Etains Rock - Nicola de Bear - E-Book

Etains Rock E-Book

Nicola de Bear

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Beschreibung

Enya O'Bryans ruhiges Leben in Hamburg nimmt ein abruptes Ende, als das verschollene Testament ihres irischen Großvaters auftaucht. Im Glauben, die reiche Erbin eines schmucken Landhauses zu sein, reist Enya nach Irland. Noch ahnt sie nicht, dass sie damit eine gefährliche Reise in eine Welt voller Intrigen und dunkler mystischer Geheimnisse antritt. Bei ihrer Ankunft in Irland stößt sie im Gasthaus auf ein altes Gemälde von Etain, einer Urahnin der O'Bryans. Sie erfährt auch von der lokalen Legende, die sich um Etains unglückselige Liebe zu Finn Mac Cumhaill rankt. Ist Enyas verblüffende Ähnlichkeit mit der schönen Frau auf dem Bild purer Zufall? Oder erwacht die Legende der Fair Maiden durch ihre Ankunft in Clarecastle zu neuem Leben? Als sie Lord Mac Cumhaill kennenlernt und ein aufregendes und romantisches Wochenende auf seinem Landsitz verbringt, weiß Enya noch nicht, dass eine alte Fehde zwischen den O'Bryans und den Mac Cumhaills schwelt. Ihr Erbe, Etains Rock, birgt ein dunkles Familiengeheimnis und ist der Grund für die Fehde. Das Liebesabenteuer mit Connor währt nicht lange, denn die dunklen Schatten der Vergangenheit holen sie unerbittlich ein und bedrohen ihr Leben und ihr Liebesglück. Aber am Ende erfüllt die Liebe zu Lord Mac Cumhaill ihr Schicksal.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Etains Rock

Über das BuchInspirationÜber die AutorinTitel/ Autor/ ImpressumWidmungPrologEnya O’BryanUrlaubspläneDas TestamentPeters VerratDie ReiseClarecastleDie BeerdigungClare ManorDer AusrittFionas LügeEnyas EntschlussDer UmzugDie Renovierung des TurmsEtains BildnisMabonDie falsche AnklageDas CollierAbschied vom TurmEpilogOuroboros

Über das Buch

Enya O’Bryans ruhiges Leben in Hamburg nimmt ein abruptes Ende, als das verschollene Testament ihres irischen Großvaters auftaucht. Im Glauben, die reiche Erbin eines schmucken Landhauses zu sein, reist Enya nach Irland. Noch ahnt sie nicht, dass sie damit eine gefährliche Reise in eine Welt voller Intrigen und dunkler mystischer Geheimnisse antritt.

Bei ihrer Ankunft in Irland stößt sie im Gasthaus auf ein altes Gemälde von Etain, einer Urahnin der O’Bryans. Sie erfährt auch von der lokalen Legende, die sich um Etains unglückselige Liebe zu Finn Mac Cumhaill rankt. Ist Enyas verblüffende Ähnlichkeit mit der schönen Frau auf dem Bild purer Zufall? Oder erwacht die Legende von der Fair Maiden durch ihre Ankunft in Clarecastle zu neuem Leben?

Als sie Lord Connor Mac Cumhaill kennenlernt und ein aufregendes und romanisches Wochenende auf seinem Landsitz verbringt, weiß Enya nicht, dass eine alte Fehde zwischen den O’Bryans und den Mac Cumhaills schwelt. Ihr Erbe, Etains Rock, birgt ein dunkles Familiengeheimnis und ist der Grund für die Fehde.

Das Liebesabenteuer mit Connor währt nicht lange, denn die Schatten der Vergangenheit holen sie unerbittlich ein und bedrohen ihr Leben und ihr Liebesglück. Aber am Ende erfüllt die Liebe zu Lord Mac Cumhaill ihr Schicksal.

Inspiration

Während der Recherche zu diesem Roman, stieß ich auf eine alte Erzählung aus der irischen Mythologie mit dem Titel Tochmarc Étaíne.

Der Beiname der Heldin lautete Echraide („Reiterin“) und hat damit Verbindung zur walisischen Rhiannon und zur gallischen Göttin Epona.

… sie war das schönste und lieblichste Mädchen, das je ein Männerauge gesehen hatte…

Was durchaus bemerkenswert an der Geschichte ist, dass Étaíne im Verlauf der Handlung immer wieder von ihrer Rivalin verwandelt wird. Mal in eine Möwe, mal in ein Insekt. Am Ende wird sie zu einem ätherischen Wesen, das der Wind davonträgt.

Étaíne wird so in einem, wohl mystisch zu verstehenden, Zeitraum von 1000 Jahren mehrfach wiedergeboren.

(Ouroboros)

Über die Autorin

In Hamburg geboren, lebt sie seit zwei Jahrzehnten in ihrer Wahlheimat an der Ostsee.

Nicht mehr berufstätig, kann sie ihre Zeit nun ganz ihren zwei Katzen und der Leidenschaft für das Schreiben widmen.

Ihre Faszination für Irland, mit seinen alten Mythen und Legenden, inspirierte sie zu ihrem romantischen und zugleich spannenden Debütroman »Etains Rock«.

Wenn sie nicht schreibt, pflegt sie die Rosen in ihrem kleinen Garten, stickt, backt Brot oder liest gerne Krimis.

Die Autorin schreibt unter dem Pseudonym Nicola de Bear.

Titel/ Autor/ Impressum

Copyright © der Originalausgabe 1/2020 by Nicola de Bear Autorin: Nicola de Bear   c/o Autoren Services.de / Birkenallee 24 / 36037 Fulda Text: Copyright © by Nicola de Bear Umschlaggestaltung:  Copyright © by Nicola de Bear published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de 

Hardcover           ISBNTaschenbuch       ISBN 0-401-384769 M eBook                 ISBN  

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Widmung

Für meine bewundernswerte Mutter,

deren unerschütterliche Liebe und Unterstützung

mir stets Inspiration und großer Kraftquell sind.

Prolog

"Das Herz ist gestorben, die Welt ist leer, Und weiter gibt sie dem Wunsche nichts mehr. Du Heilige, rufe dein Kind zurück, Ich habe genossen das irdische Glück, Ich habe gelebt und geliebet!"

(Schiller/ Des Mädchens Klage)

Das Mondlicht stahl sich durch das schmale Fenster ihres Kerkers und tauchte den bleichen Schädel an der Wand gegenüber in ein kaltes silbernes Licht. Der Anblick war Etain unerträglich. Sie hatte Medir geliebt und immer gewollt, dass er lebt. Letztlich hatte ihre Liebe ihm aber nur den Tod gebracht.

Vor wenigen Tagen waren Lady Fúamnachs Schergen zu ihr gekommen und hatten den Schädel in der Nische aufgehängt. Sie ließen keinen Zweifel daran, wem dieser Schädel einst gehörte und prahlten damit, dass sie sein Fleisch den Hunden vorgeworfen hätten. Angesichts dieser sinnlosen Grausamkeit hätte sie laut schreien mögen, aber ihrer Kehle entrang sich nur ein verzweifeltes gurgelndes Stöhnen. Dann war sie kraftlos auf die Knie gesunken. Es war, als wäre mit Medir auch alle Hoffnung auf Rettung gestorben. Finn würde sie nicht ein zweites Mal vor dem Hass seiner Frau beschützen können. Seit dem Prozess lebte sie in ständiger Furcht vor Folter und einem elenden Tod. Dafür hatte die Lady gesorgt. 

Als der teuflische Plan Etain als Hexe zu verurteilen gescheitert war, hatte sie sie entführen und im Turm einsperren lassen. Der Ort, an dem sie einst mit Finn ein kurzes gemeinsames Glück erleben durfte. 

Etain war gewiss, dass sie niemals durch die Hand der Rachsüchtigen sterben würde. Das wagte Fúamnach nicht. Aber damit war ihr auch nicht die Gnade eines schnellen Todes vergönnt. Jetzt würde sie langsam und elend im Turm zugrunde gehen und die Lady würde ihr dabei zusehen.

Fúamnachs Rachegelüste ließen sich nicht allein mit dem Wissen um ihren baldigen Tod stillen. Nein, sie kam fortwährend in Etains Verlies, um sich an dem Elend der Nebenbuhlerin zu ergötzen. Auf immer neue und perfide Weise verhöhnte sie die Verzweifelte.

Erst hatte man ihr alle Kleider genommen und sie dann gezwungen ihr edles Samtkleid und die Smaragde zu tragen. Beides war ein Geschenk ihres Geliebten gewesen. Nun würde sie diese einstigen Symbole für Finns Liebe bis zu ihrem Tode tragen. Und als reiche dies alles noch nicht, erzählte Fúamnach ihr, dass Finn sich längst einer neuen Geliebten zuwendete. Hatte er sie wirklich schon vergessen? Etain fröstelte. Oh ja, der Rachedurst der Lady war nicht zu stillen.

Aber vielleicht war das alles nur eine Lüge und Finn suchte verzweifelt nach ihr. Mit Tränen in den Augen sah sie hinauf zu dem kleinen Stückchen Nachthimmel und flüchtete sich in ihre Erinnerungen. Diese Erinnerungen waren das einzige, was sie noch unter den Lebenden hielt. Ihre Erinnerungen und das Kind. Ihre Hände glitten sanft über die Wölbung ihres Unterleibes. Ihr ungeborenes Kind durfte nicht sterben! Sie musste stark bleiben. Bis zu seiner Geburt konnte sie dies alles hier mit Gottes Hilfe ertragen. Breda, ihre einstige Amme, hatte versprochen, sich später einmal um das Kind zu kümmern. Die alte Frau war ihre einzige Verbündete. Ohne ihre nächtlichen Besuche und dem heimlichen Versuch sie mit dem Nötigsten zu versorgen, wäre sie wohl längst nicht mehr am Leben.

Wenn ihre Zeit gekommen war und es konnte nicht mehr lange dauern, mussten sie schnell handeln. Die Amme würde durch das kleine Fenster im Verlies einen Korb am Seil herablassen und ihr Kind holen. Ihr Plan war riskant und die Gefahr von den Schergen oder Fúamnach entdeckt zu werden groß. Aber sie hatte nur diese einzige Chance, ihr Kind zu retten.

Nach einer Weile legte sich Etain steif auf ihr Lager aus feuchtem muffigem Stroh nieder. Heute Abend würde Breda wohl nicht mehr zum Turm kommen. Der Mond schien und die Nacht war hell, die Gefahr einer Entdeckung war einfach zu groß.

Um vor der klammen Kälte und dem bohrenden Hunger zu flüchten, versuchte Etain sich an sonnige und warme Tage zu erinnern. Die Tage, an denen sie unbeschwert auf Medir am Kamm der Klippen entlang galoppierte.

Als sie endlich einschlief, glaubte sie noch den warmen Sommerwind der nahen See auf der Haut zu spüren. 

***

Enya O’Bryan

Meine Träume hab ich dir unter die Füße gebreitet Tritt sachte auf, du trittst auf meine Träume!

(William Butler Yeats)

Enya saß in ihrem Lieblingssessel, dem alten geblümten Ohrensessel von Großmutter Alma. Zerstreut betrachtete sie die glitzernden Wassertropfen auf der Scheibe ihres Wohnzimmerfensters. Kaum war Peter gegangen, hatte es wie auf Stichwort zu regnen begonnen. Heftige Windböen waren durch die Straße gefegt und hatten dabei kurze Regenschauer vor sich hergetrieben. Jetzt war es später Nachmittag, die Straße vor ihrer kleinen Wohnung im Hamburger Stadtteil Langenhorn füllte sich langsam mit den parkenden Fahrzeugen der Anwohner. Bis zur Nasenspitze in die rote Wolldecke gekuschelt, nippte sie verdrossen an ihrem heißen Tee.

Was war nur los mit ihr? Peter war nun schon vor über einer Stunde gegangen, aber sie war immer noch ganz aufgewühlt. Sie besann sich kurz. Nein, irgendwie war sie ... frustriert. Ja, Frust! Das traf es wohl am ehesten. Peter selbst schien heute ausgesprochen beschwingt und guter Dinge gewesen zu sein, als er sie an der Haustür in den Arm nahm und zum Abschied flüchtig auf die Nasenspitze küsste. »Pah«, schnaubte sie ungehalten. Sie hasste es, wenn er sie so auf die Nase küsste. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr! Dabei hätte sie es sich so sehr gewünscht, wenn er noch ein wenig geblieben wäre. Aber Peter hatte es eilig.

Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Etwas zu eilig, wie es ihr jetzt schien?! Ihre Bitte, wenigstens noch zum Abendessen zu bleiben, hatte er mit großem Bedauern in der Stimme abgelehnt. Er habe noch einen wichtigen Geschäftstermin und jetzt, da die Finanzierung der Galerie gesichert sei, könne er selbstverständlich die neuen Geschäftspartner nicht versetzen. Das müsse sie doch verstehen.

Natürlich verstand sie, wie so oft.

Eigentlich war der kalte und windige Apriltag für sie ohne große Vorkommnisse verlaufen. Bis, ja, bis Peter sie in ihrer Mittagspause anrief. Über Ingrid, ihre Kollegin im Sekretariat, ließ er ausrichten, dass er so gegen 16:00 Uhr bei ihr zu Hause vorbeischaue. In letzter Zeit machte sich Peter auffällig rar und so hatte sie sich besonders auf einen Abend ganz allein mit ihm gefreut. Sie Dummkopf hatte extra früh Feierabend gemacht, um schnell noch ein paar Lebensmittel für ein romantisches Candle-Light-Dinner einkaufen zu können. Enya verzog missmutig den Mund. Nun denn, jetzt welkte der Salat im Kühlschrank vor sich hin und sie hatte zwei gebratene Kalbsfilets, die sie dann morgen in ihrer Mittagspause kalt auf Brot essen würde. 

Und dann auf dem Nachhauseweg hatte sie auch noch dieses dumme Missgeschick. Sie verdrehte die Augen, wie peinlich ihr das immer noch war! In der morgendlichen Hektik hatte sie, trotz der schlechten Wettervoraussage im Frühstücksradio, vergessen, den Schirm in ihre große Umhängetasche zu stecken. Am Nachmittag, als sie mit einer Papiertüte voller kulinarischer Köstlichkeiten im Arm den Supermarkt verließ, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Noch bevor sie überhaupt den Wagen erreichen und den Wagenschlüssel aus den Untiefen ihrer Umhängetasche hervorkramen konnte, hatte der Himmel auch schon seine Schleusen geöffnet. In Sekundenschnelle war sie nass bis auf die Haut.

Und da passierte es! Mit einem leisen Ratschen gab die durchnässte Papiertüte ihre Bestimmung auf. Der gesamte Einkauf rutschte unaufhaltsam an ihren Beinen herunter, rollte über den Asphalt und verteilte sich schließlich unter ihrem Auto. Den Tränen nahe, war sie auf allen Vieren um das Auto herumgekrochen, hatte hektisch die Lebensmittel eingesammelt und danach einfach lose auf den Beifahrersitz geworfen. Die unerfreuliche Erinnerung spülte Enya mit einem großen Schluck warmen Tee aus ihrer Tasse herunter.

Nach einer Weile schüttelte sie verwundert den Kopf. Wie machte Peter das bloß? Schon wieder hatte er es geschafft. Was war nur aus ihrem guten Vorsatz geworden, ihm nicht mehr ihr hart verdientes Geld anzuvertrauen? Für ihre Unfähigkeit, sich gegen seine immerwährenden Forderungen zu behaupten, hatte ihre Mutter inzwischen nur noch schweigende Missbilligung übrig. Sie seufzte. Peter verstand es auch diesmal großartig, seine neueste Geschäftsidee und ihre gemeinsame Zukunft in den glühendsten Farben zu schildern. So mitreißend den Erfolg seiner Unternehmungen auszumalen und ihr dabei tief und liebevoll in die Augen zu schauen, das war schon eine Kunst. Er wurde nicht müde, ihr zu versichern, wie sehr er sie liebe und brauche. Da musste sie ihm einfach helfen. Wenigstens dies eine Mal noch. Sie lächelte gequält, würde es das letzte Mal sein?

Jetzt mischte sich zu allem Überfluss auch noch die tadelnde Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken: »Das ist keine Liebe, Enya. Ich verstehe dich nicht. Peter nutzt dich nur aus. Dabei kann man ihm natürlich keinen Vorwurf machen. Er ist wie er ist, ein charmanter Schlawiner und Müßiggänger eben. Aber du! Du müsstest es doch eigentlich mit deinen 35 Jahren besser wissen. Schließlich haben deine Großmutter und ich versucht, dich zu einer intelligenten und emanzipierten Frau zu erziehen. Immerhin hast du studieren können, wenn du auch ausgerechnet Kunstgeschichte studieren musstest.«

Wenn Enya näher darüber nachdachte, wusste sie eigentlich sehr genau, warum sie immer wieder auf Peter hereinfiel. Sie hatte schlichtweg Angst davor, allein zu sein, und der Schlawiner hatte ja nicht nur schlechte Seiten. Peter galt als gutaussehend, war groß und schlank. Ihr gefiel sein dunkles Haar. Er war unterhaltsam, brachte sie zum Lachen und na ja, der Sex mit ihm war auch nicht übel. Aber ihre Mutter würde wie immer Recht behalten. Mein Geld werde ich wohl nie wiedersehen, dachte sie niedergeschlagen. 

  »Ach zum Teufel mit Peter und seinem neuen Projekt«, grollte sie laut, richtete sich steif im Sessel auf und schüttelte energisch den Kopf. »Hamburg braucht ja unbedingt noch so eine hippe Galerie.« Für eine Weile widmete Enya ihre ganze Aufmerksamkeit wieder den Wassertropfen auf der Fensterscheibe, dann senkte sich ihr Blick betrübt auf die Tasse in ihren Händen. Wenn sie so darüber nachdachte, musste sie ehrlicherweise zugeben, dass sie überhaupt nicht in Peters Leben passte. Es war ein hektisches Leben, mit ständig wechselnden Trends und Moden. Was fand Peter eigentlich an ihr? Im Unterschied zu seinen Freunden fühlte sie sich in Jeans und Pullover wohler als in teuren Designer-Klamotten von Versace oder Armani. Ihr machte es mehr Freude, in den Bergen wandern zu gehen, anstatt sich aufzubrezeln und eine von Peters Vernissagen zu besuchen. Immer dieses „Küsschen, Küsschen“ und natürlich das obligatorische Gläschen Sekt dazu in der Hand, dachte sie spöttisch. Irgendwie wirkte das aufgesetzt.

Sie nippe ein wenig an dem langsam erkaltenden Tee. Hinzu kam, dass sie sich nicht besonders schön oder attraktiv fand. Zwar hatte sie mit ihrem Gewicht zumindest keine Probleme. Aber mit nur 1,60 Metern Körperhöhe und einer roten Lockenpracht, die sich jedem Versuch einer erkennbaren Frisur widersetzt, bin ich eben auch kein Mannequin, dachte sie verdrossen.

Plötzlich kam ihr Peters Assistentin, Cornelia Kampe, in den Sinn. Dieses blonde Gift! Seine Assistentin? »Dass ich nicht lache!«, schnaubte sie ihre Teetasse an. Cornelia hatte immer so eine arrogante Art sie zu mustern, befand sie. Vor ihrem inneren Auge sah sie förmlich, wie Cornelia, von ihren beeindruckenden 1,80 Metern Körperhöhe (allerdings mit High Heels) mitleidig auf sie herunterblickte. Enyas Unzulänglichkeiten pflegte Cornelia höchstens mit einem müden Lächeln zu quittieren. Dabei hatte sie so eine mokante Art, die knallroten Lippen zu einem Schmollmund zu kräuseln, dass Enya nicht selten versucht war, ihr einen Tritt vors Schienbein zu geben. Ja, seinen Freunden musste sie langweilig und provinziell vorkommen. Auf Peters Partys stand sie schnell im Abseits. Sie verstand sich eben nicht auf belangloses Geplauder und Smalltalk. Ach, zum Teufel auch mit dieser Cornelia! Jetzt verfiel sie schon wieder in Selbstzweifel. Die trüben Gedanken führten zu nichts, außer zu Kopfschmerzen. Wirklich, die konnte sie zu allem Übel nicht auch noch gebrauchen. Also, Schluss damit!

Sie nippte wieder an ihrem Tee, schaute hinaus aus dem Fenster und beobachtete die wenigen vorbeifahrenden Autos. An diesem verregneten Apriltag wurde es früh dunkel. Bald schien es ihr, als wolle sich sogar das Wetter, allein aus Mitgefühl, an ihre düstere Stimmung angleichen. Eigentlich war das restliche Geld aus dem Erbe ihrer Großmutter Alma für etwas ganz Besonderes verplant. Seit Jahren hatte sie nun schon im Stillen vorgehabt eine Reise nach Irland zu unternehmen. Enya seufzte. Sehnsüchtig schaute sie auf die in der Dämmerung liegende Straße. »Ade, ihr schönen Urlaubspläne. Ade Irland und ade ihr wildromantischen Cliffs of Moher.« Sie würde wohl nie die Heimat ihres Vaters kennenlernen.

Unvermutet musste sie jetzt an Padraig, ihren irischen Vater denken. Er war als Dozent für mittelalterliche Geschichte an der Universität in Hamburg tätig gewesen. Padraig O’Bryan war in den Sechzigerjahren zum Studium nach Deutschland gekommen, hatte ihre Mutter Charlotte kennengelernt, geheiratet und war für immer geblieben. Ihr Vater war früh an Krebs verstorben, sie war damals gerade einmal zehn Jahre alt gewesen. Ihre Mutter, eine Englischlehrerin am St. Ursula Gymnasium, hatte sie allein großgezogen. Das heißt, eigentlich war es Charlottes Mutter Alma gewesen, die sich um sie gekümmert hatte. Alma hatte sie beide nach dem Tod ihres Vaters kurzerhand zu sich geholt. Ihre Großmutter hatte versichert, dass die vielen Zimmer in ihrem alten Haus ohnehin leer stünden. Charlotte müsse ja nun allein für Enya sorgen und wieder arbeiten gehen. Damit das Kind nicht den ganzen Tag sich selbst überlassen bliebe, wäre es nur praktisch, wenn sie beide bei ihr wohnten.

Enya runzelte die Stirn. Merkwürdig, ihren Vater hatte sie nie besonders vermisst. Sie hatte kaum noch konkrete Erinne-rungen an ihn. Wenn sie an ihren Vater dachte, sah sie ihn immer an dem alten Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer sitzen, über ein Buch oder Manuskript gebeugt. Der Vater nannte sie immer zärtlich seine kleine irische Prinzessin. Als Gute-Nacht-Geschichte hatte er ihr oft eine alte Legende über eine Prinzessin mit dem Namen Enya erzählt. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Angestrengt versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen, wovon genau die Legende gehandelt hatte. Aber sie erinnerte sich nur noch vage daran, wie die Prinzessin wegen einer düsteren Prophezeiung von ihrem Vater, dem König, in einen Turm gesperrt wurde. Natürlich befreite ein tapferer Prinz sie und lebte glücklich und zufrieden mit ihr bis an das Ende aller Tage.

Unvermittelt musste sie schmunzeln. Natürlich, ihr Haar! Ihren roten Lockenkopf hatte sie von ihrem Vater geerbt, ebenso wie seine Liebe zur Geschichte. Und, wie ihre Mutter jedenfalls nie müde wurde zu betonen, den Hang zur Unordnung. Sie nannte es lieber ihr kreatives Chaos. Langsam wurde es dunkel und die Laternen vor dem Haus tauchten die Straße in ein diffuses orangefarbenes Licht. Gedankenverloren drehte Enya die halbvolle Tasse in ihren Händen hin und her. Der Tee war nun endgültig kalt.

Ja, diese beiden starken Frauen, ihre Mutter und ihre Großmutter, hatten nicht viel Raum für die Sehnsucht nach einem Vater in ihr aufkommen lassen. Beide vermieden es, über ihn zu sprechen, und Enya hatte auch nicht gefragt. Wenn sie es recht bedachte, wurde in ihrer Familie eigentlich nie viel über die Vergangenheit gesprochen. Ihre Großmutter Alma war stets eine pragmatische Frau gewesen, sie zitierte nur zu gerne den Spruch: »Die Vergangenheit kann nicht verändert werden. Aber die Zukunft hältst du noch in deinen Händen.

Jetzt war ihre Großmutter schon eine Reihe von Jahren tot und das alte Haus verkauft. Nach Abzug der Hypotheken konnte sie damals mit dem Geld ihr Studium für Geschichte finanzieren und später diese kleine Wohnung kaufen. Ihr Blick schweifte ziellos im Dämmerlicht durch den Raum und blieb an den hohen Regalen mit ihren geliebten Büchern hängen. Es waren auch die Bücher ihres Vaters darunter. Wieder musste sie an ihre geplante Reise nach Irland denken. Mit dem kleinen Rest ihres Erbes wollte sie diese Reise antreten und sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllen.

Sie fröstelte leicht und zog sich die Wolldecke enger um die Schultern. Seit Jahren hatte sie keinen Urlaub mehr gemacht. Entweder musste ein Kollege vertreten, ein Projekt am Laufen gehalten werden oder Peter hatte gerade keine Zeit für sie erübrigen können. Ach ja, Peter, sie schnaubte. Ihre verflixte Schwäche für ihn! Enya sprang vom Sessel auf, warf die Wolldecke hinter sich und streckte die steifen Glieder.

  »Schluss mit den trüben Gedanken!« Sie war müde, es war spät geworden und es war vernünftiger, schlafen zu gehen. Im Geiste hörte sie noch ihre Großmutter sagen: »Morgen mein Kind, sieht alles ganz anders aus!«

Enya seufzte leise. Tat es das nicht irgendwie immer? »Morgen scheint wieder die Sonne«, flüsterte Sie.

Ja, Morgen. 

***

Urlaubspläne

Geweckt vom leisen Summen ihres Weckers auf dem Nachtisch, erwachte Enya nur langsam. Benommen blickte sie auf die grünlichen Ziffern des kleinen schwarzen Weckers und versuchte zu erkennen, wie spät es war. Es war 7:00 Uhr, wie üblich.

Sie drückte die Schlummertaste, schloss wieder die Augen und rollte mit einem leisen Seufzer zurück auf das Kissen. Sie wollte noch ein wenig dösen. Die Nacht war viel zu kurz und dann dieser seltsame Traum. Was in aller Welt hatte sie da nur auf einem Pferd verfolgt? Zerstreut musste sie daran denken, dass sie doch gar nicht reiten konnte.

Stück für Stück erinnerte sie sich nun wieder. Als der Wecker ihren Schlaf unterbrochen hatte, konnte sie noch deutlich ein männliches Gesicht wahrnehmen. Irgendwie ging von diesem Mann etwas Bedrohliches aus und sie hatte im Traum verzweifelt versucht zu fliehen. Enya stöhnte, was für ein konfuses Zeug hatte sie da nur geträumt!

Prompt musste sie an den gestrigen Tag und seinen unbefriedigenden Verlauf denken. Schuld an dem Albtraum waren bestimmt ihre Grübeleien gewesen, über Peter und das Geld für seine Pläne, das sie lieber für eine Reise nach Irland verwendet hätte und mit dem sie nun seine Galerie finanzierte. Natürlich, so musste es sein! Jetzt verfolgten sie Peters Eskapaden schon bis in ihre Träume!

Ihre Gedanken begannen sich zu zerstreuen und sie war kurz davor, wieder einzuschlummern. Leise murmelte sie: »Aber Peter hat doch keine blonden Haare.«

Der Wecker summte erneut, nur ein wenig lauter als zuvor. Sie linste mit nur einem offenen Auge zum Wecker. Jetzt war es 7:15 Uhr. Es wurde langsam Zeit aufzustehen, sonst musste sie so hetzen. Das hasste sie.

Sie gab sich einen Ruck, schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante auf den Boden. Zum Glück ist heute Freitag, dachte sie, streckte die Arme über den Kopf und gähnte ausgiebig. Da endete ihr Arbeitstag erfreulicherweise schon am Mittag. Sie ging zum Fenster, öffnete die Vorhänge und schaute nach dem Wetter. Dasselbe trübe Aprilwetter wie gestern bemerkte sie beiläufig. Enya nahm sich fest vor, den Schirm heute nicht zu vergessen. Jetzt brauchte sie eine schöne heiße Tasse Kaffee, dann würde die Welt schon viel freundlicher aussehen.

Der Kaffee weckte nicht, wie erwartet, ihre Lebensgeister. Lustlos knabberte sie an ihrem Marmeladenbrot. Plötzlich kam ihr der Gedanke, wie schön es wäre, mal wieder hinaus ins Alte Land zu fahren. Die Obstbäume begangen sicher schon zu blühen. Der Gedanke heiterte sie augenblicklich auf. Sie hatte doch noch zwei Tage Resturlaub. Zwar müsste sie vorher zur Fakultät fahren und im Sekretariat Bescheid geben, aber dann stand einem Ausflug ins Grüne nichts mehr im Wege. Enya überlegte, ob sie nicht vorsorglich einen kleinen Koffer für ein oder zwei Nächte packen sollte. Wenn sie eine gemütliche Pension fand, konnte sie doch länger als einen Tag bleiben.

Ja, warum eigentlich nicht!? Sie schob den Rest ihres Marmeladenbrotes in den Mund, stand kauend auf und verschwand im Badezimmer. 

*

Eine Stunde später erreichte sie die Räume der Fakultät an der Edmund-Siemers-Allee. Gleich nach dem Studium hatte Enya hier begonnen zu arbeiten. Sie schätzte ihre Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Hamburgische Geschichte sehr. Zwar hatte sie nur ein winziges Büro im dritten Stock des imposanten Gebäudekomplexes aus Backstein, aber dafür musste sie sich den Raum mit keinem ihrer Kollegen teilen.

Eilig sprang sie die Treppen hinauf bis in den zweiten Stock. Zuerst wollte sie bei Ingrid vorbeischauen und ihren Urlaubsantrag stellen. Anschließend konnte sie in ihrem Büro noch schnell die Post kontrollieren. Vielleicht gab es ja doch etwas Dringendes, das nicht bis Montag oder Dienstag warten konnte. Ingrid würde überrascht sein, von ihrem spontanen Entschluss zu hören. Die junge Frau aus dem Sekretariat warf Enya immer einen Mangel an Spontanität vor und spöttelte gerne über ihre peniblen Pläne. Seit einer gemeinsamen Weihnachtsfeier vor zwei Jahren war sie mit Ingrid befreundet. Damals hatte Enya die jüngere Frau aus den Armen eines alkoholisierten und enthusiastischen Kollegen befreit. Beim Gedanken daran musste sie noch immer schmunzeln.

Sie hatte die Bürotür erreicht, klopfte und öffnete. Ingrid saß mit Kopfhörern über den Ohren vor dem Bildschirm und ließ die Finger nur so über die Tasten fliegen.   »Guten Morgen, Ingrid«, sagte Enya sehr laut und noch etwas außer Atmen von ihrem Treppensprint. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen, einen Urlaubsantrag stellen und dir ein schönes Wochenende wünschen.«

  »Urlaubsantrag? Hab ich da richtig gehört?« Ingrid grinste sie an, zog sich die Kopfhörer von den Ohren und legte sie beiseite. »Du und Urlaub?« Plötzlich erstarb ihr breites Lächeln. »Es ist doch nichts mit deiner Mutter in Spanien passiert?«

  »Nein, Nein, keine Sorge. Alles gut«, beruhigte sie Enya sofort. »Ich hab mich heute Morgen ganz spontan dazu entschlossen, eine Stippvisite ins Alte Land zu unternehmen. Die Kirschblüte hat vielleicht schon begonnen. Wenn mir irgendwo eine kleine gemütliche Pension besonders gut gefällt, möchte ich sogar für ein oder zwei Nächte bleiben. Die frische Luft wird mir bestimmt guttun. Mal sehen, was kommt.«

  »Na, dann unterschreibe mal deinen Antrag. Hier, bitte!« Ingrid zog gleichzeitig den kleinen blauen Formularblock für Urlaubsanträge und einen Kugelschreiber aus einer Schublade ihres Schreibtisches und legte beides vor Enya auf den Tisch.

  »Ich freue mich für dich, Eni. Schön, dass Peter endlich mal Zeit für dich findet. Ich drücke euch die Daumen, dass das Wetter hält.«

Enya senkte den Kopf über das Formular und schrieb. »Ich fahre alleine«, erwiderte sie knapp. Als sie wieder aufblickte, sah sie einen Anflug von Verblüffung und Sorge über Ingrids Gesicht huschen.

Die junge Frau fing sich schnell wieder und meinte lächelnd: »Nun, schließlich bist du erwachsen und kannst dich auch mal ohne Peter amüsieren! Ich wünsche dir eine besonders schöne Zeit.«

  »Danke, werde ich haben. Ich wünsche dir auch ein schönes Wochenende.« Enya war dankbar dafür, dass Ingrid so taktvoll war und keine weiteren Fragen über Peters Verbleib stellte. Enya reichte das Formular und den Kugelschreiber zurück. Als sie sich gerade zum Gehen umwenden wollte, hielt Ingrid sie noch einmal auf.

  »Hey Eni, das hätte ich fast vergessen bei all dem Gerede von deinen überraschenden Urlaubsplänen!« Ingrid öffnete eine andere Schublade, holte eine kleine graue Pappkarte hervor und streckte sie Enya entgegen. »Nachdem du gestern so früh gegangen bist, kam ein Herr im eleganten Anzug vorbei und fragte nach dir. Sein Name steht da oben irgendwo auf der Visitenkarte. Ein gewisser Herr Schröder.«

Enya stutzte, nahm die silbergraue Visitenkarte entgegen und betrachtete sie unschlüssig. Auf der Karte standen, in großen Goldlettern geprägt, die Namen Schröder & Kleinschmidt. Darunter, etwas kleiner und in blauer Farbe, war Anwaltskanzlei zu lesen. Dann folgten die üblichen Adressdaten und Telefonnummern. Fragend sah sie Ingrid an. »Hat er gesagt, warum er mich sprechen wollte?«

  »Nein, hat er leider nicht«, meinte Ingrid bedauernd. »Ich hab ihn natürlich nach seinen Gründen gefragt, aber er wollte ausschließlich mit dir sprechen. Es sei persönlich, meinte er. Und …«, fügte sie hinzu, »er betonte mehrmals, es sei sehr wichtig für dich. Du solltest bitte bald Kontakt mit der Kanzlei aufnehmen.«

Enya war verblüfft und ein wenig ratlos. Sie schüttelte den Kopf und sah fragend zu Ingrid herüber. »Ich habe noch nie von einer Kanzlei Schröder & Kleinschmidt gehört. Ich weiß wirklich nicht, was die von mir wollen.«

  »Ich hab die sofort gegoogelt, als er weg war. Die Kanzlei liegt in diesem schicken Bürogebäudekomplex, direkt am Alsterufer.« Ingrid war offensichtlich mächtig beeindruckt. »Du solltest gleich anrufen, dann erfährst du bestimmt Näheres. Vielleicht ist es ja wirklich wichtig.«

  »Mal sehen«, meinte Enya ausweichend. »Ich gehe dann mal und werfe noch kurz einen Blick in mein Büro, nachsehen, ob dringende Post da ist. Also bis Dienstag, tschüss, Ingrid!

  »Ja, dann bis nächste Woche. Tschüss, Eni!« Ingrid setzte ihre Kopfhörer auf und ließ die Finger wieder über die Tasten fliegen

Zögerlich stieg Enya die breite Treppe hinauf zu ihrem Büro, das ein Stockwerk höher lag. Auf dem Absatz blieb sie stehen. Eine Weile betrachtete sie ratlos die Visitenkarte, die sie immer noch in der Hand hielt. Dann betrat sie ihr Büro. Ohne die Windjacke auszuziehen oder die Tasche von der Schulter zu nehmen, setzte sie sich auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Die Visitenkarte legte sie achtlos vor sich auf die Schreibunterlage, griff nach den Papieren im Posteingangsfach und studierte sie oberflächlich. Nichts Wichtiges, befand sie, und legte den Papierstapel zurück ins Fach.

Als sie schon im Begriff war aufzustehen und zu gehen, fiel ihr Blick abermals auf die Visitenkarte. Sie stockte kurz und schaute dann auf ihre Armbanduhr. Es war ja grade mal 9:00 Uhr. Noch ausreichend Zeit für einen Anruf in der Kanzlei. Dann konnte sie beruhigt ins Wochenende starten und brauchte nicht länger darüber zu spekulieren, was die Herren Schröder & Kleinschmidt eigentlich von ihr wollten. Kurzentschlossen griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer auf der Visitenkarte. Es dauerte eine Weile, bis jemand am anderen Ende das Gespräch aufnahm. Enya war schon kurz davor aufzulegen, als plötzlich eine weibliche Stimme flötete:

  »Guten Morgen, Kanzlei Jochen Schröder & Sven Kleinschmidt. Sie sind mit dem Vorzimmer verbunden. Mein Name ist Chantal Bauer. Was kann ich für Sie tun?«

Enya räusperte sich kurz: »Guten Morgen, mein Name ist Enya O’Bryan. Ein Herr Schröder hat gestern vergebens nach mir ...«. Enya wurde flott unterbrochen.

  »Guten Morgen, Frau O’Bryan. Ja, ich bin über die Vorgänge informiert. Einen Augenblick, bleiben Sie bitte am Apparat. Ich werde mich erkundigen, ob Herr Schröder Zeit für ein Gespräch hat.« Die Stimme verstummte, stattdessen erklang jetzt eine Pausenmusik.

Trotz der einlullenden Melodie stieg langsam Unruhe in Enya hoch. Von welchem Vorgang sprach die Frau da wohl? Was in aller Welt konnte sie damit nur gemeint haben? Als sich schließlich am anderen Ende der Leitung die Frau wieder meldete, schrak Enya förmlich zusammen.

  »Herr Schröder hat jetzt Zeit für Sie, Frau O’Bryan. Ich werde Sie zu ihm durchstellen. Auf Wiederhören.«

  »Auf Wiederhören und danke«, erwiderte Enya hastig, aber das hörte die Frau schon nicht mehr. Sekunden später erklang dafür die freundliche Stimme eines Mannes.

  »Guten Morgen, Frau O’Bryan. Sie sprechen mit Jochen Schröder. Gut, dass Sie anrufen. Wir möchten Sie gerne zu einem Gespräch in die Kanzlei einladen. Wann können Sie uns aufsuchen? Einen Augenblick, bitte«, er unterbrach sich selbst. »Lassen Sie mich bitte kurz in meinem Terminkalender nachsehen.« Enya hörte wie das Telefon beiseitegelegt wurde und Papier raschelte. Gerade wollte sie ihn noch fragen, ob sie auch die O’Bryan sei, die er sprechen wollte, da war er wieder am Apparat. »Am Montag um 11:15 Uhr habe ich noch einen Termin frei. Ginge das bei ihnen?«

  »Eigentlich wollte ich ein paar Tage Urlaub machen«, meinte Enya ausweichend. »Vor Mittwoch kann ich nicht und am Vormittag geht’s schon gleich gar nicht bei mir. Ich bin berufstätig.

  »Das ist bedauerlich. Am Mittwoch fliege ich in einer wichtigen Angelegenheit zurück nach Irland und bleibe dort für mindestens drei Wochen.«

Erwähnte er da etwa »Irland«?  Also, sie sollte auf ihren kurzen und wohl verdienten Urlaub verzichten, während der Herr sich in Irland vergnügte. Ausgerechnet in ihrem Irland!

Enya unterbrach ihn schroff: »Sind Sie sich überhaupt sicher, dass Sie mich, Enya O’Bryan, sprechen möchten? Können Sie mir nicht am Telefon sagen, worum es sich handelt? Ich weiß ja noch nicht einmal, worum es eigentlich geht!«

  »Sie sind doch Enya O’Bryan, geboren am 12.09.1975 in Hamburg?«, fragte er unvermittelt.

Sie antwortete zögerlich: »Jaa?! Das stimmt. Aber woher haben Sie die Informationen?«

Statt ihre Frage zu beantworten, erklärte er: »Es ist notwendig, dass ich Sie persönlich spreche. Leider dauerte es eine Weile, bis wir sie ausfindig machen konnten.«

Was meinte er denn damit, mich ausfindig machen, fragte sich Enya im Stillen verwundert. Ich bin doch nicht untergetaucht!

Er sprach weiter. »Ich denke, die Angelegenheit ist von einiger Bedeutung für Sie. Ich bin gehalten, Sie ihnen nur persönlich, Auge in Auge, darzulegen.« Er fügte hinzu: »Und nach Prüfung Ihrer Identität. Dazu müssten Sie bitte ihre Geburtsurkunde oder zumindest Ihren Ausweis vorlegen.«

  »Na gut«, räumte Enya ein. »Dann lassen Sie uns einen Termin für Anfang Mai vereinbaren. Zur Not geht es auch vormittags bei mir.«

  »Wie ich schon sagte, Frau O’Bryan, wir haben einige Zeit gebraucht, um Sie zu finden. Nun ist es unbedingt erforderlich, Sie so bald als möglich zu sprechen.«

Bevor Enya realisieren konnte, dass ihr Kurztrip ins Wasser fiel, setzte er erneut zu sprechen an.

  »Darf ich fragen, ob sie noch in Hamburg sind, Frau O’Bryan?

  »Ja, im Moment bin ich in meinem Büro in der Fakultät an der Edmund-Siemers-Allee.« Hastig fügte sie hinzu: »Ich will aber gleich wieder gehn!«

  »Ich möchte Ihnen gerne eine Alternative vorschlagen. Unsere Büros liegen nur wenige Minuten von der Fakultät entfernt.« Er schien kurz zu überlegen. »Bitte kommen Sie doch gleich zu mir in die Kanzlei. Ich kann meinen nächsten Termin verschieben. Die Klärung der Angelegenheit wird nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen.« Er ergänzte: »Wenn Sie mit dem Auto kommen, unsere Parkplätze liegen auf der Rückseite des Gebäudes.« Als Enya zögerte, hakte er nach. »Darf ich Sie dann in einer viertel Stunde bei mir im Büro erwarten, Frau O’Bryan?«

Enya holte tief Luft und fügte sich in ihrem Schicksal. »Na gut, in Ordnung. Ich bin dann in einer viertel Stunde bei Ihnen.«

  »Sehr gut. Dann verabschiede ich mich jetzt. Auf Wieder-hören.«

  »Auf Wiederhören.« Das Gespräch war beendet.

Das Testament

Mit dem Auto war es wirklich nur ein Katzensprung bis zur Anwaltskanzlei. Enya fand gleich einen Parkplatz im Hof und ging nun auf das Gebäude zu. Ingrid hatte recht, ein ziemlich schicker Laden. Dafür mussten die Klienten der Herren „Schröder & Kleinschmidt“ sicherlich auch den doppelten Gebührensatz hinblättern, dachte sie spöttisch.

Am Empfang begrüßte Enya eine attraktive Frau in einem eleganten dunkelblauen Kostüm. Nicht ohne Neid registrierte sie die sorgsam frisierten langen blonden Haare der jungen Frau. Unwillkürlich dachte sie an Peters Assistentin und daran, dass wohl alle Männer gerne blonde Assistentinnen beschäftigten. Mit ihr musste sie auch vorhin telefoniert haben, sie erkannte die flötende Stimme wieder. Mit einem professionellen Lächeln auf den Lippen bugsierte Chantal sie in den Wartebereich der Kanzlei und bat Enya um einen kleinen Augenblick Geduld. Herr Schröder würde bestimmt gleich für sie Zeit haben. Während Enya wartete, kopierte die junge Frau ihren Ausweis. 

Wenig später saß Enya dann in einem bequemen Ledersessel, in dem sie fast versank, und lauschte gespannt ihrem Gegen-über. Ein kolossaler Schreibtisch aus der Gründerzeit sorgte für einen diskreten Abstand zwischen ihr und dem Anwalt. Sie musterte beiläufig den, auch für hanseatische Verhältnisse, ausgesprochen gediegenen Raum. Nach einer höflichen Begrüßung und seinem Dank für ihr promptes Erscheinen kam er sogleich auf den Punkt. 

»Nun, Frau O’Bryan, es gibt Umstände, von denen Sie Kenntnis haben sollten.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Wir, die Kanzlei Schröder & Kleinschmidt, werden in der Hauptsache in Erbschaftsangelegenheiten konsultiert. Wobei die Ermittlung der Erben im In- und Ausland oft den Hauptanteil unserer Tätigkeit ausmacht. Vor einem halben Jahr wurde die Kanzlei unserer Partner in Dublin als Rechtsnachfolger beauftragt, ein Testament abzuwickeln und zu vollstrecken. Im Laufe der Recherchen wurde es notwendig, auch in Deutschland nach potenziellen Erben zu suchen. Unsere Kanzlei übernahm diese Aufgabe.« Er schien zu überlegen. »Aufgrund, äh …, nennen wir es mal erschwerender Begleitumstände, hat sich die Abwicklung des Erbfalles allerdings als schwierig erwiesen.« Er sah sie eindrücklich an. »Sie verstehen nun sicher, warum ich Sie bat, unsere Kanzlei aufzusuchen?«

Enya runzelte die Stirn. Nein, sie verstand nichts. Rein gar nichts! Um welche Erbschaft sollte es sich denn handeln? Das Erbe ihrer Großmutter Alma war doch längst aufgeteilt. Ihre Mutter und sie hatten das einvernehmlich geregelt. Langsam wurde sie unruhig. »Äh …, nein nicht wirklich. Was bitte hat das Ganze mit mir zu tun, Herr Schröder?«

Seine Miene wechselte über zu einem feierlichen Ernst. »Nun, ich habe Sie zu uns gebeten, um Sie vom Inhalt eines Testamentes in Kenntnis zu setzen und um den letzten Willen des Erblassers zu vollstrecken.« Der Anwalt machte wieder eine bedeutsame Pause. »Frau O’Bryan, ich darf Ihnen mitteilen, dass Ihr Großvater Cedric O’Bryan Ihnen ein beachtliches Erbe hinterlassen hat.«

Enya konnte den Anwalt nur verblüfft anstarren. Ihr Großvater? Weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten ihn je erwähnt. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Ja, so war es! Eine Verwechslung. Das hatte sie ja von Anfang an vermutet. Enya entspannte sich. »Herr Schröder, es tut mir leid, aber Sie müssen sich irren.«

Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Frau O’Bryan, seien Sie versichert, es handelt sich keinesfalls um einen Irrtum.«

  »In meiner Familie war aber nie die Rede von einem Großvater namens Cedric O’Bryan. Da muss eine Verwechslung vorliegen«, gab Enya schon etwas verunsicherter zu bedenken.

Herr Schröder lächelte versöhnlich. »Ihr Vater hatte sicherlich gute Gründe, warum er nicht mit Ihnen über Ihren Großvater gesprochen hat.«

Enya lehnte sich zurück in ihren Sessel und kreuzte abwehrend die Arme vor der Brust. »Nun gut. Gehen wir davon aus, es handelt sich tatsächlich um meinen Großvater. Was bedeutet das konkret für mich?«

Herr Schröder war erleichtert darüber, dass Enya ihm allmählich glaubte. »In diesem Fall ist es wohl besser, wenn ich die begleitenden Umstände, die zu Ihrem Legat geführt haben, ausführlicher schildere.« Er räusperte sich kurz. »Wie schon gesagt, vor ungefähr einem halben Jahr wurden wir von unserem Partner in Dublin bei der Abwicklung einer Erbschaftsangelegenheit hinzugezogen. Der Erblasser, Ihr Großvater Cedric O’Bryan, hatte bekanntermaßen zwei Nach-kommen. Seine Söhne Padraig und Glen …«

An dieser Stelle unterbrach ihn Enya rüde. »Augenblick, Herr Schröder! Es tut mir ja schrecklich leid, aber sie haben sich die ganze Mühe doch umsonst gemacht. Bei dem Verstorbenen kann es sich nicht um meinen Großvater handeln. Mein Vater hatte keine Brüder«, erklärte sie lächelnd. »Nun, soweit ich weiß ist der Name O’Bryan recht gebräuchlich in Irland. Der Irrtum ist also durchaus verzeihlich.« Sie erhob sich, streckte dem Anwalt die Hand entgegen und wollte gehen.

  »Bitten haben Sie doch etwas Geduld und nehmen wieder Platz, Frau O’Bryan.« In einem leicht konsternierten Tonfall fuhr er fort. »Natürlich prüft unsere Kanzlei sorgfältig und gewissenhaft sämtliche erforderlichen Daten aus Urkunden, Geburtsregistern oder Meldebehörden, bevor wir mit einem potenziellen Erbe in Kontakt treten. Das versteht sich natürlich von selbst. So ist es auch in dieser Erbschaftsangelegenheit geschehen. Bitte akzeptieren Sie die Tatsache, dass Sie einen Onkel haben.«

Zögerlich setzte Enya sich wieder.

  »Ich darf wohl fortfahren. Wo waren wir stehengeblieben?« Er sammelte sich kurz. »Also, Ihr Vater und ihr Onkel Glen wären üblicherweise nach dem Tod des Vaters erbberechtigt gewesen.«

Enya nickte. »Ja, ich verstehe.«

  »In diesen Fall verhält es sich aber etwas komplizierter. Cedric O’Bryan hat nämlich beide Söhne vom Erbe ausgeschlossen. Padraig wurde laut Testament enterbt, weil er das Land für immer verließ und in Deutschland leben wollte. Sollte Padraig aber leibliche Nachkommen haben und diese gewillt sein, für immer in Irland zu leben, würde der gesamte Besitz dann an seinen ältesten Nachkommen gehen.«

  »Wie ich sehe, hielt mein Großvater nicht viel von seinen Söhnen. Warum wurde denn Glen enterbt?«, erkundigte sich Enya, nun doch neugierig geworden.