Erwählt oder gewählt? - Uta Elisabeth Hohmann - E-Book

Erwählt oder gewählt? E-Book

Uta Elisabeth Hohmann

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Beschreibung

Auf der Suche nach dem richtigen Verhältnis von Protestantismus und Demokratie legt die parlamentarische Aktivität deutscher Theolog:innen die Vermutung nahe, dass diese in besonderer Weise zu einer Synthese ihrer religiösen Überzeugungen mit der demokratischen Idee herausgefordert waren und sind. Uta Elisabeth Hohmann untersucht in drei Einzelstudien das politische Wirken der Theolog:innen Rudolf Otto (1869–1937), Magdalene von Tiling (1877–1974) sowie Heinrich Albertz (1915–1993) und legt deren Beweggründe für die Aufnahme eines parteipolitischen Engagements, ihre fachpolitischen Schwerpunktsetzungen sowie ihre theologisch begründete Haltung zur Demokratie vergleichend nebeneinander.

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Uta Elisabeth Hohmann

Erwählt oder gewählt?

Der Beitrag theologischer Parlamentarier:innen zur Annäherung von Protestantismus und Demokratie. Eine Untersuchung am Beispiel von Rudolf Otto, Magdalene von Tiling und Heinrich Albertz

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Auf der Suche nach dem richtigen Verhältnis von Protestantismus und Demokratie legt die parlamentarische Aktivität deutscher Theolog:innen die Vermutung nahe, dass diese in besonderer Weise zu einer Synthese ihrer religiösen Überzeugungen mit der demokratischen Idee herausgefordert waren und sind. Uta Elisabeth Hohmann untersucht in drei Einzelstudien das politische Wirken der Theologen Rudolf Otto (1869–1937), Magdalene von Tiling (1877–1974) sowie Heinrich Albertz (1915–1993) und legt deren Beweggründe für die Aufnahme eines parteipolitischen Engagements, ihre fachpolitischen Schwerpunktsetzungen sowie ihre theologisch begründete Haltung zur Demokratie vergleichend nebeneinander.

Vita

Uta Elisabeth Hohmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation« der Universität Münster.

Für Moritz, Ferdinand und Johannes

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Dank

Einleitung

1.

Horizont und Erkenntnisinteresse

2.

Forschungsbericht

3.

Methode, Quellen und Aufbau der Studie

I.

»Freiheit als Lebensluft« ‒ Rudolf Otto (1869–1937) als theologischer Parlamentarier im ausgehenden Kaiserreich

1.

Plausibilisierung der Auswahl Rudolf Ottos

1.1.

Statistischer Befund der Datenbank TheoParl

1.2.

Forschungsstand zu Rudolf Otto

2.

Weg der theologischen und politischen Professionalisierung

2.1.

Kindheit, Jugend und Studienzeit (1869–1895)

2.2.

Beginn der parteipolitischen Tätigkeit (1896–1913)

2.2.1.

Theologische Forschung und Lehre unter prekären Bedingungen

2.2.2.

Beweggründe für eine politische Kandidatur

2.2.3.

Wahlkampf in Göttingen und Mandatsübernahme

2.3.

Mandate im Preußischen Abgeordnetenhaus und in der Preußischen Landesversammlung (1913–1919)

2.3.1.

Profilierung als NLP-Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus

2.3.2.

Profilierung als DDP-Abgeordneter in der Preußischen Landesversammlung

2.4.

Ausblick: Post-parlamentarisches Engagement (1919–1937)

3.

Fachpolitische Spezialisierung und ihre Interdependenz mit der theologischen Profession

3.1.

Wissenschaftspolitik

3.1.1.

Politisches Protegieren der »freiheitlichen Richtungen« in der Theologie

3.1.2.

Spezifische Förderung der religionswissenschaftlichen Forschung

3.2.

Die preußische Wahlrechtsreform

3.2.1.

Das Dreiklassenwahlrecht in Preußen

3.2.2.

Rudolf Ottos politische Agitation für ein gleiches, geheimes und allgemeines Wahlrecht

4.

Systematisch-theologische und demokratietheoretische Verortung

4.1.

Politisch-ethische Prämissen

4.1.1.

Anthropologie: Der Mensch und seine »schlummernde Anlage« zur autonomen, sittlichen Person

4.1.2.

Staatsverständnis

4.1.3.

Christ:innen in der Politik

4.2.

Äußerungen zu Kernelementen des demokratischen Systems

4.2.1.

Volksherrschaft und Volkssouveränität

4.2.2.

Wahlen und Mehrheitsprinzip

4.2.3.

Parteien, Pluralismus und Opposition

4.2.4.

»Checks and balances«

4.3.

Synthese: Rudolf Ottos Stellung zur demokratischen Idee

5.

Fazit: Rudolf Otto als theologischer Gelehrtenpolitiker

II.

»Zum Dienst aneinandergebunden« ‒ Magdalene von Tiling (1877‒1974) als theologische Parlamentarierin in der Weimarer Republik

1.

Plausibilisierung der Auswahl Magdalene von Tilings

1.1.

Statistischer Befund der Datenbank TheoParl

1.2.

Forschungsstand zu Magdalene von Tiling

2.

Weg der theologischen und politischen Professionalisierung

2.1.

Kindheit im Baltikum, Jugend und pädagogische Ausbildung (1877–1905)

2.2.

Theologiestudium in Göttingen und Lehrtätigkeit im Bergischen Land (1906–1918)

2.3.

Beginn der parteipolitischen Tätigkeit (1918–1921)

2.3.1.

Aus der Verbandspolitik in die Parteipolitik

2.3.2.

Eintritt in die DNVP und Mandatsübernahme

2.4.

Mitarbeit in der DNVP und Mandate im Preußischen Landtag und Deutschen Reichstag (1921–1933)

2.4.1.

Der evangelische Reichsausschuss

2.4.2.

Der Reichsfrauenausschuss

2.4.3.

Profilierung als DNVP-Abgeordnete im Preußischen Landtag

2.4.4.

Profilierung als DNVP-Abgeordnete im Deutschen Reichstag

2.5.

Ausblick: Post-parlamentarisches Engagement (1933–1974)

3.

Fachpolitische Spezialisierung und ihre Interdependenz mit der theologischen Profession

3.1.

Das Evangelische Schulwesen im Reichsschulgesetz

3.1.1.

Der »Weimarer Schulkompromiss« (1919)

3.1.2.

Magdalene von Tilings politische Agitation zur Stärkung des evangelischen Schulwesens im Reichsschulgesetz

3.1.3.

Das Scheitern des Reichsschulgesetzes (1927/28) in der Deutung Magdalene von Tilings

3.2.

Die Frage nach einer evangelischen Partei im Richtungsstreit der DNVP (1928–1930)

3.2.1.

Neuausrichtung der DNVP unter dem Vorsitz Alfred Hugenbergs

3.2.2.

Magdalene von Tilings Haltung in der Frage »Evangelische Partei oder nicht?«

3.2.3.

Die Sezession der DNVP (1930)

4.

Systematisch-theologische und demokratietheoretische Verortung

4.1.

Politisch-ethische Prämissen

4.1.1.

Anthropologie: Die Dienstbezogenheit der Stände

4.1.2.

Staatsverständnis

4.1.3.

Christ:innen in der Politik

4.2.

Äußerungen zu Kernelementen des demokratischen Systems

4.2.1.

Volksherrschaft und Volkssouveränität

4.2.2.

Wahlen und Mehrheitsprinzip

4.2.3.

Parteien, Pluralismus und Opposition

4.2.4.

»Checks and balances«

4.3.

Synthese: Magdalene von Tilings Stellung zur demokratischen Idee

5.

Fazit: Magdalene von Tiling als protestantische Verbandsfunktionärin

III.

»Christliche Unruhe als erste Bürgerpflicht« ‒ Heinrich Albertz (1915–1993) als theologischer Parlamentarier in der frühen Bundesrepublik Deutschland

1.

Plausibilisierung der Auswahl Heinrich Albertz’

1.1.

Statistischer Befund der Datenbank TheoParl

1.2.

Forschungsstand zu Heinrich Albertz

2.

Weg der theologischen und politischen Professionalisierung

2.1.

Kindheit, Jugend und Studienzeit (1915–1945)

2.2.

Vom Flüchtlingspastor zum Flüchtlingsminister (1945–1955)

2.2.1.

Eintritt in die SPD und Mandatsübernahme

2.2.2.

Jüngster Minister in Niedersachsen

2.3.

Politischer Aufstieg und Fall in Berlin (1955–1970)

2.3.1.

Heinrich Albertz als »Standortpfarrer« Willy Brandts

2.3.2.

Konflikte mit der Berliner SPD, der 2. Juni 1967 und der Rücktritt

2.4.

Ausblick: Post-parlamentarisches Engagement (1970–1993)

3.

Fachpolitische Spezialisierung und ihre Interdependenz mit der theologischen Profession

3.1.

Annäherung von Sozialdemokratie und evangelischer Kirche

3.1.1.

Das Verhältnis von SPD und evangelischer Kirche bis 1945

3.1.2.

Die persönliche Verbindung von Sozialismus und Christentum bei Heinrich Albertz

3.1.3.

Heinrich Albertz’ politische Agitation für den institutionellen Dialog von SPD und Evangelischer Kirche

3.2.

Identifikation des »politischen Katholizismus« als zentralem Opponenten

4.

Systematisch-theologische und demokratietheoretische Verortung

4.1.

Politisch-ethische Prämissen

4.1.1.

Anthropologie: Die Geschöpflichkeit des Menschen als sein Ursprung und Auftrag

4.1.2.

Staatsverständnis

4.1.3.

Christ:innen in der Politik

4.2.

Äußerungen zu Kernelementen des demokratischen Systems

4.2.1.

Volksherrschaft und Volkssouveränität

4.2.2.

Wahlen und Mehrheitsprinzip

4.2.3.

Pluralismus, Parteien und Opposition

4.2.4.

»Checks and balances«

4.3.

Synthese: Heinrich Albertz’ Stellung zur demokratischen Idee

5.

Fazit: Heinrich Albertz als politischer Pastor

IV.

Resümee der Studie

1.

Interdependenzen zwischen theologischer Profession und politischer Arbeit

1.1.

Beweggründe zum parlamentarischen Mandat

1.2.

Parteiwahl und fachpolitische Spezialisierungen

1.3.

Fremdwahrnehmung

1.4.

Selbstwahrnehmung

1.5.

Typisierung der untersuchten theologischen Parlamentarier:innen

2.

Demokratiefördernde und -hemmende Theologumena – eine Zusammenschau in Spannungslinien

2.1.

Anthropologie, Staatsverständnis und die besondere Rolle von Christ:innen in der Politik

2.2.

Anthropologische Prämissen für eine theologisch begründete Demokratieaffinität oder -aversion

2.2.1.

Sündhaftigkeit versus Gottebenbildlichkeit

2.2.2.

Verschiedenheit versus Gleichheit

2.2.3.

Gemeinschaft versus Individuum

2.2.4.

Ordnung versus Freiheit

2.2.5.

Passiver Gehorsam versus aktive Mitverantwortung

3.

Ausblick: Theologische Parlamentarier:innen als Fundgrube für die protestantische Ethik des Politischen

3.1.

»Erwählt oder gewählt?«

3.2.

Methodische Errungenschaften der Studie

3.3.

Fünf abschließende Thesen für die gegenwärtige theologische Forschung und Praxis

Abbildungen

Literatur

Archivalien

Gedruckte Quellen

Sekundärliteratur

Personenregister

Dank

Die vorliegende Studie ist an der Graduiertenschule des Exzellenzclusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« entstanden und wurde im Sommersemester 2022 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertationsschrift angenommen.

Die Zeit meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Annäherung von Protestantismus und Demokratie war geprägt von vielen Menschen, die mein Vorhaben beständig begleiteten und vielfältig unterstützten.

An erster Stelle möchte ich meinen Doktorvater Herrn Prof. Dr. Arnulf von Scheliha nennen. Er deckte die Untersuchungslücke zu theologischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern auf, die wir mit unserem Forschungsprojekt in diversen gemeinsamen Reflexionen, Recherchen, Seminarsitzungen und Tagungsdebatten zu schließen suchten. Für die intensive Betreuung, die sich durch eine motivierende Mischung aus wissenschaftlicher Freiheit, wertschätzendem Feedback und – nicht zuletzt – hoher Familienfreundlichkeit auszeichnete, danke ich herzlich.

Während meines Theologiestudiums weckte und förderte Herr Prof. Dr. Albrecht Beutel schon früh mein kirchenhistorisches Interesse, das meine Herangehensweise an die Forschungsfragen dieser Arbeit unverkennbar prägte – ihm danke ich für das ausführliche und präzise Zweitgutachten.

Dem gesamten Team des Institus für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES) und insbesondere den studentischen Hilfskräften im TheoParl-Projekt danke ich für die verlässliche Zusammenarbeit und das gute Miteinander.

Der Konrad-Adenauer-Stiftung danke ich für das entgegengebrachte Vertrauen, das sich in der ideellen und finanziellen Unterstützung meines Promotionsvorhabens ausdrückte. Für die Aufnahme in die Schriftenreihe »Religion und Moderne« gebührt mein Dank dem Herausgebergremium.

Die Jahre meiner Forschungen formen sich in der Rückschau zu einem facettenreichen Lebensabschnitt, der neben Archiventdeckungen und Konzeptionstagen das umwerfende Glück der eigenen Familiengründung für mich bereithielt. Bei diesem Abenteuer und bisweiligem Spagat habe ich in meinen Freundinnen und Freunden in der Nachbarschaft und außerhalb von Münster stets wertvolle Wegbegleiter gefunden. Manch hartnäckige Frage ließ sich beim dienstäglichen Besuch des »L’italiano triste« mit Dr. Matthias Daufratshofer oder bei einem akademischen Aperitivo mit Martha Maria Nooke lösen. Für die besonders schöne und lebendige Zeit in unserem Pilotprojekt »Familienbüro« möchte ich Anna Sophie Haake danken.

Meinen Eltern danke ich von Herzen, dass sie das Fundament für das Gelingen dieser Arbeit legten: danke für jede Ermutigung, meinen Weg zu gehen, für Euren Optimismus und vielseitiges Engagement – danke, dass ich Euch immer hinter mir stehend weiß!

Ein großer Dank gilt meinen vier Geschwistern Almuth, Greta, Karl Ludwig und Imke Sürmann, die diese Arbeit mit Denkanstößen und Zerstreuungen sächsischer und rheinländischer Natur bereicherten. Für verlässlich neuen Schwung sorgte der regelmäßige Austausch zwischen Münster und Düsseldorf. Meiner ganzen Großfamilie danke ich von Herzen für den segensreichen Zusammenhalt und für die Zeit, die sie ihren Enkeln und Neffen schenkten.

Zuguterletzt gilt mein tief empfundener Dank meiner eigenen, mit den Jahren des Promovierens gewachsenen Familie. Die innere Ruhe, der Fokus und der Humor meines Ehemanns Dr. Johannes Hohmann waren mir ein Kontinuum, auf das ich mich – ob Zweifel oder Zwischenerfolg – stets verlassen konnte. Unseren Söhnen Ferdinand Theodor und Moritz Fidelis verdanke ich neben einem optimierten Zeitmanagement vor allem die Erfahrung, dass ihre fröhliche Entdeckerlust und ihr ansteckendes Staunen die eigenen Forschungen immer wieder auf beglückende Weise in den Schatten stellen. Mögen sie heute und zukünftig in einer freiheitlichen Demokratie aufwachsen und diese mitgestalten.

Zwickau, im Dezember 2022

Uta Elisabeth Hohmann

Einleitung

1.Horizont und Erkenntnisinteresse

»Ich zerbreche mir den Kopf über einen Nachfolger im Landtage. Er muß Göttingsch sein, zugleich möchte ich nicht auf einen Theologen verzichten.«1

(Rudolf Otto an Hermann Mulert, 1917)

»Lassen Sie die Theologie draußen!«2

(Eugen Gerstenmaier vor dem deutschen Bundestag, 1958)

Eine wesentliche Schnittstelle von Theologie und Politik liegt dort, wo Menschen beide Themenkomplexe in ihrem Denken und Tun, näherhin in ihrer Person und Profession, vereinen. Die vorliegende Arbeit untersucht das Phänomen, dass evangelische Theologen – und mit einer gewissen Latenzzeit auch Theologinnen – seit den Anfängen demokratischer Strukturen in Deutschland als gewählte Mandatsträger für verschiedene Parteien in Parlamenten auf Reichs- und Länderebene mitarbeiten. Im Verlauf dieses rund 170 Jahre langen Zeitraums vom Frankfurter Paulskirchenparlament 1848 bis heute hat sich die Haltung des evangelischen Mainstreams, genauer der dominierenden Richtung protestantisch-theologischer Ethik und evangelischer Kirchenleitungen, gegenüber der demokratischen Idee grundlegend geändert. Wie schwer sich weite Teile des deutschen Protestantismus anfangs mit dem Zusammenbruch des monarchischen Systems im Herbst 1918 taten, spricht aus der Ansprache des Evangelischen Oberkirchenrats der altpreußischen Landeskirche an die Gemeinden am Tag nach der Revolution:

»Wir haben den Weltkrieg verloren. […] Kaiser und Reich, wie es in einer Geschichte ohnegleichen uns teuer und wert geworden war, ist dahin. Es ist uns nichts von Bitterkeit und Demütigung erspart worden. Unsre Herzen sind wie erstarrt und zerrissen in namenloser Trauer, in bängsten Sorgen.«3

Der Weg der Aneignung der Demokratie durch den Protestantismus ist lang und umwegig. In dessen jüngsten Darstellungen4 ist sein Fluchtpunkt zumeist die sogenannte Demokratiedenkschrift der EKD aus dem Jahre 1985 mit dem Titel »Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe«, in der sich die evangelische Kirchenleitung – 140 Jahre nach der ersten in Deutschland verabschiedeten demokratischen Verfassung – schließlich dazu bekannte, dass die Demokratie eine dem christlichen Glauben affine Staatsform ist:

»Für Christen ist es wichtig zu erkennen, daß die Grundgedanken, aus denen heraus ein demokratischer Staat seinen Auftrag wahrnimmt, eine Nähe zum christlichen Menschenbild aufweisen. Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen. […] Auch die Demokratie ist keine ›christliche Staatsform‹. Aber die positive Beziehung von Christen zum demokratischen Staat des Grundgesetzes ist mehr als äußerlicher Natur; sie hat zu tun mit den theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens.«5

Dass sich dieses theologische Bekenntnis zur Demokratie auch in den nachfolgenden Jahrzehnten gefestigt hat, zeigt die gegenwärtige kirchliche Aktivität. So präsentieren die Kirchenleitungen in ihren jüngsten Verlautbarungen6, Initiativen7 und Wahlaufrufen8 unzweifelhaft ein Selbstverständnis der evangelischen Kirche als wichtige zivilgesellschaftliche Kraft und Stütze des demokratischen Rechtsstaats. Vor dem Hintergrund dieser »theologische[n] Suchbewegung«9 nach dem richtigen Verhältnis von Protestantismus und Demokratie ist es vor allem mit Blick auf die frühen theologischen Parlamentarier:innen keinesfalls selbstverständlich, dass diese von Anfang an die Möglichkeit der Mitwirkung an den demokratischen Prozessen in den deutschen Parlamenten nutzten.

Das Phänomen des theologischen Parlamentarismus bietet ein weites, bisher wenig erschlossenes Untersuchungsfeld für die Erhebung wechselseitiger Rückkoppelungseffekte zwischen Religion und Politik, hier zwischen der evangelischen Theologie in Deutschland und den sich wandelnden Staatsformen von 1848 bis zur Gegenwart. Die Erforschung dieser parlamentarischen Tätigkeit von Theologen erfordert zwei sich ergänzende Zugänge, einerseits ihre Bestandsaufnahme unter quantitativen Gesichtspunkten und andererseits ihre inhaltliche Analyse in qualitativer Fragerichtung. Den erstgenannten, quantitativen Zugang bietet die Datenbank TheoParl, die derzeit im Rahmen des gleichnamigen Forschungsprojekts am Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entsteht. Ihr Ziel ist eine vollständige Aufstellung der protestantischen Theolog:innen, die seit 1848 Mitglied in deutschen Parlamenten waren. Damit ermöglicht die Datenbank eine Erschließung des Forschungsfeldes aus der Vogelperspektive. Metaphorisch gesprochen lassen sich anhand der gesammelten Daten zu theologischer und parlamentarischer Biografie und Tätigkeit »Luftaufnahmen« des Forschungsfeldes erstellen, die zuverlässig zu folgenden quantitativen Fragenkomplexen Auskunft geben:10

Wie ist der theologische Berufsstand in deutschen Parlamenten repräsentiert und gibt es eine bestimmte Partei, in der sich evangelische Theolog:innen zu einer bestimmten Zeit vorrangig engagieren? Ist ein bestimmter theologischer Berufshintergrund (Gemeindepfarramt, Universität, Schule) besonders häufig im Parlament anzutreffen und gibt es darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Berufsgruppe und einer bestimmten Partei? Wie entwickelt sich die Geschlechterverteilung unter theologischen Parlamentarier:innen? Gibt es bestimmte policy-Felder (fachpolitische Aufgaben), für die sie sich schwerpunktmäßig engagieren? Lässt sich eine bestimmte Typologie von Karriereverläufen erkennen, wird die theologische Tätigkeit nach dem Ausscheiden aus dem Parlament in der Regel wieder aufgenommen?

Eine solche quantitative Ausleuchtung des Phänomens theologischer Parlamentarier:innen kann bereits wichtige Wechselwirkungen formeller Natur zwischen theologischer Profession und politisch-parlamentarischer Aktivität aufzeigen. Sie vermag es jedoch nicht, die hinter der Verbindung von protestantisch-theologischer und politisch-parlamentarischer Arbeit liegenden, individuellen Motivationen, Semantiken und Denkmodelle zu beleuchten. Für deren Erhebung und Analyse bedarf es neben den quantitativen Luftaufnahmen vielmehr qualitative Tiefenbohrungen zur parlamentarischen Aktivität ausgewählter evangelischer Theolog:innen. Mit Blick auf diesen zweiten Zugang versteht sich die vorliegende Arbeit als eine erste explorative Studie. Um die Ergiebigkeit des Forschungsfeldes theologischer Parlamentarier:innen auszukundschaften, nimmt sie in drei Einzelstudien eine solche Tiefenbohrung für Rudolf Otto, Magdalene von Tiling und Heinrich Albertz vor und fragt dabei in einem historischen Längsschnitt des 20. Jahrhunderts nach der Bodenbeschaffenheit ihres politischen Engagements als Theolog:innen:

Welche Beweggründe haben zu einem parteipolitischen Engagement im demokratischen System geführt? Wird die jeweilige Partei-Wahl mit theologischen Argumenten begründet? Wem oder was fühlen sich die theologischen Parlamentarier:innen verpflichtet? Welche Überschneidungen der fachpolitischen Aufgaben mit theologischen Aufgabenfeldern lassen sich feststellen? Und wie verhalten sich ihre theologische und politische Semantik zueinander?

Mit den genannten Forschungsfragen verbindet sich die zu überprüfende These, dass die theologische und politische Arbeit der drei ausgewählten Protagonist:innen nicht unverbunden nebeneinanderstehen. Gerade weil vielfältige wechselseitige Einflüsse mit Blick auf Themen, Netzwerke und Argumentationen zu erwarten sind, ist zu vermuten, dass theologische Parlamentarier:innen nicht erst mit der Demokratie-Denkschrift von 1985, sondern weitaus früher über eigene tragfähige Denkfiguren verfügen, ihre protestantischen Überzeugungen mit der demokratischen Idee zu verbinden. Denn obwohl sich die politisch-ethische Vorstellung einer göttlichen Erwählung der Obrigkeit in der protestantischen Theologie einer langen Konjunktur erfreute, waren theologische Parlamentarier:innen seit der Einführung demokratischer Strukturen zwangsläufig mit einer anderen Erfahrung konfrontiert: unabhängig davon, wie sie theologisch zur Vorstellung einer erwählten Obrigkeit standen, war die Voraussetzung für ihre konkrete Mitarbeit im Parlament vielmehr, dass sie gewählt wurden. In seiner ersten Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 kennzeichnete Bundeskanzler Willy Brandt das geteilte Wissen um diese unbedingte Abhängigkeit der Regierenden von der Bevölkerung als eine wesentliche Voraussetzung für den demokratischen Staat:

»Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. […] Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte.«11

Weil auch theologische Parlamentarier:innen für den Gewinn und Erhalt ihres politischen Mandats schon immer auf die Stimmen ihrer Wählerschaft angewiesen waren, ist davon auszugehen, dass sie diesen Kern der demokratischen Idee mit ihren protestantischen Überzeugungen zusammendenken konnten. Möglicherweise wurde eine solche Integrität der Person insbesondere vonseiten der Wählerschaft erwartet. Als solche könnten theologische Parlamentarier:innen bei der Aneignung der Demokratie als einer legitimen und für den christlichen Glauben akzeptablen Staatsform eine wesentliche, bisher weitgehend unbeachtete Rolle gespielt haben.

2.Forschungsbericht

Wie die genannten Forschungsfragen zeigen, ist das Forschungsinteresse der vorliegenden Studie nicht monodisziplinär zu bestimmen, sondern tangiert verschiedene Fachrichtungen. Aufgrund dieser Interdisziplinarität des Forschungskontextes, sind in der Darstellung der Vorarbeiten zum evangelisch-theologischen Parlamentarismus sowohl Untersuchungen aus der Kirchengeschichte, dem evangelischen Kirchenrecht und der theologischen Ethik, als auch ausgewählte profanhistorische, soziologische, politikwissenschaftliche und juristische Arbeiten zu berücksichtigen. Der Überblick über den Forschungsstand wird nachfolgend anhand von fünf Gruppen gegeben.

Als eine erste Gruppe und als übergeordneter Forschungszusammenhang von grundlegender Bedeutung sind zunächst die quantitativen Untersuchungen zur allgemeinen Repräsentation von Berufsgruppen in ausgewählten Parlamenten zu nennen. Die frühen Arbeiten dieser Art sind noch keiner wissenschaftlichen Fachdisziplin eindeutig zuzuordnen, sie entstanden an sozialwissenschaftlichen12, philosophischen13 und profanhistorischen14 Fakultäten und werten die biografischen Angaben der Parlamentshandbücher für ein spezifisches Parlament quantitativ aus. Demgegenüber verorten jüngere Arbeiten ihr Forschungsinteresse und ihre Methodik präziser in den Disziplinen der historischen Parlamentarismus-, Eliten- und Biografieforschung.15 Zu diesen jüngeren Arbeiten gehören insbesondere die in der Datenbank BioParl unter der Leitung von Wilhelm Heinz Schröder am Kölner Zentrum für Historische Sozialforschung zusammengeführten Datenbestände aus verschiedenen kollektiv-biografischen Forschungsprojekten. Es liegen biografische Informationen zu Parlamentarier:innen der Deutschen Reichstage und ausgewählter Landesparlamente sowie der Deutschen Bundestage und der 10. Volkskammer der DDR vor.16

Mit ihrem Fokus auf die erlernten und ausgeübten Professionen der Abgeordneten machen sie eine wesentliche Erkenntnis aus der Professionsforschung zu ihrer Prämisse, nämlich dass dem Beruf die zentrale Bedeutung für die »gesellschaftliche Platzierung von Individuen in der Gesellschaft« zukommt, als ein »entscheidendes, normatives Integrationselement von Gesellschaft« fungiert und der Beruf »also ein wichtiger Teil der sozialen Identität«17 ist. Obwohl die vorliegende Studie an diese Prämisse anknüpft, ist der Ertrag dieser Arbeiten hinsichtlich der evangelisch-theologischen Professionen überschaubar. Mit Blick auf das theologische Handlungsfeld Kirchengemeinde wird die Berufsgruppe der »Geistlichen« zwar zumeist aufgeführt, jedoch wird dabei erstens nicht immer zwischen evangelischen und katholischen Geistlichen unterschieden und zweitens wird diese Gruppe im analytischen Teil der Arbeiten gar nicht oder nur oberflächlich weiter behandelt. Hinsichtlich der theologischen Handlungsfelder Schule und Universität sind die genannten Studien ebenfalls wenig aussagekräftig, da sie – ob ihrer angelegten Studienbreite – bei Lehrpersonen keine Fächerspezifizierung vornehmen, wodurch die Angaben für eine Untersuchung theologischer Parlamentarier:innen nicht weiterzuverwenden sind.

Weitaus ergiebiger für die Fragestellung ist eine zweite Gruppe von Vorarbeiten, die sich spezifischer mit der parlamentarischen Tätigkeit von Personen aus dem theologischen Arbeitsfeld Gemeinde beschäftigen. Während sich die meisten dieser Arbeiten auf eine bestimmte Zeit beschränken, wird ein Gesamtüberblick von 1848 bis in die Zeit der Bundesrepublik bei Heinz Boberach für evangelische Pfarrer18 und bei Rudolf Morsey für katholische Geistliche19 gegeben. Beide Untersuchungen geben einen kursorischen Überblick über die quantitative Repräsentation des Pfarrerstandes in den Parlamenten auf Reichs- und Bundesebene. Die Landesparlamente wurden dabei noch nicht miteinbezogen. Diffus bleibt aber bei beiden die Kriteriologie, nach der die Autoren entschieden haben, wer zum untersuchten Personenkollektiv zu zählen ist. So kann Boberach für unterschiedliche Parlamente einmal nur Pfarrer, dann ebenso theologische Hochschullehrer und anderswo wiederum auch theologische Gymnasiallehrer berücksichtigen. Ebenfalls konnte die Untersuchung von Boberach noch keine qualitative Analyse der parlamentarischen Tätigkeit evangelischer Pfarrer leisten, ihren Bedarf zeigt er jedoch mehrfach auf:

»Was sie alle in fast 150 Jahren in ihrer Tätigkeit als Volksvertreter gewollt und bewirkt haben, muß freilich einer umfassenderen Untersuchung vorbehalten bleiben; sie müßte ebenfalls die Landtage und im Wahlkampf unterlegene Kandidaten einbeziehen ber [sic!] katholische Theologen.«20

»Ob und in welchem Umfang das [Trennen von Theologie und parlamentarischer Arbeit] allen evangelischen Theologen gelungen ist, die seit 1848 als Parlamentarier zu wirken suchten, müßten differenziertere Untersuchungen zu ihren Biographien klären.«21

In diese zweite Gruppe der Vorarbeiten (zur parlamentarischen Tätigkeit von Personen aus dem theologischen Arbeitsfeld Gemeinde) zählen neben den statistischen Überblicksforschungen auch verschiedene Arbeiten zu politisch aktiven Pfarrern und – im weitesten Sinne – evangelischen Christen mit Blick auf spezifische Zeitabschnitte der deutschen Demokratiegeschichte. Hier ist für die erste Station deutscher Demokratiegeschichte die vielbeachtete Arbeit von Christian R. Homrichhausen zu evangelischen Christen in der Paulskirche zu nennen,22 die deren Arbeit sowohl quantitativ mit Blick auf alters-, berufs-, partei- und theologiespezifische Trends wie auch qualitativ mit Blick auf ihre programmatischen Interessen und dem »komplexen Verhältnis von Politik und christlich-kirchlichem Handeln«23 auswertet. Indem Homrichhausen eingangs in eine Unterscheidung zwischen Theologen (gemeint sind ausschließlich evangelische Pastoren) und christlich-protestantischen Laien einführt, misst er der theologischen Profession zwar eine besondere Bedeutung für die politisch-inhaltliche Arbeit bei, jedoch zeigen die nachfolgenden Ausführungen ebenfalls das schon mehrfach bemängelte Problem einer intransparenten Auswahl der berücksichtigten Personen.

Für die Zeit des Deutschen Kaiserreiches und der Weimarer Republik (1862–1932) untersucht Kurt Nowak das Phänomen »Politische[r] Pastoren«24, genauer die seit den 1860er Jahren virulent bleibende Debatte um das richtige Verhältnis von geistlichem Amt und den Rechten und Pflichten der Geistlichen als Staatsbürger. Im Untersuchungsabschnitt zu Pastoren als Parteiführer und Parlamentarier, stellt Nowak für seinen Studienzeitraum insgesamt einen Rückgang des geistlichen Standes aus den politischen Führungsschichten fest, auch wenn der Anteil von Pfarrern in den Weimarer Parlamenten noch einmal anstieg.25 Auch Nowak weist auf das Forschungsdesiderat mit Blick auf eine Untersuchung der Länderparlamente hin. So sei es »[e]ine offene Frage […], ob sich dieser ›Reichsindex‹ grundsätzlich verändert, bezieht man die Geistlichen in den Länder- und Städteparlamenten in die Berechnungen ein«26. Ebenfalls für die Zeit der Weimarer Republik untersucht Wilhelm Dahm die »Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933«.27 Aufbauend auf die Bestimmung der politischen Haltung des evangelischen Pfarrerstandes als »Krisenmentalität«28, die aus der verunsicherten gesellschaftlichen Stellung der Pfarrer und den Traditionsabbrüchen seit 1918 resultiere, zeichnet Dahm die Generaldebatte zur politischen Tätigkeit von Pfarrern und den vom Pfarrer-Kollektiv persönlich erfahrenen sozialen Druck nach und fokussiert sich sodann auf den in diesem Zeitraum unter politischen Geistlichen mehrheitlich vertretenen konservativ-nationalen Typus. Mit Blick auf die Motivationen zur politischen Aktivität, legt er ein Forschungsdesiderat frei, bei welchem die vorliegende qualitativ arbeitende Studie ansetzt:

»Soll nun trotzdem der genauere Hinblick etwas von ›sozialem Druck‹, und zwar von sehr massivem Druck, auch durch diese scheinbar von jedem Handlungszwang freien Motivationen hindurch transparent machen, dann muß zuerst erwogen werden, unter welchem Sehwinkel solch ein genauer Hinblick möglich und fruchtbar ist. Der denkbare Aspekt einer gewissermaßen individualpsychologischen Differenzierung zwischen wahrer Meinung und taktischer Argumentation ist für unsere Untersuchung kaum hilfreich; wenn überhaupt, könnten solche Unterschiede vielleicht in Spezialstudien über Leben und Denken einzelner Pfarrer nachgewiesen werden.«29

Für die frühe Bundesrepublik ist schließlich auf die Sammlung biografischer Skizzen zu »Protestanten in öffentlicher Verantwortung« von Günter Brakelmann, Norbert Friedrich und Traugott Jähnichen zu verweisen.30 Wie aus dem Titel zu entnehmen ist, hat diese Zusammenstellung ausgewählter politisch-protestantischer Biografien keinen professionstheoretischen Ausgangspunkt, die Auswahl von Theologen und Laien orientiert sich vielmehr an dem Bemühen, »exemplarisch wichtige Impulse des Aufbruchs von Protestanten, die eine bedeutende öffentliche Wirkung erzielen konnten, zu beleuchten«31.

Eine dritte Gruppe von Vorarbeiten bilden sodann die juristischen Untersuchungen aus kirchenrechtlicher oder staatskirchenrechtlicher Perspektive.32 Diese befassen sich – zumeist nach einem rechtshistorischen Einstiegskapitel zur Entwicklung der bisherigen Gesetzgebung hinsichtlich der politischen Betätigung kirchlicher Amtsträger – mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen die im auch gegenwärtig geltenden Kirchenrecht vorgesehene Einschränkung der politischen Betätigungsoptionen von Pfarrern durch die Inkompatibilität von Amt und Mandat aus staatlicher Sicht durch §140 GG gedeckt und damit rechtlich zulässig ist.

Deutlich tritt in der juristischen Bearbeitung des Themas der parallele Konflikt zwischen Amt und Mandat im staatlichen Beamtenrecht zu Tage, womit die vierte Gruppe von Vorarbeiten genannt ist, die nicht das politische Engagement evangelischer Pfarrer, sondern jenes der übrigen theologischen Berufsgruppen tangiert. Mit Blick auf die Rechtsgeschichte ist zunächst festzuhalten, dass die theologischen Berufsfelder Gemeinde, Schule und Universität – auch wenn unterschiedliche Gesetzeskorpora greifen – eine ähnlich gelagerte Spannung im Verhältnis von Freiheit und Bindung bei der politischen Betätigung aufweisen. Während Hans Hattenhauer in seinem rechtshistorischen Überblick über diesen »Kampf um die politische Gesinnung der Beamten« die 1919 verabschiedeten Art. 21 und Art. 36 der Weimarer Reichsverfassung33 als Schlusspunkt des Konfliktes um »Beamte als Parlamentarier« markiert, zeigt insbesondere Hartmut Maurer dessen bleibende Relevanz an der Debatte um verfassungsfeindliche Kräfte im Öffentlichen Dienst auf. So fordert die sogenannte Mäßigungsformel von den staatlichen Beamten bis heute in deren politischer Betätigung eine »Zurückhaltung und Mäßigung […], die sich aus seiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten seines Amtes ergeben«34. Die sogenannte politische Treueklausel verpflichtet den Beamten weiterhin »auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, zu der er sich zu bekennen und für deren Erhaltung er einzutreten hat«35.

Untersuchungen zum politischen Engagement speziell theologisch arbeitender Staatsbeamter im schulischen oder universitären Kontext liegen nicht vor. Bernhard vom Brocke hat zwar das Phänomen von »Professoren als Parlamentarier«36 für den Zeitraum von 1870–1924 untersucht, jedoch die theologischen Professoren weder in der statistischen Erhebung noch in der inhaltlichen Auswertung näher in den Blick genommen. Auch Christian Jansen führt in seiner Untersuchung zum »Politische[n] Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935«37 zwar die parteipolitischen Aktivitäten der Mitglieder der theologischen Fakultät auf, worunter sich namhafte Theologen wie Ernst Troeltsch, Martin Dibelius oder Bernhard Duhm wiederfinden,38 wertet diese jedoch ebenfalls nicht in einer fakultätsspezifischen Analyse gesondert aus.

Die fünfte und letzte Gruppe bilden schließlich die Studien, die nicht das politische Engagement von Einzelpersonen oder Berufsgruppen zum Gegenstand haben, sondern »den Protestantismus« als Bezugsgröße konzeptualisieren und sein politisches Interagieren zu erhellen suchen. Hier ist neben der Arbeit von Michael Klein39 insbesondere die Arbeit der Forschergruppe »Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949–1989« zu beachten. Diese versteht »›[d]en‹ Protestantismus« programmatisch offen als »Vielzahl seiner Akteure«40 und berücksichtigt daher nicht allein »kirchliche Stellungnahmen oder akademisch-theologische Beiträge«, sondern »darüber hinaus das breite Spektrum unterschiedlicher protestantischer Foren, Medien und Stimmen«41. Jüngst wurde hier auch dezidiert die parlamentarische Arbeit von Protestantinnen exemplarisch für Bayern in den Blick genommen, der Fokus liegt dabei jedoch auf weiblichen Abgeordneten evangelischen Glaubens und nicht auf der theologischen Profession.42 Aus der genannten Forschergruppe sind darüber hinaus die Untersuchungen von Andreas Busch zur »Politischen Mitwirkung des Protestantismus«43 und von Stefan Fuchs zu »Politische[n] Einflusswege[n] des Protestantismus«44 für die konzeptionellen Überlegungen dieser Arbeit besonders anregend.

Zusammenfassend kann mit Blick auf den skizzierten Forschungsstand festgehalten werden, dass die vorliegende Studie durchaus auf einen von verschiedenartigen Vorarbeiten gelegten Grund aufbauen kann. Gleichzeitig verdeutlicht der Forschungsbericht, dass der vom skizzierten Meta-Thema des theologischen Parlamentarismus tangierte Personen- und Institutionenkreis überaus umfangreich ist. Auch die Leitfrage nach dem Verhältnis von Protestantismus und Demokratie betrifft zunächst jedwede politische Tätigkeit aller Protestant:innen – ob Kirchenleitung, Theolog:in oder Kirchenmitglied –, unabhängig davon, ob ihr jeweiliges politisches Engagement an eine Parteimitgliedschaft und Mandatsübernahme geknüpft ist. Um dieser Vielschichtigkeit zu begegnen, nimmt die Datenbank TheoParl und die vorliegende Untersuchung eine institutionelle Fußung zum Ausgangspunkt, auf dessen Basis zwei objektivierbare Kriterien aufgestellt werden, die die Auswahl des zu untersuchenden Personenkollektivs »theologischer Parlamentarier:innen« begrenzen:

Die erste Bedingung definiert die theologische Profession und fordert ein abgeschlossenes Studium der Evangelischen Theologie. Diesem Kriterium liegt eine professionstheoretische Prämisse zugrunde, nämlich die Annahme, dass der Beruf eine zentrale Rolle bei der gesellschaftlichen Platzierung von Individuen in der Gesellschaft einnimmt. Über die theologische Profession erfolgen Rollendefinitionen untereinander und gegenüber Nicht-Mitgliedern, die eine berufliche Identität schaffen, die sich wiederum in einer gemeinsamen Fachsprache und gemeinsamen Wertvorstellungen ausdrücken kann.45 Da sich das Erkenntnisinteresse nicht auf das theologische Handlungsfeld Kirchengemeinde beschränkt, sondern andere theologische Handlungsfelder wie Universität oder Schule mit zu berücksichtigen sind, ist es für die Aufnahme in den zu untersuchenden Personenkreis unerheblich, ob das Studium der Evangelischen Theologie im Vollstudium (Hauptfach) oder im Nebenfach erfolgte. Die Operationalisierung des deutschen Protestantismus erfolgt in der vorliegenden Studie also über sein theologisches Personal.

Die zweite Bedingung begegnet der Herausforderung, dass die Möglichkeiten politischer Betätigung überaus divers sind:

»zunächst einmal alle (verbalen) Äußerungen zu politischen Fragen und Ereignissen, die auf den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß einwirken und deshalb politische Relevanz besitzen; sodann politische Einzelaktionen, wie z. B. Verteilung von Flugblättern, die Teilnahme an Demonstrationen oder die Organisierung von Veranstaltungen; ferner die auf Dauer angelegte Unterstützung von politischen Parteien und anderen politischen Organisationen durch Mitgliedschaft, Mitarbeit oder sonstige Förderung; und schließlich die Übernahme eines Mandats in den Bundestag, in einen Landtag oder in eine kommunale Vertretungskörperschaft (Kreistag, Gemeindevertretung).«46

Das zweite Kriterium definiert daher die parlamentarische Profession fordert die Übernahme eines demokratisch gewählten Parlamentsmandats und damit aus der obigen Aufzählung diejenige politische Betätigung, die in Intensität und Umfang am bedeutendsten ist.47

Die Stärke dieser zwei Auswahlkriterien liegt in ihrer Schärfe und Transparenz, wodurch sie die Frage nach der Zugehörigkeit zum zu untersuchenden Personenkollektiv auch über den langen Zeitraum von rund 170 Jahren handhabbar machen. In vier Aspekten ist das in der Datenbank TheoParl und hier zugrunde gelegte Forschungsdesign gegenüber den genannten Arbeiten damit neuartig: Erstens wird die Bandbreite der theologischen Berufe umfassend berücksichtigt und neben dem Handlungsfeld Gemeinde auch Schule und Universität einbezogen; zweitens wird durch die Auswahlvoraussetzungen »abgeschlossenes Theologiestudium« und »Übernahme eines Mandats« eine transparente Kriteriologie verfolgt; drittens werden sowohl theologische Parlamentarier:innen auf Reichs- und Bundesebene als auch auf Ebene der deutschen Länder berücksichtigt und viertens wird die quantitative Untersuchung des Phänomens theologischer Parlamentarier:innen mit qualitativen Einzelstudien kombiniert. Im Zusammenwirken des quantitativen und qualitativen Forschungsansatzes wird erstmalig ein spezifisches Analyseraster für theologische Parlamentarier:innen vorgelegt, das einen systematischen Zugang zu diesem diffusen Phänomen ermöglicht.

3.Methode, Quellen und Aufbau der Studie

Die Auswahl der drei in dieser Studie untersuchten theologischen Parlamentarier:innen orientiert sich in einem historischen Längsschnitt an drei Etappen der Demokratiegeschichte Deutschlands, namentlich (A) dem Deutschen Kaiserreich von 1871 bis 1918, (B) der Weimarer Republik von 1918 bis 1933 und (C) der Bundesrepublik Deutschlands seit 1949. Für jede dieser Etappen wurde ein theologischer Parlamentarier ausgewählt, dessen Parteizugehörigkeit – beruhend auf einer vorangestellten Auswertung der Datenbank TheoParl – Teil einer jeweiligen Konjunkturbewegung ist. Neben dem Kriterium der Zeit (historischer Längsschnitt) und dem Kriterium der »Parteibuch-Konjunktur« orientiert sich die Auswahl an dem Kriterium der größtmöglichen Varianz mit Blick auf ihr theologisches Tätigkeitsfeld (Universität, Schule, Kirchengemeinde), ihr Geschlecht und die Parlamentsebene, auf der sie mitarbeiteten (Reichs- oder Länderebene). Schlussendlich wurde auch ein belastbarer Quellenbefund und die einer gewissen Kontingenz geschuldete bisherige Beforschung der Person berücksichtigt.

Diesen Kriterien folgend wird für die erste Etappe, dem ausgehenden Kaiserreich, mit (A) Rudolf Otto ein Professor der Systematischen Theologie und Religionswissenschaft untersucht, der zunächst für die Nationalliberale Partei und später für die Deutsche Demokratische Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus saß. Für die Weimarer Republik wird sodann die politische Arbeit der Religionslehrerin (B) Magdalene von Tiling beleuchtet, die die Deutschnationale Volkspartei im preußischen Landtag und im Deutschen Reichstag vertrat. Gegenstand der Untersuchungen für die dritte Etappe, die frühe Bundesrepublik, bildet sodann der Pfarrer und Sozialdemokrat (C) Heinrich Albertz, der als Mandatsträger der Sozialdemokratischen Partei im Niedersächsischen Landtag und im Berliner Abgeordnetenhaus mitarbeitete und später zum Bürgermeister von Berlin gewählt wurde.

Die vorliegende Untersuchung beabsichtigt nicht, drei umfassende Einzelbiografien zu Werk und Wirken der ausgewählten Personen vorzulegen. Vielmehr verfolgt sie einen teilbiografischen Ansatz, demzufolge ein die Untersuchung begrenzender Fokus, hier die parlamentarisch-politische Tätigkeit als Theologe oder Theologin, bestimmt wird. Die Frage nach Interdependenzen zwischen theologischem Denken und politischer Arbeit wird nachfolgend auf Grundlage der Analyse und Interpretation einer breiten Quellenbasis untersucht. Erklärtes Ziel der Untersuchung ist es dabei, die Personen und ihre Gedankenwelten vor allem aus ihren Selbstzeugnissen heraus zu verstehen. In zeitlicher Hinsicht stammen ein Großteil der Quellen dabei aus der jeweiligen Zeit der theologischen Parlamentarier:innen im Parlament. Für die Beleuchtung ihrer Beweggründe für das politisch-parlamentarische Engagement und ihrer nachfolgenden Reflexion wurden darüber hinaus auch Quellen vor bzw. nach dem Mandat beachtet. Konkret wurden als gedruckte Quellen zunächst genuin politisch-parlamentarische Textgattungen berücksichtigt. Die Arbeit im Plenum der Parlamente auf Länder- und Reichsebene ist jeweils über die stenografischen Berichte und Antragsbücher zugänglich. Daneben ist die Arbeit in den Fachausschüssen, Fraktionen und Parteigremien über den Untersuchungszeitraum hinweg unterschiedlich gut dokumentiert – wo möglich, wurden entsprechende Quellen hinzugezogen. Als zweite wichtige gedruckte Textgruppe wurden den Einzelstudien zeitgenössische Pressebeiträge von oder über die untersuchten theologischen Parlamentarier:innen aus Zeitungen und später Rundfunk zugrunde gelegt. An dritter Stelle stehen Aufsätze der theologischen Parlamentarier:innen in der theologisch-politischen Publizistik. Bei Heinrich Albertz wurden zudem gedruckte Predigten hinzugezogen. Gerade Magdalene von Tiling nutzte ihre frauenbewegten und religionspädagogischen Verbandsorgane intensiv für die Verbreitung und Reflexion ihrer politischen Standpunkte. Als vierte, gedruckte Quellengattung werden biografische und autobiografische Texte, Interviews und Darstellungen in die Untersuchung einbezogen. Einen reichen Fundus boten daneben die ungedruckten Quellen in den Nachlässen der ausgewählten theologischen Parlamentarier: Der Nachlass Rudolf Ottos befindet sich in Marburg und ist teilweise in der Bibliothek Religionswissenschaft und teilweise in der Universitätsbibliothek einzusehen. Das Archiv der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers bewahrt den Nachlass von Magdalene von Tiling auf. Der Nachlass von Heinrich Albertz wird im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn verwaltet.

Als ertragreich erwies sich die hier archivierte Korrespondenz mit Parteifreund:innen sowie dem theologischem Fachkollegium. Auch die private Korrespondenz wurde berücksichtigt, sofern darin eine Reflexion der politischen Arbeit stattfindet. Daneben präsentierten einzelne, in den Nachlässen gesicherte Urkunden, Broschüren und Plakate aus dem politischen Wahlkampf sowie unveröffentlichte Manuskripte anschauungsreiches Material für die Beantwortung der Forschungsfragen. Schließlich wurde auch die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs mit Heinrich Albertz’ Sohn, dem Alttestamentler und emeritierten Münsteraner Professor Rainer Albertz, genutzt.

Der Aufbau der drei vorliegenden Einzelstudien zu Rudolf Otto, Magdalene von Tiling und Heinrich Albertz ist identisch. Um die Person in einem ersten Schritt in das Gesamtpanorama des theologischen Parlamentarismus ihrer Zeit einzubetten, dient die Datenbank TheoParl als grundlegende Erkenntnisquelle. Eine sich an den oben genannten quantitativen Forschungsfragen orientierende Auswertung des statistischen Befundes zur jeweiligen Etappe bildet jeweils den Anfang der Einzelstudien. Durch einen Blick auf die bisherige Beforschung der Person ist sodann aufzuzeigen, inwiefern eine Untersuchung ihrer parlamentarischen Tätigkeit noch aussteht und ertragreich zu sein verspricht.

In einem zweiten Schritt sind die ausgewählten Akteure in ihren historischen Kontext einzuordnen, indem ihr Weg der theologischen und politischen Professionalisierung in einer biografischen Skizze nachvollzogen wird. Dabei wird im Besonderen nach den Beweggründen für die Aufnahme eines politisch-parlamentarischen Engagements für eine bestimmte Partei gefragt sowie Überschneidungen des innerprotestantisch-theologischen mit dem parteipolitischen Netzwerk aufgezeigt. Weiterhin werden ein Überblick über die wichtigsten Themen und Gremien der parlamentarischen Arbeit gegeben, die Gründe für das Ausscheiden aus dem Parlament analysiert und die dem Mandat nachfolgenden Tätigkeiten in den Blick genommen.

In einem dritten Schritt wird die inhaltliche politische Arbeit der ausgewählten theologischen Parlamentarier:innen auf Wechselwirkungen mit ihrer theologischen Profession hin befragt. Dafür werden jeweils zwei fachpolitische Schwerpunkte exemplarisch analysiert, Argumentationsmuster aufgezeigt und in ihrer Semantik und Zielsetzung untersucht. Die spezifische Auswahl der jeweiligen zwei Fachpolitika wird in den Kapiteln eigens plausibilisiert. Maßgebend ist neben dem Quellenbefund immer die von den theologischen Parlamentarier:innen formulierte hohe persönliche Relevanz der Themen für ihre politische Arbeit sowie ihre Aussagekraft für die in dieser Studie leitende Forschungsfrage nach theologisch-parlamentarischen Interdependenzen.

In einem vierten Schritt soll schließlich das Demokratieverständnis der theologischen Parlamentarier:innen rekonstruiert werden. Dafür gilt es zunächst, die politisch-ethischen Prämissen zu klären, die ihrer Haltung zur Demokratie zugrunde liegen. Konkret wird gefragt nach (1) ihren anthropologischen Kernüberzeugungen, (2) ihrem Staatsverständnis sowie nach (3) einer etwaigen Sonderrolle von Christ:innen in der Politik. Darauf aufbauend wird sodann gefragt, welche Aspekte von Demokratie die drei ausgewählten theologischen Parlamentarier:innen wertschätzen oder ablehnen und mit welcher Argumentation sie ihre jeweilige Haltung untermauern.

Diese Analyse der Einstellung zur demokratischen Idee bedarf einer eigenständigen methodischen Einordnung, insofern die staatsethischen Reflexionen der drei ausgewählten Personen in unterschiedlichen historischen Kontexten stattfinden und damit zwangsläufig auf unterschiedliche demokratische Staatssysteme und Erfahrungen referieren. Die durch den historischen Längsschnitt in der Anlage der Untersuchung gegebene Komplexität ist nur durch eine theoretische Reduzierung der »demokratischen Idee« zu operationalisieren. In allen drei Einzelstudien erfolgt die demokratietheoretische Verortung der theologischen Parlamentarier:innen daher anhand ihrer Äußerungen zu zentralen Bestandteilen von Demokratie, nämlich erstens zu Volksherrschaft und Volkssouveränität, zweitens zu Wahlen und Mehrheitsprinzip, drittens zu Parteien, Pluralismus und Opposition und viertens zu »checks and balances« (Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Herrschaftsbegrenzung). Die Zusammenschau der konkreten, aus dem Quellenmaterial gehobenen Aussagen der theologischen Parlamentarier:innen zu diesen demokratischen Charakteristika soll dabei auch einer vorschnellen Beantwortung der Frage nach ihrer Demokratieaffinität vorbeugen. Denn der Fokus liegt durch diese diskursanalytische Vorgehensweise auf der individuellen Positionierung von Rudolf Otto, Magdalene von Tiling und Heinrich Albertz zur Demokratie und nicht auf der kollektiven Positionierung einer theologiegeschichtlichen Strömung, zu der die drei theologischen Parlamentarier gemeinhin zugeordnet werden (»der« Kulturprotestantismus für Otto, »das« konfessionelle Luthertum für von Tiling oder »die« Bekennende Kirche für Albertz).

Die Auswahl der berücksichtigten, demokratischen Merkmale stützt sich dabei auf Erkenntnisse der politikwissenschaftlichen Demokratieforschung. Da die älteren und neueren Forschungsansätze zur quantitativen und qualitativen Demokratiemessung das Ziel der »Regimeklassifizierung und der Bestimmung der Qualität der Demokratie«48 verfolgen, bieten sie freilich eine immense Anzahl verschiedener und komplexer Indikatoren zur Identifikation und Bewertung von Demokratien. Im Kontext dieser Studie ist dabei von Interesse, welche demokratischen Bestandteile über die verschiedenen Untersuchungsphasen und -ansätze hinweg immer Berücksichtigung finden und damit als relevanteste Merkmale einer Demokratie bzw. kleinster gemeinsamer Nenner gelten können. Im Ergebnis wurde als erste Kategorie »Volksherrschaft und Volkssouveränität« ausgewählt. Die Partizipation des Volkes an der Herrschaft steht seit der Grundlegung moderner Demokratiemessung an erster Stelle.49 Formal wird diese Partizipation in erster Linie mit der Durchführung von Wahlen hergestellt. Es überrascht daher nicht, dass auch diese zweite Kategorie »Wahlen und Mehrheitsprinzip« konzeptübergreifend Berücksichtigung findet.50 Die dritte Kategorie nimmt »Parteien, Pluralismus und Opposition« in den Blick, also den »offene[n] Wettstreit in der öffentlichen Willensbildung«51, und als vierte Kategorie wurden »checks and balances« im staatlichen System ausgewählt, insofern Demokratie immer »Ausdruck einer begrenzten Herrschaftsform«52 ist.

Mit der Auswahl dieser vier Merkmalsgruppen werden selbstverständlich zahlreiche Einzelindikatoren etwa zum Grad der Ausprägung einer Demokratie nicht eigens in den Blick genommen. Die Stärke der vier übergeordneten Kategorien liegt im Kontext dieser Studie gleichwohl darin, die Frage nach der Haltung der theologischen Parlamentarier zur demokratischen Idee über die Länge der untersuchten Zeit hinweg und auf Grundlage des gegebenen Quellenmaterials methodisch abgesichert zu beantworten.

Die vorliegende Arbeit schließt mit einer auswertenden Zusammenschau der Ergebnisse aus den drei Tiefenbohrungen. Darin werden die bei Rudolf Otto, Magdalene von Tiling und Heinrich Albertz konstatierten Interdependenzen zwischen theologischer und politischer Arbeit zusammengetragen und auf die Leitfrage nach der Rolle theologischer Parlamentarier:innen in der Annäherung von Protestantismus und Demokratie rückbezogen. Unter methodischen Gesichtspunkten ist es evident, dass die Einzelstudien keinen Anspruch auf Repräsentativität des theologischen Parlamentarismus in ihrer jeweiligen Zeit erheben können. Aufgrund der gänzlich unterschiedlichen historischen Kontexte der ausgewählten Personen ist hier ein Vergleich der jeweils ermittelten Interdependenzen nur zulässig, indem die Abstraktionshöhe der Vergleichspunkte entsprechend hoch gewählt wird. Geschieht dies, lassen sich aus den Ergebnissen der Studien jedoch sowohl neue Erkenntnisse zur Entwicklung des politischen Denkens im deutschen Protestantismus ableiten als auch ein geeignetes Analyseraster für zukünftige Untersuchungen weiterer theologischer Parlamentarier:innen entwickeln.

I.»Freiheit als Lebensluft« ‒ Rudolf Otto (1869–1937) als theologischer Parlamentarier im ausgehenden Kaiserreich

1.Plausibilisierung der Auswahl Rudolf Ottos

1.1.Statistischer Befund der Datenbank TheoParl

Für die erste zu untersuchende Etappe, dem ausgehenden Kaiserreich, wurde Rudolf Otto als theologischer Parlamentarier ausgewählt. Anhand der statistischen Auswertung der Datenbank TheoParl zu theologischen Parlamentarier:innen im ausgehenden Kaiserreich sowie in den ersten Jahren der Weimarer Republik soll die Auswahl seiner Person eingangs plausibilisiert werden.

Abbildung 1:Theologische Parlamentarier im Preußischen Abgeordnetenhaus 1849–1918

Aufteilung nach Parteien [#] und Anteil am Gesamtparlament [%]

Quelle: TheoParl Datenbank, Universität Münster

Betrachtet man zunächst die Befunde im Kaiserreich auf der preußischen Landesebene (s. Abbildung 1), so zeigt sich in der Verteilung der theologischen Parlamentarier auf die Parteien ab der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 bis zur Jahrhundertwende eine signifikante Dominanz des liberalen Spektrums.53 Ein Großteil der liberalen theologischen Parlamentarier gehört der Nationalliberalen Partei an, daneben sind in geringerem Anteil die sich aus dem Linksliberalismus engmaschig neugründenden Parteien (Deutsche Fortschrittspartei, Deutsch-Freisinnige Partei, Freisinnige Vereinigung, Fortschrittliche Volkspartei) vertreten.54 Ein Anstieg des konservativen Lagers bahnt sich in den 1890er Jahren an und übersteigt das liberale Lager ab 1903 bis zum Ende des Kaiserreiches.

Abbildung 2:Theologische Parlamentarier im Deutschen Reichstag 1871–1918

Aufteilung nach Parteien [#] und Anteil am Gesamtparlament [%]

Quelle: TheoParl Datenbank, Universität Münster

Auf der Reichsebene (s. Abbildung 2) lässt sich für den gleichen Zeitraum ebenso eine Dominanz des liberalen Spektrums beobachten, wobei im Reichstag auch die linksliberale Fraktion fast durchgängig und stärker als in Preußen unter den theologischen Parlamentariern vertreten ist. Ein Erstarken des konservativen Flügels gegen Ende des Reiches ist hier unter den theologischen Parlamentariern nicht erkennbar.

Abbildung 3:Theologische Parlamentarier:innen im Preußischen Landtag 1919–1933

Aufteilung nach Parteien [#] und Anteil am Gesamtparlament [%]

Quelle: TheoParl Datenbank, Universität Münster

Betrachtet man anschließend die Befunde nach der Revolution 1918 für die ersten Jahre der Weimarer Republik, zeigt sich für die preußische Landesebene (s. Abbildung 3), dass sich das liberale und das konservative Lager im Landtag zunächst noch die Waage halten. Insgesamt ist ab 1921 eine signifikante Abnahme des Anteils von theologischen Parlamentarier:innen am Gesamtparlament zu sehen, wobei der Anteil konservativer theologischer Parlamentarier:innen kontinuierlich zunimmt und das liberale Spektrum bis 1932 ganz verschwindet.

Abbildung 4:Theologische Parlamentarier:innen im Weimarer Reichstag 1919–1933

Aufteilung nach Parteien [#] und Anteil am Gesamtparlament [%]

Quelle: TheoParl Datenbank, Universität Münster

Der Trend des Erstarkens der konservativen theologischen Parlamentarier:innen und der Marginalisierung der liberalen theologischen Parlamentarier:innen ist für den Zeitraum der Weimarer Republik auf der Reichsebene (s. Abbildung 4) mit ähnlicher Gewichtung zu verzeichnen.

Vor dem Hintergrund dieser Datenlage kann Rudolf Otto mit seinem liberalen Parteibuch (erst Nationalliberale Partei, dann Deutsche Demokratische Partei) als Teil einer Konjunkturbewegung gesehen werden, insofern seine Parteizugehörigkeit für eine Mehrheit theologischer Parlamentarier:innen seiner Zeit steht. Hinsichtlich seiner akademisch-theologischen Profession als Hochschullehrer steht Otto statistisch gesehen jedoch nicht für eine Mehrheit der theologischen Parlamentarier:innen. Sowohl auf Reichs- wie auf preußischer Landesebene dominieren im Zeitraum der Mandate Ottos als theologische Berufshintergründe der theologischen Parlamentarier:innen die Kirchengemeinde und die Schule.55 Dabei fällt allerdings auf, dass der überwiegende Teil der theologischen Parlamentarier:innen mit universitärem Arbeitsschwerpunkt aus dem liberalen Parteienspektrum entstammt, also eine hohe Korrelation zwischen akademisch-theologischer Tätigkeit und liberaler parteipolitischer Ausrichtung vorliegt.56 Die Beobachtung dieser Korrelation ist kein Neuland, vielmehr haben die bisherigen Untersuchungen zum politischen und theologischen Liberalismus im Kaiserreich bereits auf den hohen Anteil theologischer Gelehrtenpolitiker in den liberalen Parteien verwiesen.57 In variierender Nomenklatur58 als »Kulturprotestantismus« sowie »freier« oder »liberaler Protestantismus« betitelt, wird dabei ein Milieu untersucht, das sich aus einem liberal-protestantischen Bildungsbürgertum konstituierte.59 Getragen wurde dieses durch den gemeinsamen liberalen Denkstil, ausgezeichnet durch die »Affinität zu Neuem, Erziehung zur Zukunft, Glaube an den Fortschritt zu mehr Freiheit, Recht und Vernunft« und dem Ziel einer »Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Zeit«60. Die vielfältigen Vernetzungen zwischen dem politischen und dem religiösen Liberalismus sind gleichermaßen im vorpolitischen sowie politischen Raum zu verorten, etwa »im Zusammenspiel von Gelehrtengruppen, Vereinen, Presse, Verlagen und Politikern«61. Als zentrale Trägerschaft des Kulturprotestantismus ist neben der universitätstheologischen Elite die opponierende liberale Pfarrerschaft zu nennen. In der bisherigen Forschung ist jedoch auch deutlich geworden, dass dieses liberal-protestantische Milieu gegenüber dem politischen Katholizismus und der Sozialdemokratie »einen weit geringeren Grad an Stabilität und ideologischer Geschlossenheit aufwies«62, was wesentlich zu seinem Einflussverlust ab 1890 beitrug.

Dass Rudolf Otto als parteipolitischer Akteur in diesem kulturprotestantischen Milieu bisher unterbelichtet wurde, ist anhand des nachfolgenden Blickes auf die bisherige Beforschung seiner Person und seines Werkes zu zeigen.

1.2.Forschungsstand zu Rudolf Otto

Erste Forschungen zu Ottos Werk sind bereits in seinen letzten Lebensjahren erschienen. Diese kleineren Arbeiten stellten sich der Aufgabe, die Grundfragen seiner Theologie63 und theologischen Ethik64 erstmals zusammenhängend zu skizzieren. Nach Ottos Tod lag die Forschungsarbeit zu ihm etwa zwei Jahrzehnte lang brach – ein Umstand, welcher der Dominanz der Dialektischen Theologie geschuldet sein dürfte, innerhalb derer der Name Rudolf Otto »nur als theologiegeschichtliches Stichwort existierte«65. Mit dem Ende der 1960er Jahre ist hingegen ein Neueinsatz der Erforschung Ottos erkennbar, verschiedentlich wird seine Biografie zusammenhängend dargestellt,66 werden erste Quellensammlungen zusammengetragen67 und seine Bedeutung für die Religionswissenschaft insbesondere von der britischen und nordamerikanischen Forschung untersucht und gewürdigt.68 Während auf dem X. Internationalen Kongress für Religionsgeschichte 1960 in Marburg noch kein eigenes Referat über ihn gehalten wurde, fand 1969 in Marburg eine eigene Tagung anlässlich seines 100. Geburtstags statt und 1987 ein Symposion in Exeter (GB) zur 70-Jahr-Feier des Erscheinens seines Hauptwerkes »Das Heilige«69. Eine Otto-Konjunktur in der deutschsprachigen Forschung und eine damit einhergehende Konzentration auf Einzelaspekte seines Wirkens lässt sich mit der Jahrtausendwende feststellen. Seither haben drei weitere, ausschließlich Otto gewidmete Kongresse70 stattgefunden und es sind mehr als ein Dutzend Spezialuntersuchungen erschienen, u. a. zu seiner Liturgik71, seiner Islam-Deutung72, seinem Angstbegriff73 oder zu der von ihm gegründeten internationalen Organisation »Religiöser Menschheitsbund«74. Auffällig ist jedoch, dass diese Darstellungen ausschließlich theologische Aspekte seines Wirkens beleuchten und das politische Engagement Ottos bestenfalls am Rande erwähnen, ohne es auszuführen oder in ein Gesamtbild einzubetten.75 Entsprechend lassen sich seine politischen Tätigkeiten bis heute als »most neglected topics in the study of Otto«76 kennzeichnen.

2.Weg der theologischen und politischen Professionalisierung

Das dargestellte rege Forschungsinteresse am theologischen Denken Rudolf Ottos bringt es mit sich, dass seine biografischen Eckdaten und Stationen mittlerweile mehrfach nachlesbar sind.77 Aufgrund der benannten und zu behebenden »politischen Lücke« in seiner Erforschung soll die nachfolgende biografische Skizze vorrangig die politische Arbeit Ottos in den Blick nehmen und diese in seine weithin bekannten, theologischen Berufsstationen einzeichnen.

2.1.Kindheit, Jugend und Studienzeit (1869–1895)

Rudolf Louis Karl Otto wurde am 25. September 1869 als zwölftes und vorletztes Kind des Malzfabrikanten Wilhelm Otto und seiner Frau Katharine Karoline Henriette (geb. Reupke) im niedersächsischen Peine bei Hannover geboren. In der wichtigsten autobiografischen Quelle zu seinen Kindheits- und Jugendjahren, dem Entwurf einer Selbstbeschreibung für die Meldung zum Ersten Theologischen Examen aus dem Jahr 189178, beschreibt Otto sein Aufwachsen als »[i]m engen Kreise der Familie und der nächsten Verwandten und Freunde unter schlicht bürgerlichen und kleinstädtischen Verhältnissen«79. Ein spezifisches politisches Engagement seines Vaters ist nicht bekannt, jedoch enthält eine im Universitätsarchiv Basel erhaltene Korrespondenz Ottos mit Eberhard Vischer80 einen Hinweis auf einen nationalliberal politisch engagierten Onkel, der Otto später zu dessen erster Kandidatur ermutigte.81

Nachdem seine Familie 1880 nach Hildesheim umgezogen war, starb Ottos Vater kurze Zeit später und die Mutter übernahm die Erziehung »in den Formen der herkömmlichen Strenggläubigkeit«82. Otto wurde 1884 evangelisch-lutherisch konfirmiert, wobei er schon früh den Wunsch hegte, Pastor zu werden. In Hildesheim besuchte er das Gymnasium »Andreaneum«. Von den wenigen Freunden, die er hier fand – Bücher seien seine »besten Kameraden«83 gewesen –, sollte ihn mit dem späteren evangelisch-lutherischen Theologen, Religionshistoriker und Sinologen Heinrich Hackmann84 eine lebenslange, enge Freundschaft sowie fachliche und politische Nähe verbinden. Obwohl er seinen schulischen Religionsunterricht als »in allen Klassen so traurig« erlebte, »d[a]ß er unmöglich Lieblingsfach [werden] konnte«, blieb ihm

»die Sache immer lieb u. wert u. wurde es noch mehr [durch] den Gegensatz, den ich früh genug zu erleben hatte: noch Kinder, stritten wir begeistert u. erbittert genug über Gottessohnschaft u. Schöpfungsbericht, über Darwinismus u. Urzeug[un]g; und ich wartete sehnlich [auf] die Zeit, wo ich alle d[ie]se Probleme gründlich studieren könnte. Denn mein Kinderwunsch [war] inzwischen mit Billig[un]g der Meinen Entschluß geworden: ich wollte Theologie studieren«85.

Nach seinem Abitur 1888 ließ er sich als Student der Evangelischen Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen immatrikulieren. Hatte er schon zuvor in der Schule von den »Neuerungen und Neuerern [gehört], die in die Theologie grundstürzend eindrangen«, wollte er sich nun in Erlangen »bei Männern der alten Schule […] die Mittel zur Abwehr gründlich zu eigen machen«86. Die ersten beiden Semester musste Otto jedoch zunächst dem Absolvieren des militärischen Dienstes widmen und während dieser Zeit, die wenig Raum für erste Lehrveranstaltungen ließ, zählte er die »Wochen, die Tage, die Stunden, bis [es] vorbei sein möchte [mit] dem Schmutz u. der Rohheit der Kaserne, [mit] dem geisttötenden quälend langweiligen Exercieren«87. Für sein drittes Semester, in welchem das herbeigesehnte Studium beginnen konnte, wechselte er mit dem festen Vorsatz, sich der »›anderen Richtung‹ noch zu verschließen«, für wenige Monate zu seinen alten Schulfreunden an die theologische Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen, um »Methode zu lernen«88. Rückblickend begann mit dieser ersten Studienzeit im liberalen Göttingen für Otto »ein neuer Abschnitt meines theol[ogischen] Anschauens [nicht] nur s[ondern] m[eine]s Lebens«89.

Otto studierte nach dem Göttinger Methodik-Semester drei weitere Semester seines Grundstudiums im bayrischen Erlangen, wo ihn v. a. der systematische Theologe Franz Hermann Reinhold von Frank90 und sein Schüler Reinhold Seeberg91 mit dem »in Erlangen allgegenwärtigen erfahrungstheologischen Zugang zur Religion«92, also der »besondere[n] Wertschätzung und theologische[n] Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit religiösen Erlebens«93 prägten. Im Alter von 20 Jahren unternahm Otto seine ersten innereuropäischen Reisen. Sein Interesse am Anglikanismus auf der Reise 1889 nach England sowie an der Orthodoxie 1891 nach Korfu (Griechenland) machten ihn schon früh zum religiösen »Feldforscher«94, was sich in einer regen internationalen Reisetätigkeit fortsetzen sollte.

Ab dem Sommersemester 1891 studierte er wieder in Göttingen, wo er zusätzlich zur Theologie das Philosophiestudium aufnahm. Da die dortige Fakultät in jener Zeit noch massiv unter dem Eindruck des kurz zuvor verstorbenen Kirchen- und Dogmenhistorikers Albrecht Ritschl95 stand, bildete sie für den aus dem konservativen Erlangen kommenden Studenten ein »deutliches Kontrastprogramm«96. Im Erlernen der historisch-kritischen, religionsgeschichtlich orientierten Arbeit am Christentum zählten der Dogmatiker Hermann Schultz97, der Alttestamentler Rudolf Smend98 sowie der Lehrstuhlnachfolger Ritschls, Theodor Häring99, zu Ottos wichtigsten theologischen Lehrern.100

Otto absolvierte 1892 sein Erstes Theologisches Examen, woran er ein zweijähriges Vikariat im Predigerseminar Erichsburg bei Dassel anschloss. Den praktischen Teil seines Vikariats verbrachte Otto in einer deutschen Auslands- und Touristengemeinde im französischen Cannes bei dem Württemberger Pastor Hermann Schmidt. Dieser wurde aufgrund seines vielfältigen sozialen Engagements, insbesondere für das Arbeiterpersonal der vielen Hotels und Restaurants vor Ort, als sog. »Kellnerpastor« bekannt. Otto schätzte ihn vor allem, weil Schmidt ihm Wege aufzeigte, seine im Theologiestudium gewonnenen liberal-theologischen Überzeugungen in die kirchliche Praxis zu transferieren:

»Wir wissen wohl alle, wie schwer es einem, der auf der Universität von modernen Anschauungen ergriffen worden ist, häufig wird, sich später in kirchliche Praxis, Predigt, Unterricht und Seelsorge hineinzufinden.«101

Die Zusammenarbeit mit Pastor Schmidt wurde für ihn zu einer grundlegenden Lernerfahrung, die er später ab 1910 auch anderen Vikaren aus dem liberal-theologischen Milieu durch die Gründung einer Stiftung ermöglichen wollte. Diese »Schleiermacher-Stiftung«102 diente der Stärkung des theologischen Liberalismus durch eine gezielte Nachwuchsförderung. Sie finanzierte jungen Theologen neben dem Vikariat eine zusätzliche Sondervikariatszeit bei einem erfahrenen, liberal denkenden Praktiker, um sie so »vor einem Zurückgleiten in die Bahnen des Gewohnten«103 zu bewahren.

2.2.Beginn der parteipolitischen Tätigkeit (1896–1913)

2.2.1.Theologische Forschung und Lehre unter prekären Bedingungen

Nach dieser Praxiserfahrung an der französischen Riviera, dem Zweiten Theologischen Examen und einer ersten außereuropäischen Reise von Ägypten über Jerusalem, Beirut, Lemnos zum Berg Athos kehrte Otto in seine akademische Heimat Göttingen zurück, wo er ab 1896 seine weiterführenden Forschungen durch eine Tätigkeit als Inspektor im Theologischen Stift finanzierte. In diese Lebensphase des nun 26-jährigen Otto lässt sich der Beginn seines parteipolitischen Engagements verorten, konkret in seinem Interesse an dem kurz zuvor von Friedrich Naumann104 gegründeten Nationalsozialen Verein (NsV). Seine »Begeisterung« für dessen Arbeit zeigt sich erstmals in einem an das aus ehemaligen Kommilitonen bestehende »Briefkränzchen« adressierten Rundbrief vom 23. September 1897:

»Am Mittag kamen 10 Exemplare der ›Zeit‹ an, Naumanns neues Blatt. Ich bin froh, d[a]ß es soweit nun ist! Kennt Ihr das Blatt u. wißt Ihr, was Naumann u. seine Gesinnungsgenossen wollen? Bitte lest die ›Zeit‹ mal ein Vierteljahr lang. Ich habe N[aumann] kennen lernen [können] u. die Leute die zu ihm gehören. Es ist nicht leicht, d[a]ß ich mich für einen Menschen ›begeisterte‹ im gespannten Sinne des Wortes. Für ihn begeistere ich mich.«105

Zwar schweigen die untersuchten Quellen darüber, inwiefern Otto schon zuvor während seiner Studien- und Vikariatszeit die Vorgänge im 1890 von Adolf Stoecker106 gegründeten Evangelisch-Sozialen Kongress verfolgt hat, aber dass ihm als einem jungen, liberal denkenden und gut vernetzten Göttinger Theologen auch der zuvor ausgetragene Richtungsstreit zwischen dem sozialkonservativen Stoecker und dem sozialliberalen Naumann bekannt war, liegt auf der Hand. Nach seiner Gründung erfreute sich der Evangelisch-Soziale Kongress als »Organisationsplattform für den Gebildetensozialismus«107 zunächst einige Jahre einer die protestantischen Lager übergreifenden Integrationskraft »auf der Basis von christlicher Gesinnung, Vaterlandsliebe und Kaisertreue«108. Jedoch polarisierten jüngere Theologen um Naumann bald verschiedene Kräfte innerhalb des Kongresses, indem sie energisch demokratisierende Reformen einforderten. Nicht nur sei eine Demokratisierung des politischen Systems und der wirtschaftlichen Strukturen vonnöten, sondern auch hinsichtlich des Gedankens einer Sozialmonarchie, im Sinne einer »politischen Kooperation zwischen Kaiser und Arbeiter«109. Die Ansicht mündete 1895 in einem Konflikt mit den sozialkonservativen Stimmen rund um Stoecker. Infolgedessen schieden 1896 sowohl Stoecker, das neue Organ Freie Kirchlich-Soziale Konferenz gründend, als auch Naumann, den Nationalsozialen Verein als »neue Kraft zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum«110 gründend, aus dem Kongress aus.111

Diese vereinsinternen Vorgänge sowie die sozialpolitische Aktivität der Theologen überhaupt kommentierte Kaiser Wilhelm II. am 28. Februar 1896 in einem Telegramm an seinen früheren Erzieher Georg Ernst Hinzpeter mit den Worten:

»Stoecker hat geendet, wie ich es vor Jahren vorausgesagt habe. Politische Pastoren sind ein Unding. […] Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinde kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.«112

Der preußische Oberkirchenrat reagierte auf diese »summepiskopale Meinungsänderung«113 am 16. Dezember 1896 mit einem Erlass, der die Beteiligung der Pfarrer an der sozialpolitischen Bewegung einschränkte, mit dem Argument, dass die Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Themen zu einer Vernachlässigung der pfarramtlichen Aufgaben führe.

Der Beginn des politischen Engagements Ottos fällt damit in eine für die Forschungsfrage nach der Wechselseitigkeit von theologischer Profession und parteipolitischem Engagement besonders interessante und bewegte Zeit. Indem Naumann unerschrocken von den skizzierten Vorgängen den NsV gründete, avancierte er zunehmend zur »Hoffnung einer ganzen Theologengeneration«114 und wie viele andere junge Theologen inspirierte dessen starkes, soziales Verantwortungsgefühl auch Rudolf Otto. Neben seiner Hochschätzung des »alles daransetzenden, rastlos wollenden, klar erkennenden, stets besonnen[en … ,] stets lauteren u. unversehrten«115 Naumann zeigte sich Otto überzeugt von dessen politischem Ansatz, nämlich

»vaterländisch u. kaisertreu die sociale Not u. Gefahr zu überwinden u. eine Wiedergeburt unseres Volkes und unserer Gesellschaft anzustreben mit den Mitteln kluger nüchterner u. auf Studium u. ökonomischer Wissenschaft ruhender Erfahrung, in der Kraft aber u. zu dem Ziele einer unvergleichlich lautern u. starken alles tragenden u. durchdringenden christlichen Gesinnung«116.

Otto zeigt sich hier insbesondere davon beeindruckt, dass sich die politische Arbeit Naumanns – wenn auch durch den Parteinamen bewusst nicht expliziert117 – aus einer christlichen Gesinnung speist und auf diese zurückzielt. Weil er sich an dieser »kräftig vorandringenden zukunftsgewinnenden Sache« beteiligen mochte, »an der die Tüchtigsten Bedeutendsten Männer Deutschlands, […] Anteil nehmen oder förderndes Interesse haben«118, trat er wenig später dem Nationalsozialen Verein (NsV) bei.119

Zwar lesen sich die Eckdaten seiner theologischen Karriere in dieser Zeit durchaus flüssig – Promotion am 9. Juli 1898 über »Die Anschauung des Heiligen Geistes bei Luther«, Erlaubnis zur Privatdozentur für Systematische Theologie im selben Jahr –, jedoch waren diese frühen Jahre der universitären Tätigkeit für Otto überaus strapaziös. Zum einen stand er aufgrund seiner angespannten finanziellen Situation unter Druck, zum anderen hegte er große Zweifel sowohl an seiner pfarramtlichen Berufung als auch an seiner wissenschaftlichen Eignung. Zusätzlich gegeißelt durch eine andauernde Erkrankung schrieb er im April 1898 an seinen Jugendfreund Hackmann:

»Ich meinerseits gehe nicht so freudigen Tagen entgegen. Es ist augenblicklich vielleicht die ernsteste und entscheidendste Periode meines Lebens, die ich je durchzumachen gehabt habe. […] Meine Arbeit ist, wie ich schätze, mäßig durchschnittlich. Jedenfalls nicht mehr. Mein Examen wird wohl auch so ausfallen. Man wird, wie ich glaube, wenn ich nicht ein besonderes Pech noch haben sollte, mich zur Habilitation zulassen. Aber wenn das gelingt, was soll ich thun? Ich würde mich für Systematik habilitieren. Aber – besonders wenn ich mich an Tröltsch120 messe – ich habe verzweifelt wenig das Zeug zu einem Systematiker, oder überhaupt zu einem theoretischen Theologen und Akademiker. Die abstracte Bücher- und Gedankenthätigkeit macht mich furchtbar müde und hat mich schon durch diese 3 Jahre hindurch auf den Hund gebracht. Und dazu kommt, daß mir Reischle121, der darin sachkundig ist, sagt, daß für Leute ›unserer Richtung‹ (ich bin in allen Prinzipien-Fragen straff gleicher Richtung mit Tröltsch) für 10 bis 15 Jahre keinerlei Aussicht vorhanden sei. […] Noch viel schwerer aber als der Gedanke an die akademische wird mir der an die praktische Thätigkeit. […] Ich habe es langsam kommen sehen, durch die Jahre meiner Stiftszeit und das letzte, daß meine Neigung für die pastorale Thätigkeit schwand ja eigentlich nie wirklich vorhanden gewesen ist. Was einfach Interesse an Religion und kirchlichem Leben war, hatte ich vorschnell mit Veranlagung und Beruf für pastorale Thätigkeit verwechselt.«122

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Perspektivlosigkeit, mit der sich seinerzeit gerade junge, liberal denkende Theologen aufgrund des konservativen Agierens des preußischen Kultusministeriums konfrontiert sahen, diente das parteipolitische Engagement Ottos im NsV von Anfang an auch seiner theologischen Vernetzung. In den folgenden zwei Jahren nahm Otto an verschiedenen Delegiertenversammlungen teil123 und traf dort u. a. den schwedischen lutherischen Theologen und Religionswissenschaftler Nathan Söderblom124, der ihn in seiner weiteren theologischen Entwicklung prägte und förderte. Ottos Begeisterung für die Gedanken Naumanns hielt zunächst an,125 um die Jahrhundertwende distanzierte er sich jedoch vom NsV, weil ihm dessen Arbeit nur noch wenig erfolgsversprechend schien, und trat schließlich aus. Am 9. August 1901 schrieb er an seinen Freund Wilhelm Thimme126: »Sozialdemokrat wirst du nun? Nun, das ist doch etwas. Ich meinerseits werde immer conservativer. Aus dem National-Sozialen-Vereine bin ich ausgetreten u. irre vorläufig ›wild‹ und parteilos auf dem politischen Oceane.«127 Nachfolgend nahm er gelegentlich noch an Versammlungen des NsV teil, insgesamt bewertete er dessen anhaltende Wahlniederlagen sowie die Auflösung des Vereins 1903 und Naumanns Wechsel in die Freisinnige Vereinigung schließlich als »letzten Akt einer Tragödie«:

»Ich meinerseits freue mich auf die Versammlgen [sic!] wie auf den letzten Akt einer Tragödie. Beim ersten Akte, dem konstituierenden Tage in Erfurt, war ich als Delegierter dabei. Bei diesem letzten als eine Art Vorläufer u. skià ton mellónton, sofern ich privatim den Überlauf schon länger gemacht habe, den Naumann jetzt empfiehlt u. vornimmt.«128

Waren Ottos Zweifel an seiner theologisch-wissenschaftlichen Eignung zuvor noch massiv gewesen, scheint er in den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Privatdozent der Systematischen Theologie selbstbewusster auf seine Profession zu schauen. In dieser Zeit arbeitete er auch an einer zweiten, philosophischen Dissertation.129 Obwohl er seine Vorlesungen in Göttingen anfangs vor leeren Hörsälen halten musste,130 schrieb er 1901 an seinen Jugendfreund Hackmann von seiner Hoffnung, dass ihn seine Arbeit als Theologe »noch einmal retten«131 würde:

»Sie ist mir ja anfänglich Frohnarbeit gewesen, u. ich nahm sie nur auf, um sie probiert zu haben bevor ich sie wegwürfe. Aber nun ist es mir anders ergangen wie Dir. Sie hat mir an Würde, Wichtigkeit u. Reiz zugenommen. Wir Theologen sind doch unumgänglich nötig, um die Puffer zu sein zwischen moderner Anschauung, Erkenntnis, Kritik, Zweifel und der Frömmigkeit. Das ist eine mühsame aber notwendige Aufgabe. Und ich will mich dazu hergeben, gewöhne mich daran u. habe schon hier u. da etwas Freude.«132