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Liebe macht blind und manchmal auch dumm. Wenn man am Fenster sitzt und hinausschaut in die 'Vergraudummung', ist es Zeit aufzustehen und zu handeln.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Es war Herbst. Silvia schaute aus dem Fenster ihrer kleinen Wohnung und beobachtete die fallenden Blätter. Ein leichter Wind war aufgekommen und trieb die bunten Blätter vor sich her.
Silvia spürte, dass in Kürze etwas geschehen würde. Das Kribbeln von tausenden von Ameisen in ihrem Innern war ein nur zu deutliches Zeichen.
Lächelnd beobachtete sie eine Gruppe von Kindern, die sich kreischend im feuchten Laub wälzten. Diese Jahreszeit muss schön sein für Kinder, dachte Silvia. In ihrer Kindheit hatte sie sich immer auf den Herbst gefreut. Sie hatte die Blätter gesammelt und die schönsten und buntesten in ihr Schulheft geklebt.
Eine ältere Passantin trieb, mit ihrem Schirm drohend, die Kinder auseinander.
Schnell wollte Silvia ein paar Schimpfworte hinausrufen, unterließ es aber, weil sie es für sinnlos hielt. Sie ließ die Gardine los und ging in die Küche, öffnete den Eisschrank und kehrte, mit einer Flasche Rotwein und einem Glas, ins Wohnzimmer zurück. Seit drei Monaten hatte sich Silvia angewöhnt immer etwas Alkoholisches im Eisschrank zu haben. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um Whisky, Kognak, Wein oder sonst was handelte. Für Silvia war nur wichtig, dass sie abends schnell einschlafen konnte. Sie hatte Angst. Angst vor ihren Träumen – ihren Alpträumen.
Es war immer der gleiche Traum. Sie saß hinter dem Steuer ihres Autos und neben ihr Günter. Günter war ihr Freund, er wohnte bei ihr und wollte sie eigentlich heiraten.
Nicht denken, nur nicht denken, alles, nur das nicht. Silvia stand auf und legte eine Schallplatte von den Beatles auf.
Mit geschlossenen Augen saß sie auf dem niedrigen Sofa, nippte an ihrem Glas und die Vergangenheit ließ ihr keine Ruhe…
„Nun beeil dich, wir sind sowieso schon spät dran“, rief Günter und schaute auf die Uhr.
„Bin doch schon fertig.“ Silvia verstaute den Lippenstift in ihrer Handtasche und kam aus dem Bad.
„Ihr Frauen braucht immer eine Ewigkeit“, sagte er gedehnt und verdrehte die Augen. Silvia boxte ihn in die Rippen und versöhnte ihn sogleich mit einem Kuss.
Sie waren von Uta und Bernd, ihren besten Freunden, eingeladen worden. Uta sah reizend aus. Ihr langes, braunes Haar trug sie im Nacken, von einer breiten Spange zusammengehalten. In einem lockeren Bündel fielen die Haarsträhnen bis halb auf den Rücken. Ihre hellbraunen, lustigen Augen strahlten vor Freude als sie Silvia und Günter die Tür öffnete.
„Immer rein in die gute Stube“, sagte sie lächelnd und führte sie ins Wohnzimmer, wo Bernd sie erwartete. Bernd, ein mittelgroßer, schlanker, dunkelblonder Mann, führte sie an die Theke. Er selber ging dahinter und sorgte für die Getränke.
Bernd war stolz auf seine selbstgezimmerte Theke, dies ließ er sich oft und gerne anmerken.
„Ist das nicht ein schönes Stück?!“ sagte er und klopfte dabei mit der Faust auf die dicken Eichenbretter.
Günter nickte, wie jedes Mal, und klopfte ebenfalls.
„Sehr schön!“ Sie lachten und prosteten sich zu.
Es wurde ein gemütlicher, lustiger Abend. Später schliefen Bernd und Günter auf ihren Sesseln ein, sie hatten mal wieder versucht sich gegenseitig unter den Tisch zu trinken. Nun hielten die beiden Frauen die Zeit für gekommen, um auch etwas zu trinken.
Damit begann das ganze Unheil! Es dauerte nicht lange, da hatte Silvia einen ordentlichen Schwips. Das merkte sie aber erst so richtig, als sie mit Günter, den sie und Uta halb tragen mussten, zum Auto wankte.
„Sei vernünftig, Silvia“, mahnte Uta. „Ihr könnt doch bei uns schlafen.“
„Ach was“, schlug Silvia den gutgemeinten Vorschlag in den Wind. „Wenn wir erst einmal Günter ins Auto verfrachtet haben, wird es schon gehen.“ Silvia versuchte ihre unsicheren Schritte vor Uta zu verbergen, was ihr aber nicht gelang. Sie öffnete sie Beifahrertür, ließ Günter hineinplumpsen und ging mit schwankenden Schritten ums Auto.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Silvia, um ihre Freundin zu beruhigen. „Du wirst sehen, in fünfzehn Minuten bin ich zu Hause. Ich rufe dich dann an, damit du besser schlafen kannst.“
„Fahr langsam“, sagte Uta, die eingesehen hatte, dass sie mit Worten nichts mehr erreichen konnte.
Silvia schreckte auf. Das Klingeln an der Haustür hatte sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Noch völlig verwirrt lief sie ziellos in der Wohnung umher. Dann endlich öffnete sie die Tür.
„Aber Kindchen, was lässt du mich denn so lange warten?“ fragte Frau Dorn keuchend. Frau Dorn kam einmal in der Woche um Silvia, die sie wie ihre eigene Tochter behandelte, mit dem Nötigsten zu versorgen. Die ältere, etwas rundliche Frau steuerte, mit den vielen Einkauftüten, sofort die Küche an.
Seit drei Monaten kochte sie an jedem Freitag ein Essen für sich und Silvia. Sie unterhielt sich mit Silvia und versuchte, sie aufzuheitern. Bisher leider ohne Erfolg.
Silvia hörte Frau Dorn in der Küche herumhantieren und legte eine andere Scheibe der Beatles auf, denn auch Frau Dorn war ein Fan der vier Pilzköpfe.
Der Wind war stärker geworden. Bald, dachte Silvia, wird kein Blatt mehr fallen, die Bäume werden leer sein und wie nutzlose, sterbende Gebilde aussehen. Sterbende Gebilde, die nach ihrer Zeit wieder zum Leben erwachen. Leben, das könnte er auch noch, mein Günter, dachte sie weiter und Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
Ruckartig fuhr Silvia los. Uta schaute ihr ängstlich nach. Sie machte sich Vorwürfe, sie hätte ihr einfach den Autoschlüssel abnehmen sollen, aber nun war es zu spät. Silvia bog um die nächste Ecke und war damit aus dem Sehbereich von Uta verschwunden.
Vor Silvia drohte alles zu verschwimmen, sie rieb sich die Augen und schüttelte mit den Kopf. Nun ging es wieder eine Weile. Schnell schaute sie zu Günter, der, aufrecht wie eine Säule, neben ihr saß und schlief.
Jetzt ging es bergab. Gleich muss die Linkskurve kommen, dachte sie, dann habe ich es geschafft. Ein Hase sprang über die Straße und Silvia bremste hart.
Günter knallte mit der Stirn gegen die Windschutzscheibe und wachte auf.
„Wo bin ich?“ lallte er, drehte sich um und sah Silvia. „Ach, Silvia, mein Schatz“, sagte er und nahm ihren Kopf in seine Hände, drehte ihn zu sich und wollte ihr einen Kuss geben.
„Günter!“ schrie Silvia, aber da war schon die Linkskurve.
„Aber Kindchen, was ist denn los?“ fragte Frau Dorn, die erschrocken aus der Küche gerannt kam.
Silvia, die wirklich den Namen ihres Freundes geschrien hatte, sah durch Frau Dorn hindurch, als wäre sie ein Gespenst.
„Komm“, sagte Frau Dorn mit mütterlicher Stimme und nahm ihre Hand, „wollen wir erst einmal was essen.“
Silvia aß lustlos. Ihre Gedanken waren noch immer bei dem schrecklichen Erlebnis.
Nach dem Essen saßen die beiden Frauen um den kleinen Tisch im Wohnzimmer und tranken Rotwein.
Frau Dorn kannte Silvia seit zwei Jahren, als Silvia hierher gezogen war. Sie kannte auch ihre Eltern, die Silvia an ihrem zwanzigsten Geburtstag besucht hatten. Das war vor eineinhalb Jahren gewesen. Der Tag hatte allerdings ein schreckliches Ende genommen, denn das Flugzeug, mit dem Silvias Eltern nach Amerika fliegen wollten, stürzte ab. Beide waren dabei ums Leben gekommen.
Frau Dorn, die wusste wie sehr Silvia an ihren Eltern hing, kümmerte sich liebevoll um sie. Und als Silvia dann Günter kennenlernte, zog sie sich zurück. Damals war es nochmal gut gegangen, aber seit drei Monaten beobachtete sie, wie Silvia immer mehr in sich zerfiel. Sie ging nur sehr selten aus dem Haus, saß immer nur in dem kleinen Zimmer und grübelte vor sich hin.
Wenn sie wenigstens wieder arbeiten gehen würde, dachte Frau Dorn. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, was Silvia damals geerbt hatte. Neben einem kleinem Häuschen in den Bergen noch eine beachtliche Summe Geld. Eine Summe, bei der Frau Dorn nur an einen Lottogewinn denken konnte. Nun ja, dachte sie, vielleicht würde ich auch nicht mehr arbeiten wollen, wenn ich so viel Geld hätte. Aber es ging ja nicht um sie, sondern um Silvia.
„Warum besuchst du nicht mal wieder Uta und Bernd?“ fragte sie und nahm einen Schluck Wein.
„Sie haben sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ich weiß nicht, ob es Uta recht wäre, wenn ich plötzlich vor der Tür stehen würde.“ Silvia hatte nicht aufgeschaut, knapperte nur nervös an ihren Fingernägeln.
„Blödsinn, Silvia, ruf sie doch vorher einfach an.“
Silvia wusste, dass sie es nur gut meinte und ihr helfen wollte.
„Ja, das werde ich tun“, sagte sie und hörte auf an ihren Fingernägeln zu knabbern. Natürlich hatte sie schon öfter daran gedacht, Uta anzurufen, hatte es aber immer sein lassen, wie sie es auch diesmal sein lassen wollte.
Beruhigt stand Frau Dorn auf und sagte, dass sie nun gehen müsse. Sie zog ihren Mantel an und holte ihren Schirm, den sie immer dabei hatte, weil man ja bei dem Wetter nie weiß wann es regnen wird und ging zur Tür.
„Ach, was ich beinahe vergessen hätte, Silvia…“ Sie drehte sich um und lächelte. „Mein Mann und ich wollen dich für morgen einladen.“
Silvia dankte und sagte, dass sie kommen werde.
Mein Mann und ich, dachte sie und war überzeugt davon, dass ihr Mann nicht die geringste Ahnung hatte. Egal, irgendwann muss ich ja wieder anfangen normal zu werden.
Nachdem Frau Dorn gegangen war, ging Silvia ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Langsam zog sie sich aus. Silvia war stolz auf ihre Figur und auf ihren großen, aber festen Busen. Wenn sie lächelte, waren fast keine Grübchen zu sehen. Eine kleine Stubsnase saß genau dort, wo sie hingehörte. Silvia fuhr sich mit der zierlichen Hand über ihren blonden Bubikopf und große blaue Augen sahen ihr aus dem Spiegel dabei zu.
Mit dem großen Zeh prüfte sie die Temperatur des Wassers, ließ noch heißes Wasser dazu und glitt dann vorsichtig in die Wanne. Sie liebte heiße Bäder über alles. Oft musste sie sich regelrecht zwingen aus der Wanne zu steigen.
Auch diesmal zog sie, als das Wasser kalt geworden war, den Stöpsel heraus und ließ es zur Hälfte ablaufen, um dann wieder Heißes nachzufüllen.
Gerade als sie sich so richtig wohl fühlte, klingelte das Telefon. Nackt und nass wie sie war, lief sie zum Telefon. Bevor sie abhob, ließ sie es noch ein paarmal klingeln – zu lange hatte Silvia darauf verzichten müssen.
„Hallo, Silvia, hier ist Uta“, Das hätte sie nicht zu sagen brauchen, dachte Silvia. Sie kannte ihre Stimme aus vielen Telefongesprächen.
„Hallo, Uta“, flüsterte sie unsicher.
„Was hast du gesagt? Ich verstehe kein Wort.“ Uta hatte laut in den Apparat geschrien.
„Ich habe gesagt, schön dass du anrufst.“ Sie sprach diesmal lauter und Uta verstand sie nun deutlich.
„Wie geht es dir, Silvia?“
„Danke, gut. Ich habe Günter schon vergessen, falls du das meintest.“ Silvia hätte sich im gleichen Moment ohrfeigen können. Schnell legte sie auf, weil sie sich ihrer Worte schämte.
Was hat Uta mir getan, dass ich so mit ihr rede? Silvia ging ins Bad und trocknete sich ab. Sie schaute in den Spiegel, konnte aber ihren eigenen Blick nicht mehr ertragen. In der Küche suchte sie nach Zigaretten, zündete sich eine an und inhalierte tief. Ihre Hände zitterten und sie war den Tränen nahe.
Sie setzte sich auf das kleine Sofa im Wohnzimmer, stopfte alle erreichbaren Kissen in ihren Rücken und zog das Telefon näher heran.
„Es tut mir leid, Uta“, sagte Silvia mit zitternden Lippen.
„Ist schon gut, Silvia.“ Silvia glaubte einen kühlen Unterton herausgehört zu haben und wurde vorsichtig.
„Warum hattest du mich angerufen?“
„Wir, Bernd und ich, geben nächste Woche am Samstag eine Party. Es wäre schön, wenn du auch kommen würdest.“
Keine Botschaft konnte erfreulicher sein, als diese. Nur zu gerne sagte Silvia zu.
Silvia war glücklich darüber, dass sie Uta doch noch mal angerufen hatte. Sie lehnte sich in die Kissen, schloss die Augen und summte eine Platte der Beatles.
Die Welt war wieder in Ordnung.
Silvia ging die Allee entlang, dann schlenderte sie durch den kleinen Park. Viel zu früh war sie losgegangen, nun hatte sie noch eine Menge Zeit. Sie setzte sich auf eine Bank, lehnte den Kopf zurück und die Sonne schien ihr ins Gesicht.
Silvia hätte ewig so sitzen bleiben können. Ein Vogel zwitscherte und Silvia öffnete die Augen. Sie sah ihn genau über ihrem Kopf auf einen kahlen Ast des riesigen Baumes sitzen.
Die friedliche Stille wurde durch knirschende Schritte gestört. Silvia, die sich beobachtet fühlte, sah auf und erschrak zutiefst. Vor ihr standen die Eltern von Günter. Während Günters Vater ihr heimlich zunickte, wurde sie von der Frau böse angesehen. Silvia stieß ein leises ‚Guten Tag‘ hervor, bekam aber keine Antwort. Ruckartig, um Silvia zu zeigen, wie sehr sie sie verachtete, wandte sich Günters Mutter ab und ging schnell davon.
Silvia blickte ihnen nach. Sie wusste, dass sie von Günters Mutter noch nie akzeptiert wurde, und es hatte ihr auch nichts ausgemacht, jedenfalls nicht als Günter noch bei ihr war. Aber seit seinem Tod war es schlimmer geworden. Silvia wurde in aller Öffentlichkeit von ihr beschimpft und beleidigt. Das war auch ein Grund, warum Silvia sich zurückzog.
Silvia stand auf und nahm sich fest vor, sich nicht über diesen unverhofften Zusammenstoß zu ärgern.
Mit den Füßen Laub aufwerfend, stapfte sie in Richtung Hauptstraße. Ihre Blicke wurden magisch von den Schaufenstern angezogen. Sie lief auf die andere Straßenseite und besah eine Stereoanlage, wie andere Frauen sich schöne Kleider ansahen. Schade, dachte sie, dass die Geschäfte geschlossen haben.
Nach ein paar Querstraßen war sie am Ziel.
Frau Dorn öffnete ihr und begrüßte sie herzlich. Sie nahm Silvia den Mantel ab und schob sie ins Wohnzimmer, wo Herr Dorn ihr lächelnd einen Platz anwies.
Der Tisch war schon gedeckt und Silvia wusste, dass man nur noch auf ihr Erscheinen gewartet hatte.
Nach dem Essen holte Herr Dorn eine Flasche Rotwein, eigens für Silvia und seine Frau, und für sich selber eine Flasche Pils.
Silvia wunderte sich, wie diese alten Leute noch feiern konnten, lustig sein konnten und sich benehmen konnten wie kleine Kinder, die man gerade beschenkte. Sie blieb bis spät in der Nacht. Und als sie sich auf den Heimweg machte, schwankte sie leicht hin und her.
Die ganze Woche über verbrachte Silvia mit der Suche nach einer geeigneten Wohnung. Jedoch ohne Erfolg. Sie konnte und wollte nicht länger in der Wohnung, in der sie so lange mit Günter zusammen war, bleiben.
Silvia wollte sich eine Wohnung einrichten, in der sie sich richtig wohl fühlen konnte. Hier kam es ihr manchmal vor, als müsse sie ersticken. Die Wände rückten immer näher und drohten sie zu zerdrücken.
Alles erinnerte sie an Günter, drum schlief sie auch nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ein Wohnungswechsel würde sie nicht vor der spitzen Zunge von Günters Mutter behüten. So beschloss sie, nicht nur die Wohnung zu wechseln, sondern auch den Ort.
Silvia erinnerte sich an das kleine Häuschen nahe den Bergen. Seit fast zwei Jahren stand es nun leer. Sie nahm einen Schluck Wein, lehnte sich zurück und versuchte sich genauer daran zu erinnern. In Gedanken ging sie durch das große, schwarze Eisentor, über den Kiesweg und öffnete die Haustür. Durch die kleine Diele gelang sie in das riesige Wohnzimmer. Überall standen große, klobige Möbel herum, an den Wänden hingen dunkle Bilder. Der Fußboden war im ganzen Haus mit dicken Teppichen ausgelegt. An den Fenstern hingen schwere, vergilbte Vorhänge.
Eigentlich mochte Silvia diese, ihr unhandliche, Einrichtung nicht. Aber diese Einrichtung war mit schönen Erinnerungen verbunden. Oft saß sie, als sie noch bei ihren Eltern wohnte, mit ihnen in den großen Sesseln um den dicken Eichentisch. Ihr Vater rauchte Pfeife, während ihre Mutter die vielen Kerzen ansteckte und Wein auf den Tisch stellte.
Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren Gläsern und hüllte alles in ein warmes Licht. Silvia fand das alles irre romantisch, und nicht selten kam es vor, dass sie dabei sehr traurig wurde und ein bisschen weinte.
Silvia zog sich aus und streifte den Bademantel über. In der Küche stellte sie die Kaffeemaschine an. Da sie in ihrem Schrank keine saubere Tasse mehr fand, sah sich genötigt eine abzuwaschen. Bei ihren Versuchen, Brot, Butter, Wurst, Kaffee und Tasse gleichzeitig zu tragen, waren so viele zu Bruch gegangen, dass sie nun nur noch zwei besaß.
Da Silvia keinen Besuch erwartete und sie selber nur aus einer Tasse trinken konnte, ließ sie es auch dabei. Nur mit ihren Versuchen war sie vorsichtiger geworden. Gerade, als sie die Tasse auf den Tisch im Wohnzimmer gestellt hatte, klingelte es an der Tür.
Silvia zog ihren Bademantel enger und öffnete langsam.
„Ich bitte Sie, Fräulein Bergen, drehen Sie ihr Radio etwas leiser, man kann ja kein Auge zu machen“, kreischte die alte Frau, die über Silvia wohnte. Silvia kannte noch nicht einmal ihren Namen. Sie hielt es auch nicht für wichtig, sie danach zu fragen.
„Ich habe kein Radio“, sagte Silvia, der es Spaß machte die alte Frau zu verwirren.
„Egal, was Sie da für eine Höllenmaschine haben, machen Sie sie leiser. Ich möchte schlafen!“ Sie sah Silvia bissig an.
Silvia sah auf die Uhr.
„Jetzt ist es kurz vor sechs“, sagte sie und legte einen abfälligen Ton in ihre Stimme. „Um halb sieben bis halb acht gehen Sie doch immer mit ihrem Mann in den Park spazieren. Warum also soll ich leiser machen?“
Die alte Frau ließ das Kinn herunter klappen, so etwas war ihr wahrscheinlich an Frechheit noch nicht vorgekommen. Silvia spürte, dass sie es bestreiten wollte und fügte schnell hinzu: „Ich höre Sie jedes Mal die Treppe herunterkommen. Und es hört sich immer an als würde eine Elefantenherde mit einer anderen Herde um die Wette laufen.“ Mit diesen Worten ließ sie die Rot angelaufene, alte Frau einfach stehen und knallte die Tür wuchtig zu. Reine Schikane, dachte Silvia und atmete tief durch. In zehn Minuten wird sie sich bei der Haushälterin über die ungezogene Silvia Bergen beschweren.
Silvia goss sich Kaffee ein und wartete. Nach genau zwölf Minuten klingelte es erneut. Es war die Haushälterin. Sie drohte mit dem Finger und ermahnte sie. Dies war nun schon die zweite Ermahnung, bei der dritten müsste Silvia die Wohnung verlassen.
Sie ging ins Bad und ließ Wasser einlaufen. Sie hatte noch gut zwei Stunden Zeit, aber was sind schon zwei Stunden für eine Frau? Auf dem Rückweg nahm sie die Kaffeekanne mit und füllte ihre Tasse erneut.
Immerzu musste sie an das Haus denken und fand immer mehr Gefallen an den Gedanken, dort zu wohnen. Unwillkürlich musste sie auch an Beckers denken. Beckers waren die besten Freunde ihrer Eltern gewesen und hatten nun den Hausschlüssel in Verwahrung genommen.
Silvia holte ihr Telefonbuch, legte es aber gleich wieder zur Seite. Der Ort stand nicht in diesem Buch. Sie war ja hier in Hessen und nicht in Bayern.
Sie erinnerte sich, einmal ein kleines Telefonbüchlein gehabt zu haben, in dem sie alle, für sie wichtige, Telefonnummern notiert hatte. Aber dazu müsste sie ins Schlafzimmer gehen, wo sie schon seit drei Monaten nicht mehr wirklich war.
Sie überlegte eine Weile hin und her und stand schließlich auf. Der Schlüssel hing über der Tür. Es war dunkel und roch muffig. Silvia schob die Gardinen beiseite und öffnete das Fenster. Aus dem Kleiderschrank holte sie ihre alte Schultasche und ging damit schnell zurück ins Wohnzimmer. Als sie auf dem Flur war, hörte die aus dem Bad das Wasser laufen. Eilig sprang sie los und drehte den Wasserhahn zu. Silvia suchte eine Weile, bevor sie das verlegte Büchlein endlich fand.
„B - B - B“, murmelte sie vor sich hin. Sie fand die Nummer und wählte sie. Zweimal ließ sie es durchbimmeln, aber es meldete sich niemand.
„Hm“, machte sie, „dann muss ich doch mal sehen…“
Sie wählte die Nummer ihres Elternhauses und war erstaunt darüber, dass es noch ging, musste wohl jemand die Gebühren bezahlen.
„Becker“, meldete sich eine Frauenstimme, die Silvia noch kannte. Im Hintergrund konnte sie Musik und lautes Stimmengewirr hören. Also dazu benutzen sie den Schlüssel, dachte Silvia.
„Bergen“, sagte sie ebenso kurz und wartete auf die Wirkung, die ihr Name verursachen musste. Plötzlich wurde es still, keine Musik, kein Stimmengewirr. Sie hat die Hand über die Sprechmuschel gelegt, dachte Silvia. Wahrscheinlich muss sie die anderen warnen und zur Ruhe bringen.
„Ach, Sie sind es“, hörte Silvia die Stimme wieder. Im Hintergrund war es vollkommen still.
„Ja, ich bin es.“
„Nett, dass Sie mal anrufen. Sie haben mich gerade beim Saubermachen erwischt.“ So kann nur Frau Becker lügen, dachte Silvia bissig, dir werde ich den Abend vermiesen.
„Kann es sein, dass ich gerade Stimmen gehört habe?“ fragte Silvia und war auf die Antwort gespannt.
„Ja, ich … äh … hatte gerade den Fernsehapparat an.“
Eine schlechtere Antwort hätte dir wohl nicht einfallen können. Silvia musste lächeln. Solange sie denken konnte, hatte es nie einen Fernseher in ihrer Familie gegeben. Das wusste Frau Becker nun auch wieder eingefallen sein, denn sie räusperte sich und wollte etwas sagen, ließ es aber dann doch. Es wäre ohnehin zu spät gewesen.
„Ist doch schön, dass es Telefon gibt, nicht wahr?“
„Ja…?“
„Ich meine, dass man mal so ganz unverhofft anrufen kann.“
Nun war Frau Becker total verwirrt. Schwitz mal schön, gib aber Acht, dass keine Asche auf den Teppich fällt. Sie hörte wie Frau Becker an der Zigarette zog und den Rauch kräftig in den Hörer blies. Silvia holte zum Gnadenstoß aus.
„Ich komme heute Abend, spätestens morgen früh. Ich kann mir doch den Schlüssel dann bei Ihnen abholen?“
Schnaufen.
„Wenn ich jetzt auflege, vergessen Sie nicht den anderen zu sagen, dass sie wieder feiern können.“
Starkes Schnaufen.
Diese Party wird wohl jetzt zu Ende sein, dachte Silvia und schob das Telefon beiseite. Sie schaute auf die Uhr und erschrak. Wenn sie noch rechtzeitig zur Party bei Uta und Bernd erscheinen wollte, musste sie sich gehörig beeilen.