äußerst wandelbar. Wie Menschen in früheren Jahrhunderten sexuell begehrten, welchen Personen oder Objekten sie ihre Lust widmeten, was sie im Sexualleben als natürlich, anormal oder amoralisch empfanden, welche Handlungen sie bevorzugten, wie sie über das Sexuelle dachten und sprachen, wie sie es in Bilder fassten und mit Normen regulierten und mit Institutionen kontrollierten – all diese Ausformungen der Sexualkultur haben sich über die Zeit hinweg zum Teil dramatisch verändert.

Selbst Vertreter eines radikalen sozialen Konstruktivismus werden allerdings eingestehen müssen, dass es nicht nur die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sind, die die Sexualität als individuelle und soziale Praxis, als Begehren und Emotion herstellen und formen. Dem Sexuellen liegt eine innere Kraft zugrunde, die dem Menschen – wenn auch in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen – von Natur aus eigen ist und als Lust oder Trieb wahrgenommen wird. Wie bestimmend diese Energie ist, wie sie unsere hetero-, homo-, bi-, trans- oder wie auch immer geartete sexuelle Orientierung prägt, sich in der Stärke unserer Begierde bemerkbar macht, uns die präferierten ›Lustobjekte‹ vorgibt und unsere sexuellen Fantasien und Wünsche beeinflusst, liegt nach wie vor im Dunkeln. Hier sind wir nicht weiter als Sigmund Freud, der meinte: »Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.« (Freud 1982: 529)

Unter Berücksichtigung dieser ›mythischen‹ Unbestimmtheit der Sexualität stellt sich dieser Band die Aufgabe, die Geschichte der Sexualität in Europa aus einer kulturellen und gesellschaftlichen Perspektive von der Antike bis in die Frühe Neuzeit zu verfolgen und dabei auch die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen zu berücksichtigen. Dies geschieht auf der Basis der in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsenen geschichtswissenschaftlichen Literatur und unter Berücksichtigung kontroverser Diskussionen und Meinungen.

Viele Kolleginnen und Kollegen haben meine Arbeit durch Gespräche und Debatten auf Konferenzen, Tagungen und Workshops befruchtet und beeinflusst. Sven Tost, Christina Lutter, Andrea Pühringer und Holger Th. Gräf haben einzelne Teile des Manuskripts gelesen und kommentiert, die beiden Letztgenannten vieles auch sprachlich redigiert. Die Mitarbeiter des Campus-Verlages konnten diesem Band den letzten Schliff verpassen. Bei ihnen allen möchte ich mich ganz herzlich für ihre Anregungen und die große Hilfe bedanken.

Gewidmet ist dieses Buch meiner Frau Erika.

Wien, im Mai 2018

Franz X. Eder

1. Einleitung: Sexualität historisch erforschen

»Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte. Soviele nun unter den Männern ein Schnittstück von jener gemischten Gattung sind, welche damals mannweiblich hieß, die richten ihre Liebe auf die Weiber, und die meisten Ehebrecher sind von dieser Art, und ebenso wiederum die Weiber, welche mannsüchtig und zum Ehebruch geneigt sind. Soviele aber von den Weibern ein Schnittstück von einem Weibe sind, die richten ihren Sinn nur wenig auf die Männer, sondern wenden sich weit mehr den Frauen zu, und die mit Weibern buhlenden Weiber stammen von dieser Art. Die Männer endlich, welche ein Stück von einem Mann sind, die gehen dem Männlichen nach. […] Auf Ehe und Kindererzeugung dagegen ist ihr Sinn von Natur nicht gerichtet.«

(Platon 2016: 25f.)

»O, nenn’ es Liebe nicht! die Lieb’ entfloh

Zum Himmel ja, seit Wollust Liebe heißt,

Als Liebe frische Schönheit kostet – roh

Beschimpfend noch, wo gierig sie zerreißt;

Stets nur bedenkend, wie sie schänd’ und raube –

Der Raupe gleich, die schwelgt im ersten Laube.

Die Lieb’ erquickt, wie Sonnenstrahl nach Wettern;

Die Wollust wirkt wie Sturm nach Sonnenschein;

Der Liebe Lenz prangt stets in frischen Blättern,

Der Wollust Winter bricht vor Herbst herein.

Die Lieb’ hält Maß, die Lust hat nie genug;

Die Lieb’ ist Wahrheit ganz, die Lust ganz Lug.«

(Shakespeare 1849: 151)

Platon und Shakespeare brachten poetisch zum Ausdruck – der eine im Symposion (380 v. Chr.), der andere in Venus und Adonis (1593) –, was Menschen früherer Epochen an der Sexualität gleichzeitig faszinierte und erschreckte. Wie Platon empfanden sie das Sexuelle als eine Kraft, die den Menschen dazu brachte, sich mit dem anderen »Schnittstück« zu vereinen und mit dem bzw. der Begehrten auf Dauer zusammen zu sein und Kinder in die Welt zu setzen. Damit erfüllten sie auch den gesellschaftlichen Anspruch an die Ehe und stabilisierten das soziale Gefüge. Für andere ging es primär um die körperliche Realisierung des Begehrens und die Lust an der ›Vereinigung‹ – beides in wechselnden Konstellationen. Nach Platon strebte Eros noch ein weiteres, ›höheres‹ Ziel an – eine ästhetische und ethische Lebensführung (Soble 2009: 107ff.).

Shakespeare vertauschte die traditionellen Geschlechterrollen und ließ Venus als begehrende Liebhaberin und Adonis als verweigernden Geliebten auftreten. Durch den Tod des jungen Mannes fand die Göttin – und damit auch der Leser und die Leserin – allerdings zu keiner Erfüllung des Begehrens (Trapp 2003: 54ff.). Der englische Dramatiker machte auch deutlich, dass es bei sexuellen Kontakten häufig um Macht und Ohnmacht zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen sozialen Gruppen oder wie hier zwischen Menschen und Göttern ging. Mit der Gegenüberstellung von Liebe und Wollust – die eine zu Mäßigung und Wahrheit neigend, die andere zu Unersättlichkeit und Lüge führend – wies er zudem auf die dunklen Seiten des Sexuellen hin. Ohne den Einfluss von Gesetz, Norm und Disziplin käme es zur Zerstörung von Ehe und Familie und zur Untergrabung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung.

Mehr noch als bei anderen Emotionen verspürten auch die Menschen früherer Jahrhunderte, dass sie angesichts der sexuellen Begierde nicht immer »Herr im eigenen Haus« (Freud 1940–1955: 11) waren – sei es, weil sich die Wollust gegenüber dem rationalen Denken und freien Willen durchsetzte, sexuelle ›Seitensprünge‹ das Gemeinwesen zerrütteten oder der unbezwingbare Geschlechtsdrang sogar die Gottesbeziehung bedrohte. Wenn Dichter, Theologen und Philosophen über die menschliche Sexualität nachdachten, stießen sie auf existentielle Fragen des Lebens und der Überwindung des Todes durch Fortpflanzung, der Überschreitung der eigenen Körperlichkeit, der Differenz von Eigenem und Fremdem/Anderem, der unmöglichen Verschmelzung zweier Menschen, der Differenz von Liebe und Sexualität und anderes mehr. Sie mussten sich mit Aggression und Gewalt, mit Schmerz und Leid ebenso wie mit Abhängigkeit und Unterwerfung beschäftigen, die mit manchen Sexualformen und -beziehungen einhergingen.

Irritationen riefen auch die von der Moral abweichenden Erscheinungen des Sexuellen hervor. Zwar dachten die meisten Zeitgenossen bei Eros und Lust primär an sexuelle Beziehungen zwischen geschlechtsreifen Frauen und Männern, doch wussten sie auch, dass die ›fleischliche‹ Begierde zu gleichgeschlechtlichen und noch ›skandalöseren‹ Handlungen drängen konnte. Neben der vaginalen Penetration zwischen Mann und Frau mittels Penis kamen dann allenfalls weitere Körperregionen wie der Anus, die Hände und der Mund ins ›sexuelle Spiel‹. Auch wenn die antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften heteronormativ ausgerichtet waren, zeigten sich hier die Grenzen dieses Paradigmas. Nicht alle Menschen folgten der Norm, die zwei polare Geschlechter und ein sexuelles Verlangen vorsah, das nur auf das jeweils andere gerichtet war und am besten in eine lebenslange Paarbeziehung mündete. Jene Personen, die sich als geschlechtlich uneindeutig erwiesen oder durch nicht-heterosexuelle ›Taten‹ aus der Norm fielen, gerieten deshalb in die Fänge der Verfolgungs- und Bestrafungsapparate. An den Abweichungen zeigte sich allerdings auch, dass die moralische und strafrechtliche Bewertung devianter Sexualhandlungen davon abhing, welche Personen sie in welcher Situation und mit wem begingen. Zwischen Männern und Frauen herrschten dabei ebenso große Unterschiede wie zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Schichten (Traub 2008: 23f.). All dies waren Gründe dafür, dass alle behandelten Gesellschaften das Sexuelle mehr oder weniger umfangreich regulierten, Vorgaben für erwünschte und verbotene Beziehungen und Handlungen machten und damit die Sinn- und Bedeutungsgebung sexueller Praktiken sowie die Ausformung sexueller Fantasien und Wünsche beeinflussten. Keine der Gesellschaften war dabei ausschließlich pro- oder antisexuell eingestellt, sondern versuchte die produktiven, nützlichen und erfreulichen Seiten des Sexuellen zu befördern und die gefährlichen, schädlichen und erschreckenden in Schach zu halten.

Das soziale Konstrukt Sexualität

Anders als heute wurde das Sexualleben in früheren europäischen Gesellschaften nicht primär als ein privates oder persönliches Verhältnis zweier oder mehrerer Personen (miss-)verstanden, sondern als ein elementares Regulativ der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung gesehen. Im ehelichen Koitus kumulierten die vielfältigen Ansprüche an die Sexualität. Mit der Heirat erwarben beide Geschlechter – bei Männern tolerierte man dies meistens auch schon zuvor – das Recht auf Geschlechtsverkehr, der dem Zeugen von Nachkommen ebenso diente wie der Bindung zwischen den Eheleuten. Durch die sinnliche Zuwendung und den regelmäßigen Koitus sollten Intimität, Liebe und Vertrauen entstehen und mit jenen für eine gemeinsame leibliche Beziehungskultur und die Beständigkeit der Ehe gesorgt werden. Die eheliche Beiwohnung hatte zudem die legitime Generationen- und Erbfolge zu garantieren und so den Anspruch auf Besitz und Rechte sowie die ›Altersversorgung‹ zu sichern. Funktionierende eheliche Sexualbeziehungen stabilisierten das sozioökonomische Gefüge und dienten in den höheren sozialen Schichten oft auch politischen Zielen, etwa der dynastischen Nachfolge, Erbansprüchen und der Weitergabe von Geburtsprivilegien. Für die Eheanbahnung existierten deshalb Sitten und Gebräuche, religiöse Riten, gesetzliche Bestimmungen und soziale Institutionen, die eine reguläre Eheschließung gewährleisteten. Eltern, ›Peer Group‹ und Gemeinde sollten unerwünschte sexuelle Kontakte vor der Ehe verhindern, Zuwiderhandlungen sanktionieren und devianten Personen zumindest mit Schimpf und Schande begegnen.

In allen vergangenen Kulturen Europas kam der geschlechtlichen ›Vereinigung‹ der Eheleute die elementare Aufgabe zu, den Ehebund und die Familienbande zu stabilisieren, die Treue der Gatten zu gewährleisten und der außerehelichen ›Unzucht‹ entgegenzuwirken. Wo Liebe und Zuneigung bereits vor der Ehe aufkamen oder bei der Auswahl der zukünftigen Gatten sogar den Ausschlag gaben, bildete der eheliche Beischlaf samt Fortpflanzung einen der von Dichtern und Denkern gepriesenen Höhepunkte des ehrbaren und gottgefälligen Lebens. Wurden Ehen primär aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen und ohne vorherige positive (Liebes-)Gefühle geschlossen, erwartete man, dass durch den Koitus das intime Band geknüpft oder zumindest ein ›kameradschaftlicher‹ Bund zwischen Mann und Frau gestiftet wurde (Wiesner-Hanks 2000: 256).

Sexuelle Beziehungen sollten gemäß der Geschlechtscharaktere vor sich gehen. Bis zur endgültigen ›Verwissenschaftlichung‹ der Geschlechterdifferenz im 18. Jahrhundert erwiesen sich die psychophysiologischen Festschreibungen von männlichen und weiblichen Eigenschaften freilich als relativ offen (Flemming 2000; Fenster/Lees 2002; Farmer/Pasternack 2003; D’Ambra 2007). Die Humorallehre und ihre auf Säfte- und Temperaturniveaus aufbauende Zuteilung von männlichen und weiblichen Eigenschaften blieben anschlussfähig für die individuelle Lebenswelt, die Ernährungsgewohnheiten und den sozialen und medizinischen Umgang mit dem Körper. Nach der Säftelehre sollte der Mann in sexuellen Belangen grundsätzlich mit mehr ratio (Verstand und Vernunft) handeln, die Frau hingegen von der sensualitas (Gefühl und Triebhaftigkeit) bestimmt sein. Die christliche Moraltheologie unterstützte eine solche geschlechtertypische Determinierung des Menschen und brachte sie mit dem von Eva initiierten Sündenfall in Verbindung. Eine, wenn auch pointierte Einschätzung der Sexualität von Mann und Frau könnte demnach folgendermaßen lauten: Initiative, aktive und gleichzeitig ihrem Willen und der Vernunft unterworfene Männer handelten an – und nicht gemeinsam mit – ihren Frauen. Letztere waren dabei die eigentlichen Verführerinnen und wurden als von ihrer Wollust getriebene, passive ›Objekte‹ imaginiert (Halperin 1990: 29ff.; Karras 2003: 82).

In Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit gestalteten sich die Diskurse und Praktiken der Sexualität allerdings komplexer, als dies die normativen Quellen suggerieren. Viele zeitgenössische Autoren und wenige Autorinnen wiesen darauf hin, dass die Geschlechter ambivalent oder sogar konträr zu diesen polaren Bildern agierten und die Realität entsprechend plural ausfiel. Berücksichtigt man die ganze Breite der überlieferten Text- und Bildgattungen, so stößt man allerorten auf Männer, die ihre sexuelle Begierde nicht unter Kontrolle hatten, und auf Frauen, denen im Sexualleben der ›zivilisatorische‹ Part zufiel. Gerade in Eheschriften wurden nicht die sexuelle Herrschaft und Dominanz des Mannes propagiert, sondern gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber den Schwächen und Stärken des anderen gefordert (Schnell 2017: 329ff.).

Macht und Herrschaft waren auch zentrale Kategorien in den sexuellen Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten. Fanden sexuelle Kontakte über deren Grenzen hinweg statt, waren Faktoren wie Stand und Besitz, Ansehen und Abstammung, Geschlecht und Alter einer Person zu berücksichtigen. Aufgrund der Akkumulation sozialer, materieller und kultureller Kapitalien besaßen Männer dabei meist einen deutlich größeren Handlungsspielraum. Wenn Abhängigkeiten zwischen ›Sexualpartnern‹ existierten – sei es zwischen Hausvätern und Haushaltsmitgliedern, Ehemännern und Ehefrauen, Arbeitgebern und Gesinde, Besitzern und Sklaven, Siegern und Besiegten etc. –, so stieg die Wahrscheinlichkeit von sexueller ›Übermächtigung‹, von ›Übergriffen‹ und Vergewaltigungen. Sexuelle und sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen, Kindern, Unfreien, Gefangenen etc. gehört zu den strukturellen Eigenschaften von Gesellschaften, in denen Macht und Herrschaft ungleich verteilt waren – und ist nach wie vor ein wenig erforschtes Feld der Sexualitätsgeschichte.

Heiratsverbote waren ein weiterer Grund, warum man manche Gruppen von legitimem Geschlechtsverkehr ausschloss – etwa Lehrlinge, Gesellen und Mägde während ihrer Dienstbotenzeit, Mönche und Nonnen, Fremde und Sklaven. Aufgrund des zentralen sozialen Imperativs sollten sexuelle Beziehungen und Kontakte von der griechischen Antike bis in die Frühe Neuzeit primär innerhalb der Institution der Ehe stattfinden – was allerdings nicht hieß, dass vor, außerhalb und neben der Ehe keine vielfältigen sexuellen Konstellationen existierten. Manche von ihnen wurden toleriert und akzeptiert, andere von religiösen und weltlichen Autoritäten verboten, verfolgt und bestraft oder zumindest durch schlechte Nachrede und Ehrverlust desavouiert. Die zahlreichen religiösen und weltlichen Ge- und Verbote konnten aber weder Männer noch Frauen davon abhalten, solche kurz- oder längerfristigen Beziehungen einzugehen. Handelte es sich um potentielle Heiratskandidaten oder Verlobte, so wurde dies als weniger gravierend angesehen.

Ehebruch hingegen galt meistens als ein Kapitalverbrechen, das insbesondere dann streng bestraft wurde, wenn die Abstammung eines Kindes in Zweifel stand oder eine Ehe in die Brüche ging. Eine zwiespältige Sexualmoral zeigte sich allerdings, wenn außereheliche Sexualkontakte unterschiedlich sanktioniert wurden. In den Oberschichten pflegten nicht wenige Männer regelmäßigen Kontakt zu Hetären und Mätressen oder ›hielten‹ sich Konkubinen und Nebenfrauen. Solche Gewohnheiten brachte Männern der mittleren und unteren Schichten – und umso mehr den Frauen – üblen Nachruf, Schimpf und Schande ein oder konnte sogar die Existenz oder das Leben kosten. Prostituierte waren in aller Regel ebenfalls nicht gerne gesehen, gehörten aber – unter mehr oder weniger legalen Umständen – zum gängigen ›sexuellen Angebot‹. Dabei war schon in der Antike bekannt, dass sie auch die Hauptquelle für die Verbreitung venerischer Krankheiten darstellten.

In Populationen, in denen generell und früh geheiratet sowie nicht verhütet wurde, brachten Frauen während ihrer fertilen Jahre um die zwölf Kinder zur Welt – so die höchste, jemals gemessene durchschnittliche Kinderzahl bei amerikanischen Huttererfamilien (Coale/Treadway 1986: 34). Eine derart große Kinderschar war selbst für Gruppen, die auf familiäre Arbeitskräfte angewiesen waren, eindeutig zu hoch. Praktiken zur Vermeidung von Schwangerschaften kamen deshalb in allen hier untersuchten Gesellschaften zum Einsatz. Dies gilt auch für die Verringerung und Einstellung des Geschlechtsverkehrs ab einem bestimmten Alter. Bei vor- und außerehelichen Sexualkontakten spielte naturgemäß die Vermeidung von Schwangerschaften eine existentielle Rolle. Durch Abtreibungsverbote versuchten frühere Gesellschaften das Sexualverhalten ihrer Mitglieder ebenfalls mit der herrschenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung in Einklang zu bringen. Wie groß der Spielraum für soziale Inklusion oder Exklusion war, zeigte sich am Umgang mit nicht-heterosexuellen Praktiken und Begehrensformen. Hier reichte die Palette vom Hohelied auf die paiderastia im antiken Griechenland bis zur Verbrennung von »Sodomiten« in der Frühen Neuzeit. Als ebenfalls umstritten erwies sich die moralische und gesetzliche Sanktionierung des erotischen Körpers und der ›pornografischen‹ Bilderwelt.

Der historische Längsschnitt ergibt, dass die verschiedenen Sexualformen (Lautmann 2002: 171ff.) nur in Relation zueinander verstanden werden können. So gingen beispielsweise die Akzeptanz und Toleranz, aber auch die Verfolgung und Bestrafung gleichgeschlechtlicher Sexualakte mit jenen Normen einher, die man der ›normalen‹ Heterosexualität zwischen Mann und Frau zugrunde legte. So wurde gezeigt, dass Homosexualität (auch von der Geschichtswissenschaft) lange als eine Minoritäts- und ›Anti‹-Kategorie der Heterosexualität essentialisiert und dabei übersehen wurde, dass innerhalb der Gruppe der »Homosexuellen« große Differenzen nach Geschlecht, Alter und sozialer Zugehörigkeit sowie sexuellen Vorlieben und Verhaltensweisen existierten (Sedgwick 1990). Umgekehrt lassen sich die Spezifika und der Wandel der heterosexuellen Kultur nur nachvollziehen, wenn sie in Beziehung zu jenen Sexualformen gesehen werden, von denen man sie abgrenzte – also jenen Varianten, die jenseits der binären Geschlechter- und Sexualwelt bestanden, wie Hermaphroditen, Androgyne, ›Monster‹ und gleichgeschlechtlich begehrende Menschen.

Im Dickicht der Begriffe

Sprachgeschichtlich gesehen existierte bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keine »Sexualität«, denn der Begriff war noch nicht geboren. Wie in den meisten Fällen markierte das Auftauchen eines neuen Wortes auch in diesem Fall die Entstehung eines Wissensbestandes oder »epistemischen Dings« (eines Wissensobjektes). Dieses befeuerte die Forschung und Wissensgenerierung darüber weiter und kolonisierte in der Folge die menschliche Selbst- und Fremdwahrnehmung (Rheinberger 2006: 27ff.). »Sexualität« erblickte um 1800 das Licht der Welt und bezeichnet seither einen eigenen, abgegrenzten Lebensbereich und die dazu gehörenden Phänomene, die primär von den Humanwissenschaften ausgearbeitet und kategorisiert wurden (Eder 2009: 14; Sigusch 2008: 46ff.). Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit waren dagegen Worte in Gebrauch, die etwas anderes meinten, als die ganzheitliche ›moderne‹ »Sexualität« konnotiert. Nomen und Verben wie eros (die sexuelle Liebe), Venerem iungere (sich nach Art der Venus verbinden), futuere oder p(a)edicare (vaginal oder anal penetrieren), ars amatoria (Liebeskunst), debitum conjugale (eheliche Pflicht bzw. Schuld), remedium concupiscentiae (Abhilfe des Verlangens) und libido (sexuelle Begierde), »Wollust«, »Geschlechtstrieb«, »Begattungstrieb«, »Beischlaf«, »gebrauchen«, »beiwohnen« und »fleischlich erkennen« sowie andere Begriffe bezeichneten nur einen, aus heutiger Sicht, partiellen Aspekt der »Sexualität«.

Zwar handelt dieser Band von der Zeit vor der »Sexualität«, und auch wenn es berechtigte Kritik an der konnotativen und assoziativen Kraft gibt, die mit diesem Begriff einhergeht (Swancutt 2007: 13ff.), wird er hier dennoch verwendet. In den Kultur- und Sozialwissenschaften finden sich für das »Plastikwort« »Sexualität« sehr unterschiedliche Definitionen (Swancutt 2007: 14ff.; Bromley/Stockton 2013; Schnell 2002: 79f.; Lautmann 2002: 19ff.), die letztlich auf kontroversen Konzepten und Theorien beruhen (Horley/Clarke 2016; Sigusch 2013: 19ff.). Dieser Band beruht auf einer ›weiten‹ Definition von »Sexualität«: Anthropologisch betrachtet gehört Sexualität zu den ›Grundbedürfnissen‹ des Menschen, geht dabei allerdings über die Naturnotwendigkeit der Fortpflanzung hinaus und ist nicht wie bei Tieren instinktiv determiniert. Unter »Sexualität« werden alle mit dem Geschlechtsleben bzw. der sexuellen Begierde zusammenhängenden Erscheinungen verstanden – wie Begriffe, Ideen, Wissen, Begierde, Orientierung, Fantasien, Erfahrung und Praxis. Die sexuellen Akteure bedienen sich kulturell geprägter Kategorien, Vorstellungen und Wahrnehmungsformen, um die Psychophysis im Zeichen der »Sexualität« zu erfahren, zu beschreiben und mit Bedeutung und Sinn zu versehen. Dabei konstituiert sich die »Sexualität« in der Praxis immer auch durch Performanz und Erfahrung. Der hier verwendete Sexualitätsbegriff umfasst also Begehren/Begierde, Diskurse, Praxis, Erleben, Sprechen, Gefühle/Emotionen, Handlungen, Körper und Trieb (Eder 2009: 15f.). Er meint sowohl die diskursive Herstellung all dessen, was eine Zeit mit dem Geschlechtsleben in Zusammenhang brachte, als auch die entsprechende Praxis, die nicht-diskursive Anteile besaß. Die sexuellen Akteure waren/sind in ihrem Begehren, Sprechen und Handeln den soziokulturellen Codes unterstellt, können sich aber – etwa aufgrund andersartiger Erfahrungen und ambivalenter Wissensformen – gegen deren Vorgaben entscheiden. Fast hinfällig ist es angesichts einer solchen Definition, all jene Großkategorien außer Kraft zu setzen, die seit dem 18. und 19. Jahrhundert mit dem »Sexualitäts«-Begriff verbunden sind und in den letzten Jahrzehnten von der Wissenschafts- und Wissensgeschichte dekonstruiert wurden: also essentialistische Kategorien wie »Hetero-/Homo-/Bisexualität«, die Zuschreibung von Identitäten wie »Homosexuelle/r«, die Naturalisierung der »Heterosexualität« und »Heteronormalität«, die Polarisierung von Körpergeschlecht (sex) und kulturellem Geschlecht (gender) oder die Attribuierung von universellen bzw. biologischen Wesensarten von Mann, Frau und Anderen (Ingraham 2005; Schultz 2006; Lochrie 2011: 37ff.; Traub 2016: 13ff.).

Die Begriffe »Begierde« und »Begehren« werden in diesem Band synonym eingesetzt. In kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen wird ersteres meist verwendet, um die körperliche Energie oder Triebkraft, den »Sexualtrieb«, in den Vordergrund zu rücken. Mit »Begehren« wird hingegen der Prozess der kulturellen Signifikation erotischer oder sexueller ›Objekte‹, seien es nun Menschen, Bilder oder Dinge, bezeichnet. Beide Termini verweisen auf Fantasien bzw. Fantasmen und die damit einhergehenden Gefühle, Emotionen und Affekte, die aus dem Körper und der Psyche stammen. Dabei geht der Drang vom Körper und seinen »Durchgängen« zwischen Innen und Außen, von seinen erogenen Zonen aus, von Vagina, Vulva, Klitoris, Penis, Brustwarzen, After, Mund, Nase, Auge, Ohr und Haut (Verhaeghe 2003: 180). Orientierung und Ziel sowie die anvisierten ›Objekte‹ und deren bildliche, textuelle und dingliche Repräsentationen resultieren aus der kulturellen Zuschreibung (Walker 2017: 9f.). (Sexuelle) »Begierde« und »Begehren« äußern sich als Absenz, Fehlen und Mangel, ohne eine Praxis und Qualität sowie eine Richtung und Intensität des Erlebens bei der Beseitigung derselben eingeschrieben zu haben. Mit dem teilweisen Erreichen des begehrten Ziels und der scheinbaren, weil nie vollkommenen oder gänzlichen Realisierung der Phantasmen ist eine Befriedigung verbunden, die das Drängen für eine gewisse Zeit schwinden lässt, um danach wieder anzuschwellen. Nach Jacques Lacan geht das menschliche Begehren von einem Subjekt aus, das sich seit seiner In-die-Welt-Setzung bei der Geburt und der Trennung von der Mutterbrust als unvollständig empfindet und diesen Mangel durch ›Objekte‹ auffüllen möchte – ohne allerdings jemals den Ur-Zustand wiederherstellen zu können oder eine tatsächliche Verschmelzung mit dem Begehrten zu erreichen. Der oder das ›Andere‹ bleibt weiter ein ›Objekt‹ des konstanten Dranges und gibt uns gleichzeitig die Fähigkeit zu sexuellem Begehren und zur Liebe (Widmer 1997: 87ff.). Laut Lacan umfasst das Begehren zwischen Menschen – samt der erotischen und sexuellen Bilder, die sie sich voneinander machen – eine oft unterschätzte soziale Dimension: Mit dem gerne zitierten Satz »das menschliche Begehren ist das Begehren des Anderen« weist er darauf hin, dass das Subjekt nur begehrt bzw. begehren kann, wenn es den Anderen bzw. das ›Objekt‹ als begehrend erfährt (Žižek 2008: 59ff.). So erleben wir im körperlichen Zusammenspiel, wie Niklas Luhmann meint, »dass man über das eigene Begehren und dessen Erfüllung auch das Begehren des anderen begehrt und damit auch erfährt, daß der andere sich begehrt wünscht« (Luhmann 1982: 33).

Wie andere Begehrensformen kann das sexuelle Begehren von einem ›Objekt‹ zum nächsten ›wandern‹. W. J. T. Mitchell hat gezeigt, dass es nicht von der ›Bilderfrage‹ getrennt werden kann, denn der erotische und sexuelle Drang erzeugt materielle und mentale Bilder und umgekehrt – unser Begehren findet jene Objekte, die das kulturelle Zeichensystem (mittels Sprache und Bildern) zur Verfügung stellt. In Ovids Pygmalion-Mythos erfüllt sich dieses Phantasma archetypisch in beide Richtungen: Aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit Frauen lebte der Künstler Pygmalion nur mehr für seine Bildhauerei. Er schuf eine idealtypische weibliche Elfenbeinstatue, in die er sich verliebte. Er bat Venus, die Göttin der Liebe, um eine Frau, die der Statue gleiche. Als er später die Statue liebkoste, erwärmten sich ihre elfenbeinernen Lippen und sie wurde lebendig. Pygmalion konnte sie zur Frau nehmen (Mitchell 2008: 78ff.). Durch Pygmalions Augen gesehen ist für sexuelle Fantasien und masturbatorische Befriedigung kein realer Anderer ›vonnöten‹, sondern nur ein Begehren, das an dessen erotische oder pornografische Versprechungen glaubt.

Bei den Begriffen »Erotik« oder »erotisch« – beide im späteren 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt (Schulz/Basler 1995, Bd. 5: 221ff.) – tritt das geschlechtlich-genitale Moment des Sexualitätsbegriffs in den Hintergrund, ohne dieses gänzlich auszuschließen. Im Mittelpunkt steht vielmehr der imaginierte Weg hin zur Sexualität. Zudem spielen Liebesgefühle und die emotionale An- und Erregung durch den begehrten Körper eine zentrale Rolle. Erotische Attraktion mag sinnlich auf den Körper eines/einer Anderen, manchmal auch den eigenen gerichtet sein, ohne dabei auf eine unmittelbare sexuelle Realisierung abzuzielen. Platonisch-freundschaftliche Liebesbeziehungen – ungeachtet ob gleich- oder gegengeschlechtlich – mögen durch erotisches Begehren angetrieben werden. Sie verwirklichen sich in der Praxis jedoch nicht unbedingt im genitalen Akt, sondern durch erregende und lustvolle Berührungen etwa der, nicht unmittelbar genitalen, ›erogenen Zonen‹ (Andreadis 2008: 254ff.).

Im Versuch, das sexuelle Begehren im Geschlechtsverkehr zu realisieren, zeigt sich auch, dass das Fantasma des begehrten Körpers und der Verschmelzung mit diesem nie von der tatsächlichen körperlichen Kommunikation eingeholt werden kann. Aus der Täuschung und Enttäuschung dieser Realitätserfahrung speisen sich unzählige Mythen und Narrative. Etwa die Geschichte des »Bettschwindels«, bei dem ein Paar gemeinsam eine Nacht verbringt und am nächsten Tag einer der beiden erkennt, dass er bzw. sie mit der falschen Person oder sogar mit einem Betrüger, einer Betrügerin das Bett geteilt hat. Bei diesem Plot geht es nicht nur um die Frage, ob der intime Körperkontakt zu einer Kenntnis oder gar Erkenntnis des Anderen führt, sondern auch darum, was am anderen Körper eigentlich begehrenswert ist, ob er austauschbar ist, ob die Liebe oder der Leib im Vordergrund stehen und ob das sexuelle Handeln auf Wahrheit oder Lüge basiert. Die durch sexuelles Handeln erfolgte Transformation des ›Partners‹ gehört zu den Grunderfahrungen, die viele Menschen teilen. Die Religionshistorikerin Wendy Doniger formulierte es folgendermaßen: »Manchmal gehen wir mit einem Tier ins Bett und wachen mit einem Gott auf. Das heißt, wir gehen relativ indifferent ins Bett und wachen durch Sexualmagie verzaubert auf.« (Doniger 2000: 3)

Lust, Verlangen, Begehren, Geilheit, Begierde, Erregung, Orgasmus, Verschmelzen, Befriedigung, Erfüllung – diese und andere Bezeichnungen für sexuelle Gefühle bzw. Emotionen ließen sich durch eine unüberschaubare Zahl von umgangssprachlichen, poetischen und literarischen Be- und Umschreibungen erweitern, die das Erleben vor, bei und nach sexuellen Handlungen zu erfassen versuchen. Weniger umfangreich wäre wohl eine Aufzählung all jener Begriffe, die ›negative‹ sexuelle Emotionen bezeichnen. Die Sexualitätsgeschichte bewegt sich damit auf einem Terrain, das in den letzten zwei Jahrzehnten einen regelrechten Boom erlebt hat: der Geschichte der Gefühle (Frevert 2009; Schnell 2015; Liliequist 2016). Zunächst stand dabei eine wenig fruchtbare Debatte über Universalismus versus Sozialkonstruktivismus im Mittelpunkt. Erstere Richtung behauptet, dass unsere Gefühle durch neurochemische Vorgänge erzeugt werden und damit weitgehend unbeeinträchtigt von kultureller Signifikanz bleiben. Beispielsweise empfinden wir massiven körperlichen Schmerz als solchen, egal mit welchen Worten und Bildern wir ihn ausdrücken. Soziale Konstruktivisten nehmen im Gegensatz dazu an, dass der Gefühlshaushalt unterschiedliche Ausprägungen erfahren kann und die Gefühlskategorien wie auch das emotionale Erleben veränderbar sind. Als Beispiel wird häufig die Geschichte des Schamgefühls genannt, denn offensichtlich veränderte sich dieses mit den ›Brüchen‹ in der Schamkultur von der griechisch-römischen Antike zum Christentum oder vom 19. zum 20. Jahrhundert ganz wesentlich (Bologne 2001; Harper 2013). Einen Brückenschlag zwischen den beiden Richtungen leisteten in den letzten Jahren die Neurowissenschaften: Sie zeigten, dass zwischen der neuronalen und körperlichen Basis von Gefühlen auf der einen Seite und deren Artikulation auf der anderen eine Interaktion bzw. eine Feedback-Schleife besteht. So wirken etwa das Aussprechen von eigenen Gefühlen/Emotionen und das Miterleben von Gefühlsäußerungen anderer, etwa beim Betrachten eines Films, auf die ›plastische‹ Gehirnstruktur ein und verändern so auch das weitere emotionale Erleben (Plamper 2012: 252ff.).

Was unter »Gefühl« und »Emotion« verstanden wird und wie diese Begriffe definiert werden, hängt von der zu Rate gezogenen Wissenschaftsdisziplin ab. Zumeist werden unter Gefühlen (feelings) erlebte Emotionen bzw. das Empfinden von Emotionen verstanden, also bewusst erlebte psychische Zustände bzw. das psychisch-subjektive Erleben (Hartmann 2010: 31ff.; Schnell 2015: 31ff.). Als »Emotionen« (emotions) gelten meist komplexe Muster körperlicher und mentaler Veränderungen in Reaktion auf eine als bedeutsam wahrgenommene Situation. Sie umfassen neben dem subjektiven Erleben auch kognitive, handlungsbezogene, psychophysiologische und expressive Komponenten (Mees 2006: 105ff.). Wer sich mit Emotionen beschäftigt, hat also mit gefühlten inneren Zuständen bzw. psychischen Erfahrungen, mit körperlichen Veränderungen, mit Verhaltensweisen und Gesten, mit Handlungen und sozialen Praktiken, mit sprachlichen und bildlichen Äußerungen sowie mit Diskursen zu tun.

Jede Form der Benennung und Beschreibung von (sexuellen) Gefühlen und Emotionen in Vergangenheit und Gegenwart ist mit einer grundlegenden Erkenntnishürde behaftet. Denn was eine Person fühlt, kann sie zwar entsprechend des diskursiven Repertoires der jeweiligen Zeit – in deren Begriffen, Kategorien und Bildern – artikulieren, ihr eigentliches ›inneres‹ Fühlen bleibt jedoch nicht kommunizierbar. Psychische Zustände werden deshalb über Ausdrucksformen, Bewertungen, Darstellungen, Konzepte und Normen – also kulturelle Kategorien – vermittelt (Schnell 2015: 19ff.). Dies trifft auch auf das vorliegende Buch zu: Was Menschen in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit ›tatsächlich‹ bzw. ›wirklich‹ fühlten, wenn sie sich ›fleischlich‹ begehrten, wenn sie miteinander den Geschlechtsverkehr praktizierten oder ein Bild erotisch oder sexuell erregend fanden, ist nicht zu erschließen. Diese Schwelle lässt sich auch nicht überwinden, wenn man eine soziale Konstruktion der Gefühle postuliert. Das qualitative Einwirken sozialer und kultureller Rahmungen bzw. ebensolcher Wissens- und Bilderbestände auf die individuellen neuronalen Strukturen lassen sich (zumindest derzeit) ebenso wenig nachvollziehen wie die Auswirkungen von durch Kommunikation veränderten Gehirnstrukturen auf das Erleben und die Erfahrung des Individuums. Auch wenn damit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive eine Differenzierung von »Gefühl« und »Emotion« notwendig erscheint, kann diese in der Forschungspraxis angesichts der Unzugängigkeit von Gefühlen nicht eingelöst werden.

Sexuelle Gefühle/Emotionen sind ein Grund, warum Menschen geschlechtlich agieren. Meist ist der Bezugsrahmen ihres Handelns allerdings wesentlich umfangreicher. Studien, die in den 1970er bis 2010er Jahren in verschiedenen sozialen und kulturellen Milieus durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass Personen vielfältige subjektive Gründe für ihre sexuellen Aktivitäten hatten: Liebesgefühle; Intimität; gegenseitige Attraktivität; einen körperlichen Auslöser; die Verminderung von Angst; Langeweile; das Verlangen, begehrt zu werden; Pflicht; Erwartungen an die Rolle; den Wunsch, zu jemandem zu gehören; den Druck der ›Peer Group‹; um eine Eroberung zu machen; eine Kurzzeit-Allianz in eine längerfristige Beziehung zu verwandeln; zu verhindern, vom Partner/der Partnerin verlassen zu werden; reines Vergnügen oder pure Lust; Gewinn von Prestige, Status und Reputation; spirituelle Beweggründe; um dem Partner/der Partnerin eine Freude zu machen; aus Dankbarkeit; aus Neugierde; zwecks sexueller Abwechslung; weil es der Partner/die Partnerin verlangt; um die sexuellen Fähigkeiten zu verbessern; aus Dominanz oder Unterwerfung; um Stress und Anspannung zu reduzieren; aus Rache; aus finanziellen Motiven; zwecks Austausch von ›Ressourcen‹ wie Begünstigungen, Privilegien oder beruflichen Möglichkeiten. Erweitert man diese Liste um Motive, die in historischen Studien genannt werden, so wird die Palette noch umfangreicher: Ehe und Erfüllung der ehelichen Pflichten; das Streben nach Schönheit oder Tugend; die Erfüllung familiärer Verpflichtungen; um Kinder zu zeugen; zwecks Demonstration von Macht; um sich an der Kriegsbeute zu erfreuen; zum Erreichen eines höheren Standes; um Nahrung oder Güter zu erhalten; um einem göttlichen Auftrag zu entsprechen; um gewalttätige Eroberer zu beschwichtigen und vieles andere mehr (Hatfield/Luckhursta/Rapsona 2012: 145ff.).

Ebenfalls beachtlich ist die Liste jener Gründe und Motive, die Personen von sexuellen Handlungen abhalten können: weil ein Verlust sozialer Reputation droht; aus Angst vor schwerer Bestrafung; um keine Sünde zu begehen; wegen drohender Sanktionen der ›Peer Group‹; um nicht den Verlust sozialer Werte zu riskieren; weil man keine Hure oder kein unzüchtiger Mann ist; aus Angst vor Ansteckung mit venerischen und anderen Krankheiten; wegen körperlicher Abstoßung; weil man nicht verliebt ist; aus Angst vor Schwangerschaft; zwecks Vermeidung familiärer Schwierigkeiten; wegen der Unsicherheit bezüglich der Abstammung etwaiger Kinder; aus Angst vor Schmerzen; weil man ein (weiteres) Kind nicht ernähren kann; aus Angst vor dem Fegefeuer; weil man sich nicht ausliefern und die Kontrolle verlieren will; weil man zu jung ist; weil man keinen verfügbaren Partner hat; aus Angst zu versagen oder den Ansprüchen nicht gerecht zu werden; weil man an sexuellen Handlungen nicht interessiert ist; weil dazu die räumlichen oder zeitlichen Möglichkeiten fehlen; aus Angst vor negativen Emotionen und so weiter (Hatfield/Luckhursta/Rapsona 2012: 145ff.). Aufzählungen wie diese zeigen, dass es in Geschichte und Gegenwart eine kaum einzugrenzende Motivpalette für sexuelles Handeln gab und gibt und es vom jeweiligen sozialen und kulturellen Hintergrund, dem Alter, dem Geschlecht, der Lebenssituation und vielen weiteren Faktoren abhängt, warum sich jemand für oder gegen dieses Handeln entscheidet.

Der jeweilige soziokulturelle Rahmen ist auch für die Definition und Abgrenzung all jener Begriffe von Belang, die dem traditionellen Feld der Sexualität zugeordnet werden: wie etwa Prostitution, Homosexualität, Pornografie, Geschlechtskrankheiten, Verhütung und Abtreibung. In den nachfolgenden Kapiteln wird sich zeigen, dass sich die Bedeutung dieser Kategorien wiederholt veränderte, weshalb ihre Definition an den entsprechenden Stellen ausführlicher problematisiert wird. Eigentlich sollten in diesem Band deshalb Begriffe wie »Sexualität«, »Hetero-/Homosexualität«, »Pornografie«, »Prostitution« und andere Bezeichnungen für historische Sexualformen mit einer grafischen Markierung versehen sein (etwa einer Kursivierung oder einem Anführungszeichen), die darauf aufmerksam macht, dass diese Worte dem ›modernen‹ Sprachgebrauch entstammen und im behandelten Zeitraum keine oder eine andere Bedeutung hatten. Um das Schriftbild nicht zu überfrachten, wurde auf einen solchen optischen Marker verzichtet und dies der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser überlassen.

Sexualität und Geschichtsschreibung

Als Gegenstand der Geschichtsschreibung blickt die Sexualität auf eine bemerkenswerte Karriere zurück. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geriet sie erstmal in den Fokus der sogenannten »Sittengeschichte«, die sich auch mit der Mentalität der Arbeiterschaft oder der Geschichte des Alkoholkonsums beschäftigte. Die Autoren wollten zeigen, dass es schon in früheren Jahrhunderten eine große Vielfalt an sexuellen Phänomenen gab und die Vergangenheit bei weitem nicht so bigott und schambesetzt war wie ihre eigene Zeit. Die oft reich bebilderten und kulinarisch formulierten Werke über Themen wie Prostitution, Erotika und die ›Sittlichkeit‹ der Frau bewegten sich meist knapp an der Grenze zur Pornografie – und ließen sich deshalb gut verkaufen. Glaubte man ihren pikanten Schilderungen und frivolen Bildern, dann konnte beispielsweise der mittelalterliche Mensch seine sexuellen Laster und Lüste trotz oder abseits der kirchlichen Überwachung ausleben.

Mit der Verbreitung der Psychoanalyse in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Geschichtswissenschaft die Freud’sche Perspektive und ging von Abfolgen mehr oder weniger »freier« oder »unterdrückter« Sexualität in früheren Epochen aus. Bis in die 1970er Jahre lautete die sexualitätsgeschichtliche Meistererzählung, dass die meisten Menschen in Antike und Mittelalter sexuell freizügig gelebt hätten und es erst mit der Reformation, der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung und besonders in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zu einer Sexualunterdrückung gekommen sei. Im Zuge der »Sexuellen Revolution« der späten 1960er und 1970er Jahre würde man die gesellschaftlichen Fesseln des Eros endlich wieder abstreifen (Eder 2009: 10ff.).

In den späten 1970er Jahren wurde das Paradigma der unterdrückten Sexualität radikal infrage gestellt. Vor allem Michel Foucaults Histoire de la sexualité brachte dieses Denkgebäude zum Einsturz. Der erste Band – auf Deutsch unter dem Titel Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit (Foucault 1977) erschienen – wurde gleichsam zum »Gründungsdokument« (Martschukat/Stieglitz 2005: 177) der neuen Sexualitätsgeschichte. Foucault rief dazu auf, den Blick nicht auf die Repression zu richten, sondern die Herstellung bzw. soziale Konstruktion der Sexualität durch Diskurse und Dispositive und deren Einbindung in nicht-hierarchische und dezentrale Machtbeziehungen zu erforschen. Über die Jahrhunderte gesehen, stünden nicht das Schweigen über das Sexuelle oder dessen Unterdrückung im Zentrum, vielmehr würden immer weitere Bereiche des Lebens in den Bannkreis der »Sexualität« gezogen. Seit dem 18. Jahrhundert geriet sogar die Identitäts- und Wahrheitssuche des Menschen unter die Regentschaft von ›König Sex‹.

Foucault machte die »Sexualität« damit zu einem neu konzipierten Forschungsgegenstand, an dem die Historikerinnen und Historiker seitdem arbeiten (Eder 2016). Er verband die Sexualitätsgeschichte zudem mit dem Versprechen, dass mit der Geschichte der Sexualität auch eine ›totale Geschichte‹ der westlichen Zivilisation oder zumindest so ›großer‹ Kategorien wie Macht, Identität und Körper erzählt werden könnte (Cocks/Houlbrook 2006: 16). Durch Foucault trat die Sexualitätsgeschichte aus dem Abseits einer anrüchigen Minderheitenthematik und betrat die Bühne der ›seriösen‹ Historiografie, die sich mit Fragen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft beschäftigte (Laqueur 2009: 434; Herzog 2009: 1291).

In der Nachfolge Foucaults haben Historikerinnen und Historiker sowie Vertreterinnen und Vertreter der Schwulen- und Lesbenbewegung und des Feminismus (Smith-Rosenberg 1975; Weeks 1977; Walkowitz 1980; Weeks 2000: 53ff.) das Feld der Sexualitätsgeschichte enorm erweitert. Ehedem feste Kategorien wie Hetero-, Homo- und Bisexualität wurden dekonstruiert und diversifiziert, was sich unter anderem in der Verwendung des Plurals – etwa »Homosexualitäten« – niederschlug (Eder 2014: 17ff.). Nach Judith Butler (Butler 1991; Benhabib et al. 1993) sollte sogar das »Körpergeschlecht« (»sex«) durch performative Handlungen und insbesondere durch Sprech- und Benennungsakte erzeugt werden. Zwischen biologischem Geschlecht, sozialen Geschlechterrollen und sexuellem Begehren bestünden keine stabilen Verbindungen. Unterlegt war dem vielfach ein politischer Anspruch: Wenn die Kultur- und Sozialwissenschaften belegten, dass es sich bei diskriminierenden Essentialisierungen von Geschlechts- und Sexualkategorien um soziale Konstrukte handelte, konnten auch neue Zuschreibungen, Rollenbilder, Identitäten und Subjektpositionen gefunden werden (Weeks 2010: 12ff.).

Daran anknüpfend setzte die »Queer«-Theorie den etablierten sexuellen Kategorien und Identitätsformen – insbesondere der Hetero- und Homonormativität – die Unbestimmtheit und den Wandel von Geschlecht und Sexualität entgegen. Queer zu forschen bedeutete auch, an die Ränder der traditionellen Kategorien und Begriffe zu gehen. Dies führte einerseits zur Erforschung von liminalen ›Figuren‹ wie Hermaphroditen, Cross-Dressing-Personen, Inter- und Transsexuellen, andererseits zur Berücksichtigung von Quellen, die nicht explizit von sexuellem Begehren sprachen, sondern dieses metaphorisch ›umkreisten‹ oder nur indirekt thematisierten (Freccero 2006). Queer gelesen würden sich zum Beispiel in der homosozialen Ästhetik und Körperlichkeit verdeckte erotische und sexuelle Fantasien und Praktiken auffinden lassen, die in Zeiten des Schweigens und der Verfolgung gleichgeschlechtlichen Begehrens unausgesprochen blieben (Schnell 2013: 32ff.). Die Entgrenzung von essentialisierten bzw. generalisierten Sexualitätskategorien hatte auch zur Folge, dass homonormative Begriffe genauso kritisiert und dekonstruiert wurden wie heteronormative. Sprach man in den 1980er Jahren noch von »Schwulen- und Lesbengeschichte« bzw. von »Gay and Lesbian Studies«, so wurden diese durch das umfassende Akronym »GLBTQ«, also »Gay, Lesbian, Bisexual, Transgender and Queer«, ersetzt.

Heute ist die Historiografie der Sexualität multiperspektivisch aufgestellt und thematisiert neben Diskursen und Dispositiven auch Akteure und Aktanten, Praktiken, Skripts und Performanzen. Sie berücksichtigt dabei die individuelle und kollektive Gegenrede sowie den Widerstand gegen Wissensbestände und sexuelle Skripts (Simon/Gagnon 2003). Nicht zu vergessen ist der Umstand, dass auch die gesellschaftliche Repression und Disziplinierung des Sexuellen einen weiteren gewichtigen Aspekt der Sexualitätsgeschichte darstellen. Gleichwohl steht die ›positive‹ Herstellung der Sexualität im Vordergrund, so die Frage, welche alltäglichen sexuellen Vorstellungen und Wissensbestände ›durchschnittliche‹ Frauen und Männer besaßen und wie sie ihr Sexualleben praktizierten – gleiches gilt für Personen ohne heteronormative Geschlechtszuordnung (Traub 2016: 4ff.). Besonderes Augenmerk wird auf den sozialen und kulturellen Rahmen gelegt, in dem sich das Begehren in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter mit Bedeutung und Sinn, mit Bildern, Objekten und Erzählmustern anreichert und in Handeln umsetzt.

Seit Foucault Dispositive und Diskurse mit der Genese sexueller Identitäten verknüpfte, gehören Fragen nach dem identifikatorischen Selbst- und Fremdbezug im Zeichen des Sexuellen zum Standardrepertoire der Sexualitätsgeschichte. Wiederholt ging und geht es in historischen Studien darum, ob sich Menschen in der Vormoderne in sexuellen Kategorien etwa als »schwul« und »lesbisch« wahrnahmen – selbst wenn es diese ›modernen‹ Begriffe und Definitionen noch gar nicht gab. Ähnlich wurde diskutiert, ob sich Frauen, Männer und Hermaphroditen/Transgender-Personen, die sexuelle Dienstleistungen ›verkauften‹, als »Prostituierte« verstanden, also als Subjekte mit einer eigenen sexuellen Identität. Die Interaktion von historischen Subjekten bzw. individuellen Akteuren auf der einen Seite und Diskursen, sozialen Praktiken und Dingen auf der anderen Seite gehört nach wie vor zu den spannendsten Fragen einer kultur- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Sexualitätsgeschichte (Reckwitz 2014; Latour 2010).

Zielsetzungen dieses Bandes

Soweit es aufgrund der vorhandenen Quellen und des Forschungsstandes möglich ist, soll die menschliche »Sexualität« in diesem Buch als gewordener und damit historischer Gegenstand verstanden werden. Wie eingangs angemerkt, ist allerdings nie zu vergessen, dass es hier um ein unbestimmtes ›mythisches Wesen‹ geht, dessen naturhafte, genetische, hormonelle, neuronale und wie immer geartete ›Trieb‹-Kräfte das ›scharfe Sehen‹ eintrüben (Freud 1982: 529).

Das zentrale Anliegen dieser Studie ist es, die sozialhistorische Sicht auf die Sexualität zu stärken. In Erweiterung der vorherrschenden kulturgeschichtlichen Perspektive wird deshalb dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich sexuelle Begehrens- und Handlungsformen entwickelten, deutlich mehr Platz eingeräumt. Damit verbundene wirtschaftliche und politische Aspekte kommen damit ebenfalls in den Blick. Wie schon bei der Definition von »Sexualität« festgehalten, wird sexuelles Handeln als soziale Praxis verstanden – ohne dass das Sexualwissen und die kulturelle Rahmung des Begehrens zu kurz geraten sollen (Benkel 2012). So gesehen entwickeln sich sexuelle Subjektivierungsprozesse zwischen ›somatischem‹ Eigensinn, sozialer Mimesis, erworbenen sowie verkörperten Erfahrungen und den damit einhergehenden Wissensbeständen (Villa/Alkemeyer 2010). Aus praxeologischer Perspektive wird in den nachfolgenden Kapiteln deshalb unter anderem auf die Funktion des Sexuellen in Erziehung und Sozialisation eingegangen, dessen Bedeutung für die Ausprägung des Selbst- und Fremdbildes von Männern und Frauen dargestellt, seine Sozialisierung in der Eheanbahnung reflektiert und die Bedeutung des Sexuallebens für die ehelichen Beziehungen und das Konkubinat herausgestrichen.

Zwar wissen wir über die Ego-Perspektive und das individuelle sexuelle Erleben bzw. über die Emotionen eines Großteils der damaligen Bevölkerung wenig. Dennoch sind Aussagen über den Stellenwert des Sexuellen für unterschiedliche soziale Schichten möglich. Gleiches gilt für jene sozialen Netze, die durch Ehe und Sexualität geknüpft wurden, weil auf diese Weise Familien zueinanderkamen – durch den ›fruchtbaren‹ Koitus wurden Ehen erst rechtskräftig – und sich Verwandtschaft etablierte, die Erbfolge und der Besitztransfer gesichert wurden und man durch den ›Ehestand‹ das Ziel eines produktiven und ehrbaren Lebens erreichte. Eine größere Zahl überlebender Kinder stellte für die meisten Bevölkerungsgruppen zudem einen wirtschaftlichen Faktor dar, und man erblickte in ihnen auch die zukünftigen Arbeitskräfte, Erben und eine Altersversorgung. Der Zugang zu ›legitimen‹ Sexualkontakten wurde vor allem durch das Heiratsalter und die sozialen Heiratskreise reguliert. Dies geschah, indem man beispielsweise per Gesetz oder Tradition ein Mindestalter festsetzte oder die Zugangsschwellen durch soziale und ökonomische Hürden erhöhte oder verminderte. Im zünftischen Handwerk etwa war die Ausbildungszeit mit einem Eheverbot belegt: Lehrlinge und Gesellen hatten bis zur Freisprechung, der Übernahme einer Meisterstelle, der Gründung eines eigenen Haushaltes und einer Familie eine asketische Phase hinter sich zu bringen – was sich als wenig realistisch erwies.

Als soziale Praxis werden auch deviante Sexualformen wie Prostitution, Pornografie und gleichgeschlechtliche Handlungen thematisiert. Sie waren zwar in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen oder sogar verboten, doch fanden sich Nischen, in denen sie praktiziert wurden, wodurch nicht wenige Menschen zu sexuellen Erlebnissen und Erfahrungen vor, neben oder jenseits der Ehe gelangten. Beschäftigte sich die sexualitätsgeschichtliche Forschung mit solchen Sexualformen bislang vorwiegend unter den Gesichtspunkten der Regulierung und Sanktionierung, so werden sie hier als eingeübte ›positive‹ Praktiken verstanden, die es den Akteuren und Akteurinnen erlaubten, ihr sexuelles Begehren und Handeln als legitim, akzeptiert oder zumindest toleriert zu verstehen.

Wie auch heute war das Sexualleben in früheren Zeiten mit bestimmten Dingen, Orten und Räumen verbunden, die hier ebenfalls angesprochen werden – etwa dass man sich Verhütungsmittel verschaffte und einsetzte, für den Koitus eine eigene Bettstatt zur Verfügung hatte oder (halb-)öffentliche Räume benutzen musste oder in verruchte Viertel ging, um Kontakte zu Prostituierten zu suchen. In seltenen Fällen können wir sogar auf bauliche Überreste zurückgreifen, die Rückschlüsse auf die ›räumlichen‹ Bedingungen sexuellen Handelns ermöglichen. Im Fall des lupanar, eines in Pompeji ausgegrabenen Bordells, liefern Größe und Ausstattung der Kammern sowie die überlieferten Fresken Indizien für die dort stattgefundenen Sexualhandlungen.

Diese Studie zeigt auch, dass sich die ›neue‹ Sexualitätsgeschichte auf vielfältige Quellengattungen und manchmal auch durchaus ambivalente schriftliche, bildliche und dingliche Artefakte stützt und die Ergebnisse dementsprechend differenziert ausfallen. Hier unterscheidet sie sich deutlich von der früheren Historiografie, für die etwa Aussagen über das Früh- und Hochmittelalter primär auf Text- und Bildgattungen basierten, die aus der Hand kirchlicher Autoren stammten, viele von ihnen Monastiker. Entsprechend ihrer summae confessorum (Bußsummen) und libri poenitentiales (Bußbücher) sahen die Vorgaben für das Sexualleben der Gläubigen ziemlich trostlos aus. Die neuere geschichts- und literaturwissenschaftliche Forschung sowie die Kunstgeschichte haben den Quellenbestand inzwischen erweitert und zudem das methodische Instrumentarium der Analyse und Interpretation verfeinert. Heute gehört es zum »state of the art«, die diskursiven Umstände zu berücksichtigen, unter denen die jeweiligen Genres entstanden – seien es Texte, Bilder oder Dinge. Abhängig von den Produktions-, Distributions- und Konsumptionsbedingungen konnten selbst die Äußerungen eines einzigen Autors oder Künstlers ganz unterschiedlich ausfallen. Je nachdem, ob ein mittelalterlicher Text für ein öffentliches oder privates Publikum, in Latein oder in der Volkssprache, für Männer oder Frauen, für Mediziner, Juristen oder Theologen verfasst wurde und abhängig von den eingesetzten Gattungsstrategien, waren widersprüchliche Meinungen über das Sexuelle zu hören. Obwohl sich etwa die Diskursstränge von Medizin, Theologie und Komödie meist wenig ›berührten‹, kam es auch zu interdiskursiven Verschränkungen – weil sich Kleriker etwa auf medizinische ›Wahrheiten‹ beriefen oder sich die Verfasser von Schwänken und Fastnachtspielen über das kirchliche Dogma und die wenig keusche Praxis der Kleriker lustig machten. Gerade, wenn es um die sexuellen Eigenschaften der Geschlechter ging, konnten die vom jeweiligen Quellentypus abhängigen Aussagen deutlich variieren. In der Forschungsliteratur besteht deshalb heute weitgehend Einigkeit darüber, dass zwar in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit dominante Geschlechtermodelle existierten, sich aber auch alternative Vorstellungen über die sexuelle Wesensart von Mann und Frau anboten und die soziale Praxis entsprechend bunt ausfiel (Schnell 2002: 472ff.).

Unser Wissen über die Geschichte der Sexualität hat sich zwar in den letzten Jahrzehnten deutlich erweitert, doch existieren nach wie vor einige gravierende Lücken. Wir wissen über die sexuelle Eigenperspektive der meisten Menschen, insbesondere über die unteren und mittleren Gesellschaftsschichten, über ihre sexuellen Ideen, Vorstellungen und Fantasien ebenso wenig wie über ihre sexuellen Alltagspraktiken. Aufgrund mangelnder Schreibfähigkeit und fehlendem Zugang zu ›überlieferungswürdigen‹ Medien blieben sie in den hier behandelten Epochen ohne Stimme. Erst die empirische Sexualforschung des 20. Jahrhunderts konnte sich auf einen Fundus von zeitgenössischen Interviews und Ego-Dokumenten stützen und war so in der Lage, einigermaßen repräsentative Aussagen über breitere Bevölkerungsgruppen zu treffen. Dieses Quellendefizit hat Sexualhistorikerinnen und -historiker oft dazu ›verführt‹, die Differenz zwischen Diskurs und Praxis zu verwischen und die normativen Aussagen mancher Textgattungen als Ausdruck der herrschenden Mentalität und der gelebten Praxis der durchschnittlichen Bevölkerung zu verstehen.

Im Vergleich dazu sind wir über die »Sexualität an den Rändern« (Harris 2010) deutlich besser informiert. Aufgrund der Entstehungsbedingungen der Quellen besitzen wir Informationen über die Regulierung des vor- und außerehelichen Sexuallebens durch Gesetze, Ordnungen und Gerichtsakten, können erotische Gemälde und Fresken, die der Animation und Befriedigung der Fantasien der Oberschichten dienten, noch heute betrachten und Komödien und Karikaturen über die ›unnatürlichen‹ Praktiken von gleichgeschlechtlich begehrenden Menschen weiterhin lesen. In Archiven, Sammlungen und Bibliotheken finden sich nach wie vor unerschlossene Text- und Bildquellen zur devianten Sexualität.

Alltägliche Praktiken sowie die Wissensbestände und Vorstellungswelten der durchschnittlichen Bevölkerung haben hingegen keinen derartigen Niederschlag gefunden. Dennoch sind wir bei Überlegungen über die ›normale‹ Sexualwelt der ›breiten Masse‹ nicht bloß auf Spekulationen angewiesen. Zum einen verfügen wir über Sexualdiskurse, deren Produzenten ihre Aussagen mit anderen teilten und so als kollektive Wissensbestände zu verstehen sind, die auch in breitere soziale Schichten sickerten – etwa wenn kirchliche Sexualnormen von Klerikern ›unters Volk‹ gebracht wurden. Zum anderen fiel das Sprechen bzw. Schreiben über das Sexuelle samt vermittelnden Bildern und überlieferten Gegenständen nie einstimmig aus. In theologischen und philosophischen Traktaten, Minnereden, Eheschriften, Komödien, Graffitis und vielen anderen Quellentypen finden sich abweichende Meinungen zu Sexualmoral und -praxis – auch dies ist ein Indiz für den Möglichkeitsrahmen sexueller Handlungen.

Sexualitätsgeschichtliche Studien behandeln meist einen Zeitraum von ein, zwei oder drei Jahrhunderten, wenige thematisieren eine ganze Epoche. Diese zeitliche ›Einschränkung‹ resultiert vor allem aus der epochenspezifischen und institutionellen Einteilung der Geschichtswissenschaft und führt zu einem ›engen‹ Blick auf die jeweils ›eigene‹ Zeit. Als Folge wurden historische Sexualformen und insbesondere sexuelle Identitäten häufig als »Spezifika«, »Neuerungen« oder gar »Erfindungen« eines bestimmten Zeitraumes postuliert. Im Gegensatz dazu verfolgt dieser Band eine longue durée europäischer Sexualkulturen, weshalb die Tradierung und das Fortleben sexueller Phänomene und die ›Zähigkeit‹ sexueller Normen und Bilder betont werden.

Die einzelnen Regionen Europas wurden von der Sexualitätsgeschichte bislang unterschiedlich erforscht. Im Mittelpunkt standen die Sexualkulturen des süd-, mittel- und westeuropäischen Raumes. Eher stiefmütterlich behandelt wurden dagegen Ost- und Südosteuropa, wobei Studien zu Byzanz und dem Osmanischen Reich hervorstechen (Peirce 2009). Seit den bahnbrechenden Forschungen Edward Saids zum Orientalismus wissen wir, dass die ›westlichen‹ Vorstellungen von dieser Region, insbesondere vom Islam, von den erotischen Haremsbildern des 19. Jahrhundert geprägt waren (Said 1978). Dipesh Chakrabarty hat darauf hingewiesen, dass die geschichtswissenschaftliche Erzählung über anscheinend periphere Gebiete zudem teleologischen Tropen folgt: Nach diesem Erzählmuster zeichneten sich zuerst Entwicklungen in Europa, eigentlich in Zentral- und Nord-/Westeuropa, ab, um danach von bzw. in anderen Regionen nachvollzogen zu werden (Chakrabarty 2000). Gegen beide Narrative schreibt die neue Sexualitätsgeschichte an und versucht, diachron und synchron Sexualkulturen nebeneinander und in Interaktion zu verstehen. Als produktiv haben sich dabei Studien erwiesen, die komparativ vorgehen und zum Beispiel katholische und protestantische Sexualkulturen mit solchen der orthodox-christlichen oder der muslimischen Kultur(en) vergleichen (Traub 2008). Ebenfalls relativ wenig ist für diesen Zeitraum über große Teile Nordeuropas bekannt, was den über weite Strecken kaum oder nicht vorhandenen autochthonen schriftlichen Quellen geschuldet ist. Zwar wird in diesem Band versucht, auf möglichst alle europäischen Sexualkulturen einzugehen, dennoch spiegelt er diesen heterogenen Forschungsstand wider. Manche Themen bleiben auch deshalb unterbelichtet, weil sie von der Geschichtswissenschaft bislang noch nicht systematisch und über einen längeren Zeitraum untersucht wurden – etwa Sexualität im Alter, masochistische und sadistische Praktiken, Fetischismen, Bestialität oder Nekrophilie.

In den vergangenen Jahren sind vor allem im angloamerikanischen Raum kompakte Überblicksdarstellungen und mehrbändige Publikationen zur Sexualitätsgeschichte Europas im Allgemeinen und zu einzelnen Regionen und Territorien erschienen, die unser Verständnis deutlich erweitert haben (wie Karras 2006a; Crawford 2007; Clark 2008; Classen 2008; Stearns 2009; Peakman 2011; Phillips/Reay 2011; Fisher/Toulalan 2012). Sie bieten einen reichen Fundus für die weiterführende Lektüre. Über die zahlreichen Artikel, Aufsätze und Bücher, auf die in diesem Band verwiesen wird, können die angesprochenen Themen ebenfalls vertieft werden. Einen weiterführenden Einblick in die internationale Literatur zur Geschichte der Sexualität gibt die vom Autor herausgegebene Datenbank Bibliography of the History of Western Sexuality (http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/Sexbibl).

2. Regentschaft des Phallus: Griechische Antike

2.1 Eros und oikos

Wenn hier vom antiken Griechenland (8. bis 1. Jh. v. Chr.) die Rede ist, so werden darunter recht unterschiedliche Gesellschaften und politische Systeme subsumiert. Aufgrund dieser Vielfalt bestanden etwa zwischen der Sexualkultur Athens – über die wir aufgrund der Quellenlage am besten Bescheid wissen – und derjenigen Kretas oder Spartas teils gewichtige Differenzen. Von der archaischen Zeit (8. Jh. v. Chr. – 500 v. Chr.) über die klassische (500 – 336 v. Chr.) bis zur hellenistischen Zeit (336 – 30 v. Chr.) lassen sich zudem markante Veränderungen in der Sexualkultur feststellen. Solche regionalen und zeitlichen Varianten werden nachfolgend zwar immer wieder thematisiert, im Detail kann damit der Heterogenität der griechischen Kultur(en) aber kaum entsprochen werden. Zudem muss sich die Sexualitätsgeschichte für diese Epoche auf oft disparate, widersprüchliche oder zumindest interpretationsoffene Quellen (wie etwa Dramen und Komödien, Gedichte, Gesetzestexte, medizinische Schriften, Graffiti, Vasenbilder und Skulpturen) stützen. Beim Blick auf die historiografische Literatur zur antiken Sexualität zeigt sich in den letzten Jahrzehnten eine deutlich intensivierte Diskussion und damit auch eine Pluralisierung der bis in die 1970er Jahre recht eindimensionalen Forschungen. Richtungsweisend waren dabei die Debatten über Michel Foucaults Selbstkonstituierung des (sexuellen) Subjekts, die feministische Kritik an der ›geschlechtslosen‹ Historiografie, die Einbeziehung von Macht- und Hegemoniefragen, die radikale Kritik an der Heteronormalität von Geschlecht, Gender und Sexualität seitens der queer studies und die Einflüsse theoretischer und methodischer Debatten um die »cultural turns« (Richlin 1991; Skinner 2014).

Eros war für die Gesellschaft und Kultur der griechischen Stadtstaaten von elementarer Bedeutung. Personifiziert durch den gleichnamigen Gott und Sohn der Göttin Aphrodite, stand eros in den weitgehend agrarischen und oft kriegerischen Gemeinschaften für die Fruchtbarkeit des Bodens, die Fortpflanzung der Tiere und die Reproduktion des anthropos und damit für ein kosmisches Prinzip, welches das Leben beförderte und ihm Zukunft versprach. Beim Menschen wirkte eros nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern bezog sich auch auf gleichgeschlechtliche Ziele. Eingebunden in die religiöse und soziale Ordnung sorgte die sexuelle Kraft für Fertilität und Vitalität, trug aber auch zum Gedeihen von Kultur, Philosophie und Literatur bei. Zu unterscheiden war eros von philia, der familiären und freundschaftlichen Liebe, und von agapê, der Nächstenliebe (Pechriggl 2009: 8).

Eros besaß eine gefährliche, ungestüme, um nicht zu sagen tyrannische Seite und wurde als eine Naturgewalt verstanden, welche den Menschen völlig erfassen und das soziale, politische und religiöse Leben zerstören konnte (Winkler 1997: 129). Gott Eros und seine Mutter Aphrodite konnten den Menschen mit sexueller Leidenschaft und Liebe erfüllen, bei ihm allerdings auch zu Wahnsinn und Verlust der Selbstkontrolle führen (Golden/Toohey 2011: 7). Selbst Göttervater Zeus war ihnen in der griechischen Mythologie ausgeliefert. Angesichts seiner übermächtigen sexuellen Begierde gab er seiner Gattin Hera (die zugleich seine Schwester war) aufgrund der zahlreichen ›Affären‹ mit irdischen Frauen (und nicht nur mit diesen) permanent Grund zur Eifersucht. Doch auch Hera, die Beschützerin der Ehe, schaffte es im Kampf um Troja, ihn mittels List und Aphrodites Hilfe zu verführen und so über ihn zu triumphieren. Nach der Mythologie hatte eros meist auch seine Hände im Spiel, wenn sich die Götter in die Haare gerieten oder gar in Sterbliche verliebten und sich dann mit ihnen ›körperlich‹ vergnügten. Es verwundert also nicht, dass die griechischen Gemeinwesen versuchten, eros durch Gesetze, Normen und Institutionen zu bändigen, durch Riten und Kulte zu ›zivilisieren‹ und in eine produktive Richtung zu lenken (Thornton 1997: 139ff.).

Im Demeter- und Persephone-/Kore-Kult kam die enge Verbindung von Religion, Ritual und Sexualität ebenfalls zum Ausdruck. Bei den Thesmophorien, die Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit, gewidmet waren und nach der Bestellung der Wintersaat im Oktober/November von den Griechinnen ohne Beteiligung der Männer gefeiert wurden, trugen diese erigierte Penisse in Gebäckform bei sich und huldigten deren Fruchtbarkeit. Dabei machten sie sich über diese Attribute der Männlichkeit lustig. Es kam hierbei auch zu einer rituellen ›Vereinigung‹ mit den choiroi (Ferkeln), die in der Mythologie für die weiblichen Genitalien standen. Ähnliches bezweckte die Verehrung der Unterwelt- und Fruchtbarkeitsgöttin Persephone/Kore, deren Abstieg in den Hades den Koitus symbolisierte und deren jährliche Rückkehr in die Oberwelt den Wechsel der Jahreszeiten und die wiederkehrende Fertilität von Pflanzen, Tieren und des Menschen veranschaulichte. Beim komos, einem rituellen Fest mit Umzügen zu Ehren von Dionysos, wurden phallusbestückte Stangen getragen und der Gott der Freude und Fruchtbarkeit wegen seiner wachstumsfördernden Kraft verehrt (Vout 2013: 72). Im Phalluskult huldigte man aber nicht nur der Fruchtbarkeit, sondern viel mehr noch der ambivalenten Potenz des männlichen Genitals – Dionysos stand nicht umsonst auch für Ekstase und Wahnsinn. Einerseits galt der Phallus als ein Instrument, mit dem der Mann seine aktive sexuelle Begierde und seine Machtansprüche über andere ausdrückte. Andererseits erinnerten die phallischen Symbole daran, dass das Sexuelle auch unabhängig vom Willen seines ›Besitzers‹ agieren konnte und ihm womöglich die Kontrolle über sich entzog – ein Schreckensbild, das griechische Männer zutiefst an den Attributen ihrer Männlichkeit zweifeln ließ (Larson 2014: 214ff.).

Um ethisch zu leben, musste die mächtige Begierde des eros aktiv kontrolliert werden. Bei der »Sorge um sich selbst« schenkte man der sexuellen Lust und ihrer schöpferischen Lenkung besondere Aufmerksamkeit (Foucault 1989a; 1989b; Nussbaum 2000: 57ff.). Im Symposion baute Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.) auf die höheren und vor allem himmlischen genauso wie auf die philosophischen und künstlerischen Potentiale des eros und verwies dessen ›gemeine‹ und krude Kräfte in die Schranken. Mit dem Zwei-Welten-Prinzip sei dem Menschen nicht nur sein sexuelles Verlangen gegeben, dieses ließe ihn auch Schönheit und Tugendhaftigkeit, ja sogar Weisheit anstreben – wobei der ästhetische Körper (unabhängig vom Geschlecht) eine bevorzugte Projektions- und Ausdrucksfläche bot (Detel 1998: 213ff.; Soble 2009: 107ff.). Nach der im Symposion vorgestellten Liebeslehre bewegte man sich im Lebenslauf im besten Fall wie auf einer Leiter nach oben:

»Von einem schönen Körper zu zweien und von zweien zu allen schönen Körpern und von den schönen Körpern zu den schönen Tätigkeiten und von den Tätigkeiten zu den Kenntnissen, um schließlich zu jener Kenntnis zu gelangen, welche die Kenntnis keines anderen als jenes Schönen selbst ist, damit er am Ende einsieht, was das Schöne selbst ist.« (Platon 2006: 121f.)

Eros konnte am besten im oikos, im Haus bzw. in der Hausgemeinschaft, gezähmt und fruchtbar gemacht werden, in dessen Mittelpunkt ein monogames Ehepaar agierte. Zum oikos gehörten neben der durch Abstammung und Verwandtschaft formierten Familie auch Sklaven und freie Arbeitskräfte, die durch eine als natürlich geltende hierarchische Ordnung verbunden waren: als Mann und Frau, Vater und Kinder, als Herr und Sklave. Geführt wurde die Hausgemeinschaft durch einen freien Bürger, den kyrios, der als ›Haupt der Familie‹ sämtliche Mitglieder des Hauses nach außen repräsentierte. Zum oikos der ›Städtebürger‹ gehörten auch landwirtschaftlicher Grund und Boden, Pflanzungen, Vieh, Gebäude, Arbeitsgeräte und Haushaltsausstattung. Das griechische ›Haus‹ war damit nicht nur eine soziale, sondern auch eine ökonomische Einheit, für deren Fortdauer und Gedeihen das Sexualleben eine maßgebliche Rolle spielte. Durch seine Regulierung und Überwachung konnte man sicherstellen, dass die Abstammung und Erbfolge der freien Bürger nicht gestört wurden und die Kinder tatsächlich die leiblichen Nachkommen des kyrios waren, was in einer Sklavenhaltergesellschaft von essentieller Bedeutung war. Zu einem gut funktionierenden oikos gehörte auch, dass freie Knaben und Mädchen sittlich erzogen und standesgemäß verheiratet wurden. Die Sklaven jedoch galten auch in geschlechtlichen Angelegenheiten als unfrei und nach Ansicht vieler Historiker und Historikerinnen gleichsam als Objekte, über deren Körper die Besitzer ökonomisch und sexuell verfügen konnten – andere wiederum meinen, dass Haussklaven zumindest grundlegende Persönlichkeitsrechte zuerkannt wurden (Stahl 2003: 20ff.; Wrenhaven 2011: 71ff.; Cohen 2014). Vom Ansehen und der Ehre der Hausgemeinschaft hing auch das gesellschaftliche Ansehen des kyrios ab, denn er hatte deren Reputation nach außen zu beschützen. Als Symbol dafür prangte am Eingang vieler Athener Häuser eine Säule mit dem Haupt des Hermes und einem phallos als Symbol für die Energie und Potenz des Dionysos (Dover 2002: 20; Simons 2011: 53).

Frauen wurden dem Inneren des oikos zugerechnet und hatten diesen zu hüten und zu organisieren. Ihnen blieb es verwehrt, selber kyrios bzw. kyria zu werden und der hausrechtlichen Abhängigkeit zu entkommen. Als Töchter und Ehefrauen besaßen sie keinerlei persönliches Repräsentationsrecht und blieben dem Vater oder Bruder bzw. mit der Heirat dem Ehemann (in dessen oikos) unterstellt. Verwitwet fielen sie dem nächsten Agnaten zu, also einem Mann, der in der väterlichen Abstammungs- und Gewaltenlinie folgte (oft war dies der Onkel) – erst ein mit diesem gezeugter Sohn rückte zum nächsten Oberhaupt auf. Auch wenn das Lebensumfeld der Frauen von Bürgern auf den Haushalt bzw. das Haus ausgerichtet war, traten sie etwa bei religiösen Feiern in die Öffentlichkeit. Für weibliche Unterschichtsangehörige hingegen gehörte das außerhäusliche Arbeits- und Erwerbsleben zum Alltag (Robson 2013: 22; Cohen 1991: 150ff.).

Die kyrioi wiederum bildeten einen weit über die Hausgemeinschaft hinausreichenden sozialen, politischen und kulturellen Bund freier und gleicher Männer in der polis. In dieser Institution wurde Politik gemacht, über Kriegszüge debattiert, aber auch Sport und Gymnastik getrieben und dem Vergnügen nachgegangen. Hier galt die freie und gleiche Rede, man huldigte dem virilen Körper, verneigte sich vor männlicher Energie und Durchsetzungskraft. Der freie Mann der griechischen Stadtstaaten sollte bei jedem Anlass zeigen, dass er in sexuellen Dingen Herr seiner selbst und Herrscher über die anderen war. Die griechische Sexualkultur war dementsprechend entlang von Aktivität und Passivität, von Penetrieren und Empfangen sowie von willentlichem Selbst und sexuellem Unterworfensein strukturiert, wodurch die kyrioi