Erst das Land - Bernhard Vogel - E-Book

Erst das Land E-Book

Bernhard Vogel

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Beschreibung

Bernhard Vogel repräsentiert wie kein anderer die Bundesrepublik und seine Partei, die CDU. Er übte das Amt des Ministerpräsidenten als bislang Einziger in zwei Bundesländern, in Rheinland-Pfalz und in Thüringen, aus, mehr als 23 Jahre, so lange wie niemand sonst. Er verkörpert ein politisches Engagement, das sich als Dienst am Gemeinwohl versteht. In diesem Buch erinnert er sich an seine Kindheit und Jugend und die Zeit des Studiums. Vor allem aber beschreibt er seinen Werdegang in der Politik in West und Ost, die Begegnungen mit vielen Personen der Zeitgeschichte und die wichtigsten Wegmarken der bundesrepublikanischen Geschichte. Ein Zeitzeugenbericht von eminenter Bedeutung. 

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Seitenzahl: 380

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Bernhard Vogel

Erst das Land

Mein Leben als Politiker in West und Ost

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © epd-bild/Thomas Lohnes

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print: 978-3-451-39545-1

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83284-0

Inhalt

Vorwort

Kapitel I: Kindheit, Jugend, Studium (1932–1964)

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging

Abitur machen hieß studieren

Homo heidelbergensis

Auf die Idee, Politiker zu werden, kamen wir nicht

Kapitel II:Von Erhard zu Kiesinger (1965–1967)

Bundestagsabgeordneter

Kanzlerkrise und Große Koalition

Kultusminister in Mainz

Kapitel III: Kultusminister in stürmischer Zeit (1967–1976)

Der Kampf gegen die »Bildungskatastrophe«

Aufruhr an den Universitäten

Die Zeit großer Reformen

Landesvorsitzender

Kapitel IV: Die Kirche in der Welt von heute

Das Zweite Vatikanische Konzil

Der Essener Katholikentag und die Würzburger Synode

Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (1972–1976)

Der Konflikt mit dem Vatikan

Meine acht Päpste

Kapitel V: Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1976–1988)

Mein Weg in die Staatskanzlei

Das Land in guter Verfassung

Meine Kabinette

Zentrale Herausforderungen

Elfmal zu Besuch in der DDR

Begegnungen mit Erich Honecker

Der Deutsche Herbst – ein tragischer Konflikt

Der Urknall von Ludwigshafen

Die Medien

»Gott schütze Rheinland-Pfalz« – die Revolte von Koblenz 1988

Kapitel VI: Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (1989–1993 und 2001–2009)

Aufbruch zu neuen Ufern: erste Amtszeit (1989–1993)

Der Fall der Mauer

Rückkehr: zweite Amtszeit (2001–2009)

Kapitel VII: Das Abenteuer Thüringen

Der Rücktritt von Josef Duchač

Ich wollte helfen

Die drängendsten Aufgaben

Das Land kennenlernen

Die CDU Thüringen

Die ostdeutschen Nachbarn

Helmut Kohls vierte Amtszeit (1991–1994)

Herausforderungen und Weichenstellungen

Eine erste Zwischenbilanz

Die Mühen der Ebene (1994–1999)

Fortschritte

Erinnerungen an Helmut Kohl

Alleinregierung (1999–2003)

Der Abschied

58 Kollegen

Kapitel VIII: Thüringen nach 2003

Schluss: Ist die Wiedervereinigung gelungen?

Dank

Über den Autor

Anhang

Nachweise wörtlicher Zitate

Abbildungsnachweis

Lebenslauf Bernhard Vogel

Literatur über Bernhard Vogel

Publikationen Bernhard Vogels (Auswahl)

Vorwort

Am Ende meines Lebens möchte ich versuchen, Bilanz zu ziehen. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine und zum Krieg in Israel. Von meiner Kindheit und Jugend in Gießen und München über mein Studium der Politischen Wissenschaft, der Geschichte und der Volkswirtschaft, als Assistent von Dolf Sternberger und als Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg bis zu meinem – so nicht vorauszusehenden – jahrzehntelangen Werdegang als Politiker in West- und Ostdeutschland.

Diese persönlichen Notizen können und wollen keine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sein. Ich möchte aber festhalten, was ich in meiner Kirche und in der Welt als Zeitzeuge erlebt habe und wem ich begegnet bin. Ich möchte einiges richtigstellen und anderes vor dem Vergessen bewahren.

Nicht zuletzt möchte ich Mut machen, auch, ja gerade in schwierigen und unruhigen Zeiten, das gesellschaftliche und politische Engagement nicht zu scheuen. Unser Land und unsere Gesellschaft brauchen Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Im Rückblick auf meine eigenen jahrzehntelangen Erfahrungen kann ich versichern: Es lohnt sich!

Speyer, im Februar 2024

Bernhard Vogel

Kapitel I: Kindheit, Jugend, Studium (1932–1964)

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging

Wer 1932 geboren wurde, hat die Bombennächte im Luftschutzkeller, aber auch das Ende des Zweiten Weltkriegs noch als Kind erlebt. Plötzlich herrschte ungewohnte Stille. Der Fluglärm, die Bombenabwürfe, der Kanonendonner, die Geschosseinschläge, die seit Monaten zum schrecklichen Alltag geworden waren, waren verstummt. Die Angst, mit der ich mich im Luftschutzkeller an meine Mutter geklammert hatte, schwand. Wir durften wieder im eigenen Bett schlafen. Es musste nicht mehr verdunkelt werden. Zum ersten Mal sah ich mit Bewusstsein eine nachts vom elektrischen Licht erleuchtete Stadt.

Amerikanische Truppen rückten am Mittwoch vor dem Ostersonntag 1945 kampflos in Gießen ein, wo ich damals zu Hause war. Als wir uns endlich aus dem zu unserem Schutz in einem Hohlweg in die Felswand gesprengten Bunker wieder ans Licht wagten, zogen Tausende freigelassene Zwangsarbeiter, die vom NS-Regime nach Deutschland verschleppt worden waren, zerlumpt und ausgemergelt, sich zum Teil aufeinander stützend, in Holzpantinen oder barfuß an uns vorbei.

Wir waren noch Kinder, ganz im Unterschied zu unseren Mitschülern aus den Oberklassen, die Jahrgang für Jahrgang in den Krieg hatten ziehen müssen und nun, wie mein knapp sieben Jahre älterer Bruder Hans-Jochen, der sich 1943 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte, um der Einberufung zur Waffen-SS zu entgehen, als Erwachsene zurückkehrten. Sofern sie nicht zu den Millionen Gefallenen gehörten oder zu denen, die oft erst nach vielen Jahren aus der Gefangenschaft entlassen wurden. 1956 kamen die Letzten von ihnen – dank Adenauers Moskaureise im Jahr zuvor – aus der Sowjetunion nach Hause.

Der Krieg sei zu Ende, wurde uns gesagt. Wir seien auf Gedeih und Verderb den amerikanischen Soldaten ausgeliefert. Soldaten schwarzer Hautfarbe fuhren auf gepanzerten Fahrzeugen durch die Straßen. Ich war neugierig, aber ich kann mich nicht erinnern, Angst gehabt zu haben. Zumal sie uns mit Dingen beschenkten, die wir nicht kannten; mit Apfelsinen zum Beispiel, mit Kaugummi und mit Schokolade.

Wir, die Generation der Nachgeborenen, also derjenigen, die zumindest die letzte Kriegsphase bewusst miterlebt haben, ohne als Soldaten oder Flakhelfer noch in den Kampf ziehen zu müssen, mussten erst erwachsen werden, um uns langsam im Nachkriegsdeutschland zurechtzufinden.

Bis heute klingt mir die im Rundfunk übertragene und immer wieder wiederholte Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 1. September 1939 im Ohr: »Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!« Und ich erinnere mich auch an jenen sonnigen Junitag 1940, als der Rundfunk die Einnahme von Paris meldete und meine Mutter zu mir sagte: »Im Ersten Weltkrieg hätten wir uns über diese Nachricht gefreut.« Auch die Rede von Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast – »Wollt ihr den totalen Krieg?« – und der anschließende frenetische Beifall sind mir im Gedächtnis geblieben. Meine Mutter sprach von den vielen früheren jüdischen Mitschülerinnen, von denen keine Nachricht mehr kam, und während der Prozesse gegen die Mitglieder der »Weißen Rose« in München gebot sie uns, niemandem zu sagen, dass der ebenfalls zum Tode verurteilte und später hingerichtete Professor Kurt Huber, Mentor der Geschwister Scholl und ihrer Freunde, ein entfernter Verwandter von uns war. Von Konzentrationslagern wie Buchenwald oder gar Vernichtungslagern wie Auschwitz und Treblinka hatte ich hingegen nichts gehört. Wie viel Furchtbares wirklich geschehen war, wussten wir noch nicht. Und was wir wussten, konnten wir noch nicht einordnen und beurteilen.

Als der Zweite Weltkrieg begann, äußerte mein Vater seine Überzeugung, Hitler werde den von ihm mutwillig vom Zaun gebrochenen Krieg nicht gewinnen. Nach dieser Niederlage würden wir, die wir auf dem zum Lehrstuhl meines Vaters gehörenden Versuchsgut, dem Oberen Hardthof, lebten, kein Auto mehr haben, und dann sei der Schulweg für die beiden Söhne zu weit, also zogen wir 1940 in die Stadt. Er sollte mit seiner Voraussage recht behalten. Nur mit den Bomben, die im Dezember 1944 in drei schweren Luftangriffen auch die Stadt Gießen fast völlig zerstörten und das historische Stadtbild für immer auslöschten, hatte er nicht gerechnet. Nachdem dadurch auch unser Haus unbewohnbar geworden war, begann für uns eine jahrelange Wanderschaft durch die Stadt.

Ich habe bis heute nicht verstanden, dass der Bombenkrieg, das Leid und der Tod so vieler Menschen, die Zerstörung vieler deutscher Städte erst so spät eine Rolle in der zeitgeschichtlichen Diskussion gespielt haben und dass eines der ersten Bücher zu diesem Thema, das eine breite Diskussion auslöste, erst 2002 erschienen ist – Jörg Friedrich: Der Brand. Hat der Bombenkrieg das Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes tatsächlich beschleunigt?

Mein Vater Hermann Vogel, 1895 in München geboren, entstammte einer fränkischen Familie. In Rothenburg ob der Tauber hatten seine Vorfahren über viele Generationen eine Bäckerei betrieben. Sein Vater – mein Großvater Leonhard Vogel – durfte als Erster aus seiner Familie studieren und brachte es in München zu hohem Ansehen. Er war Tierarzt und Landesinspektor für Tierzucht in Bayern und im Staatsministerium verantwortlich für das bayerische Veterinärwesen. 1913 wurde er Professor an der Technischen Hochschule, später an der Universität München und zum Geheimen Hofrat ernannt. Als Kind war ich ihm besonders zugetan. Er starb 1942. Heute glaube ich, dass ich ihm nachgeschlagen bin, während mein Bruder viele Eigenschaften der Mutter meiner Mutter geerbt hat.

Mein Vater meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, stand bis Kriegsende ohne Unterbrechung an der Front und wurde mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet. Als Mitglied eines Freikorps war er 1919 an der Niederwerfung der Münchner Räterepublik beteiligt. Er studierte Landwirtschaft und promovierte und habilitierte sich an der Universität Göttingen. Als junger Assistent trat er dort schon im Mai 1932 der NSDAP und 1933 auch der SS bei und beteiligte sich an der Gleichschaltung der Universität im nationalsozialistischen Sinne. Er empfand den Versailler Friedensvertrag als Unrecht und litt gegen Ende der Weimarer Republik unter der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise. Schon sehr früh allerdings erkannte er seinen Irrtum und begann sich aus allen Aktivitäten zurückzuziehen und sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Ende 1935 attestierte ihm die Kreisleitung Göttingen der NSDAP, es fehle ihm »an kämpferischem Einsatzwillen und revolutionärem Schwung«. Bereits 1936 beantragte er »aus weltanschaulichen Gründen und dienstlichen Differenzen« – so wörtlich in seiner Austrittserklärung – das Ausscheiden aus der SS. Ein für die damalige Zeit mutiger und höchst ungewöhnlicher Schritt. Die SS wiederum bescheinigte ihm »nicht genügende weltanschauliche Klarheit«, zog eine »Entlassung wegen Ungeeignetheit« in Erwägung, akzeptierte aber schließlich die Austrittserklärung.

1934 folgte mein Vater dem ersten an ihn ergangenen Ruf auf einen Lehrstuhl für Tierzucht und Milchwirtschaft an die Universität Gießen. 1935 übersiedelte die Familie daher von Göttingen – wo mein Bruder und ich geboren sind – nach Gießen. Wir bezogen ein großes herrschaftliches Haus auf dem erwähnten Hof, auf dem es von Versuchstieren aller Art, von Kühen, Pferden, Schweinen und vor allem von vielen Hunderten Hühnern wimmelte. Dort auf dem Lande habe ich eine wohlbehütete und auch nach dem Beginn des Krieges zunächst friedliche, von meinen Eltern liebevoll begleitete, glückliche und unbeschwerte Kindheit erlebt, in einem dem Nationalsozialismus gegenüber sehr kritisch eingestellten bürgerlichen Elternhaus. Mit verblüffender Offenheit, oft mit sarkastischen Worten wurde über Hitler und seine Helfershelfer gesprochen, auch uns Kindern gegenüber. Das Hitlerbild wurde im Wohnzimmer aufgehängt, wenn der Besuch des Blockwarts drohte, verschwand aber danach sofort wieder.

1945 wurde mein Vater wegen seiner frühen NSDAP-Mitgliedschaft verhaftet und bis Mai 1947 festgehalten, erst in Gießen, später in einem Internierungslager in Darmstadt und schließlich in Ludwigsburg. Eine Spruchkammer stufte ihn zunächst als »Mitläufer« und schließlich als »Entlasteter« ein. Auf seinen inzwischen wiederbesetzten Lehrstuhl konnte er nicht zurückkehren. Diesen Schicksalsschlag hat er bis zum Ende seines Lebens nicht überwunden. 1947 erhielt er einen Ruf an die Universität Greifswald, den er aufgrund des Widerspruchs meiner Mutter und angesichts der Entwicklungen in der Sowjetisch Besetzten Zone ablehnte. Er wurde verschlossen, skeptisch und pessimistisch und blieb doch seiner Frau und seinen Söhnen liebevoll zugewandt, wenn er auch mitunter wegen ihres nicht ganz alltäglichen Lebensweges besorgt war.

Meine Mutter Caroline, eine geborene Brinz, ebenfalls 1895, allerdings wegen der dienstlichen Verwendung ihres Vaters in Bayreuth und nicht in München zur Welt gekommen, entstammte einer angesehenen, eng mit Bayerns Hauptstadt verbundenen Juristenfamilie. Ihr Vater, mein Großvater, starb wenige Wochen vor der Geburt meines Bruders. Ihre Mutter erwarb in der Inflationszeit einen Einödhof in der Nähe von Miesbach. »Ratzenlehen« wurde zum Hof, auf dem wir unsere Ferien verbrachten, und im Krieg – um den Bombenangriffen auf die bayerische Hauptstadt zu entgehen – zum Zufluchtsort meiner Münchner Verwandten. Großmutter Brinz war eine strenge, aber tüchtige Frau und wurde für uns alle zum Vorbild. Wenn nach dem Krieg gewählt wurde, erschien sie als Erste im Wahllokal und wählte bei Bundestagswahlen Konrad Adenauer.

Meine Mutter traf das frühe Ende der beruflichen Karriere meines Vaters ebenfalls schwer. Auch sie hat den damit verbundenen Ansehensverlust nicht verwunden. Der Erziehung ihrer beiden Söhne hat sie sich mit großer Hingabe gewidmet. Von ihr vor allem haben wir gelernt, dass wir uns beherrschen sollten und fleißig, aber auch ehrgeizig zu sein hätten. Von ihrer Sorge während des Krieges um ihren älteren Sohn an der Front sprechen unzählige Feldpostbriefe, die zum Teil erhalten geblieben sind. Ich, wir haben unseren Eltern viel zu verdanken. Dass mein Bruder und ich unserer politischen Verpflichtungen wegen 1978 in der Sterbestunde meiner Mutter nicht an ihrer Seite waren, schmerzt mich bis heute.

Der 8. Mai 1945 war für uns der Tag, an dem endlich die Waffen schwiegen und das Morden in Europa endete. Dass es nicht nur der Tag der deutschen Niederlage, sondern auch der Tag der Befreiung war, habe ich erst später begriffen. Um aus dem, was geschehen war, die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen und daran unser Handeln und unsere Entscheidungen auszurichten, war es für mich und meine Altersgruppe noch zu früh. Anders die eigentliche Kriegsgeneration, der mein Bruder noch zuzuordnen ist. Unmittelbar nach Kriegsende nach Hause zurückgekehrt, setzte er, so bald das möglich war, sein juristisches Studium fort. Er ging dazu nach Marburg, wo Kriegsteilnehmer aller Altersjahrgänge aufeinandertrafen, unter ihnen auch Alfred Dregger, der später viele Jahre die CDU in Hessen führen und von 1982 bis 1991 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sein sollte. Mein Bruder und er wurden Freunde für ein jahrzehntelanges Neben-, Mit- und Gegeneinander.

Hans-Jochen und Bernhard Vogel.

Ein täglicher Gedankenaustausch, etwa am gemeinsamen familiären Mittagstisch, war uns schon seit 1943, dem Jahr seiner Einberufung zur Wehrmacht, nicht mehr möglich gewesen. Vielleicht erklären sich auch damit, wenigstens zum Teil, die unterschiedlichen politischen Wege, die wir später eingeschlagen haben. Hans-Jochen begegnete schon während seiner Referendarzeit im Mai 1949 zum ersten Mal Kurt Schumacher, dem von Leid und fast zehnjähriger KZ-Haft gezeichneten Vorsitzenden der SPD, der bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterließ. Eine wichtige Rolle spielte für ihn auch Wilhelm Hoegner, der spätere bayerische SPD-Vorsitzende und Ministerpräsident 1945/46 und von 1954 bis 1957, der ihn in die Staatskanzlei berief. 1950 trat mein Bruder nach eingehender Prüfung der Programme aller politischen Parteien in die SPD ein: mit 24 Jahren. Als ich dieses Alter erreichte – 1956 –, war Konrad Adenauer bereits seit sieben Jahren Bundeskanzler. In der deutschen Politik herrschten, was etwa die Fragen der Wiedervereinigung, der Westpolitik oder die Soziale Marktwirtschaft betraf, klare Fronten. Die Positionen, die Konrad Adenauer hier vertrat und als Bundeskanzler durchsetzte, überzeugten mich. Und sie veranlassten mich – wenn auch erst 1960 –, der CDU ­beizutreten.

Meine Gießener Schulzeit war zwischen Volksschule und dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums durch den Bruch zwischen Hitlerzeit und Nachkriegszeit gekennzeichnet. Mit zehn Jahren – 1943 – kam ich zum Jungvolk, der seit 1939 verpflichtenden NS-Jugendorganisation für 10–14-jährige Jungen. Aber meine Eltern erwirkten ein Attest, aufgrund dessen ich nicht zum »Antreten« musste. Für mich damals kein Grund zur Freude, sondern zur Ausgrenzung. Ich durfte nicht dabei sein, ich konnte am Montag in der Klasse nicht von den gemeinsamen Erlebnissen des Wochenendes berichten.

Ich war – und blieb auch später – ein schlechter Schüler. Es gab Fächer wie Deutsch und Geschichte und mitunter sogar Mathematik, in denen ich Gutes leistete, und andere, in denen ich sauschlecht abschnitt. Das führte bei manchen meiner Gießener Lehrer, die zum Teil auch schon meinen Bruder unterrichtet hatten und seine hervorragenden Leistungen kannten, zu völligem Unverständnis. Ihr häufiger Verweis auf die so viel besseren Leistungen meines älteren Bruders wies sie nicht gerade als Pädagogen mit Fingerspitzengefühl aus. Sitzen geblieben bin ich nie, aber mehrmals nur sehr knapp an der Wiederholung einer Klasse vorbeigeschrammt. Vielleicht hat das aber auch dazu beigetragen, dass ich mich später nur selten überschätzt habe.

Erfolgreicher verlief mein kirchliches Engagement. Ich war 1942 zur ersten heiligen Kommunion gegangen und im selben Jahr gefirmt worden. Meine Beziehung zur Kirche ist wesentlich geprägt worden durch einen Schulkameraden, Otto Brenner, der mich nach dem Krieg eng mit meiner Pfarrei in Verbindung gebracht hat, und durch die Söhne der Familie Andreae. Diese Familie wohnte gleich neben der Pfarrkirche, der Vater Wilhelm Andreae war Professor für Volkswirtschaft in Gießen, die Mutter schrieb Romane, Erzählungen und Hörspiele. Sie hatten sieben Kinder, darunter drei Söhne – Clemens, Bernard und Stefan –, die wie mein Bruder und ich das Gymnasium in Gießen besuchten. Alle drei sind mit mir zur Erstkommunion gegangen und gefirmt worden. Erstaunlicherweise hat sich auch ihr Vater mit ihnen firmen lassen, was dazu führte, dass er als politisch unzuverlässig galt, kurze Zeit später als Professor entlassen wurde und seine Frau fortan durch das Schreiben von Romanen für die Gießener Tageszeitung den Lebensunterhalt verdiente. Clemens Andreae wurde später Professor in Innsbruck, und Franz Josef Strauß hatte zeitweilig den kühnen Plan, bei ihm zu promovieren. Clemens Andreae stürzte leider 1991 mit seinem Seminar bei einem Flug mit der Lauda Air in Asien ab und kam dabei zu Tode. Sein Bruder Bernard war von den drei Söhnen der Begabteste und wurde später unter anderem Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom. Der dritte Bruder, Stefan, wurde Geistlicher, war außerplanmäßiger Professor in Bonn, gab in fortgeschrittenem Alter das Priesteramt auf und heiratete.

Wir haben damals Theater gespielt, beispielsweise das Große Welttheater von Calderon. Stefan spielte den Bettler, Clemens den Gottvater und ich das Ungeborene Kind, das zu meinem großen Bedauern kaum Text zu sagen hatte, weil es ja noch nicht geboren war. Diese Familie, mein Klassenkamerad Otto Brenner und die wenigen anderen katholischen Schulkameraden waren für meine religiöse Sozialisation von großem Einfluss. Eine Rolle spielte auch die Diasporasituation, die ja oftmals die in ihr lebenden Katholiken wacher, lebhafter und engagierter machte. Wir waren nur etwa vier, fünf katholische Schüler in der Klasse. Den Religionsunterricht gab Pfarrer Joseph Deuster. Viel Theologie haben wir bei ihm nicht gelernt, aber die Freude an unserem Glauben und an unserer Kirche hat er uns vermittelt. Sie sollte uns prägen und ein Leben lang begleiten, auch dadurch, dass er uns in jeder Religionsstunde in das Leben der damals einzigen katholischen Gießener Pfarrei St. Bonifaz einbezog.

Ich wurde Messdiener und trat einer katholischen Schülergemeinschaft – dem Bund Neudeutschland (ND) – bei. So kam ich in regelmäßigen Kontakt zur Kirche. Eines Tages besuchte mich auf dem Schulhof ein für den ND auf Bundesebene verantwortlicher Geistlicher – Regens Gottfried Kuch aus Hadamar – und drückte mir das »Hirschberg-Programm« in die Hand. Das Programm des Bundes Neudeutschland, der 1919 auf dem Höhepunkt der Jugendbewegung vom Kölner Kardinal von Hartmann gegründet und von den Jesuiten zum Teil im Verborgenen auch durch die nationalsozialistische Zeit begleitet worden war, lud zu strenger, an christlichen Grundsätzen orientierter Lebensführung ein (»Lebensgestaltung in Christus«). Dieser Geistliche verpflichtete mich, auch in Gießen eine Gruppe zu gründen. Beim Versuch, seinen Auftrag zu erfüllen, habe ich – außer Singen – vieles gelernt: Gruppenstunden vorzubereiten, Fahrten und Zeltlager zu organisieren, die Meute zusammenzuhalten, Eltern zu beruhigen, Theater zu spielen, erste Reden zu entwerfen, Zeitschriftenbeiträge zu verfassen. Wie gut ich manches davon später würde brauchen können, ahnte ich damals nicht.

Die ersten Jahre nach dem Krieg wurden für viele in Deutschland und Europa zu Jahren der Not, der Obdachlosigkeit und des Hungers. Viele Frauen mussten sich beim Broterwerb und zu Hause in der Erziehung ihrer Kinder allein behaupten. Für Millionen von ihnen stand die Sorge um das Überleben ihrer Kinder und Männer im Mittelpunkt. Nachrichten beschränkten sich auf das Hörensagen. Post und Telefon gab es kaum. In der amerikanischen Zone erschien anfangs eine einzige deutschsprachige Zeitung, und zwar zweimal wöchentlich. Das Hamstern entwickelte sich zur Überlebensnotwendigkeit: Samstag für Samstag fuhren wir in überfüllten Zügen aufs Land und tauschten alles, was wir entbehren konnten, für einen Laib Brot, für ein paar Eier, für einen Liter Milch. Der Schwarzmarkt blühte. Nicht die noch in Umlauf befindliche Reichsmark, amerikanische Zigaretten waren die eigentliche Währung. Der Schüler wurde zum Gärtner: Kartoffeln und Zuckerrüben wurden angebaut, wo immer ein Quadratmeter dafür zu sichern war. Ich zog in einem Bombentrichter, in dem ich windgeschützte Terrassen anlegte, Tomaten. Die Trümmer der zerbombten Häuser wurden zu Fundgruben. Erhalten gebliebene Dachziegel, nicht verbrannte Fensterrahmen oder Türblätter, jeder Nagel fanden neue Verwendung. Das Steine­klopfen wurde zur Alltagsbeschäftigung. Glas war besonders wertvoll, um die eigenen kaputten Fenster nicht mit Pappe oder Packpapier vernageln zu müssen.

Von Schule sprach zunächst niemand, die Schulgebäude waren zum großen Teil zerstört, die Lehrer noch nicht aus der Gefangenschaft zurück. Die, die überlebt hatten, mussten erst entnazifiziert werden, bevor sie wieder lehren durften. Nur kleine Gruppen und nur in ihrer Privatwohnung durften sie unterrichten. Also zogen wir zu fünft oder sechst – ohne schuldhafte Eile – vom Lateinlehrer zum Mathematiklehrer und von dort weiter zum Deutschlehrer. Diese Wege nahmen mehr Zeit in Anspruch als der Unterricht. Schulbücher gab es nicht. Die aus der NS-Zeit waren verboten und neue weder geschrieben noch gar gedruckt.

Nur langsam normalisierte sich der Alltag. Nur langsam fanden wir uns in der amerikanischen Besatzungszone, wo es uns besser ging als in den drei anderen, und im Nachkriegsdeutschland zurecht. Die amerikanisch-britische Bizone entstand, aus der schließlich mit der französischen die Trizone wurde.

Theaterstücke wie Carl Zuckmayers Des Teufels General oder Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür und Bücher wie Eugen Kogons SS-Staat begannen mir die Augen zu öffnen. Ich fing an, die Frankfurter Hefte, später auch die Zeitschrift Hochland und – bis heute – die Herder-Korrespondenz zu lesen. Das ganze furchtbare Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen erschloss sich mir allmählich.

Als Des Teufels General im Gießener Stadttheater gegeben wurde, verführte ich meine Klasse – ohne die Lehrer zu fragen –, eine Vorstellung während der Schulzeit zu besuchen. Ich wurde dafür mit vier Stunden Arrest bestraft. Ein offensichtlich weitblickender Lehrer verlangte von mir, einen Aufsatz über das Stück zu schreiben. Dieser füllte ein ganzes Schulheft. Jahrzehnte später – er war inzwischen aus dem Exil in Vermont nach Europa, nach Saas-Fee, zurückgekehrt – bin ich Carl Zuckmayer wiederholt begegnet. Er las (mit Schmunzeln) meinen jugendlich-kritischen Versuch. Zum Gedenken an ihn habe ich später den Zuckmayer-Preis zur Pflege der deutschen Sprache gestiftet. Er wird mit der Carl-Zuckmayer-Medaille und einem Fass Wein aus seinem Geburtsort, dem rheinhessischen Nackenheim, von meinen Mainzer Nachfolgern bis heute verliehen.

Wer auf die Anfangsjahre der Bundesrepublik zurückblickt und wer zu einem einigermaßen gerechten Urteil kommen möchte, sollte für die nach 1930 Geborenen bedenken, dass unsere Kindheit und frühe Jugend nicht so sehr durch die Kriegszeit als durch die ganz anderen, aber ebenfalls gänzlich ungewöhnlichen Umstände der ersten Nachkriegsjahre geprägt worden sind. Der Alltag hat uns viel mehr als heute üblich in Anspruch genommen. Weder der Blick zurück noch der nach vorne standen zunächst im Mittelpunkt unseres Lebens. Und das keineswegs aus Desinteresse, schon gar nicht an der Politik. Wir mussten uns vielmehr erst zurechtfinden. Am Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausgearbeitet hat – die Mehrzahl seiner Mitglieder war vor 1900 geboren –, an den Regierungen von Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt – die Kriegsgeneration begann in die Kabinette einzuziehen – waren die nach 1930 Geborenen noch nicht beteiligt. Unsere Nachkriegsgeneration ohne eigene Fronterfahrung erreichte erst mit der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler 1982 das Bundeskabinett. Er selbst – Jahrgang 1930 – und mit ihm sechs weitere Kabinettsmitglieder waren in den frühen 1930er Jahren zur Welt gekommen. Der Jüngste war Norbert Blüm, Geburtsjahr 1936. Nach dem Abitur, in den ersten Berufsjahren, unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses und den NS-Prozessen in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren gewannen für uns Vergangenheit wie Zukunft an Bedeutung.

Im Sommer 1949 erfüllte sich der Wunsch meiner Eltern: Wir zogen nach München. Kein Abschied ist mir schwerer gefallen als dieser Abschied von Gießen – von meiner Klasse, von meiner Jugendgruppe, von meinen Freunden, von meiner Pfarrei. Es war der Abschied von meiner Kindheit.

Abitur machen hieß studieren

In München fand ich mich allerdings erfreulich rasch zurecht. Obwohl wir nicht im unserer Familie altvertrauten Schwabing wohnen konnten, sondern nach Bogenhausen ziehen mussten, meldeten mich meine Eltern im Schwabinger Max-Gymnasium an, einem humanistischen Gymnasium, an dem schon mein Vater und der Vater meiner Mutter ihr Abitur gemacht hatten. Eine sehr gute, aber auch strenge Schule, in der natürlich die alten Sprachen dominierten. Einige meiner Lehrer – sie wurden mit »Professor« angesprochen, und sie nannten uns bei unseren Nachnamen – sind mir zum Vorbild geworden. Nicht wegen des Fachwissens, das sie uns vermittelten, sondern weil sie uns das Lernen gelehrt haben und weil sie uns halfen, mit Schwierigkeiten fertigzuwerden. Dass ich mich später als Kultusminister oft auf die Seite der Lehrer stellte, ist ihr Verdienst. Und ebenfalls ihr Verdienst ist es, bei mir über die alten Sprachen und über den Geschichts- und Sozialkundeunterricht das Interesse für Gesellschaft, Staat und Politik geweckt zu haben.

Das schriftliche Abitur mussten wir in fünf Fächern ablegen: Deutsch, Latein, Griechisch, Mathematik und auch in Religion – Matthäus 16,8: »Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen« war das Thema. In der mündlichen Prüfung in Griechisch hatte ich einen Abschnitt aus der Politik des Aristoteles zu übersetzen. Sie sollte mich seitdem durch mein ganzes Leben begleiten.

Ein früherer Schüler spendete unserer Schule die Einrichtung eines Schulfunks. Alle Klassenzimmer konnten, wenn der Schulleiter – oder der Hausmeister – es erlaubten, Rundfunksendungen empfangen. Auch Bundestagsdebatten konnten übertragen werden. Je häufiger ich durchsetzen konnte, dass wir die großen Redeschlachten im Bundestag, etwa zur Europa- oder zur Verteidigungspolitik, in der Klasse mitverfolgen konnten, umso gesicherter war meine Wiederwahl als Klassensprecher und später auch als Schulsprecher. Ein Teil der Schüler wollte die Debatten tatsächlich mitverfolgen, der andere – größere – Teil begrüßte es, dass der reguläre Unterricht ausfiel.

Meine eigentliche geistige Heimat fand ich bald in der traditionsreichen Gruppe München-Nord des Bundes Neudeutschland. Unter der schützenden Hand eines mit dem ND auch während der NS-Zeit eng verbunden gebliebenen Ehepaares und begleitet von zwei jungen Redemptoristen-Patres sowie einem jungen Hochschuldozenten – Fritz Paepcke – bildete sich ein Freundeskreis, der es mit dem schon erwähnten »Hirschberg-Programm« und der dort geforderten »Lebensgestaltung in Christus« ernst meinte. Eine intensive Befassung mit dem Neuen Testament, sogenannte Christuskreise, neue Formen der Messfeier, regelmäßige Gruppenstunden, Zeltlager, Fahrten quer durch Deutschland, aber 1950 auch nach Rom prägten unseren Alltag.

Gruppenfoto auf dem Petersplatz während einer Pilgerfahrt des Bundes Neudeutschland nach Rom.

Diese Romfahrt war für die meisten von uns die erste Auslandserfahrung. Wir fuhren mit dem Zug, am Vierwaldstättersee von Luzern auch ein Stück mit dem Schiff, übernachteten zum ersten Mal auf italienischer Seite, aßen zum ersten Mal Spaghetti und kamen nach Rom, besichtigten die Stadt und den Vatikan. Papst Pius XII. lud uns ein, nach Castel Gandolfo, seiner Sommerresidenz, zu kommen, wo wir zum Erstaunen aller anderen Audienzteilnehmer den Kanon »Ich armes, welsches Teufli« sangen. Skeptisch wurden wir gefragt, wie wir denn vor dem Papst ein solches Lied singen könnten, und konnten antworten, dass der Papst sich das ausdrücklich gewünscht hatte.

Im Bund Neudeutschland entstanden Freundschaften, die mich nachhaltig beeinflussten und zum Teil Jahrzehnte halten sollten. Weniger die aktuelle Tagespolitik als vielmehr Grundfragen der katholischen Soziallehre beschäftigten uns. Die beiden großen Sozialenzykliken Rerum Novarum und Quadragesimo Anno wurden gemeinsam gelesen. Oswald von ­Nell-Breuning, weniger der ebenfalls bedeutende Sozialethiker Gustav Gundlach, wurde zu unserer Leitfigur.

Auf die Idee, in eine Partei einzutreten, kam damals keiner von uns. Es hat uns auch niemand angesprochen. Einem Professor der Medizin, der in München eine zweite medizinische Fakultät einrichten wollte und darum für die CSU zum Münchner Stadtrat kandidierte, halfen wir im Wahlkampf, weil er wie wir ein NDler war.

Je näher das Abitur rückte, umso bedrängender wurde von allen Seiten die Frage nach dem künftigen Studienfach und nach einem möglichen Berufsziel gestellt. Dass man nach dem Abitur zu studieren hätte, stand außer Frage. Nicht nur die Sorge, ob ich das Abitur überhaupt bestehen würde, machte mich ratlos. Den katholischen Religionslehrer, der an unserem Gymnasium eine beherrschende Rolle spielte und der erpicht darauf war, jedes Jahr wenigstens einen Theologiestudenten vorweisen zu können, ließ ich wissen, ich wolle Soziologie studieren. Seine Antwort: »Bei der Soziologie fängt es an, bei der Societas Jesu wird es enden.« Fritz Paepcke, der schon erwähnte junge Hochschuldozent, war im Begriff, von München an das Dolmetscherinstitut der Universität Heidelberg zu wechseln. Er machte mir das damals in Mode kommende Fach Soziologie mit dem zusätzlichen Argument schmackhaft, es könne eigentlich nur oder jedenfalls am besten in Heidelberg belegt werden. Das lockte mich, denn ich wollte auf jeden Fall von zu Hause weg und darum nicht in München studieren. Also entschied ich mich für dieses Fach, von dem damals niemand so genau wusste, was es eigentlich beinhaltete. Mein Vater, der mich angesichts meiner recht bescheidenen schulischen Leistungen nach der Mittleren Reife gedrängt hatte, das Gymnasium zu verlassen, und mich an einer Hotelfachschule anmelden wollte, bezweifelte, dass man mit Soziologie später sein Brot verdienen könne, und verlangte darum, dass ich »wenigstens« zusätzlich Volkswirtschaft studieren sollte. Ich habe auch hier alle für die Zulassung zur Prüfung erforderlichen Leistungsnachweise erworben, aber dann, als ich zur Überraschung meines Vaters die Promotionsurkunde vorweisen konnte, erreicht, dass mir ein Examen in Volkswirtschaft erspart blieb.

Im Jahr meines Abiturs 1953 erstritten Konrad Adenauer und die CDU/CSU mit 45,2 Prozent einen fulminanten Wahlerfolg bei der zweiten Bundestagswahl. Es folgten weitere ereignisreiche, die Bundesrepublik nachhaltig prägende Jahre. Der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 – das »Wunder von Bern« – wurde in ganz Deutschland einschließlich der DDR bejubelt. Die Bilder von den zehn Jahre nach Kriegsende – als Folge der legendären Moskaureise Adenauers vom September 1955 – aus sowjetischen Lagern zurückkehrenden Kriegsgefangenen bewegten ebenfalls ganz Deutschland. Nach Frankreich wurden Brücken der Versöhnung geschlagen. Das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt stieg, und Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft bescherte uns ein so nicht erwartetes »Wirtschaftswunder«. Die fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges begonnene Politik der Wiederbewaffnung beherrschte die öffentliche Diskussion und bescherte der Bundesrepublik mit der »Ohne mich«-Bewegung eine Art erste außerparlamentarische Opposition.

Die Auseinandersetzung mit dem aggressiven sowjetischen Kommunismus stand im Zentrum unseres politischen Denkens, nicht der Rechtsradikalismus. Er schien mit dem Tod Adolf Hitlers endgültig zu Grabe getragen worden zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1952 die rechtsradikale Sozialistische Reichspartei als verfassungsfeindlich verboten. Angesichts der Entwicklung in der DDR und des heraufziehenden Kalten Krieges fühlten wir unsere Demokratie vor allem von der KPD, dem verlängerten Arm der DDR, bedroht.

Einen Numerus clausus gab es zu meiner Studentenzeit noch nicht. Aber Studiengebühren waren zu bezahlen und Hörgeld für jede belegte Vorlesungsstunde. Die Hilfe der Eltern reichte auch bei mir nicht aus. Also verdingte ich mich zunächst in einem Kinderhort zur Hausaufgabenkontrolle am Nachmittag.

Eine in der SPD engagierte Studienkollegin und ich diskutierten auf Einladung der Heidelberger Volkshochschule alle zwei Wochen die aktuelle politische Lage. Im Rahmen des Studium generale erforschten wir die Lebensbedingungen in der Heidelberger Altstadt und in der in den Notzeiten der 1920er Jahre entstandenen Siedlung im Heidelberger Pfaffengrund.

Meinen Eltern zuliebe wechselte ich 1955 für zwei Semester an die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und hörte Vorlesungen in Geschichte und Volkswirtschaft sowie in Betriebswirtschaft, der damals noch kleinen Schwester der Nationalökonomie, bei Guido Fischer, dem damaligen Bundesmeister des ND. Romano Guardini, der christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie lehrte, begeisterte mich – seine Vorlesung und seine sonntägliche Predigt in Sankt Ludwig. Um Geld zu verdienen, rechnete ich zusammen mit meinem Freund Paul-Adolf Müller Hagelpolicen aus; natürlich von Hand. Wirklich wohlgefühlt habe ich mich an der Münchner Universität nicht.

Nach der Rückkehr nach Heidelberg erfuhr ich von meinem Freund Peter Molt, der sich später um die internationale Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung und um die deutsche Entwicklungspolitik insgesamt große Verdienste erwarb und dem ich bis heute eng verbunden bin, das Heinrich-Pesch-Haus in Mannheim suche einen Jugendbildungsreferenten, eine halbe Stelle sei noch zu besetzen. Ich griff dankbar zu und nahm dort meine Arbeit Anfang 1956 auf. Das Heinrich-Pesch-Haus – benannt nach dem Lehrer von Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning, der durch sein fünfbändiges Werk über den Solidarismus wesentlich zur Entwicklung der christlichen Soziallehre beigetragen hatte – war von dem Jesuitenpater Felix zu Löwenstein gegründet worden. Es sollte in der Tradition des zu Ende des 19. Jahrhunderts begründeten »Volksvereins für das katholische Deutschland« Arbeitnehmern, vor allem Betriebsräten großer Mannheimer und Ludwigshafener Unternehmen, die Grundzüge der christlichen Staats- und Gesellschaftslehre, der Volkswirtschaft, des Arbeits- und des Betriebsverfassungsrechts vermitteln. Der Stoff wurde in zweijährigen abendlichen Seminaren am Wohnort der Teilnehmer vermittelt sowie in fünf Wochenendseminaren, die zum Teil im geteilten Berlin stattfanden. Daran und an Wochenkursen und Wochenendseminaren zur politischen Bildung für Jugendliche aus den Industriebetrieben, aber auch für Primaner mitzuwirken, ließ sich mit dem Studium gut vereinbaren.

In Verbindung mit einer meiner dadurch häufigen Berlinfahrten nahm ich am 1. Mai 1958 im »Paradies der Werktätigen« an der Ostberliner Maiparade vor Walter Ulbricht teil. Und im Sommer 1959 auf Wunsch des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen auch an den kommunistischen Weltjugendfestspielen in Wien, den ersten, die in einem westlichen Land stattfanden. Ich hatte Mühe, mich an den mir vom Ministerium verliehenen Decknamen Peter Pinto zu gewöhnen, und die Fragen nach meinen antifaschistischen Aktivitäten in der Bundesrepublik brachten mich regelmäßig in die größte Verlegenheit. Als ich in der Nacht nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 von Westberlin zurückfahren wollte, erleichterte mir am Kontrollpunkt Drei Linden das von mir zum Erstaunen der Kontrolleure mitgeführte Drehbuch des Propagandafilms Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse die Weiterreise. Als wir diesen Film in Westdeutschland Seminarteilnehmern vorführten, stellte uns übrigens der bundesdeutsche Verfassungsschutz peinliche Fragen.

Die Arbeit am Heinrich-Pesch-Haus wurde zunehmend umfangreicher. Vor allem führte sie zu einer intensiven Beschäftigung mit der katholischen Soziallehre und dem Werk des hochbetagten Paters Oswald von Nell-Breuning, dem Nestor der katholischen Soziallehre, den ich in Frankfurt-Sankt Georgen aufsuchte und dem ich zu seinem 75. Geburtstag 1965 eine Festschrift widmete (Normen der Gesellschaft). Die von ihm maßgeblich beeinflusste Sozialenzyklika Quadragesima Anno Papst Pius’ XI. und Nell-Breunings Kommentar dazu gehören zu meinem sozialpolitischen Handgepäck. Dass meinem Bruder und mir 2009 der Oswald-von-Nell-Breuning-Preis der Stadt Trier verliehen wurde, hat mich sehr geehrt und erfreut.

Peter Molt und ich begründeten die Schriftenreihe Freiheit und Ordnung. Auf jeweils wenigen Seiten sollten einem breiten Publikum sozialpolitische und volkswirtschaftliche Fragen, aber auch aktuelle politische Themen vermittelt werden. Es erschienen 40 Hefte mit zum Teil sehr hohen Auflagen. Zugleich begannen Vorarbeiten für ein 1962 zum ersten Mal publiziertes wissenschaftliches Jahrbuch für christliche Gesellschaftsordnung mit dem Titel CIVITAS, von dem 15 Bände erschienen sind. Der Politologe Hans Maier, später bayerischer Kultusminister und Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, gehörte zu unseren ersten Autoren. Auch ein eigener Verlag wurde gegründet.

Je mehr die Arbeit am Heinrich-Pesch-Haus zunahm, umso mehr musste es zu einem Konflikt zwischen meinen Tätigkeiten in Heidelberg und in Mannheim kommen, zumal Dolf Sternberger, bei dem ich in Heidelberg studierte, und Felix zu Löwenstein nichts voneinander wussten und sich beide selbstverständlich für konkurrenzlos hielten. Wie sollte es weitergehen? Politische Bildung oder Wissenschaft? Schweren Herzens entschied ich mich 1961/62 für Heidelberg, wenn auch voller Zweifel, ob mir eine Habilitation tatsächlich gelingen würde und ob ich zum Professor taugte. Für meinen späteren Lebensweg sollte sich das Heinrich-Pesch-Haus als eine gute Schule erweisen.

Homo heidelbergensis

Am 1. November 1953 traf ich in Heidelberg noch am alten Kopfbahnhof ein und bezog in der Römerstraße bei einem pensionierten Lokomotivführer ein möbliertes Zimmer ohne Heizung und ohne fließend Wasser für 40 DM im Monat. Von BAföG war in den 1950er Jahren noch keine Rede, und auch die politischen Stiftungen vergaben noch keine Stipendien.

Es ist erfreulich, dass es heute BAföG gibt. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes, sechs politische und zwei kirchliche Stiftungen vergeben Stipendien. Mit dem 2008 gegründeten Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk e. V. und dem 2012 entstandenen Avicenna-Studienwerk gibt es inzwischen auch Förderwerke für jüdische und muslimische Akademiker. Die Stiftungen fördern derzeit rund 35 000 Studentinnen und Studenten. Inzwischen studieren etwa 70 Prozent aller Abiturienten, und die Hochschulen haben sich dem zweiten Bildungsweg geöffnet. Die Universitäten haben sich verändert. Ihr Ausbildungsauftrag, nicht mehr die Forschung dominiert. Bologna hat sein Ziel nicht erreicht. Nur wenige gehen nach dem Bachelor in den Beruf. Mit dem Master abzuschließen, ist zur Regel geworden. Dadurch hat sich die Studienzeit verlängert, und der Wechsel von Universität zu Universität ist seltener geworden. Die Abschaffung des national wie international hochgeschätzten Diploms erweist sich meines Erachtens immer deutlicher als Fehler.

Ich schrieb mich an der Philosophischen Fakultät für Soziologie, Geschichte und Volkswirtschaft ein und belegte Vorlesungen in Soziologie beim genial-kauzigen Hans von Eckardt, bei Alexander Rüstow, dem Lehrstuhlnachfolger Alfred Webers, dessen dreibändige, im türkischen Exil entstandene Ortsbestimmung der Gegenwart mich intensiv beschäftigte, bei Erich Preiser, dessen Schrift Zukunft unserer Wirtschaftsordnung zum Bestseller werden sollte und der leider bald nach München ging. In Geschichte hörte ich ab 1957 Werner Conze, der das Ziel verfolgte, den Schwerpunkt der Geschichte auf die Sozialgeschichte zu verlagern, dessen nationalsozialistische Vergangenheit aber erst viel später zum Thema wurde, und in Philosophie Hans-Georg Gadamer, der Karl Jaspers nachgefolgt war, sowie Karl Löwith, der sich bei Heidegger habilitiert hatte, aus Japan und den USA nach Deutschland zurückgekehrt war und dessen Vorlesung »Von Hegel zu Marx« mich beeindruckte.

In der Universität war noch etwas vom liberalen Atem früherer Jahrzehnte zu spüren, als Heidelberg Antipodin der preußisch-deutschen Humboldt-Universität zu Berlin gewesen war. Vor allem die Philosophische Fakultät war von dem Bemühen geprägt, nach dem Ende des Nationalsozialismus an ihre demokratische und liberal-protestantische Tradition anzuknüpfen. In ihr vollzogen sich der Wiederaufbau der Politischen Soziologie und die Etablierung der Politischen Wissenschaft. In diesem Sinne wirkte vor allem der damals vielen als Nestor der Nachkriegssoziologie geltende Alfred Weber, der die NS-Zeit nach seiner Entlassung aus dem Hochschuldienst in einer kleinen Mansardenwohnung im Stadtteil Neunheim in der Bachstraße 24 in der inneren Emigration überlebt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug er entscheidend zum Wiedererstehen der Universität Heidelberg bei. Er förderte maßgeblich die Etablierung des Faches Politische Wissenschaft. Als ich zu studieren begann, hielt er ein auf wenige Teilnehmer begrenztes Seminar »Demokratie und Sozialismus«. Mittwochnachmittags, »pr. et gr.« – privat und gratis. Unerfahren wie ich war, ging ich zu Beginn meines 3. Semesters in seine Sprechstunde. Nach Scheinen oder Zwischenprüfungen fragte er nicht. Zu meiner Überraschung wurde ich aufgenommen und verpflichtet, ein Referat über den von ihm geprägten, nur schwer zu definierenden Begriff der »Lebensaggregierung« zu halten und später eines über die Bantuphilosophie. Es sollte 30 Jahre später dazu beitragen, dass wir Ruanda als rheinland-pfälzisches Partnerland ­wählten.

Mein Freund Peter Molt versah bei Weber assistentische Hilfsdienste, die er bald auf mich übertrug. So wurde ich Alfred Webers allerletzter Hilfsassistent – für 20 DM im Monat, die der alte Herr, wenn seine Lebensgefährtin Else von Jaffé ihn nicht daran erinnerte, allerdings meistens zu zahlen vergaß. Keine einfache, zudem eine zeitraubende Aufgabe. Unmengen von Büchern mussten in die Bachstraße gebracht werden. In die Sprechstunde war er zu begleiten. Jede Seminarsitzung war Monate im Voraus vorzubereiten. Die eingereichten Referate fanden erst nach langen, mühsamen Debatten seine Zustimmung. Die Referenten waren zu trösten, wenn Weber zu heftige Kritik an ihren Elaboraten übte. Im März 1954 traf ich auf einen empörten, fassungslosen Alfred Weber. Im Rundfunk war gemeldet worden, die KPD habe ihn, der nach dem Krieg der SPD beigetreten war, ohne ihn zu fragen und gegen seinen Willen zum Bundespräsidenten vorgeschlagen. Zwölf Stimmen seien auf ihn in der Bundesversammlung entfallen. Im Mai 1958, kurz vor seinem 90. Geburtstag, haben wir Alfred Weber zu Grabe getragen. Nicht auf dem Heidelberger Bergfriedhof, wo sein Bruder Max begraben ist, sondern im oberbayrischen Irschenhausen fand er seine letzte Ruhestätte.

Dolf Sternberger

Oswald von Nell-Breuning

Alfred Weber in seinem Seminar im Palais Weimar. Links neben ihm am Tisch Bernhard Vogel (im Profil), links daneben Peter Molt.

Von Semester zu Semester rückten die neue Geschichte und die Politische Wissenschaft und damit Dolf Sternberger, Carl-Joachim Friedrich und Werner Conze mehr und mehr in den Mittelpunkt meines Interesses. Dass Conze 1933 der SA beigetreten und auch NSDAP-Mitglied geworden war und dass einige seiner frühen Arbeiten auch antisemitische Aussagen enthielten, war uns zwar bekannt, minderte aber seine Bedeutung für uns nicht.

Bereits 1947 war Dolf Sternberger in Heidelberg ein Lehrauftrag für Politik übertragen worden. Aber erst 15 Jahre später, 1962, wurde er nach quälend langen und zähen Verhandlungen zum Ordinarius berufen. Schon 1950 hatte er seine später legendär gewordene »Forschungsgruppe Sternberger« begründet, die immer freitags von 15 bis 18 Uhr stattfand. Sie wurde zu einer Keimzelle der wieder begründeten Wissenschaft von der Politik. Ihre Mitglieder kamen aus den unterschiedlichsten Disziplinen: Historiker, Soziologen, Philosophen, Juristen und eben Politische Wissenschaftler. Die Vielfalt war erwünscht und machte den besonderen Reiz dieses Seminares aus. Es ging nicht ohne Aristoteles, Augustinus und Machiavelli, es ging nicht ohne Thomas von Aquin und Kant, Herodot und Tacitus, nicht ohne Theodor Mommsen und Jacob Burckhardt, wenn man der Frage nachgehen wollte, ob und was man aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen könne. Heute erscheint das Seminar wie eine ferne Idylle. Der Kreis der Teilnehmer war klein und überschaubar. Man befasste sich mit dem Verfassungsstaat, mit dem Parlamentarismus, mit Fragen der Repräsentation, der Parteien, des Wahlrechtes. Ausführliche Grundsatzreferate wurden gehalten, Zwischenbilanzen eigener Forschungsarbeiten wurden vorgetragen, Promovenden hatten über den Fortgang ihrer Arbeit zu berichten. Empirische Studien wurden angeregt und ihre Durchführung begleitet. Nach Scheinen und Zwischenprüfungen wurde nicht gefragt. Von Zeit zu Zeit wurden gelehrte Gäste eingeladen: Theodor Eschenburg, Wilhelm Hennis, Karl Dietrich Bracher, Eric Voegelin, Alfred Grosser, Elisabeth Noelle-Neumann, Carl J. Friedrich. Mehrfach kam auch Hannah Arendt, die in den 1920er Jahren bei Karl Jaspers in Heidelberg promoviert hatte und seit dieser Zeit Dolf Sternberger freundschaftlich verbunden war.

Sternberger hatte viele Schüler, die seine Botschaft weitergetragen haben, in Universitäten, Redaktionen, Parlamenten und Regierungen, obwohl er im Gegensatz zu Arnold Berg­straesser keine Schule begründet hat. An seinem Tisch saßen spätere Professoren (Erwin Faul, Rudolf Wildenmann, Rupert Breitling, Jürgen Domes, Peter Molt, Peter Haungs, Udo Bermbach, Dieter Nohlen, Franz Nuscheler), zwei künftige Hochschulpräsidenten (Klaus Landfried, Arnd Morkel), zukünftige Herausgeber und Chefredakteure großer Tageszeitungen (zum Beispiel Bruno Dechamps, Hans Heigert, Günther Nonnenmacher), außerdem spätere Abgeordnete fast aller Fraktionen in Landtagen und im Bundestag, Oberbürgermeister, Minister, auch zwei künftige Ministerpräsidenten (Kohl und Vogel) und ein Bundeskanzler (Kohl).

Im Mai 1957 wurde ich in die Forschungsgruppe Sternberger aufgenommen. Von ihr sollte entscheidender Einfluss auf mein weiteres Studium ausgehen. Sternberger wurde zu meinem prägenden akademischen Lehrer. Seine Grundüberzeugungen haben mich auf meinem ganzen weiteren Lebensweg begleitet. Er hat mir zu eigenständigem Denken gegenüber dem Zeitgeist und der aktuellen Politik verholfen und es mir ermöglicht, 50 Jahre lang einer beruflichen Spezies anzugehören, die von der deutschen Öffentlichkeit bis heute mit wachsender Skepsis, zum Teil gar mit purer Verachtung betrachtet wird.

Dolf Sternberger war ein Meister der Sprache – ein Publizist, Schriftsteller und Gelehrter. Er war einer der Wieder- und Mitbegründer der Wissenschaft von der Politik und er hat die junge Bundesrepublik mitgeprägt. Er hatte in den 1920er Jahren in Heidelberg vor allem bei Karl Jaspers studiert und 1932 in Frankfurt bei Paul Tillich promoviert (»Der verstandene Tod«). Die Politik spielte für Sternberger und seinen Freundeskreis zunächst keine Rolle. Sie habe man nicht bei Jaspers gelernt, sondern erst »durch Hitler, e contrario«, meinte er fast 60 Jahre später. Nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus der liberalen Frankfurter Zeitung, die schließlich 1943 verboten wurde, überlebte er in Heidelberg-Neuenheim in der Weberstraße 13 zusammen mit seiner jüdischen Frau Ilse, einer geborenen Rothschild, die er bis zum Ende des Krieges verborgen hielt. Notdürftig war er in dieser Zeit bei der Firma Stotz-Kontakt im Heidelberger Pfaffengrund beschäftigt. Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes begründete er mit Karl Jaspers, Alfred Weber und dem Romanisten Werner Krauss, dem bald darauf Marie Luise Kaschnitz folgte, die damals viel beachtete, wenn auch kurzlebige Monatszeitschrift Die Wandlung (erschienen 1945–1949) und übernahm die Schriftleitung. Später folgte die Zeitschrift Die Gegenwart (1950–1958), bei der er ebenfalls als Herausgeber fungierte. 1957 erschien seine aus Beiträgen in der Wandlung zusammengestellte weithin beachtete Publikation Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, herausgegeben zusammen mit Wilhelm E. Süskind und dem späteren baden-württembergischen Kultusminister Gerhard Storz, deren Ziel Sternberger wie folgt umriss: »Es soll uns diese Sprache [des Nationalsozialismus] fremd machen«, denn »der Verderb der Sprache« sei »der Verderb des Menschen«. Seine umfangreichen wissenschaftlichen und publizistischen Schriften sind in zwölf Bänden zusammengefasst, die von 1977 bis 1996 im Inselverlag erschienen. Seine Heidelberger Antrittsvorlesung über den »Begriff des Politischen«, sein Buch über Grund und Abgrund der Macht und sein Heine-Buch Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde gehören wohl zu seinen bedeutendsten Hinterlassenschaften.

Als kämpferischer Befürworter des englischen Mehrheitswahlsystems und entschiedener Gegner des in Deutschland bei Bundestagswahlen angewandten Verhältniswahlrechts hatte er schon 1947 die Deutsche Wählergesellschaft begründet und für sie eine eigene Zeitschrift (Der Wähler) herausgegeben. Die von mir erwartete Mitarbeit habe ich anfangs aus Überzeugung gern wahrgenommen. Später allerdings kamen mir Bedenken. Einem Parlament, das ausschließlich aus »Wahlkreisabgeordneten« besteht und in dem »Listenabgeordnete« fehlen, droht zu viel regionale und zu wenig gesamtstaatliche Ausrichtung. Bei einem Verhältniswahlrecht wäre es zum Beispiel in Großbritannien wohl nicht zum Brexit gekommen. Dennoch habe ich es bedauert, dass die SPD 1966 bei der Bildung der ersten Großen Koalition aus Union und SPD ihre in den Koalitionsvereinbarungen auf Drängen von Erwin Scheuch gegebene Zusage, das Mehrheitswahlrecht einzuführen, gebrochen und Innenminister Paul Lücke zum Rücktritt veranlasst hat. Die Entwicklung der deutschen Parteienlandschaft wäre anders verlaufen. Die in der jüngeren Vergangenheit immer wieder notwendig gewordenen großen Koalitionen der beiden Volksparteien wären uns erspart geblieben. Kleine, vor allem linke und rechte Parteien hätten keine Chance bekommen. Wenn inzwischen bis zu sechs Parteien dem Bundestag angehören und die Zahl der notwendig werdenden Überhang- und Ausgleichsmandate zunimmt, scheint es dringend geboten, dem weiteren Anwachsen der Zahl der Mitglieder des Bundestages durch eine Wahlrechtsreform Einhalt zu gebieten. Das im Frühjahr 2023 von der Ampelkoalition verabschiedete neue Wahlrecht soll das bewirken. Weil es aber Regionalparteien wie die CSU benachteiligt, dürfte es vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben.

Dolf Sternberger bevorzugte die parlamentarische Demokratie nach englischem Vorbild, also auch nicht das amerikanische Präsidialsystem. Er wollte allerdings – natürlich aufgrund der leidvollen Erfahrungen von Weimar – einen starken, vom Parlament gewählten Kanzler. Dass die Bundesrepublik eine »Kanzlerdemokratie« wurde, entsprach seinen Vorstellungen. Mit dem sich entwickelnden bundesdeutschen Parteiensystem hat er hingegen nie seinen Frieden geschlossen. Parteien mochte er nicht und betrachtete ihre zentrale Rolle in der bundesdeutschen Demokratie mit Skepsis.

Der Friede, nicht der Streit war für Sternberger Gegenstand und Ziel der Politik: »Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich auch zu verteidigen.« Zur Verteidigung des Friedens gehörte für ihn der bedingungslose Kampf gegen die Feinde der Freiheit. »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit«, lautete ein auch von ihm häufig benutztes Schlagwort.

Mit einer Leitglosse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung