Erzähl es den Bäumen - Edie Calie - E-Book

Erzähl es den Bäumen E-Book

Edie Calie

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Beschreibung

Als ihre ehemalige Schulfreundin Kat verschwindet, wittert die Journalistin Martina Hölderlein die Chance auf Bestsellerromanstoff. Sie beginnt eine akribische Recherche, die sie unter anderem zu einer Öko-Sekte führt, wo sie lernt mit Bäumen zu reden. Zuletzt landet sie in Polen, denn angeblich lebt Kat jetzt allein im Wald. Die junge Journalistin Martina Hölderlein sucht ihre ehemalige Schulfreundin Kat. Diese fehlte beim Klassentreffen. Unterschiedlichste Gerüchte kursieren, was aus Kat geworden ist. Sitzt sie in einer psychiatrischen Anstalt fest? Hat sie ihren Mann und die Kinder sitzen lassen, um auf Kreta als Hundesitterin zu arbeiten? Als ihre Mutter felsenfest behauptet, ihre Tochter sei an einer Überdosis Marihuana verstorben, wittert die ehrgeizige Journalistin eine Story. Das ist der Stoff, aus dem Bestseller bestehen! Die Geschichte soll als Vorlage für Martinas Roman dienen, der sie aus dem langweiligen Redaktionstrott in den Olymp des Literaturbetriebs katapultiert. Hölderlein taucht in Kats Leben ein, spricht mit den wichtigsten Menschen und einem Teddybären. Jeder zeichnet sein ganz persönliches Bild der jungen Frau. Martina erfährt von zerbrochenen Freundschaften, zweifelhaften Arbeitsbedingungen, gesundheitlichen Problemen und der Sehnsucht nach Stille. Für ihre Recherche schleust sie sich in eine bizarre Öko-Glaubensgemeinschaft ein, versucht Kontakt zu Bäumen herzustellen, riskiert Beziehungsprobleme und reist in einen der letzten Urwälder Europas. Kat und damit des Rätsels Lösung erscheint ihr ständig zum Greifen nahe. Edie Calies neuer Roman handelt davon, den eigenen Lebensweg zu finden. Feministische Grundsätze treffen auf geteilte Geistesstörungen, brennende Heiligtümer auf sinnsuchende Manager und mütterliche Fehlannahmen auf einen harmlosen Goth. Vielleicht ist es am Ende doch das Beste, alles den Bäumen zu erzählen. "Ich sage ihr, dass du hier warst." – "Telefoniert ihr oft?" – "Wie denn? Im Wald hat sie kein Handy." – "Wieso Wald?" – "Da gibt's keine Steckdose zum Aufladen!" – "In ihrer Wohnung gibt's keinen Strom?" – "Im Wald! Sie lebt im Wald! Sie richtete sich ein Camp ein. Mit Verpflegung." – "Sie lebt im Wald?" – "Hab ich doch gesagt!"

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EDIE CALIE

ERZÄHL ES DEN BÄUMEN

ROMAN

MILENA

FÜR UNS

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

1

»MEDITIERE ZUM BAUM HIN. Strecke deine energetischen Fühler aus und verbinde dich mit der Kraft des Baum-Weisen.«

Hinmeditieren?Ich will mich wegmeditieren! Am besten gleich weglevitieren!

Meine überkreuzten Beine hatten aufgehört zu kribbeln und sendeten seitdem keine Lebenszeichen mehr. Wo mein Hintern den Boden berührte, fraß sich kalter Morgentau durch meine Jeans und Unterhose. Die Nässe löste Harndrang aus. Von oben wärmte die Sommersonne schon so kräftig, dass sich Schweißperlen auf meiner Kopfhaut und unter dem T-Shirt bildeten.

»Sobald deine Aufmerksamkeit wandert, bringe sie sanft wieder zurück zum Baum. Zu diesem alten Lebewesen, das dir seine Weisheiten mitteilen möchte. Er wartet seit vielen Jahren auf diese Gelegenheit. Atme tief und langsam in den Bauch. Schwinge dich auf seine Frequenz ein. Die Frequenz der Natur, die Frequenz der Heilung.«

Das Letzte, worauf der Baum wartet, ist, sich mit Trotteln wie uns zu verbinden. Falls er überhaupt etwas will, dann seine Ruhe.

Die Hippie-Frau neben mir atmete lustvoll aus. Ich öffnete einen Spaltbreit meine Augen. Hoffentlich sieht uns hier niemand! Ich fürchtete, dass mich jemand beobachten könnte, den ich von früher kannte. Seit zehn Jahren wohnte ich nicht mehr in Wien. Trotzdem traf ich noch alte Bekannte auf der Straße, wenn ich zu Besuch war.

Wir saßen zu viert um den Stamm einer knorrigen Eiche herum. Rechts von mir eine circa 60-jährige Hippie-Frau mit langen weißen Haaren. Sie trug ein pink-graues Batikkleid ohne BH darunter. Sie hatte sich gewünscht, dass wir mit einer Sharing-Runde in den Tag starten. Während ich Schwierigkeiten hatte, ihre Nippel zu ignorieren, berichtete sie uns von dem aktuellen Vollmondeinfluss auf ihre Träume. Von dem Einführungskurs erwartete sie sich lichtvolle Erkenntnisse.

Links von mir ein übermotivierter Mittvierziger-Management-Typ. Die Sorte, die sich in jedem mittelständischen Unternehmen in wichtiger Führungsposition fand, obwohl man sofort Aversionen gegen ihn hegte. Wer hievte diese Typen immer an diese Stellen? Alles an ihm wirkte aufgesetzt: seine Legofrisur, sein Lächeln und sein betont lässiges, perfekt gebügeltes Karofreizeithemd. Er erhoffte sich von dem Tag neue Skills für seine Persönlichkeitsentwicklung.

Außerhalb meines Sichtfeldes, auf der anderen Seite des Baumes, saß Otto, der Leiter des Einführungskurses. Er bestand darauf, als Hermes Xixum angesprochen zu werden, was klang wie der Name von Elon Musks Sohn. Ich stellte ihn mir im perfekten Lotussitz vor. Seine nackten Fußrücken ruhten auf der grünen Leinenhose, die schmutzigen Sohlen zeigten hoch zur Baumkrone, und seine Fersen gruben sich in seinen dicken Bauch. In meiner Vorstellung hatte er sein Leinenhemd ausgezogen. Er saß mit nacktem Oberkörper da, der speckig glänzte wie seine Glatze. Mit seinen Händen rieb er gedankenverloren seinen Bauch, als brächte es Glück. Beim Kennenlernen vor zwei Wochen war mir sofort aufgefallen, wie leichtfüßig er über die Erde tänzelte. Er richtete seine Bewegungen behände nach oben, als ob die Schwerkraft seine Leibesfülle weniger anzog. Seine ruhige Stimme passte zu seiner friedlichen Ausstrahlung. Hatte ich sie vor zwei Wochen noch als angenehm empfunden, prasselte sie nun wie Sommerregen auf das Blechdach meiner Nerven.

»Atme tief ein. Und atme tief aus.« Er atmete uns wie Darth Vader vor.

Als wüssten wir nicht, wie man atmet.

»Wenn es dir schwerfällt, eine metaphysische Verbindung aufzubauen, stelle eine physische Verbindung zum Baum-Weisen her. Bitte gedanklich um Erlaubnis und lege deine linke Hand auf die Rinde. Für uns Rechtshänder ist links die Seite, mit der wir erfühlen. Wenn du Linkshänderin bist, nimm deine rechte Hand.«

Meint er mich? Merkt er, dass zwischen der Eiche und mir Schweigen herrscht? Warum spricht er die ganze Zeit in der zweiten Person? Wir sind zu dritt! Wieder linste ich zu den anderen beiden hinüber, die still verharrten. Er sagte »Linkshänderin«! Er meint mich.

Ich fasste mit der rechten Hand auf die Wurzel vor mir. Reicht das? Oder muss es der Stamm sein? Ich schloss meine Augen und versuchte mich zu konzentrieren.

Yeah, the trees, those useless trees. Produce the air that I am breathing. The Trees, those useless trees – Wo kommen auf einmal Pulp her?

»Spüre, was der Baum dir erzählen will. Was teilt er dir mit? Eine Geschichte? Bilder? Geräusche? Gerüche? Vielleicht ein Geschmack, der dir auf der Zunge liegt? Spüre in deinen eigenen Körper hinein. Manchmal lässt dich ein Baum-Weiser teilhaben, indem seine Gefühle auf dich übergehen. Merkst du eine Veränderung?«

Yeah, the trees, those useless trees …

»Öffne dich! Energie drängt darauf zu fließen. Lass es zu! Öffne dich für alle Eindrücke und Wahrnehmungen, ohne –«

Yeah, the trees, those useless trees. Produce the air that … RUHE! Verschwinde, scheiß Ohrwurm! Yeah, the trees, those useless trees. They never said that you were leaving. Yeah the trees, those useless trees. Nicht wieder von vorne!

Die Hippie-Frau und der Management-Typ bewegten sich.

Hab ich was verpasst? Was hat Otto gesagt?

Ich tat es ihnen gleich und löste den Schneidersitz. Das Kribbeln schoss zurück in meine Beine, diesmal wesentlich stärker. Ich rappelte mich hoch und stützte mich an der Eiche ab.

»Alles gut?«, fragte der Management-Typ.

»Beine eingeschlafen«, sagte ich, »geht gleich wieder.« Ich wippte von einem Fuß auf den anderen, damit das Blut wieder normal zirkulierte.

»Vielen Dank, Hermes Xixum. Das war wunderbar«, sagte die Hippie-Frau. Sie lächelte so selig, als wäre sie von einem erholsamen Wellnessurlaub inklusive Lomi-Lomi-Massage zurückgekehrt.

»Sehr gerne. Freut mich, dass es dir gefallen hat.« Otto trat hinter dem Baum hervor, sodass er uns alle drei sah. Er trug nach wie vor sein Leinenhemd. »Bevor wir zum nächsten Punkt übergehen, interessiert mich eure Erfahrung. Wie hat es sich für euch angespürt?«

Scheiße, die nächste Sharing-Runde.

»Wer von euch möchte beginnen?« Er blickte in meine Richtung. »Marion?«

»Na ja, ich habe so was zum ersten Mal gemacht.« Lass dir was einfallen! Sag auf keinen Fall, dass du das schwachsinnig findest. »Ich habe mich bemüht, mich zu öffnen und anzunehmen, was kommt, aber … Ehrlich gesagt, da war irgendwie nichts. Es fiel mir auch schwer, mich zu konzentrieren.«

»Warum fiel es dir schwer? An was hast du gedacht?«

»Alles Mögliche. Und dann war da dieser Ohrwurm.«

»Welches Lied?«

»The Trees von Pulp?«

Ottos zog seinen ohnehin lächelnden Mund am Rand noch höher. »Dann hat es wunderbar funktioniert! Der Baum-Weise hat eine Möglichkeit gefunden, mit dir in Kontakt zu treten. Über die Sprache der Musik!«

»Na ja, aber –«

»Wann tauchte das Lied auf?«

»Wann?«

»War der Ohrwurm vor unserem Treffen schon da? Hast du kurz zuvor etwas anderes gemacht oder gedacht?«

»Hm …« Ich überlegte. »Ungefähr, als ich meine Hand auf die Wurzel legte.«

»Fantastisch! Manchen Erdenbewohnerinnen reicht die mentale Ebene, andere brauchen die physische Verbindung, müssen den Baum anfassen und spüren.«

Quatsch! Das war Zufall. »Und was will er mir damit sagen?«

»Das musst du selbst beantworten. Wovon handelt der Text?«

»Von Bäumen?« Davon, dass der Ich-Erzähler eine Elster erschießt, Sex im Wald hat, den Namen seiner Liebsten in einen Baum ritzt, die Beziehung scheitert, und er Bäume für nutzlos hält? Was wiederholt er am Ende ständig? »Am Schluss singt der Sänger mehrfach: ›Go and tell it to the trees.‹ Könnte das etwas bedeuten?«

Otto schnalzte mit der Zunge und breitete seine Arme aus, als wäre die Bedeutung offensichtlich. »Der Baum-Weise möchte mehr von dir erfahren!«

»Definitiv«, pflichtete die Hippie-Frau bei.

Na ja, er singt es zynisch. Als wollte er nicht hören, was jemand ihm zu sagen hat. Als forderte er die Person auf, es den Bäumen zu erzählen, die es mehr interessierte als ihn.

»Kehre unbedingt zu einem späteren Zeitpunkt hierher zurück und nimm erneut Kontakt zu dem Baum-Weisen auf. Erzähle ihm von dir«, sagte Otto. »Schau dir den Text noch mal in Ruhe an, vielleicht entdeckst du weitere Nachrichten.«

»Ich würde dir empfehlen, in nächster Zeit besonders auf deine Träume zu achten«, sagte die Hippie-Frau. »Notiere sie direkt nach dem Aufwachen, ohne viel darüber nachzudenken. Oft kommen in Träumen unbewusste Dinge ans Licht. Vielleicht welche, die dir der Baum auf einer subtilen Ebene mitgeteilt hat und die der Zensor deines Bewusstseins ausblendet.«

»Ja, genau. Danke, eine sehr gute Anmerkung. Möchtest du gleich als Nächste berichten, wenn Marion mit ihrer Schilderung fertig ist?«

Ich nickte der Hippie-Frau zu und reichte so das Wort an sie weiter.

»Für mich war es eine sehr warme, richtig emotionale Begegnung. Ich habe zwar Erfahrung mit Meditation, geführt und ungeführt, und auch mit Naturmeditationen, aber dieser Baum oder Baum-Weise … Das war eine ganz andere Form von Verbindung, die ich da gespürt habe. Keine einseitige, wie sonst bei Meditation, sondern es kam deutlich was zurück. Vielen Dank, dass du uns diese Methode zeigst, ich werde zukünftig weiter damit experimentieren.«

»Sehr gerne! Und wie war es für –«, richtete sich Otto an den Management-Typen, aber die Frau sprach weiter.

»… Wie konkret diese Kontaktaufnahme aussah, lässt sich schwer beschreiben. Es ging viel über das Herz-Chakra.« Sie legte beide Hände zwischen ihre Brüste. »Als ob sich ein unsichtbares Band zwischen uns knüpfte, über das die Emotionen flossen.«

Yeah, the trees, those useless trees. Produce the air that I am breathing.

»Wie Wellen schwappten sie über mich. Erst ein Vibrieren aus Wärme und Leben. Dann wurde es stiller und friedvoll. Ich fühlte, wie viel Weisheit damit verbunden ist, sein Leben so lange am selben Ort zu verbringen. Kurz hörte ich auch Kinderlachen …«

Haben uns Leute beobachtet? Die denken, wir sind bescheuert!

»… und gesehen, wie die Jahreszeiten kommen und gehen. Wie er wächst und blüht im Frühling. Was und wem er lauscht und …« Sie atmete seufzend aus. »… Einfach wunderschön. Mehr kann ich dazu gar nicht sagen.« Sie lächelte und rieb sich die Augen. »Vielen Dank noch mal.«

»Sehr gerne.« Otto drückte sie einarmig an seine rechte Schulter, wie Kandidaten einer Gameshow, die gemeinsam eine Challenge bewältigt hatten.

Ist ja gut. Wir haben ja nicht Marina Abramovic getroffen. Wir saßen eine halbe Stunde neben einem Baum.

»Alle guten Dinge sind drei. Möchtest du uns auch teilhaben lassen? Wie war es für dich?«, fragte Otto den Management-Typen.

»Durst. Das war ganz präsent für mich. Ich fühlte mich ausgetrocknet. Zuerst schob ich das beiseite, aber dann sagtest du, dass sich die Gefühle des Baumes in uns widerspiegeln können und dann hörte ich genauer hin und merkte, dass sich meine Haut wie Rinde anfühlte. Dann verstand ich, was er mir sagen will.«

»Mhm. Würdest du sagen, dass du das Gefühl jetzt auch spürst?«

»Schon. Schwächer, aber –«

Der hat einfach Durst. Trink Wasser!

»Ein Hinweis darauf, dass die Verbindung zwischen euch nach wie vor besteht. Generell hält die Verbindung oder das Band, wie du es nanntest«, Otto sah zur Hippie-Frau, »mitunter mehrere Stunden oder sogar länger. Bei starken Baum-Weisen und wenn man häufiger übt, besteht die Verbindung sogar über weite Strecken. Ihr habt gemerkt, dass der Baum-Weise viel Energie absondert, aber das ist kein Vergleich zu heftigen Kraftbäumen. Bei Xixum zum Beispiel. Obwohl sie in England steht und ich sie nur einmal im Jahr besuche, spüre ich immer diese Verbindung. Sie schenkt mir das ganze Jahr über Kraft und versorgt mich mit Baum-Energie. Das merke ich in Alltagssituationen. Wie auf einmal über den Boden neue … wie ein Vibrieren, das du vorhin auch beschrieben hast. Danach fühle ich mich erfrischt und euphorisch. Als hätte ich starken Kaffee getrunken oder ein Cola, obwohl ich davon die Finger lasse. Aber ich spüre dann –«

»Toll!«, sagte die Hippie-Frau.

»Ja, wirklich was Besonderes. Vielleicht kommt ihr auch mal in den Genuss. Wer weiß.« Er zwinkerte gewollt geheimnisvoll.

Bitte nicht!

»Der Kraftbaum ist ein Aspekt von dreien, den wir heute behandeln. Als Nächstes widmen wir uns einem anderen Baum. Oder einer Pflanze, Gräsern, Gebüsch. Das liegt ganz an euch und hängt von euren Vorlieben ab. Wir befassen uns nämlich mit der Lustpflanze.«

Scheiße, was? Hat der gerade »Lust« gesagt?

Otto neigte seinen Kopf nach unten und drehte ihn leicht zur Seite. »Es geht um eure Lust. Eure lustvolle Beziehung zur Natur. Das Spüren, was einem Lust an der Natur oder mit der Natur bereitet, wie wir –«

Spinnt der? Das geht zu weit. Lust an der Natur? Meine Kleidung bleibt an. Mich fasst auch niemand an, sonst schrei ich! Das hat er vorher nicht gesagt! Ich hätte mich nie bereit erklärt mitzumachen, wenn ich gewusst hätte, dass –

»Niemand tut euch etwas. Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich zwinge euch zu nichts und verlange auch nichts, was ihr nicht wollt. Lasst euch einfach darauf ein. Es tut gar nicht weh. Versprochen. Keine Angst, Marion.«

Ich? Ich hab keine Angst! Sehe ich aus, als hätte ich –? Scheiße, ich hab Angst!

»Der zweite Teil ist so leicht wie der erste, und den hast du so toll gemeistert.« Er klopfte mir aufmunternd auf den Rücken. Unwillkürlich streckte ich meinen Hals in die Länge und meine Brust ein Stückchen vor. »Am besten, wir gehen den Hügel hinauf und etwas weg vom Baum-Weisen.«

»Können wir vorher was trinken?«, fragte der Management-Typ.

»Klar. Da vorne ist ein Hydrant, da kannst du Wasser trinken. Holen wir auch Wasser für den Baum-Weisen und gießen ihn. Das wird ihm schmecken. Dann befassen wir uns ausgiebig mit unserer Lust.«

*

Die Personalchefin und ich saßen auf der Dachterrasse des Hotels zur Himmelpforte. Unten in den Einkaufsstraßen des ersten Bezirks tobte der Innenstadttrubel. Hier oben rauschte der Straßenlärm im Hintergrund, als wären es tosende Meereswellen. Allerdings schrien keine Möwen, sondern verärgerte Fußgänger. Auf der Fläche einer Zweizimmerwohnung wechselten sich Gartenstühle, Liegen, Bänke, Tische, Sonnenschirme, eine Bar und große Kübel mit kleinen Bäumchen ab. Die Möbel wirkten absichtlich zusammengewürfelt, für unabsichtlich harmonierten die Farben zu gut miteinander. Am Geländer reihten sich Töpfe mit Kräutern und abgeernteten Tomaten, die die hauseigene Küche verkochte. Auf der Brüstung hingen Blumenkästen mit bunten Balkonpflanzen. Die Aussicht über die Dächer bis hin zu den Türmen des Stephansdoms eignete sich als perfektes Postkartenmotiv. Zu Recht warb das Vier-Sterne-Hotel mit diesem Sujet für sich. Umso verwunderlicher, dass sich an diesem sonnigen Vormittag keine Touristen zu uns gesellten. Hatten sie Wien Ende September bereits den Rücken gekehrt?

»Wir verfügen über neunzig Zimmer, davon zehn Suiten mit einer Größe von 60 bis 70 m2 und einer Präsidentensuite von 120 m2. Preislich beginnt die Nacht bei … Interessiert Sie das überhaupt?«, fragte die Personalchefin.

»Natürlich«, sagte ich. Nein.

»Sie müssen sagen, was Sie für Ihren Artikel brauchen. Sonst gibt unsere Marketingverantwortliche die Interviews. Die ist geübter darin.«

»Sie machen das toll! Ehrlich gesagt bin ich gar nicht beruflich hier. Ich möchte privat mit Ihnen sprechen.«

»Und der Artikel?«

»Ein Vorwand, um einen Termin bei Ihnen zu bekommen.«

»Kein Artikel?«

»Eher nicht.«

»Warum dann die Aufnahme?« Sie deutete auf mein Handy.

»Berufskrankheit, schätze ich. Damit ich mir das Gespräch später erneut anhören kann und keine wichtigen Details vergesse.«

»Aha, und was ist so wichtig?« Die Personalchefin rückte mit dem Stuhl zurück und verschränkte ihre Arme.

»Alles. Ich finde alles wichtig, was man mir erzählt.« Ich lachte unsicher. Sie verschließt sich mir. Wie hol ich sie wieder mit ins Boot? »Mich interessiert, wie die Arbeit in einem Hotel abläuft. Ich kenne Hotels nur als Gast und die, in denen ich absteige, sind kein Vergleich zu diesem Paradies.« Und um einiges billiger. »Man merkt gleich, wie viel Herzblut und Persönlichkeit hier drinsteckt.«

»Unser Ziel ist, eine Wohlfühloase für alle zu kreieren.«

Die es sich leisten können. »Das gelingt Ihnen total! Ich stelle es mir spannend vor, Einblick hinter die Kulissen zu bekommen. Katharina verglich das Arbeiten im Hotel damit, einen Backstage-Pass zu einem schicken Theater zu besitzen. Sie erinnern sich an Katharina, oder? Sie arbeitete hier, bis vor ein, eineinhalb Jahren.

»Katharina, sicher! Sind Sie mit ihr verwandt?«

Lüg! »Das nicht, aber wir waren sehr eng. Unzertrennlich eine Zeit lang. Schwestern im Geiste.«

»Ein vorbildliche Mitarbeiterin!« Die Personalchefin löste ihre Arme. »So wen wünscht man sich im Team: immer pünktlich, immer fleißig, motiviert, immer ein Lächeln auf den Lippen, immer. Sie kam aus einer anderen Generation. Heute will niemand mehr hart arbeiten und anpacken. Alle wollen im Büro vorm Computer sitzen. Ins Facebook schauen während der Arbeitszeit. Katharina sah die Arbeit! Wenn was auf dem Boden lag, bückte sie sich und hob es auf, auch wenn es nicht ihr Zuständigkeitsbereich war. Sie stieg nie über Arbeit hinweg, wie andere. Und sie beschwerte sich nie. Bis zum Schluss!«

Kat?Ich hätte sie anders eingeschätzt. Aber die meisten handeln beruflich anders als privat. »Ach so?« Wie formuliere ich das neutral? »Privat eckte sie schon manchmal an. Gab es nie Probleme? Zum Beispiel mit unfreundlichen Gästen?«

»Nein! Nie! Alle liebten sie! Das Team, die Gäste. Sie kannte die Sonderwünsche aller Stammgäste. Wer wie seinen Kaffee trinkt, wer welches Frühstücksei bevorzugt, alles. Unsere gute Hotelfee. Wir trauerten richtig, als sie in Pension ging. Aber sie hat es sich verdient.«

»In Pension? Katharina? Neugebauer?«

»Wieso Neugebauer? Moravitz!«

»Dann meinen wir verschiedene Katharinas. Ich meine Katharina Neugebauer.«

»Ah so, die.« Sie zog das »die« in die Länge, als ob an jedem weiteren i eine verdrängte Erinnerung hing, die sie so hervorzerrte. »Möchten Sie jetzt etwas trinken?« Sie erhob sich von ihrem Stuhl, knetete ihre Hände und ging rüber zur Selbstbedienungstheke.

Warum macht Kats Name sie nervös? Sie tauchte hinter der Bar ab und klirrte mit Flaschen und Gläsern. Was, wenn sie nicht darüber reden will? Ich hätte mich als Kats Schwester ausgeben sollen. Kat hat keine Schwester! Vielleicht weiß sie das?

Die Personalchefin kehrte mit einem vollen Tablett zurück und stellte es auf dem Tisch ab. Ihr selbst fehlten etwa zwanzig Jahre bis zur Pension. Ihr Gesicht zierten tiefe Lachfalten und dezentes Business-Make-up. Sie trug ihre braun gefärbten Locken aufwendig am Hinterkopf hochgesteckt, wodurch sie besonders kompetent wirkte. Eine Frau, die morgens so eine Frisur meisterte, schaffte alles.

»Trinken wir ein Gläschen? Der Sekt ist vom gestrigen Meeting übrig. Und es gehört zum Panorama-Erlebnis dazu!« Sie füllte zwei Sektgläser.

»Gerne!« Wenn ich dadurch mehr erfahre.

»Wer weiß, wie lange man noch draußen sitzen kann. Das muss man genießen. Abends wird’s so kalt und schon so früh wieder dunkel.«

»Stimmt! Danke schön. Na dann, auf einen milden Herbst.« Wir stießen an. Hab Geduld, bis sie von sich aus auf Kat zu sprechen kommt.

Sie trank, setzte ab und trank erneut. Dann stellte sie das Glas ab. »Wie geht es Katinka? Wir nannten sie Katinka, da wir schon eine Katharina im Team hatten. Eine Zeit lang sogar eine Kathi.«

»Ich weiß es nicht so genau. Es ist schwierig.«

»Ja, schwierig.« Sie fixierte einen Punkt in der Ferne. Sie ließ den gegenwärtigen Moment hinter sich und tauchte in eine mir unzugängliche Welt ein. Ermutige sie zu reden! Nein, warte ab. Sie zwinkerte, schüttelte den Kopf und ergriff erneut ihr Sektglas.

»Ehrlich gesagt, sorge ich mich um Katharina. Katinka!«, sagte ich.

»Mhm, das verstehe ich. In den letzten Jahren gelang es uns, ein besonderes Mitarbeiterteam aufzubauen. Wir unternehmen auch abseits der Arbeit Dinge miteinander und pflegen ein sehr gutes Verhältnis zueinander. So was existiert selten in der Hotellerie. Die Fluktuation in der Branche … Bei uns bleiben die Mitarbeiter relativ lange. Wir wählen sehr bedacht aus, wer ins Team passt. Wer die Probezeit übersteht, bleibt in der Regel einige Jahre. Wir kündigen fast nie jemanden. Katinka ließ uns leider keine andere Wahl.«

»Sie kündigten ihr?«

»Es ging nicht anders und tat sehr weh.«

»Niemand entlässt gerne Mitarbeiter.«

»Eben! Wir Kollegen begegnen uns auf Augenhöhe. Wir halten die Hierarchien möglichst flach und nehmen Rücksicht aufeinander. Wenn mal jemand Probleme zu Hause hat oder … Wir sind alle Menschen, keine Roboter.« Sie leerte ihr Sektglas. »Das bleibt bitte unter uns, was wir bereden. Eigentlich geben wir keine Auskunft über Ex-Mitarbeiter.«

»Natürlich. Wie gesagt, ich bin rein privat hier.«

»Und Sie schreiben keinen Artikel.«

»Nein! Und wenn, würde ich alles anonymisieren. Sie. Das Hotel. Alles, was auf Sie hinweist.« Sie vergisst, dass die Aufnahme nach wie vor läuft. Ich füllte unsere Gläser nach. Meins nur alibihalber, da ich kaum etwas getrunken hatte. »In welcher Abteilung arbeitete Katinka?« »Katharina« klingt schon fremd, aber »Katinka«? Als wäre sie eine polnische Putzfrau.

»Am Schluss immer Nachtdienst. Wir kamen ihr damit sehr entgegen. Aber das wurde auch untragbar. Sie fing im Service an der Bar an. Ganz früher. Dann kurz Rezeption. Am längsten arbeitete sie als Springerin. Unsere einzige Springerin. Wir nannten sie unseren Joker. Weshalb wir so lange wie möglich versuchten, sie zu halten. Sie kannte sich in allen Abteilungen aus. Bar, Frühstücksservice, Nachtdienst, Rezeption, notfalls auch Concierge für VIP-Kunden. Alle Bereiche mit Gästekontakt. Wir setzten sie dort ein, wo sie am dringendsten gebraucht wurde. Das strengt an und erfordert maximale Flexibilität, weil die Planbarkeit nur wenige Tage beträgt. Wer weiß, wann wo jemand ausfällt? Sie mochte die Abwechslung. Mal Frühdienst, mal spät, mal Nacht, häufig Wochenende. Das funktioniert nur ohne Familie oder sonstige Verpflichtungen.«

»Wie ging sie mit den Gästen um?« In der Schule hielt sie mit ihrer Meinung nie hinterm Berg und geigte jedem die Meinung, der sie nervte. Wie passt das zu dem Job? Ich versuchte mir Kat mit reichen Schnöseln vorzustellen, aber meine Vorstellungsleinwand blieb weiß.

»Sehr freundlich. Meistens. Später häuften sich Beschwerden. Man muss dazusagen, obwohl wir uns im ersten Bezirk befinden und das Haus vier Sterne hat, sind wir kein Grand Hotel. Wir legen viel Wert auf eine wohnliche, heimelige Atmosphäre. Sie finden hier keinen Prunk, keine Goldverzierungen oder Kristallkronleuchter wie zwei Straßen weiter am Ring. Wir servieren auch keinen Kaviar zum Frühstück. Dafür hängt überall moderne Kunst, und bekannte Designer statten die Zimmer aus. Eine andere Art von Luxus. Unsere Gäste erwarten keine unterwürfigen Mitarbeiter, die kuschen und ihnen den Po abwischen. Wir setzen Freundlichkeit voraus, logisch. Sonst ist vor allem wichtig, dass unsere Mitarbeiter Persönlichkeit haben, sich im Kunstund Kulturbereich auskennen und Tipps geben können, welche Ausstellungen und Konzerte aktuell stattfinden und sehenswert sind. Darin brillierte Katinka! Manchmal schoss sie mit ihrer Ehrlichkeit übers Ziel hinaus, aber das machte sie mit Charme und Humor wieder wett. Die Gäste mochten sie. Solange es ihr gut ging.«

»Wie lange war das ungefähr?«

»Dass es ihr gut ging?«

»Insgesamt. Wie lange arbeitete sie hier und wann fingen die Probleme an, die zur Kündigung führten?«

»Müsste ich nachschauen. Erst studierte sie und arbeitete Teilzeit bei uns. Nach der Uni begann sie als Springerin. Etwa drei, vier Jahre. Schwer zu sagen. Im letzten Jahr fehlte sie häufig, erkrankte ständig. Bis zu einem gewissen Punkt verstehen wir das. Gastronomie und Hotellerie sind hart. Viele hier stehen kurz vorm Burnout. Wir erledigen die Arbeit von zwei Stunden in einer Stunde. Oft bleibt keine Zeit, um auf die Toilette zu gehen. Wir führten mehrere informelle Gespräche mit ihr. Fragten sie mehrfach, wie wir helfen können. Schließlich gab es zwei ernste Mitarbeitergespräche. Wieder stand das Hilfsangebot im Vordergrund. Wir verwarnen niemanden. Wir sehen die Mitarbeiter nicht als Human Resources, sondern als Human Potential. Deswegen gibt es auch keinen Human Resources Manager im Haus, sondern einen Human Potential Manager.«

Managerin! »Sie!«

»Ja. Wir versuchten gemeinsam Lösungskonzepte zu erarbeiten. Im ersten Schritt reduzierten wir ihre Arbeitszeit auf zwanzig Stunden die Woche, und im zweiten teilten wir sie nur noch für Nachtdienste ein. So kam sie weniger mit Gästen in Kontakt und hatte mehr Ruhe. Andere Hotels hätten sie wesentlich früher entlassen, aber manchmal erholen sich Mitarbeiter und kehren gestärkt zurück. Darauf setzten wir.«

Sie kommt in Plauderstimmung.

Ich nippte an meinem Sektglas. Tagsüber stieg mir Alkohol besonders schnell zu Kopf, und ich brauchte ihn zum Mitdenken. Die Personalchefin ahmte mein Verhalten nach und trank ebenfalls. »Also litt Katinka an Burnout? Wie zeigte sich das in der Arbeit? Was änderte sich konkret?«

»Tja«, sie schmunzelte verlegen. »Sie veränderte sich grundlegend! Ob Burnout oder nicht, wusste sie selbst nicht. Es gab keine Diagnose. Sie erkrankte. Erst ihr Körper, dann ihr Geist. Wollen Sie wissen, was ganz zum Schluss das größte Problem war?« Sie erhob sich, kippte kurz zur Seite, fing sich aber sofort. »Das hier! Das war das Problem!« Sie hüpfte hoch, sodass die Holzbretter knarrten. »Die Dielen betrat sie nicht mehr! Und hier, die waren das Problem!« Sie ging zum nächstgelegenen Kübel und streichelte über den Zweig eines Bäumchens. »Die Bäume! Der, der da drüben, der und der dahinten. Die bereiteten ihr am meisten Probleme. Sie saß weinend unten an der Rezeption und weigerte sich, Gäste hier hoch zu begleiten. Ist das zu fassen? Sie tat, als wäre ihr etwas Schreckliches zugestoßen. Es kursierten die wildesten Gerüchte. Hatte sie jemand unsittlich berührt? War ihr jemand im Nachtdienst zu nahe getreten? Nein, nichts! Wir erfuhren nie etwas Konkretes. Angeblich ging es nur um die Bäume. Bäume! Die so viel Krach machten, dass es ihr schmerzte. Stellen Sie sich das vor, Bäume erzeugten ihre Probleme!«

*

Ich hockte auf dem Boden und strich einen Grashalm über meinen Unterarm.

Was soll das bringen? Es kitzelt unangenehm, und ich kriege Gänsehaut. So ein Scheiß! Ich hau einfach ab! Ich hätte vorhin schon verschwinden sollen. Ich hätte überhaupt nicht kommen sollen. Wer weiß, was Otto später einfällt. So fängt es an. Man verschiebt die persönliche Grenze des Akzeptablen ein kleines Stück. Dann noch eines. Und noch eines. Und ehe ich mich versehe, betatscht jemand meinen Oberschenkel oder greift mir auf die Brust.

Die Hippie-Frau lag ein Stück von mir entfernt auf der Wiese. Die Sonne hatte den morgendlichen Reif von den Halmen getrocknet und grillte ihre ungeschützte Haut. Ihr Gesicht rötete sich deutlich. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen und das Kleid über die Knie nach oben gerafft, sodass ihre Krampfadernbeine das Gras platt drückten. Mit ihren Armen ruderte sie seitlich, als formte sie einen Schneeengel. In regelmäßigen Abständen stöhnte sie tief aus dem Bauch heraus.

Wenn die so weitermacht, kommt sie bald zum Orgasmus. Wehe, es gibt im Anschluss eine Sharing-Runde. Was sie gerade denkt, behält sie lieber für sich.

Der Management-Typ beschäftigte sich in der Zwischenzeit mit einer Brennnessel. Er kniete vor der Pflanze und betrachtete sie wie hypnotisiert. Mit seiner rechten Hand strich er zwischen Daumen und Zeigefinger am Stängel entlang nach oben.

Aua! Tut das nicht weh? Das brennt sicher höllisch! Vielleicht steht er drauf. Typisch, einer von diesen devoten SM-Typen. In der Arbeit spielt er den Macker, und im Schlafzimmer winselt er darum, ausgepeitscht zu werden. Dieser Typ erfüllt alle Klischees.

Unwillkürlich kratzte ich meine Hand. Mich juckt’s schon vom Zuschauen.

»Alles okay bei dir?«, fragte mich Otto. »Du wirkst etwas abwesend.«

»Ähm, alles bestens. Die Situation ist nur …« Furchtbar! »… etwas ungewohnt.«

Er setzte sich zu mir. Pass auf, es ist so weit. Er setzt zum Angriff an. Ich hielt die Luft an und wich mit dem Oberkörper zurück.

»Oh, Verzeihung.« Er vergrößerte den Abstand zwischen uns. »Besser? Soll ich noch weiter wegrücken? Ich will dir nicht zu nahe kommen!« Er rutschte ein weiteres Stück zurück. Ich atmete wieder.

»Schon okay.«

»Du brauchst ehrlich keine Angst haben. Niemand wird dich berühren! Ich verstehe, dass es dich Überwindung kostet. Mir ging es früher genauso. Ich brauchte auch Zeit und setzte mich nur langsam mit meiner Lust auseinander. Oft hemmen uns Erinnerungen, Traumata …«

Meiner Lust geht’s bestens. Sie hängt nur nicht mit Pflanzen und Natur zusammen. Ich stehe auf Männer.

»… besonders neben Fremden.«

Ich würde mich vor Freunden mehr schämen.

»Einigen Erdenbewohnerinnen erzähle ich vom Konzept der Lustpflanze, und sie stürmen zum nächsten Baum und reiben sich lustvoll daran wie ein Bär, der sich eine Rückenmassage gönnt. Andere reagieren reservierter, tasten sich vorsichtig ran. Beide Zugänge sind vollkommen in Ordnung. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Finde deinen Zugang zur Natur, zu Terra, der dir Freude bringt. Nenne es ›Genuss‹, wenn das Wort ›Lust‹ unangenehme Assoziationen auslöst.«

Tut es nicht! Hör auf, mich wie ein Opfer sexueller Gewalt zu behandeln. Nur weil ich mir bescheuert vorkomme, rumzustöhnen wie ein brunftiges Wildschwein.

»Spüre hin, was sich jetzt für dich gut anfühlt. Wie vorhin mit dem Baum-Weisen. Frage dich, ob du es gerade schön findest. Wenn dir was nicht schmeckt, lass es sofort. Quäl dich nicht, indem du deinen Arm mit Gras einreibst. Finde was, das dir gefällt. Vielleicht fährst du nur mit den Fingerspitzen über ein Blatt. Oder du spürst im Schatten, wie ein leichter Windhauch über deine Haut bläst und genießt das mit geschlossenen Augen. Oder du riechst an einem Baumstamm, wenn dir der Duft schmeckt. Finde einen leichten, spielerischen Zugang. Wusstest du, dass Otter Steine als Werkzeug benutzen? Ihren Lieblingsstein bewahren sie in einer Hautfalte auf.«

»Wie süß!«

»Sie halten auch Händchen beim Schlafen, damit sie einander nicht verlieren und wegtreiben. Wenn ich einen schlechten Tag habe, schaue ich mir Videos von Ottern an.«

Ich grinste.

»Das hier ist keine Elefantenbeerdigung. Wir dürfen lachen und Spaß haben. Ich gebe euch heute nur Impulse, sieh es spielerisch. Probiere herum mit dem, was Terra dir bietet. Egal mit was. Tob dich aus, sei kreativ. Schalte deinen Intellekt und das Denken aus. Mach einfach! Behalte bei, was dir Freude bereitet, und lass sein, was sich unangenehm anfühlt. Wir Erwachsene vergessen das Spielen. Uns einer Sache vollkommen zu widmen, weil es Spaß macht. Ohne Wettbewerb oder Kosten-Nutzen-Rechnung. Lust macht auch Spaß. Damit meine ich nicht unbedingt sexuelle Lust.«

»Aber auch.«

»Das ist ein Aspekt, aber kein Muss. Zwang und Lust schließen einander aus. Es sei denn, jemand steht drauf, gezwungen zu werden, und selbst dann ist es die freie Entscheidung und kein richtiger Zwang.«

Unwillkürlich sahen wir beide zum Management-Typen rüber, der sich mit einer abgerissenen Brennnessel auf den Unterarm schlug. Er verzog das Gesicht wie ein solospielender Gitarrist, in einer Mischung aus Schmerz und Freude.

»Alles klar«, sagte ich.

»Gut. Wenn du Fragen hast, jederzeit. Die Übung dauert weitere dreißig Minuten. Geh gerne woanders hin, außerhalb unserer Sichtweite, wenn dir das mehr schmeckt.«

Ja, mach das! Steh auf, geh weg! »Okay.«

Otto erhob sich und tänzelte davon. Ich blieb auf meinem Platz. Ich drehte mich ein Stück zur Seite und genoss die Aussicht auf die wellige Wald- und Wiesenlandschaft des Wiener Schwarzenbergparks. In der Ferne tollten ein paar Hunde ohne Leine.

Hoffentlich bleiben die so weit weg. Was soll ich mich fragen? Ob ich es schön finde. Ja, schon. Potsdam ist flacher. Wobei Sanssouci und der Park Babelsberg auch schön sind. Fühlt es sich gut und lustvoll an? Na ja, es geht. Es sieht mehr aus, als dass es sich anfühlt. Ich schloss die Augen. Fühlt es sich jetzt gut an? Macht das Spaß? Nein! Ich fühlte mich hochsommerlich verklebt. Ein Schweißfilm bedeckte meine Haut und saugte das T-Shirt an. Meine Haare heizten meinen Nacken auf. Ich hätte sie zusammenbinden sollen. Ich sehnte mich nach einer Dusche oder einem See. Wasser! Das Schönste wäre jetzt kühles Wasser! Da würde sogar ich aufstöhnen. Einfach in die Donau springen oder im Krapfenwaldlbad abhängen. Stattdessen verschwende ich hier mein Wochenende. Und dafür bin ich extra angereist. Tja, jetzt ist es zu spät. Ich zieh das durch, sonst war’s das mit meiner Story. Ich könnte zurück zum Hydranten gehen, Wasser trinken und es über meine Handgelenke laufen lassen. Herrlich! Ich müsste nur die paar Minuten den Hügel hinuntergehen. Otto meinte, ich kann ruhig weggehen. Ich wäre pünktlich wieder zurück.

Ich verharrte wie ein stures Kind auf den Supermarktfliesen. Wäre ich losgegangen, hätte ich meine Beine nicht mehr bremsen können und wäre schnurstracks ins nächste Freibad marschiert. Ich blieb so lange auf der Stelle sitzen, bis die Zeit rum war und Otto das Wort ergriff.

»So, komm langsam wieder ins Hier und Jetzt zurück. Öffne deine Augen, falls du sie geschlossen hast, und verbinde dich mit deiner Umgebung und mit den anderen.«

Ich wich den Blicken der Hippie-Frau und des Management-Typen aus. Ich hatte in der letzten Stunde mehr als genug gesehen.

»Ich frage euch nicht vor der Gruppe, wie es für euch war. Habt ihr stattdessen Fragen an mich?«

»Ja«, sagte der Management-Typ. Rote Pusteln übersäten seine Unterarme. »Ich gehe davon aus, dass du diese Art des Lustgewinns persönlich praktizierst. Wo ziehst du die Grenze?«

»Die Grenze ist das, wo das Angenehme zum Unangenehmen wird. Ich betrachte Terra als meine Liebhaberin. Sie lehrt mich Liebe und Lust. Ich lebe ökosexuell in der Tradition von Annie Sprinkle und Elizabeth Stephens.«

Anni wer?Kringel? Wer ist das? Und was bedeutet »ökosexuell«? Hängt das mit pansexuell zusammen? Wie Miley Cyrus? Mit solchen Kuriositäten beschäftigen sich doch eher 20-Jährige. Dafür ist er viel zu alt. Merk dir das und recherchiere später dazu.

»Wir überlassen das jeder und jedem selbst. Alle Orientierungen, Ausprägungen, Geschlechtsidentitäten und Beziehungskonstruktionen sind willkommen. Vorausgesetzt, alles geschieht mit Einverständnis. Wir fragen aber nicht explizit danach. Manchen schmeckt es mehr, das für sich zu behalten. Konsens ist die Grenze. Ja, das würde ich so unterschreiben. Im Leben und in der Liebe mit der Natur. Ich hole immer die Zustimmung von Terra und den Pflanzen ein, mit denen ich mich vergnüge. Schließlich sehe ich sie als ebenbürtige Partnerin an.«

Er fragt Pflanzen, ob es okay ist, wenn er mit ihnen Sex hat? Wie soll das gehen? Seit wann reden die? Und was, wenn die verneinen? Verklagen die ihn dann wegen Missbrauchs? Sucht er sich dann eine andere Pflanze, mit der er es treibt?

»Manchmal gehe ich auch menschliche Partnerschaften ein, aber meine Beziehung zu Terra überdauert sie in der Regel und ist meine Hauptbeziehung. Zu ihr fühle ich mich körperlich und geistig hingezogen. Ich liebe sie und will sie schützen. Deswegen lebe ich vegan, engagiere mich für den Umweltschutz und achte darauf, meinen ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten. Statt Terra auszubeuten, bete ich sie an und versuche das Übel der menschlichen Erdenbewohnerinnen von ihr fernzuhalten. Beantwortet das deine Fragen? Vielleicht schon mehr, als du wissen wolltest.«

Definitiv!

Die anderen zwei lachten. Ich schloss mich aus Höflichkeit an.

»Wenn es keine weiteren Fragen gibt, schlage ich vor, dass wir uns dem Klagebaum widmen. Unsere dritte Übung. Die hilft euch besonders für die Aufnahme. Jetzt könnt ihr alles rauslassen, was ihr in den letzten Stunden zurückgehalten habt und euch ausgiebig über mich beschweren.«

*

Die Personalchefin ließ den Zweig des Bäumchens los und ging wieder rüber zur Selbstbedienungstheke. Sie tauchte mit dem Kopf dahinter ab. Ich hörte das Klicken einer Kühlschranktür und erneutes Flaschenklirren. Ich nutzte den unbeobachteten Moment und leerte mein halb volles Glas unterm Tisch in eine Lücke zwischen den Holzbrettern.

Je mehr sie trinkt, desto besser für mich. Die Sonne verschwand hinter einem höheren Haus, das die Terrasse in Schatten tauchte. Ich fröstelte. Die Personalchefin kehrte mit einer neuen Sektflasche zurück.

»Könnten Sie in der Zwischenzeit …?«, fragte sie mich.

»Natürlich!« Ich löste den Plastikfaden und trennte die Alufolie vom Flaschenhals. Sie ging rüber zur Terrassentür und schloss sie von außen. Dann kehrte sie zu unserem Tisch zurück.

»Damit es nicht kalt reinzieht, und wir hören, wenn Biester rauskommen. Nicht, dass die plötzlich hinter uns stehen, während wir offen miteinander reden«, sagte sie.

»Biester?«, fragte ich. Gibt es hier eine Hotel-Katze? Oder Hund? Ist so was erlaubt?

»Gäste! Biester sagen wir intern. Viele Gäste benehmen sich wirklich wie Tiere. Unglaublich, was wir erleben. Schreiben Sie das aber nicht in Ihren Artikel.«

Ich schreibe keinen Artikel. Wie oft denn noch? Mit einem Plopp öffnete ich die Sektflasche und schenkte uns nach.

»Sonst bekommen wir so einen Shitstorm. Unsere Geschäftsführerin explodiert, wenn sie schlechte Kritiken liest. Vor allem, wenn jemand von uns Mitarbeitern Schuld hat.«

»Was war denn das Krasseste, das Sie je erlebt haben?«

»Wie viel Zeit haben Sie? Darüber können Sie ein ganzes Buch schreiben. Zwanzig Bände. Einen für jedes Jahr Hotellerie.« Sie ergriff ihr Glas und stieß erneut mit mir an.

Ist sie eigentlich im Dienst? Arbeitet sie danach angetrunken weiter?

»Wir erleben hier alles. Vergessenes Sexspielzeug, Affären, Prostituierte, Streitereien, Trennungen an der Hotelbar. Vor Kurzem schrie ein Mann an der Bar: ›Ich kann auch nichts dafür, dass ich sexsüchtig bin und immer fremdgehe!‹ Einmal behauptete eine Frau aufgelöst, dass sie vergewaltigt wurde. Sie brach an der Rezeption zusammen. Sie war total verwirrt und wusste nicht genau, was passiert war. Sie änderte ständig ihren Bericht. Mal drang jemand in ihr Zimmer ein, mal geschah es beim Fortgehen in einem Lokal. Wir riefen die Polizei, damit der Fall aufgeklärt wird und die Dame Anzeige erstattet. Die Polizei fand dann in ihrem Zimmer einen Haufen Drogen auf dem Nachttisch. Der ganze Tisch, komplett voll mit weißem Pulver! Sie leugnete alles und sperrte sich im Bad ein.«

»Heftig. Wie endete die Sache?«

»Wir entriegelten die Badtür. Das geht ganz einfach. Die Polizei nahm sie dann mit. Wir packten ihre Sachen zusammen und bewahrten sie in der Zwischenzeit im Kofferkammerl auf.«

»Und die Drogen?«

»Packte die Polizei ein, um die Substanz im Labor zu untersuchen. Ich war nicht im Haus, als sie ihre Sachen abholte. Kann auch sein, dass wir die zu ihr nach Hause schickten. Sehr seltsam jedenfalls. Genauso wie letztens erst. Stellen Sie sich das vor, die Stubenmädchen fanden einen Scheißhaufen im Bett! Den hinterließ ein Stammgast. Mitten auf dem Bett. Ein ganzer Haufen wie absichtlich hingemacht. Er hatte keinen Hund dabei, der Haufen stammte sicher von ihm! Wir diskutieren momentan, wie wir damit umgehen. Er kommt sehr oft und zahlt viel Geld.«

Hausverbot? Anbrüllen?Fragen, ob er deppert ist?Zusätzliche Putzgebühr verrechnen? Neue Matratze kaufen?

»Und da reden wir von zahlenden Kunden! Am schlimmsten benehmen sich diese Influencer. Zahlen keinen Cent, schlafen in den schönsten Suiten, fordern sogar gratis Zimmerservice und alles gratis für ein paar Fotos! Das Zimmer bildet unscharf den Hintergrund, und sie selbst schmeißen sich scharf in Pose. Ist das zu fassen? Ich würde das unterbinden, wäre ich dafür zuständig. Aber das regelt die Marketingabteilung. Die entscheiden, ob sich das lohnt. Bei Journalisten verstehe ich das. Bei Porträts übers Haus oder für ein Reisemagazin. Aber mehrere Gratisnächte für ein, zwei Postings?«

Scheiße! Ich hätte einen Alibiartikel für unsere Onlineausgabe schreiben sollen, dann hätte ich hier auch absteigen können. Wobei Mama sicher beleidigt ist, wenn ich in Wien bin und im Hotel übernachte statt bei ihr.

»Und das Auffälligste: Weibliche Influencer reisen grundsätzlich mit einem Fotografen, der gleichzeitig ihr Partner ist. Welch Zufall, der Partner fotografiert. Sie verbringen kostenlos romantische Tage in Wien und nennen das Arbeit. Einmal schlief eine hier, die hatte ein Profil auf diesem Instagram, wo sie sich als female solo traveler‹ bezeichnete.«

Sie redet sich fest. Wie lenke ich das Thema wieder auf Kat?

»In Wirklichkeit begleitete sie ihr Freund. Der machte ihr sogar einen Antrag im Sacher, während sie hier waren. Die Mädels von der Rezeption verfolgten das auf deren Profilen. Er dokumentierte auf seinem den Antrag mit Ring und allem, und sie tat auf ihrem so, als wäre sie allein in Wien. Ein User fragte sie sogar in den Kommentaren, wie sie es erträgt, so viel allein zu reisen. Und wie reagierte sie darauf?«

Es interessiert mich null.

»Sie schrieb, dass sie nie einsam ist und immer das Gefühl hat, dass jemand bei ihr ist. Ihr Verlobter war bei ihr!«

»Nein, wie schamlos manche Leute sind.« Nichts Neues, dass auf Instagram alles Fake ist. Selbst schuld, wer glaubt, was er auf diesen Plattformen liest.

»Störte Katinka das auch? Ehrlichkeit ist ihr –«

»Total! Sie reagierte supergenervt und musste sich denen gegenüber sehr zusammenreißen. Es bleiben trotzdem Gäste. In der Küche ließ sie das dann raus. Sie imitierte Influencer, indem sie affektiert mit deutschem Akzent redete. Wir schmissen uns weg vor Lachen. Sie besaß einen grandiosen Humor. Früher.«

»Wann verlor sie ihren Humor?«

»Als die Probleme begannen. Wer scherzt schon viel, wenn es einem schlecht geht? Wobei wir ihr Verhalten anfänglich als Scherz deuteten. Es dauerte, bis wir verstanden, dass sie das ernst meinte.«

»Inwiefern?«

»Mit den Schuhen zum Beispiel. Die vergaß sie andauernd. Sie ließ sie an der Rezeption stehen und kam barfuß in die Küche. Die vom Frühstücksdienst lachten und wiesen sie darauf hin. Wir dachten, sie hat sie unterm Tisch ausgezogen und im Stress vergessen wieder anzuziehen. Aber irgendwann sagte sie, dass sie es angenehmer fand, keine Schuhe zu tragen. Das geht aber nicht! Wenn das Gesundheitsamt kontrolliert! In der Küche arbeiten wir mit Lebensmitteln! Stellen Sie sich vor, sie tritt in eine Glasscherbe und blutet alles voll. Das geht schneller, als man denkt. Ständig gehen Gläser zu Bruch. Allein dieses Jahr brauchten wir schon 500 Gläser. Nur Wassergläser! Die Mädels nehmen die heißen Gläser aus dem Geschirrspüler, stellen sie ineinander, dann verkeilen sie und brechen. Leider gehen viele im Team sorglos mit Hotelbesitz um. Gerade gestern fiel wieder eine Butterdose runter. Aus Keramik! Kostet achtzig Euro. Das summiert sich schnell. Würde jeder ein bisschen mehr aufpassen, dann –«

»Waren die Schuhe denn so unbequem, dass Katinka sie auszog?« Kat trug ausschließlich flache Schuhe.

»Nein, ganz normal.«

»Gibt es eine vorgeschriebene Arbeitskleidung?«

»Je nachdem in welchem Bereich man arbeitet, trägt man einheitliche Uniformen. In Küche und Büro tragen wir unsere Privatkleidung, aber im Service und an der Rezeption geben wir die Kleidung vor. Damit die Biester sehen, wer hier arbeitet und wer Gast ist. Das ergibt ein schönes Gesamtbild. Die Stubenmädchen tragen auch Uniformen. Zweckmäßige, bequeme Kleidung. Die Frauen können zwischen Rock, Kleid oder Hose wählen. Katinka trug immer Hose, was vollkommen in Ordnung war.«

»Und die Schuhe sind auch einheitlich?«

»Nein, Schuhe trägt jeder seine eigenen. Die meisten bevorzugen Halbschuhe oder schicke Sneaker. Gerade im Service und in den Bereichen, in denen man viel durchs Haus geht. Katinka trug schwarze Sneaker. Bequemer geht es nicht.«

Seltsam.

»Selbstverständlich fanden das die Gäste auch unangebracht. Wir begleiten alle Gäste auf ihr Zimmer, und wenn man barfuß … Stellen Sie sich das vor! Wie wirkt das? Das geht nicht! Dass man das überhaupt betonen muss. Das sollte selbsterklärend sein. Hätte sie wenigstens Slipper oder Flipflops getragen.«

»Das wäre okay gewesen?«

»Nein, aber besser als barfuß. Ihre Füße sahen ganz dreckig und ungepflegt aus. Richtig grauslich. Immer wieder erinnerten wir sie an die Schuhe. Wie gesagt, erst tat sie so, als wäre es ein Versehen, später behauptete sie, dass Schuhe und Socken schmerzten und sie den Kontakt zum Boden brauchte.« Sie leerte erneut ihr Sektglas und schenkte sofort nach. Ich verlor den Überblick, um das wievielte es sich handelte.

»Aber Sie meinten, der Boden war auch ein Problem.«

»Ja, ja, eben. Später dann. Holzboden. Sie tat so, als wäre der heiß und verbrennt ihre Füße, wenn sie ihn berührt. Ist das zu fassen?«

»Sie meinen die Holzdielen hier auf der Terrasse.« Wenn hier die Sonne richtig raufknallt, kann ich mir vorstellen, dass die heiß werden.

»Nicht nur. Alles aus Holz! Auch Parkett!«

»Aber unten in der Lobby. An der Bar. An der Rezeption. Da ist überall Parkett.«

»Eben! In den Zimmern auch. Im Stiegenhaus ist Steinboden, aber sonst. Einen Nachtdienst legte sie die Teppiche so hin, dass sie von Teppich zu Teppich springen konnte. Wie Kinder. Kennen Sie das Spiel Der Boden ist Lava? Meine spielten das gerne, als sie klein waren. Jetzt sind sie Teenager und starren nur noch in ihren Computerkasten und ins Handy. Hat alles Vor- und Nachteile. Dafür springen sie nicht mehr auf dem Sofa herum und klettern auf den Couchtisch.«

Bitte keine Kindergeschichten! Was soll ich denn dazu sagen? Lächle einfach.

»Es gibt ja Teppiche für die Füße. Man nennt sie Schuhe. So hätte sie das Holz nicht berührt. Aber Schuhe schmerzten ja auch. Selbst die Brotkörbchen und die Brotbox vom Frühstücksbuffet griff sie nur mit Latexhandschuhen an.«

»Sind die auch aus Holz?«

»Maßangefertigt von einer Tischlerei aus dem Waldviertel. Sie hielt sie von sich weg, als entsorgte sie eine tote Ratte.«

»Und wie gingen Sie als Vorgesetzte damit um?« In unserer Redaktion wäre sie sofort gefeuert worden. Der Schmidt entließ Leute schon wegen nichtigeren Dingen.