Es schmeckt nach mehr - Bernd Mönkebüscher - E-Book

Es schmeckt nach mehr E-Book

Bernd Mönkebüscher

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Beschreibung

Als Priester aus Leidenschaft blickt Bernd Mönkebüscher nach über 30 Jahren nun wie die Emmausjünger nach dem Tod Jesu auf die katholische Kirche: Missbrauch, Vertuschung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Gesprächsverweigerung und Kirchenaustritte. Schonungslos ehrlich und authentisch sieht er der Gebrochenheit ins Angesicht. Auf dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen fragt Mönkebüscher nach jener Sehnsucht, die aufbrechen und Jesus weiter nachgehen lässt. Bei einem queeren Gottesdienst schöpft er Hoffnung. Er ist überzeugt: Wunden zeigen zu dürfen und sich gegenseitig zu unterstützen, führt ins Herz des Glaubens.

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Bernd Mönkebüscher

Es schmeckt nach mehr

Bernd Mönkebüscher

Es schmeckt nach mehr

In der KIRCHE ist für ALLE Platz!

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben,folgender Ausgabe entnommen:

Die Bibel. Die Heilige Schriftdes Alten und des Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print 978–3-451–39501–7

ISBN E-Book (EPUB) 978–3-451–83950–4

Inhalt

Vorwort

Die Emmausgeschichte

Auf-Bruch: kein Halt(en) mehr

Erster Tag

Hinter sich lassen

Druck

Scham und mehr

Tief eingeschwärzt

Unterwegs – von woher und woraufhin?

Eine Predigt, gehalten drei Tage nach Veröffentlichung des Gutachtens im Erzbistum München

Noch eine Predigt, gehalten nach der Veröffentlichung der Münsteraner Missbrauchsstudie

Anhalten

Kein Weiter-so

Weg mit der Farbe

Vom Wagnis aufrichtiger Selbstbesinnung: Bereitschaft die Ausgangslage an zuerkennen?

Museumsführer in Ruinen

Ein Weg zum Ehrlichsein

Vom Verlieren der Kräfte

Wegschweigen oder wegschreien

Dialogversuche

Wirklich gemeinsam unterwegs?Mit wem gehen wir wie um?

Wie viel Jesus erträgt die Kirche heute?

Wird etwas dadurch wahrer, wenn es jemand Bestimmtes sagt?

Vom Reden um den heißen Brei: das Zölibat

Ein Entschuldigungsritual

Zutrauen

Paradigmenwechsel

Demütige Bittsteller*innen

Den Frauen vorenthalten

Ein unruhig machendes Gebet

Ein anderer Geist

Erahnende Hoffnung, die verbindet

Angesprochen

Vom ungetrübten Blick

Den Hoffnungen von Menschen ein Haus bauen

Über Macht muss gesprochen werden

Getroffen in Betroffenheit:Ankunft im eigenen Leben

Beziehungsgeschichten

Wunden zeugen von Verletzungen

Die Bitte zu bleiben

Da gingen ihnen die Augen auf

Doch nun strahlt die Hoffnung neu in unsere Nacht

Ostern: nicht mehr außen vor

Unumwunden um Wunden

Gründonnerstag 2022

An der Schwelle zum Ostermorgen 2022

Gehen ohne Garantie

Mitteilung des eigenen Lebens als lebendige Eucharistie

Nachfolge

Als Markenkern die Vielfalt

Im Kleinen

Es schmeckt nach mehr

Nachwort

Endnoten

Vorwort

Als Kind fand ich die Emmauserzählung furchtbar lang, auch langweilig. Ich dachte immer, dass das Spannende ausgelassen wird, wenn es von Jesus heißt: „Er legte ihnen dar, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.“ Genau das hätte ich gern gehört; es wird aber nicht berichtet.

Stattdessen bekommt die Trauer der beiden Jünger großen Raum. Sie klagen ihr Leid, benennen ihre Enttäuschung.

Im Lauf der Zeit ist mir diese Erzählung immer wichtiger geworden. Denn das ist doch bis heute so, auch in meinem Leben: Blindheit, kein Durchblick, Wut, Trauer, enttäuschte Hoffnungen und Ratlosigkeit nehmen Raum ein in den alltäglichen Herausforderungen, aber ebenso in meinen Glaubensversuchen, die für mich wie für viele andere auch so stark an die katholische Kirche gebunden sind.

Die Emmausgeschichte sagt mir: Schafft Erzählräume. Geht Wege miteinander, auf denen ihr euch mitteilt, was euch bewegt. Verschließt euch nicht. Geht raus mit euren Gedanken, eurer Enttäuschung, brecht die „Blasen“, die „Bubbles“ auf, teilt euch auch den „Wildfremden“ mit. Denn dann verändert sich was. Es wächst eine neue Gemeinschaft, man ist am dunklen Abend nicht allein, landet am Tisch, isst zusammen, Herzen beginnen zu glühen. Und du merkst: Da ist mehr.

Das ist die Idee dieses Buches: eine Wanderung, Durchgänge durch Erlebtes, durch traurig Stimmendes, aber auch durch bleibende Hoffnung, die ich mit Jesus verbinde. Ich sehe mich nicht als einen der Wegwissenden, die in unseren Zeiten mir nahezu inflationär geworden erscheinen und Lösungsangebote für Kirche und Welt anbieten. Ich sehe mich gar nicht des Weges kundig, eher loslaufend wie die Emmausjünger, die vielleicht neben dem enttäuschten „Bloß weg hier“ zwar Emmaus als Ziel hatten, es aber dann doch aufgrund ihres Austausches verändert erreichen und noch veränderter wieder verlassen. Denn das Wesentliche ist unterwegs geschehen: im Aufarbeiten, im Benennen von Enttäuschung, im nicht mehr weiter Wissen. Wo unsere Kirche nicht von Grund auf aufarbeitet, was an Unrecht, an Verletzung, an Lebensraubendem geschehen ist, institutionell und bei Einzelnen, wo es nicht benannt und eingestanden wird, wird – davon bin ich überzeugt – die Begegnung mit dem auferstandenen Christus nicht stattfinden. Das Aufarbeiten, das Nachgehen, das miteinander Reden wird zur Voraussetzung der Ostererfahrung der Emmausjünger und zur Ostererfahrung der Kirche.

Sie als Lesende, als „Wildfremde“ gehen in diesem Buch mit mir, ich rede einfach drauflos, schreibe, was mir als Mensch, der meint, von Jesus etwas gehört zu haben, was mir als Priester, der in einer Institution arbeitet, die für sich in Anspruch nimmt, sich Jesus verschrieben zu haben, durch den Kopf geht, was mich beschäftigt, fragen lässt, mutlos macht.

Es wird um manche Themen gehen, persönliche und kirchenpolitische, es wird um die Abhängigkeit von (zölibatären) Männern in der Kirche gehen und um das, was wir eigentlich unter Eucharistie verstehen. Insbesondere die Coronazeit hat die Frage nach der Eucharistie vertieft aufgeworfen: In den Wochen, in denen Gottesdienste nicht öffentlich gefeiert wurden, beantworteten die einen die Herausforderung mit Privatmessen, die sie „für“ andere feierten; die anderen solidarisierten sich mit eucharistischem Fasten; wieder andere deuteten die Zusammenkünfte im Geist Jesu in den Hausgemeinschaften und kleinen Zusammenkünften als eucharistische Gemeinschaft.

Wohin geht „die Reise“? Was wird bei den Lesenden in Bewegung kommen oder zum Einspruch reizen? Wie nehme ich die hier festgehaltenen und mitgeteilten Gedanken in einigen Jahren vielleicht auf?

Die Jünger hatten am „ersten Tag der Woche“ Emmaus als ihr Ziel, aber was sich auf dem Weg ereignen würde, konnten sie nicht ahnen … So ist es, wenn Menschen auf dem Weg sind.

Die Emmausgeschichte

„Am gleichen Tag gingen zwei von den Jüngern nach einem Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander über alles das, was sich zugetragen hatte. Während sie miteinander sprachen und überlegten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen. Ihre Augen aber waren gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er fragte sie: Was sind das für Reden, die ihr da auf dem Weg miteinander führt? Da blieben sie traurig stehen. Einer von ihnen namens Kleopas antwortete ihm: Bist du der Einzige in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Er fragte sie: Was denn? Sie antworteten ihm: Das mit Jesus von Nazaret, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volk, und wie ihn unsere Hohenpriester und Führer zur Todesstrafe verurteilt und ihn gekreuzigt haben. Wir aber hofften, dass er es sei, der Israel erlösen werde. Und nun ist zu alldem heute schon der dritte Tag, seit dies geschehen ist. Aber auch einige Frauen aus unserem Kreis haben uns in Bestürzung versetzt. Vor Tagesanbruch waren sie beim Grab und fanden seinen Leichnam nicht; sie kamen und erzählten, sie hätten eine Erscheinung von Engeln gehabt, die sagten, er lebe. Dann gingen einige von uns zum Grab und fanden es so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber haben sie nicht gesehen. Da sagte er zu ihnen: Ihr Unverständigen, wie träge ist euer Herz, an alles das zu glauben, was die Propheten gesagt haben! Musste nicht der Messias alles dies erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? Und er begann, ihnen mit Mose und allen Propheten auszulegen, was sich in der ganzen Schrift auf ihn bezieht. Als sie sich dem Dorf näherten, zu dem sie unterwegs waren, tat er, als wolle er weitergehen. Da drängten sie ihn und sagten: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben. Und als er sich mit ihnen zu Tisch gelegt hatte, nahm er das Brot, sprach das Dankgebet, brach und gab es ihnen. Da wurden ihnen die Augen aufgetan und sie erkannten ihn; er aber entschwand ihren Blicken. Da sagten sie zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er auf dem Weg mit uns redete und uns die Schriften erschloss? Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück. Dort fanden sie die Elf und ihre Gefährten versammelt, die sagten: Wahrhaftig, der Herr ist auferweckt worden und dem Simon erschienen! Da erzählten auch sie, was auf dem Weg geschehen war und wie sie ihn beim Brotbrechen erkannt hatten.“

(Lk 24, 13–35 in der Herder-Übersetzung der Bibel von 2005)

Auf-Bruch: kein Halt(en) mehr

„… alles das, was sich zugetragen hatte.“

Erster Tag

„Am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus.“ Wir wissen, es ist der erste Tag der Woche.

Was macht den Tag zum ersten? Natürlich die Zählweise. Aber diese Erklärung würde dem Niveau biblischer Erzählungen nicht gerecht. Der erste Tag steht für Beginn, für Anfang, und ihm folgen weitere Tage. Nichts ist fertig, nichts ist abgeschlossen, nichts ist vollendet. Im Gegenteil: Es fängt neu an.

Das ist schon eine echte Herausforderung, an die völligen Neuanfänge zu glauben, an Tage, die das Blatt wenden, die alles anders werden lassen, und die deshalb erste Tage sind.

Viele trauen das der Kirche nicht mehr zu, dass es mit ihr erste Tage gibt, eine Zukunft – und nicht: Der Letzte macht das Licht aus.

Mir geht es nicht viel anders. Ich spüre das Leben im „Noch“ hautnah. Noch haben wir zwei Priester für eine Seelsorgeeinheit, noch haben wir 5 Kirchen, noch haben wir eine Zahl X an Gottesdienstbesuchern, noch haben wir … Nichts klingt da nach einem ersten Tag. Kein Anfang, kein Aufbruch, sondern Zusammenbruch und nahendes Ende. Man kann förmlich zusehen.

Das tut weh. Es macht Angst. Wer keine Zukunft mehr sieht, kann nur noch abschließen.

Vielleicht sollten wir das endlich tun. Abschließen. Hinter uns lassen. So wie die Jünger Jerusalem hinter sich lassen, den Ort, in dem ihnen ihr Halt entrissen und brutal niedergemacht wurde.

Aber wie schwer tun wir uns damit. Denn da ist ja (noch) das eben erwähnte „Noch“. Bei allem Reden in der Kirche von Prioritäten und Posterioritäten, von Abschied nehmen – kommt es hart auf hart (und diese Situation ist die unsrige) –, dann heißt es: Das eine tun, ohne das andere zu lassen.

Die Jünger auf ihrem Weg nach Emmaus haben das eine getan und das andere gelassen. Sie haben die Elf zurückgelassen und den Ort, der für sie voll Trauer ist. Sie sind losgegangen. Da, wo sie waren, konnte es für sie so nicht weitergehen.

„So kann es nicht weitergehen“, sagen mittlerweile auch Verantwortliche in den Kirchen. Es muss sich etwas verändern. Ich glaube, es muss sich nicht nur etwas verändern. Wir brauchen einen ersten Tag, einen Neuanfang. Nicht umsonst haben nicht nur wenige Zweifel daran, sondern halten es nicht für möglich, dass mit den Bischöfen, die jetzt scheibchenweise Scham bekunden ob der Missbrauchsverbrechen und deren Vertuschung in den Kirchen, ein erster Tag beginnen kann. Können die, die für das „alte System“ Kirche stehen, jetzt völlig neu anfangen? Können die, die bis vor kurzem queeren Menschen etwa im Fall einer offenkundig gewordenen Partnerschaft die Kündigung ausgesprochen haben, jetzt glaubhaft sagen: Ihr seid uns willkommen?

Ich frage mich selbst das Gleiche: Habe ich noch die Energie zu einem Aufbruch in einen ersten Tag? Oder ist es mir lieber, die Woche, deren Mitte überschritten ist, läuft nur noch aus?

Ich erinnere mich an einen meiner Anfänge. Die erste Eucharistie, die ich geleitet habe, die Primizmesse. Ich habe mir die Stelle als Bibeltext gewünscht, die von Elija erzählt, der in die Wüste hineinzieht, sich unter einem Ginsterstrauch niedersetzt und sich den Tod wünscht. Wie sehr mich diese Geschichte weiterhin begleiten würde, ahnte ich damals nicht.

Ist das prinzipiell schlecht, aufgeben zu wollen? Besiegelt Aufgeben zugleich Versagen und Feigheit, oder ist es eher die Erzählung vom Erschöpftsein, von wahrgenommener Niederlage und von großer Müdigkeit?

Zum Glück hat es immer wieder Menschen gegeben, die anrühren (die Bibel nennt sie Engel), und einen Krug mit Wasser und Brot. Aber vermutlich hätte ich aus diesem Krug nicht getrunken, wäre da nicht die vorausgehende Müdigkeit gewesen. Solche Geschichten sind zwar einmalig, aber man erlebt sie immer wieder.

Erste Tage zählen wir darum nicht für eine ganze Ewigkeit, sondern genau genommen jede Woche. Hinter sich lassen, verabschieden; nicht korrigieren, nicht ausbessern, nicht ergänzen, nicht fortschreiben. Ein neues Kapitel aufschlagen, auch wenn wir das Vergangene mitnehmen, es nicht nur in Jerusalem verorten, denn es ist ja auch in uns. Bis es aus uns heraus ist, der Tag wirklich zum ersten wird, ist es ein Weg.

Hinter sich lassen

Ich bin jetzt über 30 Jahre Priester. Spätestens seit den Freisemestern, also seit 1988, stelle ich mir jeden Tag mehrfach die Frage: (Damals: „Ist es richtig?“ Heute:) „War das richtig, diesen Weg zu gehen?“

Weil in diesen Zusammenhängen gern von Liebe (zu Gott, zu den Menschen, zur Kirche, zum Beruf) geredet wird: Eine solche Unsicherheitsfrage habe ich mir bislang in keiner einzigen Freundschaft oder Bekanntschaft gestellt – im Gegenteil, da ist Klarheit.

In den letzten Jahren kam mir häufiger der Gedanke: Ja, ich wäre gern Vater geworden (wie auch immer), ich hätte mich gern anders eingebracht in den kirchlichen Fragen. Leidenschaftlicher. Positionierter. Streitbarer.

Mit all dem, was ich heute weiß und fühle und glaube, würde ich einen anderen Weg gehen. Das heißt nicht, dass mir viele meiner Arbeiten nicht Sinn geben und ich sie nicht als sinnvoll erachte; das heißt nicht, dass ich es nicht bereichernd empfinde, mit Glaubensgeschwistern Glauben, Hoffnung und Liebe zu teilen. Aber das große Koordinatensystem hält mich nicht und hat mich nie gehalten, und ich erlebe es gegenüber Frauen und queeren Menschen nach wie vor als zutiefst demütigend und verletzend, weil jedes „Zugeständnis“ wie ein vom Tisch gefallener Brotkrumen wirkt; das, was abfällt, tut niemandem weh und wird von den Herren am Tisch als großes Geschenk verkauft und gnädig zugewiesen.

Mittlerweile stelle ich mir die Frage, die viele hinsichtlich eines Kirchenaustritts beschäftigt: Kann ich es mit meinem Glauben vereinbaren, weiter dabei zu sein? Es gibt nicht wenige Austritte aufgrund des Glaubens …

Diese Unsicherheitsfrage quält mich. Lange habe ich gedacht und mir einreden lassen, dass dies mein Problem sei und dass ein bisschen geistliche Begleitung Antwort geben kann. Mittlerweile bin ich überzeugt, dass das Problem nicht in mir seine Ursache hat.

In der Synodalversammlung wurde am 05.02.2022 mehrfach eine Abwehrhaltung eingenommen gegenüber einem Paradigmenwechsel (in der kirchlichen Sexualmoral). Es braucht diesen Paradigmenwechsel in allem – mir fällt kein besseres Wort ein als das vom „Lehramt der Betroffenen“, was für mein Empfinden die Praxis Jesu ist, das den Ton angeben muss, die Richtung und den Maßstab.

Genau diese Praxis Jesu hat mich vor Jahrzehnten gelockt, ich meinte sie wahrzunehmen in der Kirche, wie ich sie erlebte. Davon wollte ich mehr, ich wollte dazugehören, und ich sog viele Worte und Gebete auf.

Es war 1985, als ich mit dem Theologiestudium begann. Das Gotteslob als Nachfolgegesangbuch des Sursum Corda war schon einige Jahre eingeführt, dennoch kannte ich noch nicht alle neuen Lieder darin. Als ich zum ersten Mal hörte, wie in der Konviktskapelle das Lied Eine große Stadt ersteht gesungen wurde, lief es mir kalt über den Rücken. Das ist es – dachte ich. Ich bin auf dem richtigen Weg.

Das Lied mit der darin verdichteten Verheißung oder Vision hat für mich an Bedeutung nichts verloren, aber die Sicherheit des Weges ist längst dahin. Je mehr ich „Kirche“ kennenlerne, Entscheidungsabläufe, Intransparenz, Karrieredenken, Unehrlichkeit, Selbstschutz, Machtmissbrauch auch im geistlichen Sinn, Schubladendenken, Zelebration der eigenen Eitelkeiten, in Kauf genommene Verletzungen, umso weniger finde ich die Praxis Jesu in ihr. Und ich merke, wie ich selbst Teil von Kirche geworden bin und mich frage, wie ich die Worte Jesu lebe oder eben nicht lebe.

Eine bestimmte „Form von Kirche“ muss ich verlassen, sie ist hässlich und hat mit Jesus nichts zu tun. Ich halte diese Form für nicht reformierbar, aber ich befürchte auch, dass diese Form so schnell nicht sterben wird, wenn sie überhaupt stirbt. (Vornehmlich Vertreter dieser Form von Kirche zitieren ja gern das Wort Jesu, das er zu Petrus spricht, wenn er ihn den Fels nennt, auf dem die Kirche gebaut ist, eine Kirche, die die Mächte der Unterwelt nicht überwältigen werden. Aber ist diese Form von Kirche das Werk Jesu? Nein!)

Es fällt mir schwer, sie zu entmachten, sie einfach zurückzulassen, wie die Israeliten Ägypten hinter sich ließen auf dem Weg in die Freiheit, ins Gelobte Land, in „die große Stadt“, wie Silja Walter in dem erwähnten Lied formuliert. Ich frage mich, wie ich dieser Form von Kirche noch Futter gebe, sie bediene und sie so mit aufrechterhalte, und merke gleichzeitig, wie groß die Sehnsucht geblieben ist nach dieser anderen Kirche, die viel stärker vom Geist Jesu geprägt ist und immer noch von nicht wenigen Menschen gesucht und gebraucht wird.

Druck

Mit meinem Beruf verbinde ich manches, aber mit den Jahren vor allem eins: immer mehr Druck. Kaum eine Sitzung, kaum ein Treffen, gleichgültig ob mit Haupt- oder Ehrenamtlichen, in denen nicht Fragen wie diese diskutiert werden: Was können wir machen, damit Kirche wieder besser dasteht, die Gottesdienste wieder stärker belebt sind, mehr Freude am Glauben wächst, junge Menschen sich stärker angesprochen fühlen?

Abgesehen davon, dass ich mich frage, ob dieses „Machen“ nicht eigentlich der Ruf nach Macht und Beeinflussen, mindestens aber nach eigener Bestätigung ist, höre ich unausgesprochen: Wenn du, Pastor, deine Arbeit gut machst, geht es bergauf. Die Erstkommunion muss ein Erlebnis werden, die Trauung ein Event, die Taufe locker und die Beerdigung einfühlsam. Das Kommen und Gehen von Menschen hängt von dir ab, von deiner Kommunikation, von deinem Esprit. Wenn nach Erstkommunion und Firmung die Kinder und Jugendlichen nicht bleiben, ist es dein Versagen, dann hast du es nicht richtig gemacht, nicht alles gegeben.

Bringt das Wort des hl. Ignatius von Loyola wirklich Entlastung: „Handle so, als ob alles von dir, nichts von Gott abhinge. Vertraue so auf Gott, als ob alles von Gott, nichts von dir abhinge“?

Mir ehrlich gesagt nicht. Denn so handeln, als hinge alles von mir ab, macht mir vor jeder Predigt Druck, vor jeder der Sitzungen, in denen es um Gegenwart und Zukunft von Kirche geht, vor Trauerfeiern, in denen ich Trost schenken und menschlich nahe sein möchte. Die meisten Fortbildungen packen weitere Lasten auf; immer neue Hochglanzbroschüren mit Konzepten und Schreibtischideen von Menschen, die schon lange nicht mehr oder gar nicht in der Pastoral sind, bringt die Post ins Haus oder werden digital übermittelt. Weniger Geld und weniger Menschen, die sich in Kirche beheimatet fühlen, muss zur Aufgabe von Gebäuden und Kirchen führen, während gleichzeitig die Verwaltungsgebäude in den Bistumsstädten und die in ihnen arbeitenden Menschen zahlenmäßig wachsen und wachsen und den Pastoralteams sagen, wie es zu gehen hat. Und wenn Menschen nicht mitgehen, dann hast du es ihnen nicht richtig erklärt.

Der Run auf Ideen, wie sich Menschen heute neu bewegen lassen, macht Druck; die Schwierigkeit, den Glauben selbst zur Sprache zu bringen, nicht weniger. Gottesdienste sollen ansprechend sein und gleichzeitig werde ich durch das Messbuch an Formulierungen gebunden, die vielen und mir auch nichts mehr sagen. Formuliere ich etwas um, sitzt mir im Nacken, ob es dann wirklich besser ist oder ob ich zu sehr mein Eigenes hineinbringe. Formuliere ich nicht um, frage ich mich, ob ich mich so aus der Verantwortung stehlen will, zeitgemäß Liturgie zu feiern, und Chancen verstreichen lasse.

Vierundzwanzig Stunden am Tag kreisen die Gedanken, denn Priester ist man ja immer …, außer beim Schlafen natürlich. Aber da holen mich Alpträume ein: Ich träume davon, die Kommunion auszuteilen und die Schale ist leer. Ich tue so, als ob ich die Hostie in der Hand halte – und keiner merkt es. Ich schwitze im Traum „Blut und Wasser“.

Vierundzwanzig Stunden: Arbeite ich auch wirklich genug? Den und die könntest du noch besuchen. Warum schreibst du an Texten und machst stattdessen nicht mehr Hausbesuche? Warum gehst du jetzt essen und sitzt da einfach so?

Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Spiritual im Konvikt vor sogenanntem „Müßiggang“ warnte. Wenn da ein freies Zeitfenster am Tag sei, sollten wir es sogleich nutzen, einen Hausbesuch machen oder sonst was. Ja nicht zur Ruhe, ja nicht zu sich selbst kommen.

Als vor mehr als 30 Jahren Eugen Drewermann ein Buch über die Priester schrieb, nannte er es Kleriker – Psychogramm eines Ideals. Damals leuchtete mir noch nicht so ein, wie treffend dieser Titel gewählt ist. Das Ideal, radikal ernst genommen, lässt keine ruhige Minute und macht krank.

Zufällig höre ich mit diesen Gedanken im Kopf im Autoradio zwischen zwei Gottesdiensten am Pfingstmontag 2022 eine Predigt von Präses Annette Kurschus (seit 2021 Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland), ausgehend vom 11. Kapitel des 4. Buches Mose. Erzählt wird, wie das Volk murrt auf dem Weg ins Gelobte Land und sich nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“ zurücksehnt.

„Wir denken an die Fische, die wir in Ägypten umsonst zu essen bekamen, an die Gurken und Melonen, an den Lauch, an die Zwiebeln und an den Knoblauch. Jetzt aber vertrocknet uns die Kehle, nichts ist mehr da, nichts als Manna bekommen wir zu sehen“, heißt es.