Erzähl mal: Zweiter Weltkrieg - Frank Schmidt-Wyk - E-Book

Erzähl mal: Zweiter Weltkrieg E-Book

Frank Schmidt-Wyk

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Beschreibung

Dem Journalisten Frank Schmidt-Wyk geht es wie vielen Menschen: Seit dem Tod seines Großvaters bedauert er es zutiefst, mit ihm nicht intensiver über dessen Erlebnisse als Soldat im Zweiten Weltkrieg gesprochen zu haben. Aber vielleicht gibt es einen Weg, das Versäumte nachzuholen? Schmidt-Wyk macht sich auf den Weg durch Deutschland, besucht ältere Menschen, die das Zeitalter des Nationalsozialismus und den Krieg noch selbst erlebt haben, und lässt sie erzählen: Geschichten von besonderen Momenten, die ihre persönliche Erinnerung an diese Zeit bis heute prägen. Allmählich setzen sich die Beiträge zu einem vielschichtigen und facettenreichen Bild des Kriegsalltags zusammen, gezeichnet aus der Perspektive von Zeitgenossen, die damals Kinder, Jugendliche oder junge Frauen und Männer waren. Die Zeitzeugen schildern, wie sie in den Bombenkellern mit ihren Müttern um ihr Leben zitterten, Kampfeinsätze an der Front überstanden, Verfolgung und Naziterror im "Dritten Reich" wahrnahmen, am Kriegsende den Einmarsch der alliierten Truppen erlebten, Opfer von Vertreibung wurden und vieles mehr. Die Schauplätze reichen von der Nordseeinsel Wangerooge über zahlreiche deutsche Städte bis nach Slowenien, vom besetzten Frankreich bis ins Baltikum. Bereichert werden die Zeitzeugenberichte durch Einschätzungen des Historikers Takuma Melber (Universität Heidelberg). Das Vorwort schreibt der Militärhistoriker Sönke Neitzel ("Deutsche Krieger") von der Universität Potsdam.

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Seitenzahl: 306

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Frank Schmidt-Wyk

Erzähl mal: Zweiter Weltkrieg

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-285-6

eISBN: 978-3-86408-286-3

Wissenschaftliche Beratung für das Buch: Dr. Takuma Melber

Satz und Layout: www.dariussamek.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2022

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Für Ludwig Rein

Es genügt nicht,seine Eltern und Großeltern zu fragen:wie war das und das.Frag doch dich, wie es ist.

Martin Walser

Inhalt

VorwortSönke Neitzel

Frank Schmidt-Wyk – Verstummt

Der Krieg am HorizontLieselotte Radke

Versteckspiele im BombenkellerNorbert Bingenheimer

Eine Romanze im besetzten FrankreichHans Roos

Die Amerikaner kamen auf leisen SohlenHildegard Berger

Unser Retter, der polnische ZwangsarbeiterKlaus Heiß

Die Kohlenhandlung am Rande der FeuersbrunstOtfried Müller

Vier Männer im NiemandslandGertrud Lüttgen

Das Kinderkommando des Kreisleiters FuchsHans Karl Katzmann

Auf einmal stand im Garten eine StalinorgelAxel H. Gebhard

„Das Wandern war unsere Rettung“Mathilde Wollweber

Machtlos gegen die Zerstörung aus der LuftRudolf F. Eckart

Tödliches Drama am Himmel über RiedelbachManfred Hahnefeld

Als der Rhein nach toten Fischen stankChrista Franzky

Wiedergeburt im GefangenenlagerGerhard Ludwig

„Die Schreie verfolgen mich bis heute“Josef Stader

„Er wäre bestimmt Kaufmann geworden wie ich“Josef Möbius

Schöne Bescherung an Heiligabend 1943Wilhelm Rudolf Hefner

Kein Trost in Berliner BombennächtenMarie-Luise Buchwald

Ein Talisman im TrümmerfeldMartin Adam

Auf verlorenem Posten in der NordseeGünter Buchholz

„Wir waren mit Überleben beschäftigt“Robert Holl

Das Trümmermädchen aus der Mainzer NeustadtIlse Dörfler

„Genauso gut hätten wir auch ins Feuer spucken können“Günter Feucht

Wie ich Großvater beinahe denunziert hätteIngrid Banholzer

Kinder unter PanzerbeschussKlaus Schäfer

Ein Artillerie-Feldwebel als rettender EngelFrieda Meyer-Jedamski

Als Kinder zu Beschützern wurdenKarl Kolb

Am Ende Schwein gehabtMarianne Hoppe

Frank Schmidt-Wyk – Verstummt (2)

„Für diese Stimmen muss man dankbar sein“Takuma Melber

Dank

Quellenangaben

Bildnachweis

Sönke Neitzel

Vorwort

Die Mutter meines englischen Freundes ist vor wenigen Wochen hochbetagt gestorben. Er hat sie in den letzten Monaten oft im Krankenhaus besucht und das Reden über das Hier und Jetzt fiel ihr zunehmend schwer. Worüber habt ihr gesprochen, fragte ich ihn. „Über den Blitz, über die deutschen Luftangriffe auf Liverpool, erzählte sie, als ob es gestern gewesen wäre“. Die Angst, die Aufenthalte im Keller, die Notlandung eines deutschen Bombers Ju 88 in der Nähe ihres Hauses waren in dieser letzten Lebensphase in einer nie dagewesenen Klarheit gegenwärtig.

Eine ähnliche Erfahrung machen wahrscheinlich viele Angehörige der Baby-Boomer Generation mit ihren hochbetagten Eltern. Am Ende des Lebens ist die Kindheit- und Jugendzeit oftmals sehr präsent – und dies heißt in diesem Fall die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.

Historiker haben zu Zeitzeugenberichten ein gespaltenes Verhältnis. Die Gedächtnisforschung ist mittlerweile weit vorangeschritten und wir wissen heute, wie fehlerhaft unsere Erinnerung sein kann. Über die Jahrzehnte setzt das Gehirn die Informationen immer neu zusammen, vermischt Altes mit Neuem. Wenn wir uns erinnern, erinnern wir uns an die letzte abgespeicherte Version eines historischen Erlebnisses, aber keineswegs an dieses selbst. Die bekannteste fehlerhafte Erinnerung war wohl jene Geschichte, die der amerikanische Präsident Ronald Reagan über den Absturz eines Bombers im Zweiten Weltkrieg berichtete. Er glaubte fest daran, diesen selbst erlebt zu haben, schilderte aber eine Szene aus dem Film „Wing and a Prayer“ aus dem Jahr 1944.

Zeitzeugen, auch das hat die Forschung mittlerweile herausgearbeitet, passen ihre Erinnerungen an den öffentlichen Diskurs an, sodass diese über die Jahrzehnte immer ähnlicher werden, obwohl die Menschen ganz Unterschiedliches erlebt haben.

Gespräche mit Zeitzeugen können daher eine wichtige und sehr authentische Quelle zur Erforschung des kollektiven Gedächtnisses sein, das sich über die Jahrzehnte stark verändern kann. In den 1980er Jahren erinnerte und sprach man anders über den Zweiten Weltkrieg als heute. Schon ein Blick auf die Interviews der einschlägigen Fernsehdokumentationen von ARD und ZDF offenbaren dies.

Trotz aller Bedenken über die Authentizität von Erinnerungen bleiben Zeitzeugenberichte aber wichtige Quellen auch zur Rekonstruktion historischer Ereignisse und zeitgenössischer Wahrnehmungen und Deutungen. Die Gedächtnisforschung kennt die sogenannten Blitzlichterinnerungen, auf die auch in diesem Buch eingegangen wird. Einschneidende Erlebnisse – positiv oder negativ – die sich in das Gedächtnis eingebrannt haben und nicht ständig überschrieben werden. Es sind wohl solche Blitzlichterinnerungen, über die viele Zeitzeugen am Lebensende mehr denn je sprechen. Gerade solche Geschichten sind für Historiker interessant, weil sie wichtige Puzzlesteine sind um – zusammen mit anderen Quellen – zu rekonstruieren, wie der Zweite Weltkrieg erlebt wurde. Zudem erlauben uns die Berichte auch Einblicke in die lange vernachlässigte Emotionsgeschichte.

Zudem: Viele Informationen über den Krieg sind für immer verloren. Sie stehen nicht in den Akten, nicht in Tagebüchern oder Briefen. Oftmals sind Zeitzeugenberichte die einzigen Quellen, um aufzuklären, was Menschen damals in den Extremsituationen von Tod und Gewalt erlebt haben. Was etwa wäre die Holocaustforschung ohne die Zeitzeugen?

Wir schulden Frank Schmidt-Wyk großen Dank für eine hochinteressante Edition. Besonders erfreulich ist, dass hier ein sehr breites Spektrum von Biographien und Erlebnissen abgedeckt wird. Front und Heimat werden ebenso berücksichtigt, wie die unterschiedlichsten Formen von Gewalt. Dem Autor ist es zu danken, dass er diese Berichte vor dem Vergessen bewahrt hat. Sie verdeutlichen einmal mehr, was Krieg bedeutet. In Deutschland führte das zu dem Verdikt des „Nie wieder“ und man mag ergänzen, wie sollte es nach der Erfahrung von Verbrechen und Tod auch anders sein. Die entsprechenden Schlussfolgerungen in der Realpolitik zu ziehen ist allerdings weit schwieriger – wie man aktuell am Ukrainekrieg sehen kann. Was lehrt uns eigentlich der Zweite Weltkrieg über den Umgang mit Autokraten, die Krieg als Mittel ihrer Politik einsetzen? Die Schlussfolgerungen mag jeder selbst ziehen.

Sönke Neitzel

Geboren 1968, seit 2015 hat er den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam inne. Zusammen mit Harald Welzer verfasste Neitzel den Bestseller Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben (2011). Außerdem Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – Eine Militärgeschichte (2020). Zuletzt erschien von ihm und Bastian Matteo Scianna Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg (2021).

Mein Opa …

Frank Schmidt-Wyk

Verstummt

… erzählte gerne und viel vom Krieg. Ich hing als Kind dann immer an seinen Lippen und löcherte ihn: Wie weit konnte dein Gewehr schießen? Wie sahen die feindlichen Soldaten aus? Hast du mal jemanden getötet? Ich wollte alles ganz genau wissen. Keine meiner Fragen blieb unbeantwortet. Meist gab es dazu eine Geschichte: Opa war ein mitreißender Erzähler. Als ich klein war, dichtete er aus dem Stegreif ein Märchen. Es handelte von einem Lausbuben aus dem Dorf und Krokodilen im Rhein. Es war seine Art zu sagen: Gib acht! Oft nahm mich Opa mit zum Angeln. Meine Großeltern wohnten damals in Sporkenheim, ein winziges Dorf, das schon vor dem Krieg zur Stadt Ingelheim am Rhein gehörte. Wenn Opa im Hochsommer im Unterhemd am Wasser saß, konnte man die Narbe am linken Oberarm sehen. Sie sah scheußlich aus, die Haut wölbte sich nach innen, wie der Stoff um eingenähte Knöpfe in Polstersesseln. Die Geschichte dazu ging so: Opa war bei der Artillerie. In Russland war er oft als vorgeschobener Beobachter eingesetzt. Ganz allein ging er weit vor den deutschen Linien in Stellung und lenkte per Funk das Geschützfeuer. Als er zwischen den Fronten unterwegs war, zerrte sein Begleithund plötzlich an der Leine, im gleichen Moment wurde aus dem Hinterhalt auf ihn geschossen. Hätte ihn der Hund nicht herumgerissen, wäre die Kugel nicht in den Arm gegangen, sondern ins Herz. Ich glaube, er lachte, als er das sagte. Der Hund als Lebensretter: Die Geschichte ist typisch für ihn. Opa liebte Hunde.

In seinen Erzählungen klang der Krieg nach einem Abenteuer wie bei Karl May. Die grausame Wirklichkeit war ausgeblendet. Das bewahrte ihn davor, seine eigene Rolle als Soldat der Wehrmacht zu hinterfragen: Wofür kämpfte er damals eigentlich? Und für wen? Die Flucht ins Anekdotische ist ein typisches Verhaltensmuster seiner Generation. Obwohl ich später Geschichte studierte, habe ich es versäumt, tiefer in ihn hineinzuhorchen. Ich hatte mir das fest vorgenommen, wollte mich ihm gegenüber an den Wohnzimmertisch setzen, ein Aufnahmegerät zwischen uns stellen und später das Gesagte akribisch niederschreiben. Immer kam irgendetwas dazwischen. Es blieb ein Projekt und im Oktober 1997 wurde das Projekt gemeinsam mit ihm beerdigt. Seitdem vergeht kein Tag, an dem ich das nicht zutiefst bedaure. Was bleibt, ist ein Karton mit vergilbten Fotos und zerfasernden Papieren.

Die Eckpunkte seiner militärischen Laufbahn sind lückenlos dokumentiert: September 1939 Einberufung zur Wehrmacht, Teilnahme an den Feldzügen in Polen, Frankreich, auf dem Balkan und in Russland, ab 1944 wieder Westfront, am Kriegsende befehligte er als Oberleutnant ein Bataillon in Oberhessen. Auszeichnungen: Eisernes Kreuz Erster und Zweiter Klasse, Sturmabzeichen, Verwundetenabzeichen in Schwarz und Silber. Zweimal wurde er in Russland schwer verwundet, das erste Mal im Juli 1941, die erwähnte Schussverletzung, das zweite Mal im Januar 1943, zu der Zeit war er als Kompanieführer an den Kämpfen im Raum Stalingrad beteiligt. Über diese zweite Verwundung erzählte er nie etwas. Aus Bescheinigungen geht hervor, dass er einen Schädelbasisbruch erlitt und ihm noch lange danach Spätfolgen wie Schwindelanfälle und heftige Kopfschmerzen zu schaffen machten. Auf seinem Entlassungsschein steht das Datum 16. Juli 1945. Am 21. Juni hatte ihm der Gau-Algesheimer Bürgermeister bescheinigt, kein Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder einer ihrer Organisationen gewesen zu sein.

In dem Karton ist nichts, was Auskunft darüber gibt, wie er den Krieg erlebte, wie er damals gedacht und gefühlt hat. Und wie er es fertigbrachte, sechs Jahre Krieg zu überleben. Zwei seiner drei jüngeren Brüder kamen als Soldaten an der Front ums Leben. Jedes Foto, jedes Stück Papier wirft Fragen auf. Nicht die Sorte Fragen, die ich ihm als Kind gestellt hatte. Sie müssen alle unbeantwortet bleiben.

Opa starb mit 78 Jahren. Er war ein kranker Mann, überfallartige Kopfschmerzen hörten nie auf, ihn zu plagen. Inzwischen sind beinahe 25 Jahre seit seinem Tod vergangen. Es sind nicht mehr viele Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs am Leben – ein unwiederbringlicher Verlust. Wer noch die Chance dazu hat, sollte nicht den gleichen Fehler machen wie ich: Redet mit den alten Leuten! Dokumentiert, was sie sagen! Filmt sie dabei, zeichnet alles auf!

Natürlich: Erzählungen von Zeitzeugen sind mit Vorsicht zu genießen. Sie sind persönlich gefärbt, spätere Erfahrungen haben sich mit Erinnerungen vermischt, die eine oder andere Wendung wurde möglicherweise aus dramaturgischen Gründen hinzugefügt. Dennoch machen kleine Geschichten, wie sie mein Opa erzählte, die große Geschichte greifbar. Sie können bewirken, was kein Wikipedia-Artikel, kein schlaues Buch zu leisten vermag: Sie erwecken die Vergangenheit zum Leben, bringen Fotos, Dokumente, Artefakte zum Reden. Mit dem Verstummen der Zeitzeugen verstummen auch die Relikte. Ohne Zwischentöne wird die Geschichte zum Schachbrett. Es gibt nur noch schwarze und weiße Felder, auf denen sich ausschließlich schwarze und weiße Figuren bewegen. Opa liebte das Schachspiel, eine Leidenschaft, die er aus Russland mitgebracht hatte, doch er war keine Schachfigur.

Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich in dem erwähnten Karton Umschläge mit Kriegsfotos entdeckte, die ich bisher übersehen hatte. Einige wurden offenbar an der Westfront gemacht, man sieht einen zerstörten englischen Panzer, eine abgestürzte Spitfire, ein frisches deutsches Soldatengrab. Andere Bilder entstanden im Lazarett und während eines Offiziersanwärterlehrgangs an der Artillerieschule Thorn im annektierten Polen. Ein paar Fotos wurden im Dezember 1939, im vierten Kriegsmonat, in der polnischen Stadt Konin aufgenommen. Er hat das selbst auf der Rückseite vermerkt, ich kenne seine zackige Handschrift. Ein Foto ist etwas unscharf, es zeigt drei Männer, sie schauen finster in die Kamera, einer trägt den Arm in einer Schlinge. Laut Opas Notiz auf der Rückseite zeigt das Foto Juden in der Artilleriekaserne beim „freiwilligen Arbeitseinsatz“.

Hat er den leicht verwackelten Schnappschuss gemacht? Unter welchen Umständen? Wie sind die von ihm gesetzten Anführungszeichen zu verstehen? Als zynischer Kommentar? Als dezente Andeutung des Schicksals dieser Menschen? Was wusste er davon? Wie dachte er darüber?

Ganz am Ende des Krieges sollte er im oberhessischen Lauterbach alle verfügbaren Kräfte zusammenkratzen und den amerikanischen Truppen entgegenwerfen. Er schickte die ihm anvertrauten Jugendlichen weg und erklärte den Krieg für beendet. Ein riskantes Unterfangen, bis zuletzt ließen fanatische NS-Vasallen Soldaten hinrichten, die ihre Waffen niederlegten. Zehn Jahre später ging mein Opa in einem selbst geschriebenen Lebenslauf nur kurz auf dieses Schlusskapitel ein: „Nach mehrwöchigem Aufenthalt in den oberhessischen Wäldern führte ich im April die mir noch verbliebenen 40 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften sowie die in einem Flüchtlingslager untergebrachten Jugendlichen, die sämtlich aus Rheinhessen stammten, in die Heimat zurück. Sodann stellte ich mich den amerikanischen Truppen und wurde wenige Tage danach ordnungsgemäß entlassen.“

Was geschah in den Wochen zwischen April und Juni 1945? Wie hat er es angestellt, die jungen Menschen nach Hause zurückzubringen und selbst der Kriegsgefangenschaft zu entgehen? Diese Geschichte hat er mir nie erzählt.

So viele Fragen. Ich hätte Redebedarf für Tage und Nächte. Natürlich habe ich oft mit ihm über den Krieg gesprochen – aber nicht intensiv genug. Am Ende seines Lebens wirkte er oft nachdenklich, wenn das Thema Krieg aufkam. Abenteuergeschichten kamen ihm nicht mehr über die Lippen, wenn ich wissen wollte, wie es in Stalingrad war. Einmal standen ihm sogar Tränen in den Augen. Ich sagte nichts mehr. Er auch nicht.

Der Text „Verstummt“ erschien zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“ und angeschlossenen Ausgaben. Die Resonanz war enorm – niemals vorher hatte ich auf einen Beitrag so viele Briefe, Mails und Anrufe bekommen. Ältere Menschen schickten Fotos und Kriegserinnerungen, oft über mehrere Seiten und geschrieben mit zittriger Hand. Jüngere gestanden, dass es ihnen ähnlich gehe wie mir, dass sie es bereuten, ihre Eltern oder Großeltern nicht hartnäckiger über die Kriegszeit befragt zu haben. Offenbar hatte ich einen Nerv getroffen. Während ich das alles las und mir ansah, wurde mir klar: Das darfst du nicht ad acta legen, daraus musst du etwas machen. Plötzlich dieser Gedanke: Warum nicht nachholen, was ich versäumt hatte? Mit meinem verstorbenen Großvater konnte ich nicht mehr reden, doch da draußen gab es genug Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, die noch lebendig waren und sich wünschten, dass man ihnen endlich zuhörte. Ich musste diese Frauen und Männer nur besuchen und das Aufnahmegerät einschalten – wie ich es bei Opa vorgehabt hatte. So entstand die Serie „Erzähl mal!“ in der „Allgemeinen Zeitung“. Die erste Folge erschien am 19. Juni 2020, mit jeder weiteren meldeten sich aufs Neue Zeitzeugen, die mir ebenfalls ihre Geschichte erzählen wollten. Hier sind sie alle versammelt. Dieses Buch ist jedoch kein Schlusspunkt. Ein Ende des Projekts ist nicht abzusehen.

Der Krieg am Horizont

Lieselotte Radkewuchs in Berlin und auf dem Land auf – im April 1945 standen plötzlich russische Soldaten vor der Tür.

Achtzig Jahre liegen zwischen diesen Bildern: Lieselotte Radke 1941 als Schülerin in Berlin – und heute in ihrem Wohnzimmer in Worms

Im Jahr 1936 zogen meine Eltern mit mir in die gerade fertiggestellte Großsiedlung An der Kappe in Berlin-Spandau. Die Anlage bestand aus mehrgeschossigen Neubauten, überwiegend mit Zweizimmer-Wohnungen, modern, mit eigenen Badezimmern, fast alle mit Balkon. Zur Ausstattung der Gebäude gehörten auch Luftschutzkeller mit schweren Türen aus Stahl und verriegelbaren Stahlklappen als Notausstiege. Die führten raus auf die Wege zwischen den Gebäuden. Ich fand das merkwürdig: Laut Propaganda war um uns herum ja Friede, Freude, Eierkuchen. Alles wurde immerzu bejubelt. Von einem drohenden Krieg war nicht das Geringste zu spüren.

Meine Eltern waren beide gehörlos. Ich fand es furchtbar langweilig zuhause, vor allem wenn sie mit ihren ebenfalls gehörlosen Freunden zusammensaßen und sich in Gebärdensprache unterhielten. Ich habe Zeichensprache nie gelernt. Was ich sagte, lasen meine Eltern von meinen Lippen. Ich verstand nur, was sie akustisch artikulieren konnten. Obwohl mein Vater auch noch Sozialist war, ließen die Nazis meine Eltern in Ruhe. Sie hatten wohl einfach Glück. Ich weiß aber noch, wie sie darüber sprachen, dass einer ihrer Bekannten sterilisiert wurde.

Insbesondere jüdische Gehörlose wurden in der NS-Zeit verfolgt. Unter den Opfern waren aber auch viele nichtjüdische Gehörlose. Insgesamt ließen die Nazis zwischen 1934 und 1945 auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ etwa 15.000 gehörlose Menschen zwangssterilisieren. Vermutlich weitere 1.500 Gehörlose wurden ab 1939 im Rahmen der Euthanasie-Aktion „T4“ ermordet. Allerdings gab es in der Bevölkerungsgruppe der Gehörlosen auch etliche überzeugte Nationalsozialisten. Der 1927 in Weimar gegründete Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (Regede) und andere nichtjüdische Organisationen richteten sich nach 1933 bereitwillig an den Anforderungen des Regimes aus. Für Gehörlose gab es eigene Einheiten in Hitlerjugend und SA sowie Ortsgruppen der NSDAP.

Am Morgen nach der Pogromnacht zum 10. November 1938 kam ich an der brennenden Synagoge am Lindenufer vorbei. Überall in Spandau waren Schaufenster eingeschlagen worden. Es wurde geplündert. Meine Mutter kaufte gerne in jüdischen Geschäften ein, weil sie so gut sortiert waren. Die meisten Menschen machten einen großen Bogen um die Juden. Später galt eine Ausgangssperre, Juden durften tagsüber nicht mehr vor die Tür. Sie wurden als abartig dargestellt. Ich fand das ungerecht und verstand einfach nicht: Warum konnten wir nicht mehr mit den jüdischen Kindern spielen? In dieser Zeit hatte meine Mutter für eine jüdische Bekannte etwas genäht, ein Kleid oder so. Als es Abend wurde, wollte sie es ihr bringen. Ich durfte mit. Meine Mutter sagte: „Wir müssen warten, bis es dunkel ist. Sonst werden wir bestraft.“

Es war erwünscht, dass man mit zehn Jahren in den Jungmädelbund ging. Erst mit 14 kam man in den Bund Deutscher Mädel (BDM). Das hätte für mich 1943 angestanden, aber da lebte ich schon auf dem Land, da erschien mir das nicht mehr attraktiv. Aber von 1939 bis 1943 war ich bei den Jungmädels und dort fand ich es toll. Für mich war das eine willkommene Abwechslung, weil zu Hause mit zwei gehörlosen Elternteilen einfach nichts los war: Bei den Jungmädels machten wir Spiele, wanderten, sangen viel, waren im Zeltlager. Was mich am meisten faszinierte, waren die Massenaufmärsche. Einmal hieß es: Mussolini kommt nach Berlin! Doch er schickte nur seinen Schwiegersohn, den italienischen Außenminister Graf Ciano. In Uniform – Faltenrock, weiße Bluse, Halstuch – standen wir Spalier Unter den Linden, nahe dem Brandenburger Tor. Ganz vorne die Kleineren, das waren wir. Es war herrliches Wetter, jubelnde Menschenmassen, so weit man gucken konnte. Graf Cianos Wagen rauschte vorbei und bog um die Ecke in die Wilhelmstraße.

Einmal habe ich Hitler gesehen, das war bei einer anderen Gelegenheit. Wir standen in Uniform vor der Alten Reichskanzlei in der Wilhelmstraße. Hitler trat auf den Balkon, da flippten die Menschen aus vor Begeisterung. Alle rissen die Arme hoch zum Hitlergruß. Vor allem jüngere Frauen waren ganz hingerissen von ihm.

Als im September 1939 der Krieg ausbrach, erklangen ständig Siegesmeldungen aus den Volksempfängern. Wir hatten zwar kein Radio zuhause, weil meine Eltern ja nichts hörten, aber es war warm, überall standen Fenster und Balkontüren auf, da hörte man das.

Nach und nach wurden alle wehrfähigen Männer eingezogen. Von den Lehrern unserer Schule waren irgendwann nur noch ein älterer Musiklehrer und ein beinamputierter Veteran des Ersten Weltkriegs da. Sonst gab es nur Frauen. Politik war in den Mädchenklassen kein Thema. Vor den Osterferien und den Großen Ferien im Sommer mussten alle Schüler auf dem Schulhof antreten. Der Rektor verkündete den Beginn der Ferien, dann mussten wir alle das Horst-Wessel-Lied und das Deutschlandlied singen. Das ist das einzige Politische, das mir in Verbindung mit der Schule in Erinnerung geblieben ist.

Vom Kriegsgeschehen spürte ich zunächst nicht viel. In den Schulferien war ich immer auf dem Land bei Onkel Emil, einem Bruder meiner Mutter. Der hatte einen Bauernhof in Kuhbier. Das ist ein kleines Dorf, etwa 110 Kilometer nordwestlich von Berlin, und war meine zweite Heimat. Der Sohn meines Onkels, Fritz, mein Cousin, meldete sich 1941 mit 18 Jahren freiwillig zur Wehrmacht. Noch im selben Jahr kam er in Dünaburg (Lettland, lett. Daugavpils) ums Leben: Ein Kamerad erschoss ihn versehentlich beim Gewehrreinigen. Gefallen für Deutschland! Zwei Jahre später starben innerhalb von drei Wochen auch meine anderen zwei Cousins an der Ostfront: Günter und Fritz, die einzigen Söhne meines Onkels Walter, des anderen Bruders meiner Mutter. Der hatte in Nauen ein Feinkostgeschäft mit Kaffeerösterei. Als ich 1943 mit der Schule fertig war, ging ich ganz nach Kuhbier und begann bei Onkel Emil eine Ausbildung in der Landwirtschaft. Das Leben auf dem Land war relativ unbeschwert. Man hörte zwar Flugzeuge, doch es fielen keine Bomben.

Kurz vor Ostern 1945 durfte ich für ein paar Tage zu meinen Eltern nach Berlin. Die Stadt war noch nicht eingeschlossen. Die Russen standen noch an der Oder. Die Engländer hatten im Westen an der Elbe haltgemacht. Das begriffen wir damals nicht, wir hofften immer darauf, dass die Engländer kommen würden, bloß nicht die Russen. Von der Elbe bis Kuhbier sind es nur dreißig Kilometer. Auf dem Rückweg von Berlin ging es in Neustadt an der Dosse mittags nicht weiter, Feldjäger trieben die Leute vom Bahnhof in einen nahen Wald, weil ein großer Luftangriff im Gange war.

Wahrscheinlich handelt es sich um den amerikanischen Angriff vom 18. März 1945, den schwersten auf Berlin im ganzen Krieg: Über Mittag bombardierten mindestens 1.200 US-Maschinen die Reichshauptstadt.

Kurz nach Ostern hörten wir in Kuhbier abends gegen zehn Uhr aus Richtung Pritzwalk plötzlich einen Knall, gefolgt von gleißendem Lichtschein. Noch lange leuchtete der Himmel glutrot. Bei einem Luftangriff auf den Bahnhof war ein Munitionszug getroffen worden. Die Explosion legte alles in Schutt und Asche. Kuhbier ist ungefähr sechs Kilometer entfernt.

Die Kreisstadt Pritzwalk war zu diesem Zeitpunkt ein wichtiger deutscher Eisenbahnknoten hinter der Front. Am Abend des 15. April 1945 eröffneten Überlieferungen zufolge zunächst junge Flakhelfer das Feuer auf ein russisches Aufklärungsflugzeug P-2, die Pilotin schoss zurück und traf einen mit Stroh beladenen Waggon. Das Feuer griff auf einen mit V2-Raketenteilen beladenen Wehrmachtszug über und löste eine Kette gewaltiger Explosionen aus. Hunderte Menschen starben. Viele Todesopfer gab es in dem Kino gegenüber dem Bahnhof, dort sahen zum Zeitpunkt des Unglücks 350 Menschen die Theo-Lingen-Komödie „Es fing so harmlos an“.

Als die Russen auf Kuhbier vorrückten, hieß es: Die Kosaken kommen! Die Angst vor Vergewaltigung und Plünderung ging um. Wir hängten Bettlaken aus den Fenstern. Auf einmal fuhr ein Traktor auf den Hof, auf dem Anhänger saßen Frauen aus Nauen, die waren vor den Russen geflohen. Mein Onkel Walter hatte das angeleiert, der Kaufmann. Er sagte: „Wir fahren alle nach Kuhbier zu meinem Bruder, da ist Platz auf dem Hof!“ Mit anderen jungen Frauen versteckte ich mich einen Tag und eine Nacht auf einem Oberboden hinter der Räucherkammer. Uns passierte nichts.

Dann mussten wir weg, weil die Russen den Hof requirierten. Kaum hatte ich einen Koffer mit meinen Sachen gepackt, nahm ihn mir ein russischer Soldat auch schon ab. Ständig hörte man von Vergewaltigungen, ich hatte große Angst, wollte nach Hause zu meinen Eltern, wusste aber gar nicht, ob die noch lebten. In Nauen war erst mal Endstation, weil alle Brücken gesprengt waren. Ich kam vorerst bei Onkel Walter unter. Im Haus hatte sich ein russischer Offizier einquartiert, ein Jurist aus Moskau. Ein richtiger Gentleman! Das war unser großes Glück. Er beschützte uns, kümmerte sich um mich.

Irgendwann war die Brücke notdürftig repariert, und es ging doch weiter. Endlich sah ich meine Eltern wieder. Beide waren wohlauf. Berlin war großenteils eine Trümmerwüste, auch unser Viertel in Spandau war eine Ruinenlandschaft, gespickt mit Bombentrichtern. In unserem Block waren einige Häuser zerstört – unseres stand noch.

Die russischen Soldaten ließen mich in Ruhe – bis auf eine Ausnahme. Es passierte mehr als ein halbes Jahr nach Kriegsende. Ich ging in Oranienburg auf die Landwirtschaftsschule. Weil ich meinen Zug am Stettiner Bahnhof verpasst hatte, musste ich eine Stunde später fahren, deshalb war es schon dunkel, als ich in Oranienburg ankam. Vom Bahnhof in die Schule waren es nochmal vierzig Minuten zu Fuß. Auf einmal stand ein Russe vor mir und packte mich. Er war allein. Ein junger Kerl. Ich schrie um Hilfe. Auf der anderen Straßenseite gingen ein Mann und eine Frau. Sie reagierten nicht. Wahrscheinlich hatten sie selbst Angst. Was mich rettete, waren meine wollenen Unterhosen. Die hatte ich mir unter Anleitung meiner Mutter aus den Fäden alter Zuckersäcke gestrickt. Weil es keinen Gummizug gab, häkelte ich mir eine Kordel. Und die war an dem Abend so gut verknotet, dass der Russe sie partout nicht aufbekam. Es war Januar und arschkalt. Da ist ihm die Lust vergangen und er verschwand.

Fotomodell für Suse Byk

Im Jahr 1935 posierte die damals sechsjährige Lieselotte Radke mehrmals für die Berliner Fotografin Suse Byk in deren Atelier am Kurfürstendamm 230. Es entstanden idealtypische Kinderfotos, die unter anderem als Postkartenmotive verwendet wurden (Foto). Eine Zahnlücke beendete schließlich die kurze Karriere der kleinen Lieselotte als Fotomodell.

Suse Byk (1884–1943) war eine bekannte Fotografin. In der Weimarer Republik porträtierte sie zahlreiche Künstler, Schauspieler, Tänzer, Sänger und Wissenschaftler, darunter den Verleger Franz Ullstein, den Maler Max Liebermann, den Schauspieler Curt Veidt und den Physiker Albert Einstein. Ihre Schülerin Liselotte Strelow bezeichnete Byk später als Berlins führende Porträtfotografin der Zwanzigerjahre.

Obwohl sie Jüdin war, konnte Byk 1933 ihre Arbeit zunächst fortsetzen, geriet aber zunehmend unter Druck. 1938 emigrierte sie mit ihrem Mann, dem Journalisten und Autor Hellmuth Falkenfeld, über London nach New York. Das Berliner Atelier übernahm Liselotte Strelow. Sie zahlte nur die Hälfte der von Byk verlangten Summe.

Lieselotte Radke kann sich nur noch dunkel an die Termine mit Suse Byk erinnern. „In einem vergitterten Aufzug fuhren wir in eine obere Etage. Die Räume waren mit Teppich ausgelegt, an den Wänden hingen Porträtfotos. Meine Mutter hatte Kleidungsstücke von mir in einem Koffer mitgebracht. Ich wurde ausstaffiert und zurechtgemacht, aber nicht geschminkt. Nebenan wartete eine dunkelhaarige Frau mit der Kamera auf mich. Sie war sehr nett und erinnerte mich ein bisschen an meine Mutter. Sie war so zufrieden mit mir, dass sie mich sogar an eine Schauspielagentur vermitteln wollte, doch meine Mutter war dagegen.“

Lieselotte Radke vermutet, dass der Kontakt zu Byk über eine Zeitungsannonce zustande gekommen war. Dass Byk Jüdin war, sei bekannt gewesen. „Für meine Mutter war das aber nicht relevant.“

Lieselotte Radke

Seit 1977 lebt die Berlinerin Lieselotte Radke in Worms. In ihrer zweiten Heimatstadt war sie lange ehrenamtlich sozial engagiert, unter anderem bei den Grünen Damen, im Frauenring und bei der Evangelischen Luthergemeinde. Nach wie vor ist sie politisch interessiert und verfolgt das Zeitgeschehen aufmerksam.

Geboren wurde sie am 26. Juni 1929 in Berlin als Lieselotte Giese. Nach der Volksschule absolvierte sie von 1943 bis 1945 auf dem Hof ihres Onkels in Kuhbier bei Pritzwalk (Brandenburg) eine Landwirtschaftslehre, nach dem Krieg besuchte sie die Landwirtschaftsschule in Oranienburg. Es folgten Anstellungen als Geflügelzüchterin in Teltow, Kinderpflegerin in Bayern, Fabrikarbeiterin und Sachbearbeiterin bei Siemens in Berlin, Bürokauffrau beim Finanzamt Berlin, schließlich als Büroangestellte im Berliner Senat für Arbeit und Soziales. 1977 zog sie zu ihrem zweiten Ehemann nach Worms. Dort arbeitete sie später dreizehn Jahre im Telefondienst der ärztlichen Notdienstzentrale. Seit 1985 lebt sie allein. Lieselotte Radke hat zwei Kinder und einen Enkel.

Versteckspiele im Bombenkeller

Als kleiner Junge wurdeNorbert Bingenheimerin Mainz Zeuge von Verfolgung und Tod – damals dachte er sich nichts dabei.

Norbert Bingenheimer beim Abrufen schmerzlicher Erinnerungen am Wohnzimmertisch zuhause in Armsheim – und als kleiner Steppke am Mainzer Rheinufer.

Als der Krieg anfing, war ich fünf Jahre alt. Angst hatte ich eigentlich nie. Wir waren ja an den Krieg gewöhnt. Schon als Kinder hatten wir im Jungvolk Uniform an und machten militärische Geländespiele: Ein Fähnlein, so hießen die Gruppen, kämpfte gegen das andere. Wir kannten nichts anderes als die Nazi-Ideologie. Mein Vater war als junger Mann in die SA eingetreten, er war ein glühender Hitler-Verehrer. In der Schule hatten wir einen Lehrer, der war Nazi hoch drei, bei dem mussten wir morgens immer den Hitlergruß machen. Nahmen wir den Arm zu hoch, hieb er von oben mit einem Stock drauf. Hing der Arm zu tief, schlug er von unten zu – bis der Arm seiner Ansicht nach im korrekten Winkel ausgerichtet war.

Wir wohnten damals am Bismarckplatz in der Mainzer Neustadt, im fünften Stock eines städtischen Mietshauses in der Richard-Wagner-Straße. Von da oben konnten wir weit sehen. Ich erinnere mich an den Anblick brennender Dachstühle in der Wallaustraße nach Bombenangriffen. Mein Vater war als Soldat im Krieg, meine Mutter im Neuen Proviantamt dienstverpflichtet. Da wurde Brot gebacken für die Soldaten. Brot hatten wir zuhause also stets genug – nur nichts für drauf.

Der erste große Bombenangriff auf Mainz war im August 1942. Das Viertel in der Schusterstraße rund um den Kaufhof, das frühere Kaufhaus Tietz, wurde total zerstört. Im Keller des Kaufhauses wurden Verkäuferinnen verschüttet. Alle wurden ein paar Tage später gerettet. Es hieß, die Frauen hätten sich da unten von Schokolade ernährt, Vorräte waren ja genug da. Als ich das hörte, wollte ich unbedingt auch mal verschüttet werden! Meine Güte, ich war gerade mal acht Jahre alt damals.

Das Warenhaus Tietz in der Schusterstraße war 1893 eröffnet worden und einer von zuletzt 43 Standorten der Warenhauskette des jüdischen Unternehmers Leonhard Tietz (1849–1914). Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurden im Zuge der „Arisierung“ die jüdischen Vorstandsmitglieder aus dem Unternehmen gedrängt und die Leonhard Tietz AG umbenannt in Westdeutsche Kaufhof AG. Ähnlich erging es Leonhards jüngerem Bruder Oscar Tietz (1858–1923), ebenfalls ein erfolgreicher Kaufhausgründer. Dessen Konzern, benannt nach dem Kapitalgeber, Oscars Onkel Hermann Tietz, war überwiegend im Osten und Süden Deutschlands aktiv. Nach der „Arisierung“ wurde das Unternehmen unter dem Namen Hertie GmbH von einem Bankenkonsortium weitergeführt.

In der Gegend gab es viele jüdische Bekleidungsgeschäfte. In der „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 waren die Schaufensterscheiben eingeschlagen, die Inhaber später einer nach dem anderen abgeholt worden. Meine Mutter erzählte mir das später. Auch gegenüber unserem Haus in der Richard-Wagner-Straße waren Juden, das waren sehr nette Leute. Irgendwann sagte meine Oma zu mir: „Die müssen jetzt einen gelben Stern tragen. Du darfst sie nicht mehr grüßen.“ Sie hatte Angst, dass irgendwann auch wir abgeholt würden. Damals habe ich natürlich nicht gleich kapiert, warum ich auf einmal nicht mal mehr „Guten Tag“ zu unseren Nachbarn sagen sollte. Wenn heute jemand in meinem Alter sagt: „Das mit den Juden, das wussten wir gar nicht!“, ist das garantiert gelogen. Überall lebten damals Juden, in jeder kleinen Ortschaft. Auf einmal waren sie alle weg. Selbst ich als Kind spürte, dass mit diesen Leuten irgendetwas Schlimmes passierte – wenn ich auch keine Ahnung hatte, was genau.

Am 18. Dezember 1944 wurden wir ausgebombt. Ich weiß nicht mehr, ob es morgens, mittags oder gegen Abend war, auf jeden Fall war es Tag, als die Bomber kamen. Auf den Güterbahnhof hatten sie es abgesehen. Es klingt komisch, aber wir Buben freuten uns immer, wenn es Fliegeralarm gab. Dann waren alle Kinder aus dem Haus im Keller versammelt und spielten Fangen oder Verstecken. Im Haus wohnte ein Major, der war zu der Zeit gerade daheim, vermutlich auf Urlaub. Während die anderen Hausbewohner unten im Keller ängstlich auf den Beginn des Bombardements warteten, stand er draußen vor der Haustür und schaute sich um. Wir schlüpften aus dem Keller und stellten uns hinter ihn. Als Offizier war der für uns wie der liebe Gott. Er zeigte auf die silbrig blitzenden Flugzeuge am Himmel und sagte: „Unsere Flak ist viel zu schwach, um die runterzuholen.“

Als es losging, hockten natürlich wieder alle im Keller. Es war ein fünfstöckiges Haus, da unten fühlte man sich einigermaßen sicher. Damals kam es noch eher selten vor, dass Bomben bis in den Keller durchfielen. In jeder Etage standen Tüten voller Sand parat, zum Löschen von Brandbomben. Benutzt wurden sie nie. Die Tüten musste man im Büro der NSDAP in der Nackstraße abholen und in einer Riesensandkiste befüllen, die zu diesem Zweck am Bismarckplatz aufgestellt worden war.

Unten im Keller schimpften die Leute über die Amerikaner. Über Hitler fiel nie ein böses Wort – das hätte tödlich enden können. Man musste ja damit rechnen, dass ein „Maulwurf“ das dann der Gestapo gesteckt hätte. Direkt vor unserem Haus gingen zwei Sprengbomben in den Bürgersteig rein, wir spürten die Wände wackeln. Der Angriff dauerte vielleicht zwanzig Minuten. Als es vorbei war, bat meine Mutter den alten Metzger Schöller aus dem Haus, oben nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Als er die Treppe wieder runterkam, schüttelte er nur den Kopf und sagte: „Frau Bingenheimer, bei Ihnen ist alles kaputt.“ Das Haus war oberhalb des dritten Stocks völlig zerstört. Meine Mutter heulte, ich stand daneben. Wir haben alles verloren – bis auf das, was wir in den Keller mitgenommen hatten: ein paar Klamotten, Papiere und ein bisschen was zu essen, hauptsächlich Eingemachtes. Wir kamen dann erst mal im zweiten Stock unter. Da wohnte Frau Berg, eine ältere Dame, die fuhr immer zu ihren Verwandten aufs Land in der Nähe von Darmstadt. Sie gab uns ihren Wohnungsschlüssel.

An den großen Angriff vom 27. Februar 1945 kann ich mich auch noch erinnern. Kurz danach streiften wir Kinder in der Stadt umher. Die Große Bleiche war eine einzige Trümmerwüste. Im Foyer des Ufa-Filmpalasts lagen vielleicht 50 verbrannte Leichen. Wir haben das gesehen, dachten uns aber nichts groß dabei. Es war Krieg! Es war halt so. Da kamen keine Gefühle auf. Der Anblick von toten und leidenden Menschen hat uns nichts ausgemacht. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich entsetzt.

Kurz bevor die Amerikaner kamen, Mitte März 1945 muss das gewesen sein, erschien im Haus so ein aufgetakelter Parteimann in SA-Prachtuniform. „Goldfasane“ wurden solche Typen genannt. „Packt eure Sachen zusammen und seht zu, dass ihr auf die andere Rheinseite kommt“, sagte er zu uns. „Die Amerikaner sind bald hier, die Brücken werden gesprengt.“ Da erwiderte ein älterer Polizist ganz ruhig: „Lass die Leute in Ruhe. Mach, dass du fortkommst, sonst trete ich dir in den Arsch.“ Der Mann hieß Metzler, war vielleicht 75 Jahre alt und gehörte zum fünften Polizeirevier gleich nebenan. Der Goldfasan schaute ihn an und sagte nur: „In einer Stunde lasse ich Sie erschießen.“ Und wissen Sie was? Kurz danach sahen wir den Goldfasan draußen im Dreck liegen, tot. Die Amerikaner können es nicht gewesen sein, die waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht da. Entweder hatte sich der Goldfasan selbst die Kugel gegeben – oder es hatte jemand nachgeholfen.

Man war abgehärtet als Kind. Und wir waren beseelt vom Nationalsozialismus. Daran änderte auch das Kriegsende erst mal nichts. Bei mir setzte das Umdenken erst ein, als ich vielleicht 16 Jahre alt war. Wenn heute einer sagt: „Ihr seid schuld daran, dass Hitler an die Macht kam“, dann halte ich dagegen: Ich nicht. Ich war noch ein Kind.

Mainz im Bombenkrieg

In jeder größeren deutschen Stadt wird die Erinnerung an ihre Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Bombenangriffe wachgehalten. Meist ist das Gedenken mit einem konkreten Datum verknüpft: In Hamburg ist es die letzte Juliwoche 1943, in Dresden der 13. Februar 1945, in Frankfurt der 18. und 22. März 1944, in Darmstadt die Nacht auf den 12. September 1944 – und in Mainz der 27. Februar 1945. An diesem Tag verwandelten Bomber der britischen Royal Air Force das Kerngebiet der Stadt am Rhein in eine Ruinenlandschaft. Die Verdichtung des kollektiven Gedächtnisses auf solche Gedenktage drängt in den Hintergrund, dass die Bewohner vieler deutscher Städte in der zweiten Kriegshälfte praktisch permanent alliierten Luftangriffen ausgesetzt waren.

Laut englischen und amerikanischen Dokumenten war Mainz zwischen 1940 und 1945 insgesamt 37 Mal Hauptangriffsziel alliierter Bomber. Teile der Altstadt wurden bereits in zwei britischen Nachtangriffen am 12. und 13. August 1942 zerstört.

Am 18. Dezember 1944 warfen 157 amerikanische B-17 („Fliegende Festungen“) 351 Tonnen Spreng- und 74,2 Tonnen Brandbomben über der Stadt ab. Das Bombardement begann um 13.49 Uhr und dauerte elf Minuten. Ziel waren die Bahnanlagen im Bereich des Hauptbahnhofs. Der Angriff war Teil der alliierten Reaktion auf den Beginn der deutschen Ardennenoffensive zwei Tage zuvor und sollte dazu beitragen, die im Westen vordringende Wehrmacht vom Nachschub aus dem Hinterland abzuriegeln.

Besonders groß waren die Schäden in der Neustadt und im nördlich gelegenen, industriell geprägten Stadtteil Mombach. 67 Wohngebäude wurden zerstört, 433 beschädigt. 110 Menschen starben, 116 wurden verletzt. Der Hauptbahnhof blieb intakt.

Von der Mainzer Neustadt blieb am Kriegsende eine Trümmerwüste. Das schwer beschädigte Haus Richard-Wagner-Straße 3, in dem die Bingenheimers wohnten, ist auf der Luftaufnahme aus dem Jahr 1945 farblich markiert.

Norbert Bingenheimer

Nachdem er seine Kriegserlebnisse geschildert hat, holt Norbert Bingenheimer ein Geschichtsbuch der ganz anderen Art hervor: das Gästebuch des Restaurants „Krone“ im Mainzer Stadtteil Finthen, das er von 1970 bis 1990 geführt hatte. Die handschriftlichen Einträge lesen sich wie ein „Who’s Who“ der damaligen Prominenz und reichen vom rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl über Bundesligatrainer Max Merkel bis zum „Winnetou“-Darsteller Pierre Brice. Mit einer langen Unterschriftenliste verewigte sich am 23. Mai 1978 sogar das mitgereiste Gefolge von Elisabeth II. in dem ledergebundenen Folianten, als die Queen Mainz besuchte.