Erwin Kostedde - Alexander Heflik - E-Book

Erwin Kostedde E-Book

Alexander Heflik

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Beschreibung

Rassismuserfahrungen, sportliche Erfolge, die vergebliche Suche nach dem eigenen Vater, ein Gefängnisaufenthalt für eine Straftat, die er nicht begangen hat, ein Suizidversuch, Alkoholprobleme, finanzielle Pleiten – Erwin Kostedde, der erste schwarze deutsche Nationalspieler, blickt auf ein aufregendes und sehr tragisches Leben zurück. Richtig glücklich fühlte er sich nur auf dem Platz, beim Fußball. Da konnte er alles vergessen, er selbst sein. Alexander Heflik hat ihn über viele Jahre begleitet und legt nun ein sensibles Porträt vor.

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Zum Autor

Alexander Heflik, Jahrgang 1964, geboren und gezogen in Münster, Redakteur beim Sport-Informationsdienst, Sportchef der „Westfälischen Nachrichten“ / „Münstersche Zeitung“. Dritter Platz beim „Fair-Play-Preis für Sportjournalisten“ (1997). Autor der Bücher „Jan Ullrich & Lance Armstrong. Das Duell“ (2004) sowie „Das Meisterjahr. Preußen Münsters Weg in die 3. Liga“ (2011).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2021 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medienproduktion GmbH, Göttingen

Fotos Umschlag: imago images (U1), BROADVIEW TV GmbH aus dem Film „Schwarze Adler“ (U4)

ISBN 978-3-7307-0574-2

Für Monika

INHALT

2016 – Vorwort

KAPITEL 11974 Der Belafonte vom Bieberer Berg

EINWURF:Interview mit Volker Goll

KAPITEL 21967 Das Duisburger Missverständnis

KAPITEL 31975 Wembley, der Albtraum

KAPITEL 41968 Knokke und die schwarze Tasche

KAPITEL 51978 „Kohleneimer“ – das Dortmunder Trauma

KAPITEL 61965 Der erste Vertrag, die erste Watsche

KAPITEL 71979 Das späte Glück von Laval

KAPITEL 81963 Ein Talent, kein Überflieger

KAPITEL 91980 Der lange Abschied

KAPITEL 101954 Der Urknall von Bern, die Schuhe vom Polizisten

KAPITEL 111990 Ohne Ausweg, alles vorbei

KAPITEL 121995 Letzte Ausfahrt Oesede

KAPITEL 132020 Es geht mir schlecht

EINWURF: Die verlorenen Lieblinge

Epilog

Letzte Worte

Erwin Kostedde in Zahlen

2016 –

VORWORT

Wir sitzen uns gegenüber. Erwin Kostedde fühlt sich nicht wohl, er will keinen Kaffee, ein wenig rutscht er auf dem Stuhl herum und schaut aus dem Fenster. Häufig haben wir Termine vereinbart, meist sind sie geplatzt. Es reicht, wenn überhaupt, nur zum Smalltalk oder für knappe Telefonate. Doch irgendwann sagt er an diesem Tag und wie aus heiterem Himmel: „Sie könnten das alles über mich schreiben. Wenn ich Ihnen alles erzähle …“

Dies ist sein Vertrauensbeweis für mich, nach all der Zeit, das kommt unerwartet. Er bricht ab, manchmal nutzen das Menschen, um die Bedeutung der gerade gesprochenen Worte zu erhöhen. Alles erzählen, nichts weglassen, reinen Tisch machen, die Seele befreien, auspacken. Ich weiß nicht, ob das wirklich sein Plan ist. Seine Geschichte also. Mutter aus Münster, der Vater ein unbekannter GI aus den USA, sechs Halbgeschwister, die Story eines Fußballers, des ersten schwarzen deutschen Nationalspielers, der alles hätte haben können. Er schoss das Tor des Jahres 1974, verdiente viel Geld, kassierte gewaltige Handgelder, verprasste vieles, setzte noch mehr mit dubiosen Geldanlagen in den Sand, versoff den kargen Rest. Als ob das nicht genug wäre, so viel auf und ab reicht doch schon für ein Leben, wird er verhaftet für den angeblichen Überfall auf eine Spielhalle. Er wird freigesprochen, aber erst nach einem Martyrium aus mehrmonatiger Untersuchungshaft und psychiatrischer Behandlung. Er, der Erwin, ist in dieser Phase seines Lebens selbstmordgefährdet. Kann man da noch einmal auf die Beine kommen? Eigentlich eine interessante Story.

Mein eigenes Fußballleben beginnt Anfang der 1970er-Jahre. Erwin Kostedde? Ich erinnere mich an einen meiner fünf Brüder, der vom „braunen Bomber“ spricht, der auch aus Münster komme und schon ein richtig guter Fußballer sei, ich bin da vielleicht acht Jahre alt, verstehe das nicht so wirklich. „Das ist der“, sagt er nun auch abfällig, „der häufig hinter dem Bahnhof an der sündigen Meile rumhängt.“ Ich verstehe noch weniger, aber es bleibt mir im Gedächtnis. Dieser Kiez ist in Münster im Übrigen vielleicht 200 Meter lang. Später frage ich mich, ob er da wirklich an der Eingangstür zu den Bars stand und mit den Scheinen wedelte? Kostedde der Hallodri, der Protzer, der Tunichtgut, der „Schwatte“, wie es damals häufig hieß.

Aber erstmal vergesse ich das praktisch sofort. Kostedde läuft mir nur über den Weg, weil er 1974 den Gladbacher Nationalspieler und Weltmeister Berti Vogts narrt und das Tor des Jahres erzielt. Für Offenbach ist er da aktiv, und dies ist eine Art Blaupause für ein Tor, das gut 40 Jahre später Deutschland in einen gewaltigen Freudentaumel stürzen wird. Auch Mario Götze bekommt den Ball von der linken Seite, verarbeitet ihn mit der Brust und schießt mit dem linken Fuß ein. Ein Artefakt des Fußballs, sowohl 1974 als 2014. Deutschland ist Weltmeister. Kostedde sieht den Treffer im Fernsehen und denkt an 1974. 40 years after.

Noch später dann: Als Kostedde den Kreisligisten Germania Mauritz als Trainer übernimmt, berichte ich darüber, ein kurzer Text für die „Frankfurter Rundschau“, gerade mal 60 Zeilen ist es das wert, Deutschland wird gerade wiedervereinigt. Nun also Coach in Mauritz, dem noblen Stadtteil Münsters. Die Anlage ist alles anderes als das, ein typischer Ascheplatz, es regnet, das Flutlicht rettet die Einheit so gerade. Kostedde spielt vorher ein wenig verträumt mit dem Ball, er ist Mitte 40, die Bewegungen haben immer noch Eleganz. Fülliger ist er geworden, aber seine Ballbehandlung überzeugt direkt. Was macht er hier nur, frage ich mich. Für diese Erkenntnis muss man kein Experte sein. Wir sind Ende der 1980er-Jahre, Kostedde hält es nicht lange aus bei dieser Rumpeltruppe, die Mannschaft mit ihm auch nicht.

Die Zeit rennt: Viele, viele Jahre danach ruft er, also Erwin Kostedde, in der Redaktion der „Westfälischen Nachrichten“ an, ob wir zwei Stehplatzkarten für das nächste Heimspiel von Preußen Münster hätten. Ich bin verwirrt. Ist das DER Kostedde? Also genau dieser Kostedde? So ist es, die Wiedererkennungsrunde ist in wenigen Sekunden abgeschlossen. Draußen in der Welt ist Angela Merkel Kanzlerin, die Zeit ist vergangen. Er, Kostedde, will nicht beim Verein vorsprechen, ein waschechter Preuße sei er nicht, aber mit uns hätte er nie schlechte Erfahrungen gemacht, ob da was geht? Es geht was. Kostedde holt seine zwei Karten ab. Immer und immer wieder, das geht so über mehrere Saisons. Ab und an sprechen wir kurz miteinander, über Fußball, über die Adlerträger, wie es ihm geht, oder über seine Frau, was das Leben so gemacht hat mit dem Erwin. Eines Tages dann sagt er bestimmt: „Sie müssen das Buch jetzt über mich schreiben.“

KAPITEL 1

1974

DER BELAFONTE VOM BIEBERER BERG

Der Ball kommt maßgeschneidert, perfekte Höhe, richtiges Tempo, genau im passenden Moment. Das Flutlicht am Bieberer Berg, es schimmert eher, leuchtet die Situation nur dürftig aus. Norbert Janzon weiß aber in diesem Augenblick, wo Erwin Kostedde hinlaufen wird, selbst in völliger Dunkelheit würde das genau so funktionieren. Zwei Gegenspieler bedrängen ihn, aber sie können den Kickers-Linksaußen nicht an dieser Flanke hindern. Offenbach liegt zurück in diesem wilden Schlagabtausch, der Vizemeister Borussia Mönchengladbach führt mit 3:2. Die Fohlen kennen aber nur eines: immer angreifen. Deshalb kontern die Kickers, und das im eigenen Stadion.

Kostedde bewegt sich nach vorne, an seiner Seite der „Terrier“. Berti Vogts wird so genannt, der eisenharte Verteidiger. Er hat Johan Cruyff im WM-Finale im Sommer 1974 zugesetzt, war ihm gefolgt, hatte den filigranen niederländischen Superstar behakt, bedrängt, förmlich gequält – mit großem Erfolg. Vogts, der Nationalspieler, Cruyff-Bewacher und Weltmeister, ist für jeden Angreifer ein Quälgeist, er ist so erbarmungslos, vollkommen spaßbefreit im Zweikampf. Doch dieses Mal ist er chancenlos, denn der Kickers-Angreifer weiß um einen kleinen Systemfehler bei Vogts: „Kämpferisch war er ein unglaublicher Typ. Aber sein Fehler war, dass er jede Bewegung immer mitmachte.“ Denn Kostedde findet so den winzigen Raum, der ihm einen Vorteil verschafft. Als Janzons Zuspiel ihn erreicht, hat er das nötige Tempo und die optimale Position erreicht, kann den Ball mit der Brust stoppen und abtropfen lassen, lässt Vogts rechts stehen, um dann mit links Torwart Wolfgang Kleff zu überwinden. Das 3:3 ist eine einzige Bewegung, eine Traumsequenz für Fußballer, das gelingt nur ganz wenigen. Kostedde, der Mann mit den ungeheuren Oberschenkeln, die vermutlich noch dicker sind als die von Gerd Müller, dreht ab, jubelnd. Gerade ist ihm das Tor des Jahres 1974 gelungen, eine Ode an den Fußball, ein rarer Moment von Perfektion. Müller schoss den Siegtreffer im WM-Endspiel von München zum 2:1, Kostedde aber das Tor des Jahres. Der 18. Oktober 1974, ein Profi steht im Zenit seiner Karriere.

Janzon blickt zurück, denkt an die Szene und erinnert sich genau: „Der Abwurf kam von Torwart Fred Bockholt, ich bin dann 50 Meter gesprintet, eine hohe Flanke, dann war Erwin da.“ Trainer Otto Rehhagel hätte diesen Spielzug genauso einstudiert, die Kickers dann perfekt umgesetzt. „Ja“, erzählt Janzon, „Kostedde war ein besonderer Spieler. Ich meine, er war einer der Ersten, der den perfekten Übersteiger gemacht hat. Und er war ein hervorragender Kopfballspieler.“ Beim Tor des Jahres 1974, gerade gegen die herausragenden Borussen aus Mönchengladbach, hätte alles gepasst. Und überhaupt, Janzon verklärt Kostedde fast schon: „Ich habe ihn auf einem Niveau wie Uwe Seeler oder Gerd Müller gesehen.“ Eine Verneigung von dem früheren Mitspieler vor seinem Ex-Kollegen.

„Die Flanke kommt genau, ich springe hoch, hinter mir Vogts, stoppe den Ball mit der Brust und schieße ihn volley rein in den Winkel“, erinnert sich Kostedde bis heute ebenfalls ganz genau an sein Kunststück. Und: „Da hat der Berti blöd geguckt.“

Und wie der schaut, und alle anderen auch. Berti Vogts, Günter Netzer, Rainer Bonhof, Allan Simonsen, der kleine Däne trifft dreifach für die Mannschaft von Wunder-Trainer Hennes Weisweiler. Mönchengladbach ist Fußball-Avantgarde in dieser Zeit. Die Show vor 31.000 Zuschauern aber gehört Erwin Kostedde mit seinem fußballerischen Zaubertrick nach 70 Minuten zum 3:3. Als Dieter Schwemmle wenig später den Siegtreffer der Kickers erzielt, ist der magische Moment perfekt.

Fußballerischer Wilder Westen: der OFC

Es ist bereits seine vierte Saison bei den Kickers, Kostedde fühlt sich hier wohl, pudelwohl, bei einem Klub, der immer etwas überhitzt ist, bei dem stets Tohuwabohu herrscht, sich selten etwas ganz normal entwickelt und wo Ruhe ein Fremdwort ist. Mittlerweile ist er 28 Jahre alt, er hat seine Krisen gehabt, wird beim MSV Duisburg entlassen, stabilisiert sich in drei Saisons bei Standard Lüttich, ehe der umtriebige Willi Konrad ihn zu den Kickers lotst. Das war der Auftrag, erteilt vom Präsidenten Horst-Gregorio Canellas höchstpersönlich. Konrad soll diesen Torjäger aus Belgien holen, der fehlt ihnen gerade noch am Bieberer Berg, so kann das auf keinen Fall langweilig werden. Und Kostedde beißt an, Konrads Köder ist zu schmackhaft. Wobei: Vier Spielzeiten in Offenbach, das reicht normalerweise für mehr als ein ganzes Fußballer-Leben. Der OFC hat Glück, denn Kostedde will nach den Jahren in Belgien unbedingt in die Bundesliga, nur hier kann er sich dem Traum von der Nationalelf ernsthaft nähern, schon viel Zeit hat er vertrödelt. Anfang der 1970er-Jahre haben deutsche Legionäre kaum eine Chance, in das Notizbuch von Bundestrainer Helmut Schön zu gelangen – zumindest, wenn sie in Belgien spielen. Es zählen nur gute bis sehr gute Auftritte in der Bundesliga oder einer anderen Topklasse in Europa – siehe Netzer (Real Madrid) oder Haller und Schnellinger (Italien). Der Haken an der Sache: Der Stürmer hatte gedacht, Offenbach würde auch in der 1. Bundesliga spielen.

Offenbach ist noch mehr als die junge Bundesliga fußballerischer Wilder Westen. Die Kickers fühlen sich 1963 getäuscht, als die 16 Vereine für die Premierensaison in der ersten Liga benannt werden. Wer, wenn nicht Offenbach, sollte im Süden dazugehören? Platz fünf in der sogenannten Zwölf-Jahres-Wertung dürfte genügen für die neue Eliteliga, notfalls kann die Bundesliga auf 18 oder 20 Vereine aufgestockt werden, eigentlich wären die Kickers immer mit dabei. Nürnberg, Frankfurt, Stuttgart und Karlsruhe werden zu Erstligisten gekürt, Offenbach liegt im Ranking deutlich vor den beiden Münchner Vereinen, Bayern und 1860. So oder so, die Kickers sind dabei. Daran geht kein Weg vorbei.

Als am Ende die 16 Teams vom Deutschen Fußball-Bund ermittelt sind, fallen die Kickers durch. Härtefall wird der Klub genannt, dabei gibt es keinen triftigen Grund, warum Offenbach den Zuschlag nicht erhalten sollte. 1860 München ist zwar Meister in der Süd-Oberliga geworden, hat aber über die Jahre einen deutlich schlechteren Platzierungs-Durchschnitt als die Kickers, selbst Bayern München schneidet besser ab als der Lokalrivale, liegt aber auch deutlich hinter Offenbach – und wird ebenso nicht reingelassen. Am Bieberer Berg werden dunkle Mächte vermutet, die im Hintergrund die Strippen gezogen haben. Rudi Gramlich ist Feindbild Nummer eins: Der Präsident von Eintracht Frankfurt sitzt im mächtigen Beirat des DFB, und dieser ist praktisch niemandem Rechenschaft schuldig. Die hessische Fehde wird so angeheizt. Fast 60 Jahre später besagen die Verschwörungstheorien immer noch unisono, dass die Kickers aus den Frankfurter Kreisen übelst hintergangen worden sind.

Erst 1968 gelingt der Aufstieg in die 1. Bundesliga, und Offenbach taugt gleich als Fahrstuhlmannschaft. Hier kommen bedingungslose Fanliebe, Fußball-Fanatismus und ein Anflug von Größenwahn zusammen, eine unheilvolle Melange manches Mal, manchmal aber auch der Garant für großes Spektakel. Aufstieg, Abstieg, Aufstieg. Willi Konrad ist die treibende Kraft, als Vollwaise ist er aufgewachsen im Haus von OFC-Präsident Canellas. Ein Schlitzohr, ein Hasardeur, einer, der keine Grenzen kennt, wenn es um die Kickers geht. Sein größter Coup gelingt ihm, als er Erwin Kostedde von Standard Lüttich verpflichtet, Mai 1971. Kostedde will nun mal Nationalspieler werden, das geht nicht in Belgien, nach drei Saisons im Nachbarland fühlt er sich bereit. Zumal Bundestrainer Helmut Schön häufiger Gast am Bieberer Berg ist, er wohnt in Wiesbaden. Und Schön ist mit Canellas befreundet. Alles fügt sich in diesem Augenblick zusammen.

Anfang Mai sichert sich Lüttich am vorletzten Spieltag die Meisterschaft mit einem 4:1-Heimsieg über Royal Crossing Club de Schaerbeek, einem Verein aus dem Norden Brüssels. Der Sensations-Pokalsieger von 1970, Kickers Offenbach, befindet sich zur gleichen Zeit im Abstiegskampf der Bundesliga. Doch Konrad, der Überredungskünstler, macht sofort alles klar mit Kostedde, der VfB Stuttgart und der 1. FC Köln schauen in die Röhre. „Big Willi“, wie Kostedde den OFC-Manager ehrfürchtig nennt, ist der Letzte im Reigen der Buhlenden.

Konrad fragt: „Was zahlen die anderen?“

Er wartet Kosteddes Antwort nicht ab: „Wir zahlen mehr.“

Zweite Liga statt Nationalmannschaft

Keiner weiß, dass einen Monat später die Bundesliga praktisch vor dem Ruin steht. Denn Canellas packt an seinem 50. Geburtstag aus, einen Tag zuvor hat Offenbach mit 2:4 in Köln verloren, den punktgleichen Rot-Weißen aus Oberhausen genügt ein 1:1 in Braunschweig zum Klassenerhalt. Offenbach steigt ab, weil Canellas beim Wettbieten um manipulierte Spiele nicht mithalten kann, eine Reihe von Spielen der Endphase der Saison 1970/71 sind verschoben. Hatte Offenbach den Herthanern gewaltige 140.000 Mark für einen Sieg geboten, zahlte Bielefeld am Ende 250.000 Mark für eine Niederlage an die Berliner. Der Kampf um den Klassenerhalt wird jenseits des Spielfeldes entschieden. Bundestrainer Schön flüchtet von der Gartenparty, als Canellas zu reden beginnt. Er hat die „Verhandlungen“ auf einem Tonband mitgeschnitten. Der deutsche Profifußball ist erschüttert, Offenbach steigt ab, auch weil der Klub der Konkurrenz zu wenig geboten hat, Oberhausen und Bielefeld bleiben erstklassig. Der Bestechungsskandal wirft den deutschen Fußball zurück, der Ruf ist ruiniert. Die Zuschauerzahlen, in dieser Zeit noch wichtigste Einnahmequelle der Vereine, gehen dramatisch zurück. Zwei Trainer werden gesperrt, sieben Vereine sind involviert, 52 Spieler werden vom DFB-Sportgericht verurteilt. Der sogenannte Chefermittler Hans Kindermann kann belegen, dass allein über eine Million Mark in der Endphase der Saison 1970/71 die Besitzer gewechselt hatten. Das neue Geschäftsmodell Profifußball ist ein dreckiges.

Offenbach muss also runter, Canellas wird gesperrt. Kostedde findet sich nun in der Zweitklassigkeit unter Trainer Kuno Klötzer wieder. Vorerst ist er weiter weg von Bundesliga und Nationalelf als er es in Lüttich gewesen wäre. Schlimmer noch: Er hätte zu Feyenoord Rotterdam gehen können, hier schwingt Ernst Happel das Zepter, der niederländische Klub ist in den frühen 1970er-Jahren einer der ganz großen Player im europäischen Fußball. Happel und Kostedde, das hätte spannend werden können, österreichischer Grantler trifft auf westfälischen Hallodri, so oder so ähnlich wären die Startbedingungen und Schlagzeilen gewesen. Auch der 1. FC Köln und der VfB Stuttgart zeigen im Mai 1971 ernsthaftes Interesse vor und nach dem Auffliegen des Manipulations-Skandals. Doch Kostedde verwechselt sich zu einem Zweitligisten mit angeschlagenem Renommee, dem neuen Störenfried der deutschen Fußballwelt, die Kickers haben eine halbseidene Note. Über die Höhe der Ablösesumme kursieren unterschiedliche Zahlen, Konrad soll ein Schnäppchen für 350.000 Mark geangelt haben, andere Quellen sagen, dass 800.000 Mark nach Lüttich geflossen sein sollen – das wäre eine Transfersumme auf Rekordniveau für einen deutschen Spieler. Auch Olympique Marseille meldet Interesse an, steigt aber letztlich nicht in die Pokerpartie um den Stürmer ein.

Das Ehepaar Kostedde sieht in der hessischen Wahl aber etwas anderes. Immerhin taugt Offenbach gleich als neue Heimat, eine Art Heimkehr, etwas zum Wohlfühlen. „Keine Woche nach der Meisterschaft mit Lüttich war ich weg aus Belgien“, sagt Kostedde, Belgien genügt ihm und seiner Frau Monika nicht mehr. Trotz dreier Meisterschaften, obwohl er die Torschützenkrone geholt hat, nimmt der 24-Jährige praktisch Reißaus. In Hausen, im Frankfurter Norden, findet er gleich eine standesgemäße Unterkunft, das Erdgeschoss mit Garten einer ansehnlichen Villa erleichtert die Eingewöhnung. Zum Training muss er im Norden die Main-Metropole umfahren, den Fluss überqueren, um im Osten Offenbach zu erreichen, immer vorbei am und durch das Feindesland. Eintracht Frankfurt und die Offenbacher Kickers, das ist wie Borussia Dortmund und Schalke 04, bitterböse Konkurrenz.

Das Ehepaar Kostedde findet derweil gleich Anschluss bei der Familie Canellas. Der Präsident der Kickers verdient im Geschäft mit Südfrüchten prächtig. Kostedde lässt kein böses Wort auf ihn kommen. „Als Offenbach abgestiegen war, bot mir der Präsident gleich die Vertragsauflösung an“, blickt Kostedde zurück. Lose Offerten aus der Bundesliga tun sich auf, im Ausland gibt es ein paar Möglichkeiten, und: „Das Angebot aus Rotterdam war viel besser als der Vertrag in Offenbach. Ich wäre gegangen.“ Das niederländische Angebot beinhaltet angeblich 300.000 Gründe für einen Wechsel. So viel Geld, 300.000 Mark Jahressalär, Wahnsinn. Wieso geht er nicht, um Himmels Willen? Warum bleibt er bei einem dubiosen Zweitligisten aus Hessen und verzichtet auf die ganz große europäische Bühne in der Hafen-Metropole Rotterdam?

Monika Kostedde will nicht. Nach der einsamen Zeit in Lüttich, zwar in einer schönen Wohnung mit Blick auf die Maas, hat sie sofort Geschmack gefunden an dem Wohnort, dem Anschluss an die Canellas-Familie, Deutschland. „Wir bleiben, hat sie gesagt – das eine Mal habe ich auf sie gehört, und das war gut so.“ Für Kostedde werden es vier gute Jahre sein, das Umfeld stimmt, mit den Trainern kommt er zurecht, die Mannschaft ist oft einfach gut, ein Spektakel – und der neue Publikumsliebling trifft nach Belieben.

Große Liebe Offenbach

Mit Kuno Klötzer findet er einen Trainer, der ihm vertraut, der auf ihn setzt. Klötzer sieht die spielerischen Fähigkeiten und räumt Freiheiten ein, Kostedde zahlt zurück mit Toren am Fließband. Die Kickers steigen 1972 wieder in die Bundesliga auf, bleiben in der regulären Zweitligasaison sowie der Aufstiegsrunde ungeschlagen. 44 Pflichtspiele ohne Niederlage, 128 Tore. Kostedde trifft 28-mal in der Punktrunde, dazu erzielt er sieben Tore in der Aufstiegsrunde, als Kirschen auf die Torte legt er zwei Treffer im Pokal obendrauf – die Kickers müssen keinen neuen Torjäger für die Bundesliga suchen. Sie haben Erwin Kostedde, beim fanatischen Anhang ist er längst angekommen.

Offenbach ist Kosteddes große Liebe. Er wird zur Legende am Bieberer Berg. Sportlich liefert der Angreifer eindrucksvoll, Jahr für Jahr. Wirtschaftlich zahlt sich das aus, er streicht horrende Handgelder ein, die Kickers haben ihrerseits ein Faustpfand für einen möglichen Transfer, die Aktie Kostedde steht hoch im Kurs. Hohes Grundgehalt, ein Handgeld im sechsstelligen DM-Bereich Jahr für Jahr, damit lässt es sich leben. Kickers-Stratege Konrad reibt sich derweil die Hände, denn der erste Millionen-Transfer in D-Mark steht an, Offenbachs Tormaschine scheint ein Kandidat dafür zu sein.

Privat sortieren sich die Dinge ebenfalls, weil auch Ehefrau Monika das Leben in Hessen mehr mag als in Belgien, sie organisiert alles um den Sport herum. In Dieburg kaufen die Kosteddes zwei Reihenhäuser, eine Wertanlage für die Zukunft, die Finanzierung ist bei einem neuen Dreijahresvertrag nach dem Aufstieg nicht wirklich ein Problem. In Frankfurt findet Monika Kostedde eine neue Freundin, die Frau aus der naheliegenden Metzgerei, alles fügt sich langsam zusammen.

Dass bei den Kickers dennoch nichts wirklich normal ist, erfährt Erwin Kostedde bei den Aufstiegsfeiern. In Heusenstamm wird die Bundesliga-Rückkehr im großen Stil zelebriert. Die unschlagbaren Kickers feiern mit drei atemberaubend hohen Siegen in der Aufstiegsrunde hauchdünn den Sprung in die Eliteliga, 7:2 über Völklingen sowie jeweils 6:0 über Wacker Berlin und St. Pauli bescheren die bessere Tordifferenz gegenüber dem punktgleichen Team von Rot-Weiss Essen. Obwohl die Mannschaft ungeschlagen bleibt, ist dies am Ende ein Ritt auf der Rasierklinge. Die 19 Treffer in den letzten drei Partien der Aufstiegsrunde verfolgt die Konkurrenz mit Argusaugen, und fragt sich, ob da alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

Offenbach muss jetzt hoch, rauf in das Bundesliga-Oberhaus, der Kader ist teuer, das Aufgebot mit Spielern wie Horst „Pille“ Gecks, Sigfried Held, Lothar Skala oder Winfried Schäfer bereits erstligareif aufgestellt. Dieser finanzielle Kraftakt kann nur einmal begangen werden, dieser eine Schuss muss sitzen. Am Ende bebt der Bieberer Berg, der Jubel ist grenzenlos. Meistermacher Kuno Klötzer hat es geschafft. Er, ein guter Mensch, aber auch ein Trainer der alten Schule, wie Kostedde sagt, hat Kickers Offenbach zurück in die Bundesliga manövriert – und muss gehen.

„Bei der Aufstiegsfeier nahm mich der Trainer zur Seite und sagte, dass wir noch einen zusammen trinken sollten, ein letztes Mal.“ Klötzer wird entlassen, als sich die Kickers in den Armen liegen. Jubel und Trauer liegen auch bei Kostedde oft eng beieinander, nicht selten liegen nur ein paar Tage zwischen einem sportlichen Hochgefühl und dem aufkommenden persönlichen Frust. Aber diese Trainerbeurlaubung ist selbst für den emotionalen Grenzgänger Kostedde Neuland, er ist fassungslos. Auch als der Präsident Hans-Leo Böhm ihm am gleichen Abend sagt, jetzt in der Bundesliga, da müsse er abspecken. Aufstieg und Abschied und Anmache. Ausgerechnet Gyula Lóránt wird Klötzers Nachfolger. Lóránt, den Kostedde in seiner ersten Bundesliga-Saison beim MSV Duisburg mit seinen Eskapaden ab und an zur Weißglut getrieben hatte. Nach dem Kuschelkurs Klötzers folgt der Leutnant Lóránt, die Stimmung fällt rasant. Offenbach als Klub sei vogelwild gewesen, Offenbach als Stadt bieder und ohne Flair, blickt Kostedde zurück – das ist irgendwie der Sound seines Lebens.

So hat jede Saison etwas Besonderes in Offenbach. Allein die beiden Aufeinandertreffen im hessischen Derby gegen Eintracht Frankfurt würden genügen, um Kosteddes Kultstatus am Bieberer Berg in Stein zu meißeln. Der Aufsteiger erwartet den Rivalen aus der Nachbarschaft früh in der Saison. Frankfurter Fans haben sich einen besonderen Singsang in hessischer Mundart einfallen lassen von „zehn Schwule und ein Nigger – das sind die Offenbacher Kicker“. Es ist der Treibstoff, den Kostedde an diesem Oktober-Tag benötigt, damit kann er arbeiten, der Angreifer ist in Form und mental gefestigt wie noch nie in seiner Karriere. Der Aufsteiger nistet sich im oberen Tabellendrittel ein, das 1:6 bei Schalke 04 am fünften Spieltag wirft die Kickers nicht aus der Bahn. Endlich ist der Tag für die Revanche gekommen, die Eintracht gastiert am Bieberer Berg.

Wieder einmal bieten die Hausherren ein Spektakel, Führung, Rückstand, Schlussspurt. Ein lupenreiner Hattrick von Kostedde wird beim 3:2-Erfolg nur durch den Doppelpack von Jürgen Grabowski verhindert. Aber in den Schlussminuten zaubert Kostedde mit zwei Treffern den Sieg herbei. Offenbach feiert den Derby-Erfolg wie den Gewinn der deutschen Meisterschaft, der Eintracht-Anhang trägt Trauer nach der Pleite gegen den Eindringling. „Wenige Tage nach dem Sieg wollte ich mein Auto in einer Frankfurter Werkstatt reparieren lassen, sie haben mich beschimpft und weggeschickt“, lacht Kostedde später über die tiefsitzende Rivalität. Spätestens nach dem 3:0 in Frankfurt in der Rückrunde wird der Torjäger zum Albtraum für die Eintracht. Dieses Mal trifft Kostedde „nur“ doppelt, vielleicht hätte Manfred Ritschel ihm den Elfmeter zum zwischenzeitlichen 2:0 überlassen können, so oder so fühlt sich der Sieg im Waldstadion wie der Gewinn einer nationalen Meisterschaft an. Die Eintracht versucht wenig später einen Abwerbeversuch, im Übrigen ist während der ganzen Offenbacher Ära nur noch der VfB Stuttgart an ihm interessiert. Kostedde hat aber den großen Rivalen erlegt, Offenbach steht am Saisonende als Siebter genau einen Punkt vor den Frankfurtern – also, warum nicht die Konkurrenz richtig schwächen? Die Kickers sind so etwas wie ein hessischer Meister, der Klub von der anderen Main-Seite, das ist natürlich die gute Seite. Frankfurt umgarnt den Angreifer, und einmal spielt Kostedde auch mit den Eintracht-Granden zusammen. Bei einem Freundschaftsspiel der Henninger Brauerei treten die Frankfurter Topspieler mit denen aus Offenbach gemeinsam gegen den AC Mailand an. Die Offensivreihe heißt Grabowski, Hölzenbein und Kostedde, der Offenbacher erzielt die Führung, am Ende heißt es 2:2. Doch der Torjäger bleibt in Offenbach, denn: „Das wäre Verrat gewesen, das wäre mir nie verziehen worden. Die hätten mich umgebracht.“ Eine Frage der Ehre, oder hat er einfach nur etwas gelernt aus dem Wechsel-Theater zwischen Standard Lüttich und Alemannia Aachen im Sommer 1968?

Der trotzige Erwin, der sich zu sportlichen Großtaten aufschwingt, ist in diesen guten Tagen Programm. Augenscheinlich wirft ihn nichts aus der Bahn. Nur einmal wird er im Laufe seiner Profikarriere vom Platz gestellt. Schiedsrichter Gerd Meuser will eine Tätlichkeit gegen Hannes Linssen im Heimspiel gegen den MSV Duisburg gesehen haben. Offiziell wird er vier Wochen gesperrt, Kostedde kehrt erst nach zwei Monaten zurück und trifft gleich dreifach beim VfL Bochum, so gewinnt man mit 3:2 im Ruhrstadion. Er ist nicht mehr der verwirrte junge Mann, der beim erstbesten Widerstand aufgibt. Ungerechtigkeiten spornen ihn an, Meusers Platzverweis verwandelt er in positive Energie, sechs Tore lässt er in den letzten vier Bundesliga-Partien noch folgen. Mit 19 Toren nach 29 Partien liegt er auf Platz vier der Torjägerliste hinter Gerd Müller, Jupp Heynckes und dem Wuppertaler Günter Pröpper. Im zweiten Anlauf hat er sich in der Bundesliga einen Namen gemacht, die Duisburger Zeit ist ganz weit weg.

Ein großes Spiel auf Malta

Deutschland wird 1972 Europameister, zwei Jahre später steht die Fußball-WM im eigenen Land an, mittendrin meldet Kostedde im Sommer 1973 mit seiner Trefferquote und seiner Spielintelligenz Ansprüche auf das Nationaltrikot an. „Keine Frage, einen wie Gerd Müller gab es kein zweites Mal. Aber dahinter sah ich mich schon“, blickt Kostedde zurück. Immerhin hat er mindestens 19 Argumente für Bundestrainer Schön geliefert, eine Saison Schaulaufen bleibt noch Zeit bis zur Nominierung des WM-Aufgebots. Doch das Debüt in der Nationalelf lässt auf sich warten. Während Kostedde 15 Treffer in der Saison 1973/74 erzielt und einen furiosen Saisonendspurt mit sechs Torerfolgen in den letzten acht Punktpartien hinlegt, ist die Konkurrenz schon viel weiter. Jupp Heynckes für Borussia Mönchengladbach und Gerd Müller von Meister Bayern München teilen sich die Torjägerkrone – 30 Treffer haben auch bei der Nominierung für den WM-Kader ein anderes Gewicht. Jürgen Grabowski und Jupp Kapellmann erhalten zudem den Vorzug vor Kostedde. Nein, der Offenbacher ist kein ernsthafter Kandidat für den Bundestrainer Helmut Schön, nicht einmal für einen Länderspieleinsatz, so sehnsüchtig er auch auf sein Debüt wartet. Wie sein Lehrmeister aus jungen Jahren, Felix „Fiffi“ Gerritzen, schafft es Kostedde nicht in den Zirkel der Nationalspieler bei einem WM-Turnier. Gerritzen, eine Spielerlegende beim SC Preußen Münster, kam 1951 zu vier Einsätzen in der A-Nationalelf und stand auf der Nominierungsliste für die WM 1954, ehe ihn eine Knieverletzung stoppte. Kostedde schafft den Sprung nicht, weil die Konkurrenz im Angriff dermaßen groß ist, dass seine 15 Tore in der Bundesliga nicht wirklich ins Gewicht fallen. Aber Kostedde fehlt auch der Punch, seine eigenen Interessen durchzusetzen.

„Ich hätte viel härter an mir arbeiten müssen“, blickt er zurück. Und ihm fehlen die Fürsprecher, damit er trotz der Blockbildung in der Nationalelf überhaupt mal eine Chance erhalten kann. Lobbyarbeit ist nicht sein Ding, er hat keinen Berater, der die Werbetrommel rührt. Zudem ist Offenbach für die Nationalelf nicht gerade die erste Adresse.

Sein letztes Jahr in Offenbach ist dennoch wie ein Rausch. Deutschland ist zum zweiten Mal Fußball-Weltmeister geworden, und Bayern München gastiert mit Franz Beckenbauer & Co. zum Saisonauftakt am Bieberer Berg. 19 Testspiele hat das Ensemble von der Isar in den Beinen, die Bayern machen Kasse mit den Weltmeistern, dementsprechend ausgelaugt startet das Team in die Saison. Offenbachs eingespielte Formation steht dagegen unter Strom. Die Meisterspieler aus Bayern werden vorgeführt, mit einem fürchterlichen 0:6 auf die Heimreise geschickt, fünf Weltmeister stehen auf dem Feld. Das Stadion, restlos ausverkauft mit 35.000 frenetischen Fans, kocht über, mittendrin Kostedde mit zwei Treffern. Die Kickers sind Tabellenführer nach diesem phänomenalen Erfolg über den Titelverteidiger. Allein für diesen Tag hat sich alles gelohnt, nur dieser eine Tag reicht für einen Code in der Vereins-DNA. Die fünf Basen für den Code kennt jeder OFC-Fan auswendig: E-R-W-I-N.

Kostedde ist in Offenbach längst Everybody's Darling, er lässt sich häufig in der Stadt blicken, ein Star zum Anfassen. Seine Popularität ist unglaublich, sein einst wankelmütiges Selbstbewusstsein ist nie größer gewesen, es ist eine Saison zum Verlieben. Vieles gelingt. Kurz vor Weihnachten sorgt dennoch ein Anruf für Unruhe im Hause Kostedde, als eine Frau seine Konfektionsgröße erfragen will. Monika Kostedde stutzt, weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihr Mann für das EM-Qualifikationsspiel gegen Malta in Valetta nominiert wird, Kostedde selbst weiß das auch nicht. Zwei Tage vor Weihnachten soll der Weltmeister auf dem betonharten Sandplatz einen Sieg auf dem Weg zur Europameisterschaft in der Tschechoslowakei 1976 einfahren. Es beginnt die Ära nach Gerd Müller, dem legendären Stürmer von Bayern München. Und Kostedde steht vielleicht nicht bei Bundestrainer Helmut Schön hoch im Kurs, aber bei dessen Vertreter Jupp Derwall. Der stellt für den erkrankten Coach das Malta-Aufgebot zusammen und ermöglicht dem Offenbacher das Länderspiel-Debüt. Ein erstes Präsent zwei Tage vor dem Weihnachtsfest.

„Weil die Sonne immer scheint“

Kostedde reizt in dieser Saison alles aus. Jack White hatte „Fußball ist unser Leben“ komponiert und die Fußball-Nationalelf 1974 singen lassen, der Song geht durch die Decke. Nun kommt der „Harry Belafonte vom Bieberer Berg“ auf die Showbühne. Belafonte ist ein amerikanischer Show-Superstar, der „King of Calypso“. „Mary’s Boy Child“ oder der „Banana Boat Song“ sind nur zwei seiner Hits, er steht in einer Reihe mit Frank Sinatra und ist als schwarzer Künstler politisch engagiert. Es ist dick aufgetragen, Kostedde gleich mit diesem Giganten des Showbiz in eine Reihe zu stellen. Robby Spier, Konzertmeister im Tanzorchester des Hessischen Rundfunks, glaubt aber an „Erwins samtweiches Timbre“. Kostedde macht mit, betont natürlich, dass er sein Geld weiterhin vorrangig mit den Füßen verdienen werde. Aber warum nicht die Hitparade von Dieter-Thomas Heck im ZDF stürmen, in den Charts Einzug halten?

„Die Sonne scheint irgendwo,

wenn auch der Himmel weint.

Die Rosen blühen sowieso,

weil die Sonne immer scheint.“

Der Refrain – nun ja, es ist ein Schlager. Der Plan von Spier und Kostedde sieht die Produktion von 40.000 Singles vor, A-Seite: „Die Sonne scheint irgendwo“, B-Seite: „Suchst Du Freunde, dann komm zu mir“. Spier verkündet, dass der Fußballer durchaus singen könne, Kostedde selbst geht mit einem Investment von 5000 Mark in Vorleistung. Doch es findet sich keine Plattenfirma in Deutschland, die mitmachen will, zu wenig Liebe, zu wenig Fußball in den Songs. Das sorgt für Enttäuschung beim Produzenten und auch dem Sänger. Nein, Schnulzensänger sei er nicht, auch kein Barde, der Text alles andere als hochgeistig. Und wenn keiner diese Melodien will … Kostedde beendet den Ausflug ins Seichte ganz schnell wieder. „Meine Frau hat zu mir gesagt, dass ich mich nicht lächerlich machen soll, deshalb habe ich am Ende auf die Produktion verzichtet“, sagt er. Den finanziellen Verlust verkraftet er problemlos. Der „Harry Belafonte vom Bieberer Berg“ ist nur eine Anekdote. Den Ausflug ins Showgeschäft nimmt ihm keiner wirklich übel, den Versuch war es wert.

Auch die Suche nach seinem Vater ist Teil der Offenbacher Ära. Kostedde lässt sich mit dem Boulevard ein, startet eine öffentliche Suche nach dem Mister X, die Leser dürfen zuschauen. „Ich würde ihn gerne treffen und wäre glücklich, wenn alles geklärt werden würde“, erzählt er der „International Herald Tribune“ frank und frei. In der Zeitschrift „Ebony“ wird sein Aufruf veröffentlicht. Die Resonanz ist einigermaßen, rund 20 Briefe trudeln ein, eine Reihe von amerikanischen Bittstellern heben den Finger. Sein leiblicher Vater ist nicht darunter. Doch Kostedde erhält auch Drohbriefe, beleidigende Post, Briefe mit Hakenkreuzen und übelsten rassistischen Beschimpfungen. Andere geben sich als Vater aus und hoffen auf einen gedeckten Scheck aus Deutschland. Den erhofften Erfolg bringt das alles nicht.

Immer wieder kehrt Erwin Kostedde zu diesem Thema zurück, immer wieder rekapituliert er die wenigen Gespräche mit seiner Mutter. „Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, hatte ich den meisten Mut, mit ihr darüber zu sprechen. Nur sie wollte das nicht. Vielleicht wollte sie mich schonen. Hätte sie gesagt, dass sie vergewaltigt worden ist, dann wäre ich endgültig zusammengebrochen.“ Es nicht zu wissen, ist nicht wesentlich einfacher für ihn.

Aber auch das ist in diesem Moment, als er fußballerischen Erfolg hat und die Ehe mit Monika vernünftig läuft, zu verschmerzen, obwohl Kostedde zeit seines Lebens damit ringt. Nicht selten vermutet er, dass er die „schlechten Gene seines Vaters geerbt hat“, anders kann er sich seine Eskapaden, seine Sauftouren und all das viele Schlechte nicht erklären. Immer dann, wenn es nicht weitergeht, seine Welt unterzugehen scheint, ist das seine Interpretation. Sein unbekannter Vater hat ihm alle schlechten Eigenschaften verpasst, das muss so sein, davon ist er in diesen Augenblicken überzeugt. „Ich war bereit, 10.000 Mark für die Suche nach meinem Vater auszugeben“, erzählt Kostedde dem „Stern“. Um die Aktion wenig später ergebnislos abzublasen. Aber am wenigsten berührt ihn das während seiner Zeit in Offenbach, diese vier Jahre sind ein steter sportlicher Höhenflug, die Zuschauer lieben ihn, Mitspieler Lothar Skala wird für ihn zu einem echten Freund, das Leben ist schön.