Essen lernen - Bee Wilson - E-Book

Essen lernen E-Book

Bee Wilson

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Beschreibung

Mögen Sie Rosenkohl? Lieben Sie Brokkoli? Oder ist Fleisch Ihr Gemüse? Dass die Geschmäcker verschieden sind, ist eine Binsenweisheit. Aber nirgendwo sind die Vorlieben und Abneigungen so ausgeprägt wie beim Essen und so immun gegen gute Argumente. Nicht nur Eltern wissen davon ein Lied zu singen. Warum ist das so? Und was können wir tun, um anders, besser, zu essen?
Bee Wilson hat sich auf eine spannende Reise zu den Ursprüngen unserer Ernährungsgewohnheiten begeben, mit der neuesten Forschungsliteratur sowie ihren eigenen Erfahrungen als Mutter von drei Kindern im Gepäck. Sie hat mit Psychologen und Ernährungsexperten gesprochen, Schulkantinen besucht und zahlreiche »Essbiographien« zusammengetragen. Das Ergebnis ist so lehrreich wie ermutigend: Geschmack ist kein Schicksal.
Welche Speisen wir mögen, ob wir essen wie ein Spatz oder wie ein Scheunendrescher, ist uns nicht in die Wiege gelegt. Wir lernen es, und zwar in der Kindheit, am Esstisch der Familie, unter Einfluss zahlreicher Faktoren. Und wir können umlernen. Bee Wilson zeigt uns in ihrem neuen Buch, wie das geht, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, was vielleicht das Wichtigste ist: die Freude am Essen.

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Seitenzahl: 681

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3Bee Wilson

Essen lernen

Wo unsere Ernährungsgewohnheiten herkommen und wie wir sie ändern können

Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff

Suhrkamp

6Für Emily

7Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1Vorlieben und Abneigungenund ein Exkurs über Rote Beete

Kapitel 2Erinnerungenund ein Exkurs über Milch

Kapitel 3Essen für Kinderund ein Exkurs über Geburtstagskuchen

Kapitel 4Füttern und Ernährenund ein Exkurs über die Lunchbox

Kapitel 5Brüder und Schwesternund ein Exkurs über Schokolade

Kapitel 6Hungerund ein Exkurs über Frühstücksflocken

Kapitel 7Essstörungenund ein Exkurs über Chips

Kapitel 8Veränderungenund ein Exkurs über Chili

Nachwort Das soll kein Ratgeber sein

Weiterführende Literatur

Bibliografie

Dank

Anmerkungen

9Vorwort

Manchen fällt die Sache mit dem Essen leicht, anderen dagegen schwer. Früher einmal stand ich auf der falschen Seite dieser Kluft, doch glücklicherweise gelang mir recht überraschend der Sprung hinüber. In diesem Buch versuche ich zu ergründen, wie mir dieser Wandel möglich war.

Heutzutage muss man nicht lange suchen, um auf Menschen jeglichen Gewichts zu stoßen, die ein überaus chaotisches Essverhalten pflegen. Dieses kann sich auf verschiedenste Arten und Weisen zeigen, beispielsweise in dem zwanghaften Drang, viel zu viel oder viel zu wenig zu essen oder beim Essen außerordentlich pingelig zu sein. Manche Menschen sind von der Reinheit ihrer Speisen derart besessen, dass sie Essenseinladungen von Freunden nicht annehmen können. Es kann sehr einsam machen, ständig seine Ernährung kontrollieren zu müssen, besonders wenn man bedenkt, dass der moderne Mensch heutzutage mit Nahrung geradezu bombardiert wird, sei sie real oder virtuell. An den Supermarktkassen warten Leckereien auf uns, und von Werbetafeln, in Zeitungen und in Kochsendungen locken traumhafte Schlemmereien.

Ich litt zwar nie an einer ausgewachsenen Essstörung, stand jedoch gefährlich kurz davor. Ich schaffte es, mir wegen meines Gewichts fast zehn Jahre lang – von der Mittelstufe bis ins junge Erwachsenenalter hinein – ein ausgesprochen schlechtes Gewissen einzureden. Wahrscheinlich wirkte es von außen so, als ob mit mir alles in Ordnung wäre: Vielleicht war ich ein wenig übergewichtig, aber mehr nicht. Das Essen war jedoch mein größter Bezug, und 10obwohl mir mein Verhältnis zu ihm manchmal als ebenso aufregend erschien wie eine Affäre – besonders, wenn ich mit einem großen Klumpen süßem Briocheteig in der Küche stand –, war die Liebe doch stets einseitig und zerstörerisch. Oft sprechen wir auf ungesunde Weise davon, dass uns Essen »Trost« spendet; wer jedoch zwanghaft davon besessen ist, empfindet oft alles andere als Trost. An manchen Tagen ergab ich mich meinem Laster und fühlte mich anschließend schuldig. An anderen machte ich das Ganze nur noch schlimmer, indem ich rein gar nichts aß, während ich mich selbstquälerisch mit dem Essen umgab, das ich mir verwehrte.

Mittlerweile ist diese Zeit meines Lebens glücklicherweise lange vorbei. Eine gesunde Ernährung – womit ich nicht Clean Eating oder Saftkuren meine – fällt mir inzwischen nicht mehr schwer. Nun, da ich mich auf der anderen Seite der Kluft befinde, erkenne ich, dass ich im Laufe von Monaten oder Jahren eine Reihe von Fertigkeiten erlernt habe, die mir früher einmal unerreichbar schienen. Ich lernte, dass es vollkommen in Ordnung ist, eine deftige Mahlzeit zu verspeisen, wenn ich Hunger habe, und dass es ebenso kein Problem darstellt, mein Besteck zur Seite zu legen, wenn ich satt bin. Mein Appetit auf Gebäck ließ nach, während mein Hunger auf Gemüse wuchs. Glauben Sie mir, es gibt immer noch vieles, um das ich mich sorge oder in das ich mich hineinsteigere – mein Essverhalten gehört inzwischen allerdings nicht mehr dazu. Mittlerweile ist ein Abendessen nur noch ein Abendessen: nicht mehr und nicht weniger als der Höhepunkt des Tages.

Wie in vielen anderen Familien haben sich auch bei uns zuhause die Kämpfe um das Essen derweil auf den Nachwuchs verlagert. Als eine Mutter, die ihre drei Kinder gesund ernähren möchte, ohne dabei allzu streng zu sein, fühle ich mich manchmal ebenso verloren wie damals in meiner Jugend. Nach dem Abstillen (was schwer genug war) lernten die Kinder das Essen nicht wie von selbst. Wie macht man einem sarkastischen Teenager Gemüse schmackhaft, ohne damit das Gegenteil zu erreichen? Wie reagiert man, wenn 11die eigene Tochter eines Tages nach Hause kommt und verkündet, ihre Freunde würden zukünftig das Mittagessen ausfallen lassen? Wie behält man ein Gefühl für die Menge an Fett und Zucker, die man verzehrt, ohne sich irgendwann den hochgradig verarbeiteten Lebensmitteln zu ergeben, die heute so allgegenwärtig sind?

In der hektischen Zeit nach dem Feierabend und vor dem Zubettgehen stelle ich schnell eine Mahlzeit auf den Tisch, die hoffentlich jedem schmeckt – nur um dann festzustellen, dass sich eines der Kinder über die gegrillten Auberginen darin beschwert, während ein anderes erklärt, das sei ja wohl das Beste am ganzen Gericht, und ein drittes leise vor sich hin weint, weil es Auberginen eigentlich mag, diese aber nun nicht mehr essen kann, weil sie durch das danebenliegende Hühnchen kontaminiert worden sind. Sagte ich etwa, der Höhepunkt des Tages? Trotzdem sind meine Kinder im Vergleich keine schwierigen Esser.

Alle Eltern hegen irgendwann einmal wenigstens kurz den Verdacht, es sei einfach unmöglich, einem Kind ein gesundes Essverhalten beizubringen – zumindest dem eigenen Kind. Oft sind Erwachsene sogar noch pessimistischer, wenn es um ihre Ernährung geht. Die Arbeit an diesem Buch hat mir jedoch gezeigt, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt, gesündere Essgewohnheiten auszubilden. Manche mögen dafür länger brauchen als andere; dennoch kann jeder lernen, wie man sich ausgewogener ernährt – was letztlich etwas vollkommen anderes ist, als auf Diät zu sein. Das überzeugendste Argument für ein neues Essverhalten ist wohl der Genuss. Das Essen sollte uns täglich erfreuen; auf keinen Fall sollten wir uns Tag für Tag damit quälen. Es ist schön hier auf der anderen Seite der Kluft. Ich hoffe, Sie werden mir folgen.

13Einleitung

»Ich mag Marmelade, weil sie nicht immer vom Löffel rutscht.«

Russel Hoban, Fränzi mag gern Marmelade

Um unsere Ernährung machen wir uns ständig Sorgen, und die meisten davon schlagen sich in unserer endlosen Suche nach dem vermeintlich perfekten Lebensmittel nieder, das all unsere Gebrechen zu heilen vermag. Iss das! Iss das nicht! Zwanghaft beschäftigen wir uns mit dem Nährstoffgehalt unserer Mahlzeiten: Wie viel Mineralstoffe und wie viel Eiweiß enthält diese Zutat? Wie viel ungesättigte Fettsäuren jene? Wir überfordern uns damit. Nährstoffe sind nur dann von Belang, wenn wir sie tatsächlich zu uns nehmen. Letztlich zählt, wie wir essen und wie wir an das Essen herangehen. Möchten wir unser Essverhalten ändern, müssen wir zunächst die Kunst des Essens selbst neu erlernen, was gleichermaßen eine Sache der Psychologie wie der Ernährungswissenschaft ist. Wir müssen Mittel und Wege finden, um Dinge verspeisen zu wollen, die uns guttun.

Unsere geschmacklichen Vorlieben folgen uns wie tröstliche Schatten. Sie scheinen uns zu sagen, wer wir sind. Vielleicht tun wir deshalb auch so, als wäre unser Geschmack in Stein gemeißelt. Immer wieder versuchen wir mehr oder weniger halbherzig, unsere Essgewohnheiten zu ändern; wir probieren jedoch so gut wie nie, unseren Zugang zum Essen selbst zu überdenken: wie gut wir mit Hunger klarkommen; wie sehr wir dem Zucker verfallen sind; wie wir uns fühlen, wenn man uns nur eine kleine Portion serviert. 14Wir bemühen uns zwar, mehr Gemüse zu essen, versuchen aber nicht, ebendieses Gemüse auch mehr zu schätzen, vielleicht weil fast jeder der Meinung zu sein scheint, dass es einfach unmöglich sei, einen neuen Geschmack auszubilden und alte Gewohnheiten abzulegen. Tatsächlich wäre nichts weiter von der Wahrheit entfernt.

Den Verzehr aller Lebensmittel, die wir regelmäßig verspeisen, haben wir irgendwann erlernt. Zu Beginn unseres Lebens trinken wir alle Milch, aber danach ist alles offen. Bei den Jagdvölkern Tansanias gilt das Knochenmark von Wild als geeignetste erste Kost nach dem Abstillen.1 Kommt man dagegen in Laos im Fernen Osten zur Welt, wird der erste feste Bissen wohl ein von der Mutter vorgekauter und von Mund zu Mund verabreichter Klebereis sein (auf Englisch nennt man das manchmal kiss feeding).2 Der erste Happen westlicher Kinder mag dagegen angerührtes Getreidebreipulver aus dem Karton, pürierte Babynahrung aus dem Glas, gedämpfter und durchpassierter Bio-Kürbis, mit einem hypoallergenen Löffel verabreicht, oder die eine oder andere Gabel vom elterlichen Teller sein. Bis auf Milch gibt es kein Nahrungsmittel für alle – noch nicht einmal für Babys.*

15Vom ersten Lebensjahr an ist der menschliche Geschmack erstaunlich vielfältig. Als Omnivoren fehlt uns das instinktive Wissen, welche Nahrungsmittel sicher und gut für uns sind. Jeder einzelne muss seine Sinne nutzen, um selbst herauszufinden, was genießbar ist und was nicht. In vielerlei Hinsicht ist das ein überaus erfreuliches Unterfangen und außerdem der Grund dafür, warum es auf der Welt so wunderbar unterschiedliche Küchen gibt.

Einer weiteren Konsequenz unseres Allesfresser-Daseins schenken wir jedoch bei weitem nicht genug Beachtung: Anders als beispielsweise das Atmen beherrschen wir das Essen nicht von Geburt an. Wir müssen es erst erlernen. Füttern Eltern ihr Kind, bringen sie ihm gleichzeitig bei, wie etwas zu schmecken hat. Auf grundlegendster Ebene bedeutet das: Wir müssen das Wissen darüber, was essbar und was giftig ist, erst erwerben. Wir müssen lernen, wie wir unseren Hunger stillen und wann wir mit dem Essen aufhören sollten. Im Gegensatz zum Ameisenbär, der nur die winzigsten Insekten frisst, verfügen wir kaum über natürliche Instinkte, auf die wir uns verlassen könnten. Aus all den Wahlmöglichkeiten, die wir als Omnivoren haben, müssen wir die herauspicken, die gut, die hervorragend und die überhaupt nicht schmecken. Aus diesen Vorlieben und Abneigungen erstellen wir dann ein ganz persönliches Geschmacksprofil, so einzigartig wie eine Handschrift.

So ist es jedenfalls einmal gewesen. In der heutigen Esskultur entwickeln bedeutend mehr Menschen als früher einen beunruhigend gleichförmigen Geschmack. Zwei Verbraucherwissenschaftler erklärten 2010, dass die Geschmackspräferenzen der Kindheit einen neuen Einblick in die Entwicklung von Übergewicht gewährten. Sie wiesen auf einen »Teufelskreis« hin: Unternehmen forcierten die Produktion von Nahrungsmitteln mit einem hohen Salz-, Zucker- und Fettgehalt. Kinder gewöhnten sich an diesen 16Geschmack, weshalb die Firmen mehr und mehr Produkte dieser Art auf den Markt werfen, »die eine ungesunde Ernährung begünstigen«.3 Den größten Einfluss auf den Geschmack eines Kindes haben mittlerweile nicht mehr die Eltern, sondern Lebensmittelkonzerne, deren Erzeugnisse trotz der Illusion endloser Auswahlmöglichkeiten tatsächlich eher eintönig schmecken, besonders im Vergleich zu den abwechslungsreichen Aromen der traditionellen Kochkunst.

Kürzlich war ich mit einem meiner Kinder im Kino. Wir gingen zum Eisstand, und ich erkannte mit Schrecken, dass abgesehen vom Vanilleeis so gut wie alle Sorten auf die eine oder andere Weise Schokolade enthielten. Wollten wir lieber Minze mit Schokoladenstückchen, Kirsche mit Schokoladenstückchen, Schokolade mit Schokokeksstückchen oder Karamell mit Karamellschokoladenstückchen? Das Gefährliche an einer Kindheit umgeben von all diesen süßen und salzigen Leckereien ist nicht etwa, dass wir von Natur aus nicht widerstehen könnten, sondern dass wir uns mehr und mehr an diese Aromen gewöhnen, je öfter wir etwas Ähnliches verzehren, und irgendwann davon ausgehen, alles hätte so zu schmecken.

Sobald man allerdings verstanden hat, dass geschmackliche Vorlieben erlernt werden, scheinen viele der Verhaltensweisen, mit denen wir uns dem Essen nähern, auf einmal recht merkwürdig zu sein. Um ein Beispiel zu nennen: Denken Sie nur an all die Eltern, die sich die größte Mühe geben, Gemüse in den Mahlzeiten ihrer Kinder zu »verstecken«. Ist Brokkoli wirklich so schrecklich, dass er vor unschuldigen Kinderaugen verborgen werden müsste? Ganze Kochbücher widmen sich diesem Thema. Alles beginnt mit der Annahme, Kinder würden von Natur aus kein Gemüse mögen und äßen es nur, wenn sie sich dessen nicht bewusst wären, beispielsweise wenn man es ihnen püriert in einer Pasta-Sauce oder eingebacken in einer Süßspeise serviert. Niemals könnten sie lernen, eine Zucchini einfach nur um ihrer selbst willen zu mögen. In unserem 17gehetzten, übermüdeten Zustand fällt es uns Eltern oft schwer, auf Langfristigkeit zu setzen. Wir halten uns für clever, weil es uns gelingt, ein wenig Rote Beete in einen Kuchen zu schmuggeln. »Ha, reingelegt!«, denken wir dann. Weil das Kind aber gar nicht weiß, dass es das Wurzelgemüse gerade verspeist, erreichen wir mit solchen Methoden häufig nur das Gegenteil, denn wir steigern die kindliche Lust auf Süßes. Es wäre dagegen sehr viel klüger, dem Nachwuchs dabei zu helfen, zu Menschen zu werden, die Gemüse gerne und freiwillig essen.

Weil wir nicht erkennen, dass unser Essverhalten erlernt ist, missverstehen wir die Natur der derzeitigen Ernährungskrise. Mit prophetischen, den drohenden Untergang ankündigenden Worten erinnert man uns in regelmäßigen Abständen daran, dass unsere Ernährung in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Wandel zum Schlechten durchgemacht hat. Im Jahr 2010 gingen zehn Prozent aller Todes- und Krankheitsfälle weltweit auf unzureichende Bewegung und schlechte Ernährung zurück – mehr als dem Rauchen oder der Luftverschmutzung durch offene Feuerstellen in geschlossenen Räumen zum Opfer fielen (6,3 Prozent gegenüber 4,3 Prozent).4 Etwa zwei Drittel der Bevölkerung wohlhabender Länder sind übergewichtig oder gar adipös, wobei der Rest der Welt schnell aufholt. Üblicherweise folgern die Menschen daraus, dass wir dem süßen, salzigen und fettigen Essen, für das die Nahrungsmittelindustrie so unablässig wirbt, einfach nicht widerstehen könnten. Alles schmeckt besser mit Speck. Wie der Journalist Michael Moss 2013 enthüllte, entwickeln die großen Lebensmittelkonzerne Speisen mit einem chemisch austarierten »Glückspunkt«, der uns süchtig macht.5 Die Medien sagen uns manchmal eine Zukunft voraus, in der das Übergewicht in der Bevölkerung immer weiter zunehmen wird, bis schließlich jeder Mensch auf der Welt davon betroffen ist.

Eine Sache bleibt jedoch meist unerkannt: Nicht jeder ist gleichermaßen anfällig für die Tücken unseres Lebensmittelangebots. 18Manchen gelingt es, Fett, Salz und Zucker in moderaten Mengen zu sich zu nehmen und dann einfach aufzuhören. Andere halten die angeblich so unwiderstehlichen Speisen für alles andere als appetitlich. Wenn zwei Drittel der Bevölkerung übergewichtig sind, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass es ein ganzes Drittel nicht ist. Das ist schon erstaunlich, denkt man an die vielen Möglichkeiten, die es heutzutage gibt, einen Doughnut aufzutreiben. Obwohl diese Glückspilze denselben Nahrungsmitteln ausgesetzt sind, denen wir uns heute nahezu überall gegenübersehen, haben sie einen anderen Umgang damit gefunden. Herauszufinden, wie ihnen das gelungen ist, sollte in unser aller Interesse sein.

Viele, die sich für eine ausgewogene Ernährung engagieren, meinen, selbst den Kochlöffel zu schwingen, sei die Antwort. Wenn man den Kindern nur beibringen würde, wie man ein Essen zubereitet und das Gemüse dafür im eigenen Garten anbaut, würden sie sich bald ganz von allein gesünder ernähren. Das klingt überzeugend, denn Schulgärten sind in der Tat etwas sehr Schönes. Sie allein reichen jedoch nicht aus, um ein Kind an ausgewogene Mahlzeiten heranzuführen. Das Problem ist nämlich nicht nur, dass wir nicht wissen, wie man Nahrung anbaut und kocht – so wichtig das auch sein mag –, sondern auch, dass wir nicht gelernt haben, wie man sich gesund ernährt, um glücklicher und zufriedener zu sein. Die traditionellen Küchen dieser Welt basieren auf ausbalancierten Aromen und Nährwerten und kennen Normen und Konventionen dazu, welche Speisen zusammenpassen und wie viel jemand zu bestimmten Tageszeiten verzehren sollte. Die meisten Menschen kochen mittlerweile aber nicht mehr so. Nach meiner Erfahrung als Gastro-Journalistin neigen Köche und Food-Autoren tatsächlich eher zu maßlosem Essen und anderen Essstörungen als die restliche Bevölkerung. Damit das Kochen selbst zur Lösung unseres Ernährungsproblems werden kann, müssen wir erst unsere Herangehensweise an das Essen selbst überdenken. Wenn man am liebsten doppelt frittiertes Hähnchen, Baba au rhum (mit ge19schmolzenem Zucker und Rum getränkter Napfkuchen) oder typisch französisches Aligot (Kartoffelpüree mit Unmengen an Käse) zubereitet, dann ist das Kochen allein kein Garant für Gesundheit.

Eine gesunde Ernährung fällt vielen von uns so schwer, weil wir es nie gelernt haben. Wie Kinder essen die meisten von uns nur das, was sie mögen, und mögen nur das, was sie kennen. Niemals gab es so viele Menschen auf der Welt, die das Essen in einer Zeit erlernt (oder verlernt) haben, in der kalorienreiche Mahlzeiten derart allgegenwärtig sind, während gleichzeitig kaum Regeln zu Portionsgrößen und Essenszeiten existieren. Ebenso wenig ist maßloses Essen das einzige Problem unserer modernen Wohlstandsgesellschaft. Laut Statistiken sind rund 0,3 Prozent aller jungen Frauen magersüchtig; ein weiteres Prozent leidet an Bulimie. Die Zahl der essgestörten Männer steigt ebenfalls.6 Die Statistiken verraten uns jedoch nicht, wie groß der Anteil der Menschen ist, die sich unabhängig von ihrem tatsächlichen Gewicht ständig um das Essen sorgen, sich vor Kohlenhydraten oder Fetten fürchten und nicht mehr in der Lage dazu sind, eine Mahlzeit einfach nur zu genießen. Laut den Ergebnissen einer im Jahr 2003 durchgeführten Studie, an der 2200 amerikanische Hochschulstudenten teilnahmen, sind Ängste um das eigene Gewicht weit verbreitet: 43 Prozent der befragten Studenten beiderlei Geschlechts machten sich unablässig Gedanken um ihr Essverhalten; 29 Prozent der Probandinnen gaben an, sie seien »besessen« von ihrem Gewicht.7 Oft tun die Leute so, als wäre unsere Ernährungskrise gottgegeben und unser Appetit auf Hamburger unumstößlich: Diäten funktionieren nicht; Zucker macht süchtig usw. Wir vergessen dabei, dass wir als Omnivoren sehr wohl dazu in der Lage sind, unser Essverhalten zu ändern, um uns verschiedenen Umweltbedingungen anzupassen. Zugegebenermaßen hat kein Mensch zuvor sich jemals einem Angebot gegenübergesehen, das unserer heutigen, von billigen Kalorien in trügerischen Verpackungen überschwemmten Auswahl auch nur 20im Entferntesten ähnlich gewesen wäre. Um heutzutage überleben zu können, bedarf es ganz anderer Fertigkeiten als derer der steinzeitlichen Jäger und Sammler. Dennoch gibt es allen Grund zur Annahme, dass wir uns die nötigen Fähigkeiten aneignen können, wenn wir uns nur die Chance dazu geben.

Wenn unser Essverhalten erworben ist, dann lässt es sich auch neu erlernen. Stellen Sie sich vor, Sie wären als Kind von Menschen adoptiert worden, die in einem abgelegenen Dorf am anderen Ende der Welt leben. Ihr Geschmack sähe vollkommen anders aus als Ihr jetziger. Wir alle kommen mit einer Vorliebe für Süßes und einer Abneigung gegen Bitteres zur Welt, doch das bedeutet physiologisch gesehen nicht automatisch, dass wir in ständiger Furcht vor Gemüse und mit riesigem Appetit auf Karamell heranwachsen müssten. Leider erkennen wir das oft aber nicht.

Meine These in Essen lernen lautet daher: Die Lösung des Rätsels, warum die Ernährung so vieler Menschen dermaßen aus dem Ruder gerät, liegt in unserem Essverhalten, ob individuell oder kollektiv. Das moderne Gesundheitswesen muss die überaus schwierige Frage lösen, wie die Menschen davon überzeugt werden können, bei den Mahlzeiten eine klügere Wahl zu treffen. Bislang haben wir an den falschen Stellen nach einer Antwort gesucht.

In unseren Debatten zur gesunden Ernährung geht es normalerweise um eine bessere Versorgung mit Informationen. In unendlich vielen Artikeln und Büchern heißt es, das Übergewicht nehme vor allem deshalb zu, weil man uns die falschen Ratschläge erteilt: Fett sollten wir tunlichst meiden, obwohl Zucker der wahre Übeltäter sei.8 Da ist etwas dran. Mit Sicherheit war es nicht sonderlich hilfreich, dass viele der sogenannten »Light«-Produkte, die im Laufe der letzten Jahrzehnte als besonders gesund vermarktet wurden, in Wirklichkeit eine große Menge Kohlenhydrate enthielten, weshalb sie letztlich dicker machten als die Fette, vor deren Verzehr wir so dringend gewarnt wurden.9 Während dieser Zeit ermahn21ten uns die Ernährungswissenschaftler, auf gesättigte Fette, wie sie beispielsweise in Butter, Sahne oder Fleisch enthalten sind, möglichst zu verzichten; dennoch nahmen die Menschen ständig zu. Tag für Tag wird deutlicher, dass Fett allein nicht zur Ausbildung von Übergewicht oder zur Entwicklung einer Herzkrankheit führt.

Bevor wir jedoch dazu übergehen, der verwirrenden Empfehlung, möglichst wenig Fett zu uns zu nehmen, die Schuld für unseren schlechten Gesundheitszustand in die Schuhe zu schieben, mag es sinnvoll sein, einmal darüber nachzudenken, inwieweit wir diesen Warnungen vor fettreichem Essen tatsächlich Folge leisteten. Die meisten Leute hörten die Worte der »Ernährungspolizei« zwar, entschieden sich jedoch dafür, sie lieber zu ignorieren. Im Jahr 1998, auf dem Höhepunkt der Low-Fat-Bewegung, verfassten einige der weltweit führenden Ernährungswissenschaftler einen Bericht, in dem sie den Umstand beklagten, dass die meisten Menschen ihre Ratschläge nicht beachteten. Die Forscher entdeckten zu ihrer großen Sorge, dass die Leute auch nach zwei Jahrzehnten der Empfehlungen immer noch »in etwa dieselbe Menge« Fett zu sich nahmen. Der Prozentsatz an Kalorien, der in Form von Fett aufgenommen wurde, sank in der amerikanischen Bevölkerung zwischen 1965 und 1991 zwar leicht (von 36-37 Prozent im Jahr 1965 auf 34 Prozent im Jahr 1991), das lag jedoch vor allem daran, dass die Zahl der verzehrten Gesamtkalorien im selben Zeitraum insgesamt stieg. Absolut gesehen blieb der Anteil an Fett in der Ernährung also ungefähr gleich.10

David L. Katz vom Yale University Prevention Center gehört zu den wenigen vernünftigen Stimmen in der lärmenden Welt der Ernährung. Er stellt sich der weit verbreiteten Ansicht entgegen, laut der wir gerade deshalb nicht gesünder essen, weil zu viel Verwirrung über die tatsächlich »beste Ernährungsform« herrscht. Katz weist darauf hin, dass die Grundpfeiler einer gesunden Lebensweise – angemessene Portionen möglichst unterschiedlicher, naturbelassener Produkte und regelmäßige sportliche Aktivität – seit Jahrzehn22ten wohl bekannt seien. Medizinische Befunde deuten darauf hin, dass es unerheblich ist, ob wir diesen Punkt durch fett- oder kohlenhydratarme Kost erreichen (oder mit Hilfe einer veganen Ernährung, einer Paleo-Diät oder der guten alten Hausmannskost).11 Unabhängig davon, welchen Weg man letztlich geht, gibt es laut Katz eine »hohe Beweisdichte« dafür, dass die gesündeste Ernährung aus möglichst unbehandelten, größtenteils pflanzlichen Nahrungsmitteln besteht. »Unser Problem«, schreibt Katz, »ist nicht etwa mangelndes Wissen über die Bedürfnisse des Homo Sapiens, sondern ein gleichermaßen erstaunlicher wie tragischer kultureller Widerwillen, dieses Wissen auch umzusetzen.«12

Nehmen wir zum Beispiel das Gemüse. Die Empfehlung, mehr Gemüse zu essen, weil es gesünder ist, könnte deutlicher nicht sein. Diese Botschaft wurde uns viele Male auf unterschiedlichste Weisen mitgeteilt. Anders als bei Zucker oder Fett gibt es bei Gemüse keine Kehrtwenden und keine Kontroversen. Und dennoch ist die Kalorienaufnahme über den Gemüseverzehr seit den 1930er Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika um drei Prozent gesunken, was in Wirklichkeit sogar einen noch größeren Rückgang bedeutet, als auf den ersten Blick ersichtlich, weil Gemüse im Vergleich zu anderen Lebensmitteln bedeutend weniger Kalorien enthält.13 Dieser Rückgang ereignete sich zu einer Zeit, als mehr verführerische Gemüsesorten auf den Märkten erhältlich waren als jemals zuvor, von leuchtend organgefarbenen Butternusskürbissen bis hin zu blassgrünem Romanesco. Viele hatten jedoch die Lektionen ihrer Kindheit verinnerlicht, laut denen Gemüse und Genuss – oder allgemeiner formuliert: gesundes Essen und Genuss – einfach nicht zusammenpassten. Denken Sie nur an die Wellen der Empörung, die über Personen des öffentlichen Lebens wie Michelle Obama hereinbrechen, wenn sie den Vorschlag zu machen wagen, mehr Gemüse zu verzehren. Laut den Erkenntnissen von Verbraucherwissenschaftlern lässt sich ein Produkt besser vermarkten, wenn es als »neu« und nicht als »gesund« tituliert wird.14

23Geht es um unser Essverhalten, klafft eine riesige Lücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissen und Tun. »Essen Sie nicht zu viel und nehmen Sie größtenteils pflanzliche Nahrung zu sich«, rät Michael Pollan.15 Dieses eigentlich kluge und einfache Mantra wurde oft wiederholt; dennoch scheint die Umsetzung im Alltag für viele alles andere als einfach zu sein. Damit das trotzdem gelingt, ist Folgendes zu beachten: »Man sollte sich an echtem Essen erfreuen, aber nicht an dem Gefühl eines zu vollen Magens. Gemüse sollte man ebenfalls mögen.« Diese Fähigkeiten haben viele noch nicht erworben, ganz egal, wie alt oder intelligent sie auch sein mögen. Außerdem steht ein weiteres Hindernis im Weg. Der erste Teil von Pollans Ratschlag, in dem es darum geht, nicht zu viel zu essen, sollte insofern ergänzt werden, dass auch all jene Essgewohnheiten darunterfallen, bei denen zu wenig oder zu wenig vom Richtigen verzehrt wird. Damit meine ich nicht nur Untergewicht. »Mangelernährung« kann heutzutage bei Über- wie Untergewichtigen auftreten, und es gibt Hinweise, dass Übergewichtige auf der ganzen Welt besonders oft an Nährstoffmangel leiden, vor allem wenn es um Vitamin A und D sowie Eisen und Zink geht.16 Eine bessere Ernährung bedeutet also nicht, allgemein weniger zu essen. Während wir von manchen Dingen zweifellos weniger vertragen könnten – man denke nur an den Zucker –, sollten wir von anderen dagegen deutlich mehr verzehren. Neben weiteren traditionellen Weisheiten, beispielsweise »sich nicht den Appetit zu verderben« oder »das Essen nicht herunterzuschlingen«, scheinen wir das altmodische Konzept verlernt zu haben, uns mit unserem Essen »zu hegen und zu pflegen«.

Geht es um Übergewicht, schleicht sich oft eine abweisende Ungeduld in das Gespräch mit ein. »Das ist doch keine Atomphysik«, heißt es oft in den Internet-Kommentarspalten der Zeitungen, und besonders häufig stammen solche Aussagen von den paar Glücklichen, die nie mit einer Ernährungsumstellung zu kämpfen hatten. Gern folgt dann der Hinweis, dass man doch nur »weniger essen 24und sich mehr bewegen« müsse. Dabei wird impliziert, dass all jene, denen ebendies nicht gelingt, nicht stark oder klug genug wären, um es zu schaffen. Denken Sie jedoch einmal über Folgendes nach: Amerikanische Feuerwehrmänner, denen es generell nicht an Mut oder Intelligenz mangeln sollte, sind mit einem Anteil von 70 Prozent bedeutend häufiger leicht bis stark übergewichtig als der Rest der US-amerikanischen Bevölkerung.17 Die Art und Weise, wie wir essen, spiegelt nicht etwa unseren Wert wider, sondern geht auf die Gewohnheiten und Vorlieben zurück, die wir uns im Laufe unseres Lebens aneignen. Wie der Philosoph Caspar Hare bereits sagte: »Es ist nicht so einfach, alte Gewohnheiten abzulegen.«18

Sobald wir die Tatsache akzeptieren, dass wir unser Essverhalten erlernen, erkennen wir, dass die Herausforderung nicht etwa aus der Verarbeitung von Informationen, sondern aus dem Erwerb neuer Essgewohnheiten besteht. Die Behörden versuchen der zunehmenden Fettleibigkeit mit immer neuen, gut gemeinten Ratschlägen Herr zu werden. Ein guter Rat allein hat einem Kind aber noch nie zu einer besseren Ernährung verholfen. (»Ich empfehle dir dringend, deinen Kohl aufzuessen und danach ein Glas Milch zu trinken.«) Es ist schon erstaunlich, dass wir trotzdem glauben, dieselbe Methode funktioniere bei Erwachsenen. Ein Kind macht sich ein gesundes Essverhalten vor allem dadurch zu eigen, dass die Eltern mit gutem Beispiel vorangehen, Begeisterung zeigen und ihrem Nachwuchs geduldig eine große Auswahl gesunder Speisen anbieten. Sollte das nicht genügen, behilft man sich eben mit einer Lüge. In Ungarn werden Kindern Karotten mit der Behauptung schmackhaft gemacht, nach dem Verzehr könnten sie besser pfeifen. Der Punkt ist der: Bevor man zum Möhrenliebhaber wird, muss man das Gemüse aber überhaupt erstmal essen.

Als das vorliegende Buch nach und nach in meinem Kopf Gestalt anzunehmen begann, dachte ich noch, es würde darin um die Ernährung von Kindern gehen. Langsam, aber sicher erkannte ich 25jedoch, dass die Freuden und die Leiden, die in unserer Kindheit unsere Mahlzeiten bestimmen, oft auch unser Leben als Erwachsene prägen. Als erwachsener Mensch belohnen wir uns vielleicht weiterhin mit Süßigkeiten, so wie es einst unsere Eltern taten, und »essen unseren Teller leer«, obwohl niemand mehr da ist, um uns darauf hinzuweisen. Wir vermeiden weiterhin alles, wovor wir uns ekeln, obwohl wir immerhin mittlerweile wissen, dass wir Essen nicht so einfach unter den Tisch fallen lassen dürfen, sobald keiner hinschaut. Man stelle einen Geburtstagskuchen mit angezündeten Kerzen auf den Tisch, und sofort werden alle wieder zum Kind.

Eine der Fragen, mit denen ich mich beschäftigen wollte, lautete, ob der Mensch mit bestimmten, festgefügten Vorlieben und Abneigungen zur Welt kommt. Während ich mich in der Bibliothek durch eine nicht enden wollende Zahl wissenschaftlicher Texte wühlte, erwartete ich eigentlich, auf enorme Meinungsverschiedenheiten zwischen denen zu stoßen, die davon ausgingen, gewisse Geschmäcker seien von Geburt an vorhanden, und denen, die der Meinung waren, Geschmackspräferenzen seien erlernt: Natur gegen Erziehung. Zu meiner großen Überraschung entdeckte ich jedoch, dass dies nicht der Fall war. Stattdessen herrschte unter Psychologen, Neurowissenschaftlern, Anthropologen und Biologen die fast einhellige Meinung vor, dass unser Appetit auf bestimmte Lebensmittel erworben sei.19 Wie man sich vorstellen kann, existiert abgesehen von dieser recht allgemeinen Übereinkunft jedoch einige wissenschaftliche Diskrepanz, beispielsweise sobald es darum geht, ob unsere Hassliebe zu bitterem Gemüse wie Rosenkohl Veranlagung ist oder nicht. Außerdem ist man sich uneins, inwieweit unsere Essgewohnheiten von bestimmten Genen, Hormonen und Neurotransmittern abhängen. Die grundlegende Erkenntnis, nach der menschliches Essverhalten erlernt ist, steht jedoch nicht zur Debatte.

Es fehlt jedoch folgender Hinweis: Ungeachtet dessen, dass die Vorliebe für Süßes allen Menschen und Kulturen gemein ist, zeigen wir bei Süßigkeiten und anderen stark verarbeiteten Lebensmitteln sehr unterschiedliche Reaktionen. In einer Studie aus dem Jahr 2012, in der es um geschmackliche Vorlieben ging, findet sich der Hinweis, dass wir »bezüglich der Wahrnehmung von, der Vorliebe für, dem Wunsch nach und der Menge der verzehrten Süßigkeiten« voneinander abweichen.20 Verschiedene Menschen mögen Süßes in unterschiedlicher Form. »Etwas Süßes« kann einen ganzen Maiskolben im Hochsommer ebenso umfassen wie einen Teller milchig-weißer Mozzarella oder eine bei niedriger Temperatur langsam karamellisierte Fenchelknolle. Wir alle mögen den Appetit auf Süßes gemein haben; der große Unterschied liegt jedoch darin, wie wir diesen zu stillen lernen. Anders formuliert: Nicht jeder wünscht sich seinen Zuckerkick in Form von Froot Loops.

Ernährungswissenschaftler benutzen den Begriff »wohlschme27ckend« für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Salz- oder Fettgehalt, als wäre es vollkommen unmöglich, einen Teller knackigen grünen Gemüses, angemacht mit einem Dressing aus Tahini-Paste, lieber zu mögen als eine Familienpackung Schokolade. Und dennoch schafft es ein Drittel der Bevölkerung trotz seines Steinzeitgehirns, sich wunderbar in der modernen Welt zurechtzufinden und aus den verfügbaren Lebensmitteln einen ausgewogenen Speiseplan zusammenzustellen.

Wir können also nicht davon ausgehen, dass jeder »Normalgewichtige« einen gesunden Umgang mit dem Essen pflegt. (Nebenbei bemerkt sind diese Menschen mittlerweile in der Minderheit, weshalb wir vielleicht aufhören sollten, sie als »normal« zu bezeichnen. Wie wäre es stattdessen mit »ungewöhnlich«?) Die Sache ist komplizierter, als ein bloßer Blick auf die Zahlen offenbart. Dennoch wage ich die Prognose, dass uns dieses ungewöhnliche Drittel der Bevölkerung etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Viele Millionen 28Menschen schwimmen gegen den Strom, wehren sich gegen das schlechte Lebensmittelangebot der heutigen Zeit und wissen sich recht gut zu ernähren. Es gibt Leute, die essen an einem heißen Tag ein Eis, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben; lehnen ein Sandwich automatisch ab, weil noch nicht Mittagspause ist; essen, wenn sie hungrig sind, und hören auf, wenn sie satt sind; oder finden, dass ein Gericht ohne Gemüse keine richtige Mahlzeit ist. Diese Menschen haben das Essen auf eine Weise erlernt, die sie in unserer modernen Überflussgesellschaft zu schützen vermag.

Aus verhaltensbiologischer Sicht gehört das Essen zu den klassischen Beispielen für erlerntes Verhalten: Es gibt einen Reiz, beispielsweise einen mit Aprikosenmarmelade glasierten Apfelkuchen. Darauf folgt eine Reaktion: Appetit. Schließlich kommt es aufgrund des sinnlichen Vergnügens und der körperlichen Befriedigung, die sich beim Verzehr des Kuchens einstellt, zur Verstärkung des Reizes. Aufgrund dieser Verstärkung greift man zu mehr Apfelkuchen, sobald sich die Gelegenheit dafür ergibt. Je nachdem, wie gut man sich außerdem nach dem Verzehr des Kuchens fühlt, wird man das Gebäck in Zukunft gegenüber anderen Speisen bevorzugen. Es ist durchaus möglich, Laborratten beizubringen, weniger süßes Futter zu mögen, wenn es energiereicher und der Verzehr deshalb befriedigender ist. Das nennt man Konditionierung durch Nahrung.22

Wir wissen, dass vieles bei unserer Suche nach Essbarem vom Dopamin abhängt, einem Neurotransmitter, der oft auch als »Glückshormon« bezeichnet wird.23 Es kommt zur Ausschüttung dieses Stoffs, sobald man etwas Zufriedenstellendes tut, beispielsweise etwas Gutes isst, einen Brandy trinkt oder einen geliebten Menschen küsst. Dopamin gehört zu den Botenstoffen, die dem Gehirn sagen, dass man gerade Spaß hat. Die Dopamin-Ausschüttung ist also einer der Mechanismen, mit denen unsere geschmacklichen Vorlieben in unser Gehirn »gebrannt« und so zu einer Gewohn29heit werden. Bei Versuchstieren, denen eine gewisse Vorliebe für bestimmtes Futter antrainiert wurde, reicht oft schon der Anblick der jeweiligen Speise aus, um das Dopamin im Körper freizusetzen. Affen reagieren bereits mit einem erhöhten Dopamin-Spiegel, wenn sie eine glücksverheißende Banane nur sehen. Die zu erwartende Hormonausschüttung bringt Ratten im Labor dazu, den Hebel zu drücken, um an das gewünschte Futter zu gelangen.

Nun sind Menschen natürlich keine Laborratten.* Bei uns ist das Reiz-Reaktions-Schema der Nahrungsmittelaufnahme ebenso komplex wie unser soziales Umfeld, in dem wir zu essen lernen. Laut Berechnungen machen wir bis zu unserem 18. Geburtstag 33000 unterschiedliche Lernerfahrungen mit dem Essen (ausgehend von fünf Mahlzeiten am Tag). Das menschliche Verhalten wird nicht allein von Ursache und Wirkung bestimmt, denn Menschen sind keine passiven Objekte, sondern außergewöhnlich soziale Wesen. Unsere Konditionierung erfolgt oft indirekt. Wir lernen nicht allein dadurch, dass wir essen, sondern auch dadurch, dass wir anderen beim Essen zuschauen, sei es in unserer Familie, in der Schule oder im Fernsehen.

Während Kinder ihre Beobachtungen machen und sich so ihr Wissen aneignen, erwerben sie neben einem eigenen Geschmack viele andere Erkenntnisse über das Essen. Eine Laborratte vermag einen Hebel zu betätigen, um eine süße Belohnung zu erhalten, doch bedarf es eines so merkwürdigen und komplizierten Wesens wie des Menschen, um die Nahrungsaufnahme mit Gefühlen wie Scham oder Schuld zu belegen. Bevor wir den ersten Bissen einer Speise zu uns nehmen, sind wir das Ganze im Geiste wahrscheinlich schon Dutzende Male durchgegangen. Die Entscheidung, wann, was und wie viel wir essen, geht über bloße Reize wie Hunger und Hormone hinaus und erstreckt sich in Bereiche des Ritu30als (Eier zum Frühstück), der Kultur (Hotdogs bei einem Baseballspiel) und der Religion (Geflügel zur christlichen Weihnacht, Lamm zum islamischen Opferfest).

Ich erkannte schnell, dass ich die Antworten auf die Frage, wie wir zu essen lernen, nicht finden würde, wenn ich nicht auch unser allgemeines Essverhalten untersuchte, das von unseren Mahlzeiten, unserer Küchenkultur, unseren Eltern, unserem Geschlecht und gewissen Eigenschaften unseres Gehirns abhängt.

Unsere modernen Essgewohnheiten sind voller Widersprüche. Die Last religiöser Schuld, die uns in unserem Privatleben nach und nach von den Schultern genommen wurde, hat sich merkwürdigerweise in sehr viel stärkerem Ausmaß auf die Ernährung übertragen. Wie die heuchlerischen Prediger der Abstinenzbewegung dämonisieren wir viele der Speisen, die wir am häufigsten verzehren, und hadern deshalb mit unserem Appetit. Unzählige Gerichte, von Fleisch bis Süßigkeiten, die früher einmal den Festtagen vorbehalten waren, sind mittlerweile alltäglich geworden. Das bedeutet nicht nur, dass wir zu viel davon zu uns nehmen, sondern auch, dass sie einen Großteil ihres besonderen Charakters verloren haben.24 Der Gedanke, zwischen den Mahlzeiten nichts zu essen, erscheint heutzutage als ebenso altmodisch wie die Gepflogenheit, das Haus nicht ohne Hut zu verlassen.

Während sich der Nährstoffgehalt unserer Lebensmittel in den letzten 50 Jahren stark veränderte, passten sich unsere Essgewohnheiten nicht schnell genug an diese neuen Umstände an. Geht es um die Ernährung von Kindern, greifen Eltern weiterhin auf eine Vielzahl traditioneller Weisheiten zurück – beispielsweise, wenn sie den Nachwuchs dazu ermahnen, ihren Teller leerzuessen –, obwohl diese Gebräuche aus Zeiten stammen, als der Hunger ein ständiger Begleiter war. Wie wir sehen werden, tragen solche von China bis Kuwait üblichen Methoden indirekt zum steigenden Übergewicht von Kindern bei.

31Die Familie war das Thema, zu dem ich bei der Arbeit an diesem Buch am häufigsten zurückkehrte. Wir erwerben unsere Essgewohnheiten größtenteils als Kind. Wir sitzen am Küchentisch (falls unsere Familie das Glück hat, einen ebensolchen zu besitzen) und werden gefüttert. Jeder Bissen ist eine Erinnerung, und die mächtigsten Erinnerungen sind nun einmal die unserer Kindheit. An diesem Tisch erhalten wir nicht nur Nahrung, sondern auch Liebe, weshalb es nur allzu verständlich ist, wenn wir später im Leben Schwierigkeiten haben, beides voneinander zu trennen. An diesem Ort entwickeln wir unsere leidenschaftlichsten Vorlieben und größten Abneigungen und bilden ein Gespür dafür aus, ob es in unserer Familie als größere Verschwendung gilt, etwas auf dem Teller liegenzulassen oder alles aufzuessen, obwohl wir längst satt sind.

Wie die Behörden hoffen auch unsere Eltern, dass wir aus den Dingen, die sie uns sagen, etwas über die Ernährung lernen; allerdings zählt das, was wir sehen und schmecken, letztlich mehr als das, was wir hören. Am Esstisch sind Kinder machtlos, und das in vielerlei Hinsicht. Sie haben keinen Einfluss darauf, was man ihnen serviert, wo man sie hinsetzt und ob man sie während des Essens mit Freundlichkeit oder mit Strenge behandelt. Sie haben nur die Macht, Essen anzunehmen oder abzulehnen. Viele Kinder merken bei den Mahlzeiten schnell, dass eine Verweigerungshaltung bei ihren Eltern starke Reaktionen auslöst. Wir lernen, dass wir unseren Eltern leicht eine Freude machen oder sie zur Weißglut treiben können, einfach nur, indem wir unseren Nachtisch nicht essen. Und dann behaupten unsere Eltern auch noch, wir seien diejenigen, die bei Tisch eine Szene machten.

Haben wir schließlich ein bestimmtes Alter erreicht, sind es nicht mehr unsere Eltern, die uns füttern und ernähren, sondern wir selbst. Wir erfahren, wie unendlich befreiend es sein kann, genau das zu verspeisen, was wir wollen, solange es unser Budget erlaubt. Dennoch bestimmen die Erlebnisse unserer frühesten Kindheit 32weiterhin unseren Geschmack und unsere Vorlieben. Es ist schon erschreckend, dass unser Essverhalten im Alter von zwei Jahren und die Frage, ob wir mit unseren Speisen spielten, schwierige Esser waren oder wenig Obst verzehrten, recht genau darauf verweist, wie wir uns mit 20 ernähren werden.25

Wie das Essverhalten erlernt wird, ist dabei mit größeren Rätseln verbunden als der Erwerb anderer Fähigkeiten, beispielsweise des Wissens, wie man sich die Schuhe bindet, Fahrrad fährt oder zählt. Größtenteils lernen wir zu essen, ohne uns dessen überhaupt bewusst zu sein. Ebenso bemerken wir oft nicht, dass wir uns schädliche Essgewohnheiten angeeignet haben, weil sie zu einem großen Teil unserer selbst geworden sind. Durch unseren individuellen Geschmack signalisieren wir anderen, dass wir etwas Außergewöhnliches, etwas Besonderes sind. Wir werden zu dem Familienmitglied, das dafür bekannt ist, gerne auf der bitteren Schale einer Zitrone herumzubeißen oder den Apfel mit Stumpf und Stiel zu vertilgen.

Nun mögen Sie erwidern, dass Geschmackspräferenzen nicht sonderlich wichtig seien, denn schließlich gelte der Spruch: Jeder nach seiner Fasson. Ich werde Ihnen gewiss keinen Ärger bereiten, nur weil Sie die pelzige Haut eines Pfirsichs nicht mögen, solange Sie mir verzeihen, dass ich das glibberige Eiweiß eines Frühstückseis kaum ertrage. Gefährlich wird es erst, wenn man zu einem Menschen heranwächst, der ganze Lebensmittelgruppen ablehnt und deshalb eine Mangelerscheinung ausbildet. Ärzte, die sich vor allem dem Kampf gegen die Fettleibigkeit von Kindern verschrieben haben, geben an, es sei in den letzten Jahrzehnten üblich geworden, dass Kleinkinder gar kein Obst und Gemüse mehr essen. Das ist nur einer der Gründe, warum chronische Verstopfung in vielen westlichen Ländern mittlerweile zu einem ebenso großen wie vernachlässigten Problem geworden ist und allein in den USA 2,5 Millionen Arztbesuche im Jahr zur Folge hat.26

Manche sind nun der Auffassung, es wäre nicht allzu schlimm, 33wenn Kinder sich ungesund ernährten, weil sich das eines Tages ohnehin auswachse und sie später wie von selbst eine Leidenschaft für Salat entwickelten, parallel zu einer tieferen Stimme und reiferen politischen Ansichten. Manchmal passiert das auch. Die Liebe und das Reisen sind ein wichtiger Ansporn für Veränderungen. In den 1970er Jahren war es üblich, beim Übertritt ins Erwachsenenalter die langweilige, zu Tode gekochte Kost einer Kindheit der 1950er Jahre gegen Mungobohnen und Gewürze auszutauschen. Viele geschmackliche Vorlieben, beispielsweise für grünen Tee oder Wodka, muss man als Erwachsener erst erwerben – wenn man das überhaupt möchte. Haben wir diese bitteren, aber wundervollen Substanzen erst einmal für uns entdeckt, dann liegt etwas hinter uns, was Psychologen eine Verschiebung des Geschmackswerts nennen: von Leid zu Genuss.27

Manch einer legt seine kindische Abneigung gegen einen Espresso ab, sobald er sich der wunderbaren Wirkung dieses Getränks bewusst wird und erkennt, wie es den Körper wecken und den Geist mit dem Wunsch nach Arbeit zu erfüllen vermag. Die große Frage bleibt dabei, was es braucht, damit wir eine ähnliche Verschiebung durchmachen und ausgewogene Mahlzeiten zu genießen lernen.

Der Weg dorthin gestaltet sich für jeden von uns anders, weil jeder von uns ein anderes Essverhalten pflegt. Wo auch immer dieser Weg beginnen mag: Der erste Schritt hin zu einer besseren Ernährung setzt stets bei der Erkenntnis ein, dass unser Geschmack und unsere Gewohnheiten nicht in Stein gemeißelt sind.

An dieser Stelle besteht nun die Gefahr, dass der Weg zu einem neuen Essverhalten einfacher scheint, als er tatsächlich ist. Das ist er nicht, besonders für Leute, die auf ihr Geld achten müssen. Oft wurde beobachtet, dass Menschen mit einem geringen Einkommen verhältnismäßig häufig an Übergewicht leiden. Armut erschwert eine gesunde Ernährung in vielerlei Hinsicht. Das liegt nicht nur daran, dass frisches Gemüse oft teurer ist als hochgradig 34verarbeitete Industrieprodukte. Manchmal leben die Betroffenen auch in einer »Lebensmittelwüste«, in der nährstoffreiche Speisen schwer zu beschaffen sind, oder haben eine Wohnung ohne Küche. In Armut aufzuwachsen kann einen Menschen lebenslang zu einer ungesunden Ernährung verdammen, weil ein eingeschränktes Essverhalten in der Kindheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer ebenso eingeschränkten Ernährung im Erwachsenenalter führt, selbst wenn das Einkommen dann steigt. Wird der Geschmack von Weißbrot und industriell hergestellten Fleischprodukten in der Erinnerung mit der Wärme und Geborgenheit des Elternhauses und der Gesellschaft von Geschwistern verbunden, mag es wie Betrug erscheinen, diese Dinge nicht mehr verspeisen zu wollen.

Dennoch ist es erstaunlich, dass manche Kinder aus ärmeren Familien sich sehr viel besser ernähren als solche aus reicheren. Ein problematisches Essverhalten zeigt sich bei Menschen aller Schichten und Einkommensverhältnisse. Selbst mit wenig Geld in der Tasche ist es durchaus möglich, ausgewogene, gesunde Mahlzeiten wie Bohneneintopf oder Spaghetti alla puttanesca auf den Tisch zu stellen. Umgekehrt mag man zwar über die Mittel verfügen, um Pfifferlinge und Steinbutt zu kaufen, aber keinerlei Wunsch verspüren, ebendies auch zu tun. Laut Ernährungspsychologen, mit denen ich gesprochen habe, gibt es erfolgreiche Geschäftsleute, die lieber vor Schwäche am Schreibtisch zusammenbrechen, als etwas Unbekanntes zu verzehren, sollte ihr Lieblingsjunkfood gerade nicht in Reichweite sein. Wenn kein Hunger droht, dann bestimmt der erlernte Umgang mit dem Essen, wie gut man sich letztlich ernährt.

Dieser Umgang ist oft ungemein komplex. Während wir aufwachsen, entwickeln wir Präferenzen erster und zweiter Ordnung. Eine Präferenz erster Ordnung ist schnell erklärt: Sie mögen beispielsweise knusprige, in Butter ertränkte Bratkartoffeln. Eine Präferenz zweiter Ordnung ist dagegen komplizierter: Statt besagter Bratkartoffeln möchten Sie lieber Karotten mögen, weil sie kalorienärmer und gesünder sind. Tatsächlich kann man sich wohl 35wenigstens hin und wieder darauf beschränken, rohes Gemüse statt kohlenhydratreicher Kartoffeln zu verspeisen. Wirklich interessant ist jedoch, was als Nächstes passiert. Der Sozialpsychologe Roy Baumeister, der für seine Arbeiten zur menschlichen Selbstkontrolle bekannt wurde, führte 1998 ein berühmtes Experiment durch. Dabei entdeckte er Folgendes: Der Willenskampf, der sich einstellte, sobald er eine Versuchsgruppe darum bat, statt der Schokolade und der Kekse, die sie eigentlich gern verzehrt hätte, »gesunde« Lebensmittel wie Radieschen zu essen, führte letztlich zu geringeren Erfolgschancen, wenn die Probanden im Anschluss eine schwierige Aufgabe wie ein Rätsel lösen mussten.28 Die Versuchspersonen waren von der vorangegangenen Anstrengung so erschöpft, dass sie schnell aufgaben. Die emotional kräftezehrende Prozedur, den Verlockungen der Kekse zu widerstehen, forderte seinen »psychischen Tribut«.

Eine Änderung des eigenen Essverhaltens ist eine der größten Herausforderungen, denen man sich stellen könnte, weil die inneren Impulse, die unsere Vorlieben bestimmen, oft im Verborgenen bleiben und meist noch nicht einmal uns selbst bewusst sind. Dennoch ist eine Anpassung der Essgewohnheiten keinesfalls unmöglich, denn in Wirklichkeit tun wir so etwas fast die ganze Zeit. Wäre dem nicht so, würden die Lebensmittelkonzerne, die Jahr für Jahr ein neues Produkt nach dem anderen auf den Markt werfen, ihr Geld verschwenden. Nach dem Fall der Mauer probierten die Hausfrauen aus West- und Ostdeutschland nach Jahrzehnten der Trennung zum ersten Mal die Lebensmittel der jeweils anderen Seite. Es dauerte nicht lange, bis die Frauen aus dem Osten bemerkten, dass sie den Joghurt aus dem Westen lieber mochten.29 Die Frauen aus dem Westen entdeckten hingegen ihre Vorliebe für die ursprünglich typisch tschechischen Karlsbader Oblaten, die es damals nur im Osten zu kaufen gab. Die Frauen auf beiden Seiten der Mauer bewiesen bei ihren geschmacklichen Vorlieben eine erstaunliche Flexibilität.

36Dass wir Kinder bleiben, wenn es um unser Essverhalten geht, kann gleichermaßen Grund zur Freude wie zur Sorge sein. In unserer Pingeligkeit und in unserer Liebe zum Junkfood sind wir wohl alle wie Kinder. Aber auch wenn es um die Fähigkeit geht, neue Gewohnheiten zu erwerben, bleiben wir Kinder, auch wenn wir uns dessen kaum je wirklich bewusst sind. Obwohl jeder von uns Vorlieben pflegt, die er sich in frühester Kindheit angeeignet hat, bedeutet das nicht, dass wir uns nicht immer noch zu ändern vermögen.

Als Teenager konnte ich eine ganze Packung Speiseeis verdrücken und von jeder Mahlzeit mindestens zwei bis drei Portionen vertilgen. Überall, wo ich hinging, sprang mich das Essen geradezu an. Vielleicht war das eine Reaktion auf das Leben mit meiner älteren Schwester, die an Magersucht litt, obwohl das nie zur Sprache kam, weil man solche Dinge in unserer Familie verschwieg. Vielleicht war mein Essverhalten auch Folge einer Kindheit in einem Haus, in dem Gespräche über Gefühle stets tabu waren. Als ich 14 war, trennten sich meine Eltern, und alles wurde schlimmer. Menschen, die zu maßlosem Essen neigen, sagen oft, sie würden ihre Gefühle herunterschlucken.

Mit etwa 20 veränderten sich die Dinge jedoch. Ich verliebte mich, wurde glücklicher, und meine Mahlzeiten gewannen an Struktur. Ich verlor Gewicht, ohne überhaupt auf Diät zu sein. Ich aß viel Gemüse, aber nicht etwa, weil ich musste, sondern weil es mir schmeckte und ich mich gut dabei fühlte. Dann wurde ich Mutter. Von nun an konnte ich einen Schokoladenkuchen backen, ein kleines Stück davon verspeisen und den Rest einfach stehen lassen. Vor Kurzem entdeckte ich schließlich Yoga für mich. Mein Teenager-Ich würde mein augenblickliches Ich überaus anstrengend finden.

Das Merkwürdige war jedoch: Mein Verhalten änderte sich, ohne dass es mir auffiel. Im Gegensatz zu den Diäten der Erwach37senen, denen ich mich auf sehr bewusste, mich selbst kontrollierende Art und Weise unterwarf, schlich sich meine neue gesunde Lebensweise fast unbemerkt in meinen Alltag ein. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich nicht auch manchmal Chips esse, obwohl ich längst satt bin, besonders wenn ich ein Glas Wein in der Hand halte. Vor einem Schokoladenkuchen mag ich mittlerweile sicher sein, aber bei einem Vacherin Mont d’Or in meiner Küche sieht die Sache schon ganz anders aus. Ich habe jedoch einen Punkt erreicht, an dem meine Präferenzen zweiter Ordnung – ich möchte grünes Gemüse mögen – und meine Präferenzen erster Ordnung – ich mag grünes Gemüse – recht gut übereinstimmen. Das Essen springt mich nicht mehr an; es spricht zu mir. Es ist überaus hilfreich, dass sich unser Konzept einer gesunden Ernährung in den letzten Jahren erweitert hat und mittlerweile auch solch befriedigende Mahlzeiten wie Hühnersuppe mit Kichererbsen, Buchweizenpfannkuchen, Avocado-Toast und buttrig-cremiges Rührei mit Kräutern umfasst. Ich habe mir kleinere Mittagessen und größere Abendessen angewöhnt; doch ganz unabhängig von der Größe einer Mahlzeit, sollte sie ein Grund zur Freude und nicht zur Sorge sein. All das fühlt sich sehr gut an. Irgendwann entlang des Weges muss ich das Essen neu erlernt und erkannt haben, dass ich mich mit derselben Achtsamkeit zu behandeln habe wie meine eigenen Kinder.

E.P. Köster, ein niederländischer Verhaltenspsychologe und emeritierter Professor an der Universität Utrecht, der Jahrzehnte mit der Untersuchung der Frage verbracht hat, warum wir welche Speisen mögen, sagte einmal, Essgewohnheiten ließen sich »nahezu vollständig durch abermaliges Erlernen mittels Erfahrung verändern«.30 Das bedeutet: Wollen wir uns ein neues Essverhalten aneignen, müssen wir wieder zu Kindern werden. Wir können unsere ungesunden Essgewohnheiten nur ablegen, wenn eine »gesunde Ernährung« für uns zum Genuss wird. Wird gesundes Essen dage38gen zum Zwang, zu etwas, das uns Willenskraft kostet, kann es uns gar nicht schmecken.

Gewohnheiten zu ändern ist nie leicht, ganz besonders wenn es um solche geht, die derart stark mit unseren Kindheitserinnerungen zusammenhängen wie die der Nahrungsaufnahme. Unabhängig von unserem Alter scheint ein gesundes Essverhalten jedoch überraschend gut erlernbar zu sein. Damit möchte ich nun beileibe nicht sagen, dass jeder denselben Geschmack ausbilden sollte. Das Leben wäre langweilig, würden wir alle lieber Satsumas als Klementinen verzehren. Es gibt jedoch gewisse grundlegende Ernährungsaspekte, die erworben und dann den jeweiligen Präferenzen und Bedürfnissen angepasst werden können. Es täte uns allen gut, wenn wir uns die drei folgenden Dinge zu Herzen nähmen: regelmäßige Mahlzeiten; auf das eigene Hungergefühl zu hören statt sich an Portionsgrößen zu orientieren; und für eine Vielzahl neuer Speisen offen zu sein. All das können Kinder lernen, und die Vermutung liegt nahe, dass auch Erwachsene dazu in der Lage sind.

Damit sich unser Essverhalten ändert und wir uns eine ausgewogene Ernährung aneignen – was auch bedeuten kann, uns das Kochen beizubringen –, müssen wir die Werte überdenken, die unsere Essgewohnheiten von klein auf prägten. Dieser Wandel vollzieht sich jedoch nicht mittels vernunftbasierter Argumentation, sondern durch eine Mahlzeit für Mahlzeit stattfindende Neukonditionierung. Irgendwann gelangt man dann an den Punkt, an dem es derart normal geworden ist, nichts zu essen, wenn man nicht hungrig ist, dass es sich seltsam anfühlen würde, verhielte man sich anders. Die Behörden könnten sehr viel mehr tun, um uns bei der Umstellung unserer Ernährung behilflich zu sein. Statt ständig neue Empfehlungen herauszugeben, sollten sie auf eine Weise in unser Umfeld eingreifen, die uns bei der eigenständigen Ausbildung gesünderer Essgewohnheiten unterstützt. Es wäre schon ein Anfang, wenn Fastfood in und um ein Krankenhaus herum nicht mehr verkauft werden dürfte. Es gibt eine Studie, die beweist, dass 39der Verzehr von Schokolade in einer Universitätsmensa nahezu auf null sinkt, wenn die Leute sich für die Süßigkeit an einer separaten Schlange anstellen müssen.31

Auf individueller Ebene werden wir jedoch kaum Erfolg haben, wenn wir auf eine Welt warten, in der Schokolade zur Seltenheit wird. Die Frage ist, was wir tun müssen, um mehr oder minder zum Bevölkerungsdrittel zu gehören, das in der modernen Welt mit all ihren süßen und salzigen Verlockungen lebt, ohne darunter leiden zu müssen oder sich verführen zu lassen. Eine gesunde Einstellung zum Essen kann der Rettungsring sein, der uns vor den schlimmsten Exzessen einer zum Übergewicht neigenden Gesellschaft bewahrt. Beim Anblick eines fettigen Fleischbällchen-Sandwiches fühlt man sich irgendwann einfach nicht mehr angesprochen. Es geht nicht darum, dünn zu sein. Es geht darum, einen Zustand zu erreichen, in dem uns unser Essen nicht krank macht oder quält, sondern uns ernährt und glücklich macht. Es geht darum, uns so zu ernähren, wie eine gute Mutter oder ein guter Vater es tun würde: mit Liebe, mit Vielfalt, aber auch mit Grenzen.

Eine Änderung der eigenen Essgewohnheiten ist zwar alles andere als einfach, aber glücklicherweise möglich. Als Omnivoren kommen wir nicht mit dem Wissen zur Welt, was genießbar ist und was nicht. Wir müssen es erst lernen, so wie Kinder, die erwartungsvoll am Tisch sitzen und darauf warten, gefüttert zu werden.

41Kapitel 1

Vorlieben und Abneigungen

Jeder Mensch trägt eine Welt in sich, die alles enthält, was er gesehen und geliebt hat; immer kehrt er zu derselben zurück, selbst dann, wenn er eine fremde Welt bereist und zu bewohnen scheint.

François-René de Chateaubriand, Chateaubriands Reise nach Italien

»Außer Cornflakes will er nichts essen«, beklagte sich die Mutter eines Jungen, mit dem ich früher einmal befreundet war. Ob zum Frühstück, Mittag- oder Abendessen: Stets verzehrte er nur eine Schale Cornflakes mit Milch. Selbst wenn er bei anderen Leuten zu Besuch war, ging er keinerlei Kompromisse ein. Für seine verzweifelte Mutter waren seine extremen Essgewohnheiten ein ständiger Grund zur Sorge. Für den Rest von uns war er ein faszinierender Fall. Im Stillen bewunderte ich ihn, weil meine Schwester und ich uns nie getraut hätten, so wählerisch zu sein. Rein äußerlich wäre niemand jemals auf den Gedanken gekommen, dass etwas an diesem Jungen mit seinen strubbeligen blonden Haaren und seinem breiten Grinsen anders war, denn weder war er besonders dick noch besonders dünn. Abgesehen von seinen merkwürdigen Essgewohnheiten war er kein schwieriger oder verschlossener Mensch. Woher kam dann diese seltsame Fixierung auf Cornflakes? Sie schien einfach Teil seiner Persönlichkeit zu sein, etwas, an dem niemand etwas zu ändern vermochte.

Ob Kinder oder Erwachsene, die Frage der »Vorlieben und Abneigungen« stellt uns bis heute vor große Rätsel. Der menschliche Geschmack kann erstaunlich vielseitig und gleichzeitig merkwür42dig einseitig sein. Selbst innerhalb einer Familie unterscheiden sich die individuellen Präferenzen zuweilen enorm. Manch einer mag es am liebsten, wenn die Bestandteile einer Mahlzeit separat gereicht werden, damit sie sich nicht gegenseitig berühren und vermischen; manch anderer bevorzugt es dagegen, wenn sich die Aromen in einem einzigen Topf miteinander vereinen. Es gibt einfach nichts, das jedem schmeckt. Mein ältestes Kind – ein Rebell – mag keine Schokolade, mein jüngstes – ein Konformist – vergöttert sie geradezu. Es ist schwer zu sagen, wie viel das damit zu tun hat, dass die süße Verführung für die beiden tatsächlich einen anderen Geschmack aufweist, und wie viel mit der sozialen Bedeutung eines Daseins als Anhänger oder Gegner einer Speise, die einen so hohen Stellenwert hat wie die Schokolade in unserer Kultur. Der Schokoladenliebhaber wird mit dem Genuss einer Speise belohnt, die jeder für eine besondere Delikatesse hält. Von dieser Delikatesse hat er dann besonders viel. Der Schokoladenhasser mag im Vergleich dazu zwar weniger abbekommen, erntet dafür aber den unvergleichlichen Kitzel, andere Leute mit seinen merkwürdigen Vorlieben und Abneigungen zu überraschen. Die schokoladenförmige Leere füllt er dann einfach mit Lakritze.

Dennoch isst mein schokoladenverachtender Sohn die Süßigkeit mit großem Genuss, wenn sie eingebacken in Keksen oder geschmolzen in einer Tasse heißer Schokolade daherkommt. Wie sich persönliche Präferenzen je nach Kontext zu ändern vermögen, macht eines der vielen Rätsel unseres Geschmacks aus. Der Psychologe Paul Rozin umschrieb das wie folgt: »Nur, weil jemand Hummer mag, heißt das noch lange nicht, dass er ihn zum Frühstück mit zentnerweise Schlagsahne verspeist.«1 Ein anderes Gericht, eine andere Tageszeit oder ein anderer Ort, und schon kann ein und dieselbe Mahlzeit oder ein und dasselbe Getränk unterschiedlich anziehend sein. Nennen wir es den Retsina-Effekt: Der mit Harz versetzte Weißwein, der damals in Griechenland noch so wunderbar erfrischend geschmeckt hat, erinnert zuhause im Regen 43auf einmal an Farbverdünner. Außerdem sollten wir uns vor Augen halten, dass wir oft nicht dasselbe meinen, wenn wir sagen, wir würden dieses oder jenes mögen, obwohl wir es in denselben Worten ausdrücken. Vielleicht denken Sie, Sie würden Mangos »verabscheuen«, weil Sie bislang nur faserig-gelbe, saure Früchte probiert haben. Wenn ich dagegen sage, dass ich Mangos schlicht und einfach vergöttere, dann meine ich damit die vollreifen Alphonso-Mangos aus Indien, die so intensiv duften, dass man ihren orangefarbenen Saft in Flakons füllen und als Parfüm verkaufen könnte.

Was wir am häufigsten essen, ist oft nicht das, was wir am liebsten mögen. Im Jahr 1996 veränderte der Psychologe Kent Berridge die Ansichten vieler Neurobiologen über das Essen, als er zwischen dem »Wollen« (dem Drang, etwas zu essen) und dem »Mögen« (dem Genuss, der sich beim Verzehr einer Speise einstellt) unterschied.2 Berridge entdeckte, dass der Prozess des »Mögens« und der des »Wollens« neurologisch wie psychologisch voneinander abweichen. Der Bereich in unserem Gehirn, der für besagten Essensdrang zuständig ist, umfasst den gesamten Nucleus accumbens, während die Teile im Gehirn, die für den Genuss sorgen, zwar im selben Areal sitzen, aber sehr viel punktueller angesiedelt sind. Für Berridge bietet diese Entdeckung fruchtbare neue Erkenntnisse hinsichtlich des »Chaos der Sehnsüchte«, das die Menschheit befällt. Maßloses Essen geht wie anderes Suchtverhalten mit »exzessivem Wollen ohne angemessenem Mögen« einher.3 Man verspürt den großen Drang, eine riesige Portion Käse-Nachos zu kaufen, obwohl die Befriedigung, die sich nach dem Verzehr einstellt, letztlich kleiner ausfällt als gedacht. Tatsächlich berichten Menschen, die zu Fressattacken neigen, dass die Speisen, auf die sie besonders großen Appetit haben, schlussendlich noch nicht einmal sonderlich gut schmecken: Die Sehnsucht schlägt den Genuss.

Allerdings weisen verschiedene Neurobiologen in Reaktion auf Berridge darauf hin, dass Wollen und Mögen »stark voneinander abhängen«.4 Selbst Berridge gibt zu, vieles weise darauf hin, dass die 44abnehmende Vorliebe für eine Speise auch die Lust darauf senke.5 Wie Drogensüchtige sind wir stets auf der Suche nach dem High aus unserer Erinnerung. Insofern gehören unsere Vorlieben zu den stärksten Motoren unseres Essverhaltens. Warum wir bestimmte Speisen mögen, bleibt für alle, die sich dafür interessieren, wie man sich und seine Familie am besten ernährt, auch weiterhin die wichtigste Frage. Erkundigte man sich bei uns danach, wie unsere geschmacklichen Vorlieben und Abneigungen entstünden, würden die meisten von uns wohl sagen, sie hingen von unserer jeweiligen Persönlichkeit ab, was im Grunde genommen dasselbe bedeutet, wie mit den »Genen« zu antworten. Ein Schokoladenliebhaber oder Schokoladenhasser zu sein, wird zu einem derart großen Teil unserer Identität, dass wir es uns gar nicht mehr anders vorstellen können. Wir beweisen unsere Abenteuerlust, indem wir stets nach den schärfsten Chilis suchen, und betonen unsere Flexibilität, indem wir unseren Gastgebern mitteilen, wir würden »einfach alles« essen. Wir zeigen unseren natürlichen Konservatismus und Patriotismus, indem wir haufenweise Rindfleisch vertilgen. Geschmack bedeutet immer auch Identität. Im Alter von neun Jahren malte meine Tochter gerne Selbstporträts, die sie mit »Garnelen, Erbsen, Pilze« übertitelte, weil sie sich auf diese Weise zusammen mit ihren Leibspeisen abzubilden vermochte.

Da unser Geschmack so individuell ist, liegt der Schluss nahe, er wäre größtenteils genetisch bedingt, weshalb man ihn als naturgegeben zu akzeptieren hätte. Eltern erzählen ihren Kindern gern, dass ihre besonderen Vorlieben von einer Seite der Familie stammten, als ob man von Geburt an dazu bestimmt wäre, ein bestimmtes Essverhalten zu pflegen. »Deine Pingeligkeit hast du aber von deinem Großvater« – wer kennt solche Sätze nicht? Manchmal ist es geradezu unheimlich, wie sich eine Abneigung gegen Sellerie und eine Vorliebe für Brombeeren von den Eltern auf die Kinder überträgt. Fallen uns diese bekannten Muster auf, bestätigen sie uns in unserer Annahme, dass der Geschmack sich weitervererbt.

45Erwähne ich meine Thesen gegenüber Menschen, denen ich tagtäglich begegne, macht sie das manchmal ein wenig wütend. »Ich glaube kaum, dass wir unser Essverhalten erlernen«, heißt es dann oft. »Keine zehn Pferde würden mich dazu bringen, Rosinen/Tintenfisch/Salami zu essen [Nichtzutreffendes bitte streichen]«. Als Nächstes fragen sie dann: »Und was ist mit den Genen?«

Sollten Sie keine Rosinen mögen, habe ich damit nicht die geringsten Probleme. Ich bestreite nicht, dass unsere Essgewohnheiten auch von unseren Genen abhängen. Wir kommen nicht als unbeschriebenes Blatt Papier zur Welt. Manche Menschen reagieren genetisch bedingt stärker auf bestimmte Geschmacksrichtungen (ganz besonders auf bitter), während andere vollkommen blind dafür sind.6 Auch hinsichtlich der Ausprägung des Appetits, der Geschwindigkeit, in der wir essen, und dem Ausmaß, in dem wir unsere Mahlzeiten genießen, gibt es genetisch bedingte Unterschiede. In der Art und Weise, wie wir kauen, wie wir schlucken und wie wir verdauen, weichen wir voneinander ab. Manche Menschen haben es von Geburt an bei der Nahrungsaufnahme bedeutend schwerer, weil ihre oral-motorische Entwicklung verlangsamt ist. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie nervenaufreibend die eigentlich doch simple Angelegenheit der Nahrungsaufnahme sein kann, bis mein drittes Kind mit einer Gaumenmissbildung zur Welt kam und wir mit jeder Mahlzeit kämpften. Mittlerweile ist mein Sohn fünf Jahre alt, und ein neues Gericht führt zuweilen immer noch zu Tränen (normalerweise seinen). Wie sich das Essen und das Gewicht zueinander verhalten, wird darüber hinaus noch von der sogenannten Epigenetik bestimmt: den Erfahrungen des Fötus im Mutterleib. Die von den Biochemikern C. Nicholas Hales und dem Epidemologen David J.P. Barker formulierte Hypothese des »sparsamen Phänotyps« deutet darauf hin, dass eine Mangelernährung im Uterus zu einer lebenslangen Tendenz zur Gewichtszunahme führen kann – welch ungerechtes frühes Schicksal!7

Es bleibt die Frage, inwieweit wir dazu fähig sind, diese geneti46