Ethik - Detlef Horster - E-Book

Ethik E-Book

Detlef Horster

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Band bietet aus unterschiedlichen Perspektiven Antworten auf die Frage, was denn nun Moral eigentlich ist, etwa aus der Perspektive der Metaethik, der normativen Ethik, der angewandten Ethik und durch eine Klärung des Verhältnisses von Moral und Werten. Er eignet sich ebenso zum Selbststudium wie für den Ethikunterricht, für das Philosophiestudium, aber auch für Weiterbildungsstudiengänge. Text aus der Reihe "Grundwissen Philosophie" mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 183

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Grundwissen Philosophie

Ethik

von Detlef Horster

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:Prof. Dr. Hartmut BöhmeProf. Dr. Simone DietzProf. Dr. Detlef HorsterProf. Dr. Geert KeilProf. Dr. Ekkehard MartensProf. Dr. Barbara NaumannProf. Dr. Thomas SchmidtProf. Dr. Herbert SchnädelbachProf. Dr. Ralf Schnell

Alle Rechte vorbehalten© 2009, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., StuttgartReihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele BurdeGesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2012ISBN 978-3-15-960108-3ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020324-8

www.reclam.de

Inhalt

Vorbemerkung

Was ist Moral?

Pflichterfüllung: Deontologie oder Sollensethik

Monistische Deontologie: Immanuel Kant

Der kategorische Imperativ

Wille, Maxime, Prinzip und Gesetz

Die konkrete Entscheidung in einer Dilemmasituation

Die Motivation, einer moralischen Regel zu folgen

Pflichten gegen sich selbst

Supererogation

Pluralistische Deontologie: William D. Ross

Noch einmal: Die konkrete Entscheidung in einer Dilemmasituation

Utilitarismus

Handlungsutilitarismus

Regelutilitarismus

Präferenzutilitarismus

Utilitarismuskritik: Bernard Williams

Kontraktualismus

Funktionalismus

Sensualismus und schottische Moralphilosophie

Gut und Böse

Ein Blick in die Philosophiegeschichte

Das alltägliche abweichende Verhalten

Das radikale Böse

Beispiele für angewandte Ethik

Genpatentierung

In Würde sterben

Weltarmut

Werte und Normen

Das Gute

Die Natur moralischen Wissens

Das Verhältnis von Werten und Normen

Die Objektivität von Werten und Normen

Werte und Normen im Recht

Zitierte Literatur

Kommentierte Bibliografie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

Dank

Vorbemerkung

Der Begriff »Ethik« wird unterschiedlich verwendet. Zum Teil werden »Moral« und »Ethik« als Synonyme gebraucht, was daher rührt, dass das altgriechische »ethos« in der Übersetzung Gewohnheit und Sitte bedeutet. Das lateinische »mos/moris«, von dem sich der deutsche Begriff der Moral ableitet, bedeutet übersetzt ebenfalls Gewohnheit, Sitte oder Brauch. In Abgrenzung von der Antike nimmt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine Zweiteilung vor. (Vgl. AB V) Viele sind ihm gefolgt, wenn sie die Ethik nun als Frage nach dem guten und gelungenen Leben und Moral als Frage nach den allgemeinen Regeln der Handlungskoordinierung ansprechen. »Ethik« ist demnach auf das Individuum bezogen. Mit »Moral« hingegen bezeichnet man die Regeln, die zwischen mindestens zwei Personen gelten. Dieser Unterscheidung bin ich bisher gefolgt. (Vgl. zuletzt Horster 2004, 105ff.) Bei einer dritten Weise der Begriffsverwendung meint »Ethik« die akademische Moralphilosophie. Und um diese geht es im vorliegenden Band aus der Reihe »Grundwissen Philosophie«.

[8]Was ist Moral?

In philosophischen Seminaren oder in alltäglichen Gesprächen taucht immer wieder die Frage auf, was denn eigentlich Moral ist. Man könnte nun auf die augustinische Antwort auf die Frage nach der Zeit zurückgreifen: Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich, was sie ist. Damit wollen wir uns nicht zufriedengeben, vielmehr soll die Frage nach der Moral die leitende Frage dieser Monografie sein. Es werden in neun Kapiteln verschiedene Zugänge erprobt.

Einerseits wird gesagt, dass es die Moral gar nicht gibt, weil Moral kulturabhängig ist. Andererseits wird behauptet, dass grundlegende moralische Regeln zu allen Zeiten und in allen Kulturen dieselben seien. Zwei gegensätzliche, einander ausschließende Meinungen, die die Frage provozieren, was denn nun richtig ist. Hier liegt ein Ansatzpunkt, um den ersten Mosaikstein für die Antwort auf unsere Leitfrage zu bekommen. Verschiedene Regeln, die unstrittig als moralische bezeichnet werden, sollen analysiert werden, um zu sehen, was das Verbindende solcher Normen ist. Dabei muss die Suche deshalb mit unstrittigen moralischen Regeln beginnen, weil nicht bei allen Verboten oder Geboten klar ist, ob es sich um moralische handelt. Es gibt auch Traditionen oder bloße Konventionen und rechtliche Regeln. Davon müssen wir die moralischen abgrenzen. Von Werten muss die Moral ebenfalls abgegrenzt werden; doch leiten sich die moralischen Pflichten aus Werten ab. Ein hoher Wert ist beispielsweise das menschliche Leben oder die Gesundheit beziehungsweise die körperliche und geistige Unversehrtheit. Wir haben entsprechend moralische Normen, Regeln oder Pflichten, die diese Werte schützen sollen. Da gibt es das moralische Verbot, zu töten, und das moralische Gebot, Leben zu schützen. Da gibt es das Verbot, [9] Menschen zu quälen oder zu foltern; ebenso wenig ist Psychoterror oder Stalking moralisch erlaubt; rechtlich ebenfalls nicht. Ein anderer hoher Wert ist die wechselseitige Achtung. Daraus ergibt sich die Pflicht des rücksichtsvollen Umgangs miteinander oder die Pflicht, ein einmal gegebenes Versprechen zu halten. Die Untersuchung und der Vergleich solcher unbestrittenen moralischen Regeln können dazu dienen, ihren Kerngehalt zu ermitteln und eine erste Moraldefinition vorzunehmen: Moral ist die Gesamtheit der Regeln, die zur Realisierung der Werte oder zum Wohl der Menschen beitragen. Man kann auch sagen, dass die moralischen Regeln, wenn sie angewendet werden, die Menschen, die vom Handeln anderer betroffen sind, schützen sollen. Das bedeutet – vor allem mit Blick auf die letztgenannte Pflicht, das Halten von Versprechen –, dass es durchaus sein kann, dass man manchmal zu Handlungen verpflichtet ist, die nicht im eigenen Interesse liegen, ja, die zuweilen dem Eigeninteresse zuwiderlaufen und zu deren Einhaltung man sich bei freier Wahlmöglichkeit nicht ohne Weiteres verpflichten würde. (So auch Schaber 2003, 20)

Sind nun diese moralischen Regeln, die für uns unbestritten moralische Regeln sind, in anderen Kulturen und Gemeinschaften ebenfalls unbestrittene moralische Regeln oder gibt es in jeder Kultur jeweils eigene? Dazu das Beispiel einer anderen moralischen Pflicht, der Fürsorgepflicht, die wir gegenüber Kindern oder gegenüber unseren hilfsbedürftigen alten Eltern haben. Sie ist weltweit verbreitet. Wie man ihr allerdings nachkommt, hängt vom kulturellen Kontext ab. In unserer Kultur wird das vierte Gebot dadurch erfüllt, dass wir die Verantwortung für das Wohlergehen oder die Pflege unserer alten Eltern übernehmen. Bei den Eskimos – so schildert McNaughton – wird dieses Gebot dadurch erfüllt, dass der Vater mit dem Sohn ein letztes Mal auf die Jagd geht, sich danach von dem Sohn verabschiedet und sich auf eine Eisscholle legt, um zu sterben. »Der Anteil des Sohnes an [10] diesem Ritual sieht wie ein Beispiel aus, wie man seine Eltern ehrt.« (McNaughton 2003, 236f.)

Franz von Kutschera berichtet: »Bei den Papuas auf Neuguinea dient die Kopfjagd dazu, Namen im Sinn von Identitäten für die eigenen Kinder zu beschaffen. Sie glauben, ein Kind könne nur dadurch eine personale Identität erlangen, daß man sie einem Lebenden nimmt. Daher erfüllt ein Familienvater mit der Kopfjagd eine Fürsorgepflicht für seine Kinder.« (Kutschera 1999, 248) Ein anderes Beispiel von derselben Insel: Dem Gebot der Fürsorgepflicht für die Neugeborenen kommen die Eipo, ein Eingeborenenstamm auf Neuguinea, in einer Weise nach, die uns völlig fremd ist. Wenn die Versorgung nicht sichergestellt ist, töten sie die Neugeborenen nach der Geburt. (Vgl. Schiefenhövel 1986, 44)

Der Eindruck, diese Handlungen basierten auf ganz unterschiedlichen Moralregeln und -auffassungen, ist darauf zurückzuführen, dass deren Realisierung kulturell und traditionell anders gehandhabt wird. Doch sieht man an der moralischen Pflicht der Fürsorge, dass sie weltweit zu finden ist, aber dass man ihr in verschiedenen Kulturen auf je unterschiedliche Weise nachkommt. Es ist deshalb wichtig, dass man Moral, Traditionen oder bloße Konventionen und rechtliche Regeln auseinanderhält. Die Abgrenzung der Moral von anderen Regelsystemen gehört in den Bereich der Metaethik, ebenso wie die Frage, ob Moral kultur- und gesellschaftsabhängig ist oder objektiv und universell.

Nun noch ein Wort zur Unterscheidung von Recht und Moral. (Ausführlich dazu Horster 2004, 117–128) Ich beziehe mich auf Kant, der in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten Recht und Moral in der Weise unterscheidet, dass die Befolgung moralischer Regeln einem inneren Zwang folgt, das Recht hingegen äußerlich zwingt. Es kann staatlicherseits durchgesetzt werden. (Vgl.AB 31 – AB 36) Wenn man einer Rechtsregel nicht folgt, muss man dabei nicht unbedingt ein schlechtes Gewissen haben: Man kann guten Gewissens falsch parken, bestraft wird man trotzdem. Ungeachtet dieser [11] Unterscheidung gibt es einen Zusammenhang von Recht und Moral. Wie Kurt Bayertz schreibt, sichern Rechtsnormen unsere wichtigen moralischen Regeln ab. (Vgl. Bayertz 2004, 260) So wird etwa das wichtige moralische Gebot, menschliches Leben zu schützen, strafrechtlich mit den §§ 211 und 212 StGB abgesichert.

Die bisherigen Ausführungen bezeichnet man in der Moralphilosophie als Metaethik. Um es zu wiederholen: Man fragt auf diesem Gebiet, was Moral eigentlich ist, ob moralische Regeln universell oder kulturabhängig sind, ob sie objektiv oder intersubjektiv sind. Mit dieser Bestimmung gehe ich über Norbert Hoerster hinaus, der nur die Frage nach der Begründung von moralischen Urteilen zur Metaethik zählt. (Vgl. Hoerster 1976, 11) Die Frage lautet dann, nach welchen Prinzipien moralische Urteile eigentlich gefällt werden. Damit tun wir einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Klärung dessen, was Moral ist. Hier soll das Beispiel einer zentralen moralischen Regel weiterhelfen, die da lautet, dass Versprechen zu halten sind: A hat seinem Freund B versprochen, ihm am Abend bei der Steuererklärung zu helfen, die er am nächsten Tag abgeben muss. Morgens bekommt A Karten für ein attraktives Europacupspiel geschenkt. A hatte sich lange vergeblich um Karten für dieses Spiel, das ausverkauft ist, bemüht. Das erzählt er seinem Freund C. Der könnte Folgendes einwenden:

1. Man muss ein Versprechen unbedingt halten.

2. Der Schaden, den B erleiden würde, würde das Vergnügen, das du erwartest, bei Weitem überwiegen.

3. In unserer Gesellschaft ist man sich doch einig darüber, dass man Versprechen halten muss.

4. Unser Zusammenleben würde nicht funktionieren, wenn man sich nicht mehr darauf verlassen könnte, dass Versprechen gehalten werden.

5. Das muss dir doch dein Gefühl schon sagen, dass du deswegen dein Versprechen nicht brechen darfst.

Man sieht an den Einwendungen des Freundes, dass moralische Urteile auf ganz verschiedenen Prinzipien basieren [12] können. Auch hier haben wir wieder eine objektive und allgemein anerkannte moralische Regel, deren Befolgung ganz unterschiedlich begründet wird. Im ersten Fall deontologisch (sollensethisch), im zweiten utilitaristisch (nach Nützlichkeitsgesichtspunkten), im dritten kontraktualistisch (vertragstheoretisch), im vierten funktionalistisch und zuletzt sensualistisch (auf das moralische Empfinden rekurrierend). C argumentiert normativ. Die Begründungen moralischen Handelns zu klassifizieren – wie hier getan –, ist hingegen Teil der Metaethik. Diese Klassifizierungen bezeichnen normative Ethikpositionen, von denen zwei gegenwärtig zentral sind: die deontologische und die utilitaristische. Wenn wir uns diesen normativen Positionen zuwenden, verlassen wir den Bereich der Metaethik, den wir einführend betreten hatten.

[13]Pflichterfüllung: Deontologie oder Sollensethik

C hält seinem Freund A, der lieber zum Fußball gehen möchte, im ersten Fall entgegen, dass Versprechen unbedingt zu halten sind. Das griechische »deon« heißt im Deutschen Pflicht. Darum spricht man in der Ethik von der Deontologie, wenn man die Pflichtenethik meint, die besagt, dass man einer Pflicht unbedingt nachkommen soll. Wir kennen ganz unterschiedliche Positionen der Deontologie, meist jedoch wird sie mit dem Namen Immanuel Kant (1724–1804) verbunden.

Monistische Deontologie: Immanuel Kant

Zu Kants Moralphilosophie gibt es bereits hervorragende Darstellungen. (Vgl. etwa Schnädelbach 2005, 73–94) Darum will ich hier ausführlicher auf die moralische Motivation und die Pflichten gegen sich selbst eingehen, darüber hinaus auf die Supererogation, deren Darstellung hier systematisch passt. Außerdem will ich zeigen, dass Kant die Dilemmasituation unterschätzt hat beziehungsweise sie ihm nicht bewusst war.

Der kategorische Imperativ

Die kantische Deontologie geht von der Vorstellung aus, dass moralisches Handeln Pflichterfüllung ist. Die Folgen sind für den Handelnden nicht oder nur von geringer Bedeutung. In seiner Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen Benjamin Constant (1767–1830) sagt Kant, dass einem [14] dann, wenn man das moralische Gesetz streng befolgt habe, die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben könne, »die unvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle« (Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen A 306). »Der moralische Wert des Handelns besteht also in der Qualität, die man einer äußeren Handlung nicht ansieht; Kant spricht von der ›Gesinnung‹. [...] Nur dadurch ist die Moralität des Subjekts dem Zufall des äußeren Erfolges der Handlung enthoben und von ihm unabhängig.« (Kaulbach 1969, 229f.) Darum beginnt Kant die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem Satz: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 1)

Würde man Kant die Frage stellen, warum er nach einem einzigen Gesetz sucht, das alle moralischen Handlungen begründen können muss, würde er uns die rhetorisch gemeinte Frage stellen, ob es denn nicht »von der äußersten Notwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag […] völlig gesäubert wäre«. Kant gibt die Antwort gleich selbst: »Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA VIIf.)

Nur die Vernunft allein kann die Voraussetzung für ein solches Gesetz, das absolute Verbindlichkeit fordert, bilden, da »sie bloß sich selbst vorauszusetzen bedürfe, weil die Regel nur alsdenn objektiv und allgemein gültig ist, wenn sie ohne zufällige, subjektive Bedingungen gilt, die ein vernünftig Wesen von dem anderen unterscheiden« (KpV A 38).

Kant sieht dieses moralische Gesetz in Analogie zu den Naturgesetzen: Die Verwirklichung muss mit absoluter Notwendigkeit eintreten. Dem Gesetz ist »der Charakter der Allgemeingültigkeit eigentümlich: alle vernünftigen Wesen sind [15] ihm verpflichtet, so daß sich kein Individuum aus dieser Gemeinschaft eine isolierte, private Interessenssphäre abzu-sondern das Recht hat« (Kaulbach 1969, 216). Kant spricht von einer »Naturordnung«, der alle unsere Maximen unterworfen sein müssen, und in seinem handschriftlichen Nachlass spricht er von einem »Analogon der Natur«. (Bittner/Cramer 1975, 47)

Wenn man die Frage stellt, welches das Gesetz sein könnte, das aller Moral zugrunde liegt, könnte man sehr schnell darauf kommen, dass es die Glückseligkeit ist, denn mit ihr beginnt Aristoteles seine Ethik. Kann sie für Kant das grundlegende Prinzip sein? Dagegen, dass die Glückseligkeit, nach der alle Menschen gleichermaßen streben, das Prinzip sein könne, auf das sich eine Moralphilosophie aufbauen ließe, bringt Kant folgende Argumente vor:

1. Glück und Zufriedenheit sind uns nicht von Natur gegeben, weil wir, um beides zu erlangen, erst danach streben müssen. Vernünftige Wesen sind wir hingegen von Natur aus. Dementsprechend kann eine Moralphilosophie nicht auf Glück als oberstem Prinzip aufbauen, weil in dem Fall unser oberster sittlicher Wert vom Zufall abhängig wäre. (Vgl. Kaulbach 1969, 219)

2. Die Glückseligkeitsphilosophie macht etwas zum obersten Prinzip, zu dem wir ohnedies alle streben. Deshalb braucht man es nicht als oberstes Prinzip ausdrücklich zu formulieren. (Vgl. Kaulbach 1969, 220)

3. Wenn die Glückseligkeit das oberste Prinzip sein sollte, dann hätte die Natur es sehr schlecht eingerichtet, »sich die Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen. Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht auszuüben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit genauer durch Instinkt vorgezeichnet.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 4f.)

4. Die Glückseligkeit wird zwar von jedem angestrebt. Dennoch ist das, was unter Glückseligkeit verstanden wird, jeweils individuell verschieden. Deshalb können [16] »praktische Vorschriften, die sich auf sie gründen, […] niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet. […] Der Bestimmungsgrund wäre immer doch nur subjektiv gültig und bloß empirisch und hätte diejenige Notwendigkeit nicht, die in einem jeden Gesetze gedacht wird, nämlich die objektive aus Gründen a priori.« (KpV A 45–47)

Wegen dieser hier angeführten Gründe muss man nach Kant Moral und Ethik auseinanderhalten. Wie bereits im Vorwort erwähnt: Die Unterscheidung von Ethik und Moral kann man in zwei Fragen kleiden, sodass die Differenz unmittelbar augenfällig wird. Die moralische Frage lautet: »Warum ist man kategorisch verpflichtet, x zu tun?« (Wingert 1993, 32) Die ethische Frage hingegen: »Warum ist es gut für mich, x zu tun?« (Wingert 1993, 33); es ist die Frage nach dem Weg zur Erlangung des Glücks.

Ethische Problematiken sind solche, die »die Integrität eines praktischen Selbstverhältnisses stören«, moralische sind solche, die ein »intersubjektives Verhältnis belasten«. (Wingert 1993, 131) Festzuhalten ist also: Ethische Erörterungen betreffen immer das Selbstverhältnis, moralische die Interaktionen vergesellschafteter Individuen. »Während ethische Probleme sich mir stellen, sind moralische Probleme praktische Probleme für uns.« (Wingert 1993, 145; Hervorhebungen nicht im Original)

Diese von Kant eingeführte Differenzierung entspricht der sozialen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; in dieser Zeit verliert der Staat »sichtbar die Kontrolle über die Glücksbeschaffung und zugleich wird dem Individuum mehr und mehr zugemutet, sich selbst um sein Glück zu kümmern« (Luhmann 2000, 207). Es gibt nach Kant neben der Moral das Thema des für den einzelnen Menschen Guten. Der einzelne Mensch stellt sich die Frage danach, was für ihn gut ist. Diese Thematisierung der Ethik bezieht sich [17] nicht nur auf bestimmte Fähigkeiten, die für den Menschen gut sind, beispielsweise, an sich zu arbeiten und eine gute Tennisspielerin oder ein guter Koch zu werden und an diesen Fähigkeiten Freude zu empfinden. »Das ethisch Gute ist nicht einfach ein Wertmaßstab unter anderen Wertmaßstäben. Die Orientierung an ihm führt dazu, daß die betreffende Person sich nicht bloß in einer Hinsicht, sondern schlechthin bejahen kann.« (Wingert 1993, 136)

In Abgrenzung zu den ethischen Fragen geht es nun darum, die Frage nach dem moralischen Prinzip zu stellen. Was ist nun das von Kant gesuchte moralische Prinzip, das dem Kriterium der Allgemeingültigkeit entspricht und dessen Verwirklichung mit absoluter Notwendigkeit eintreten muss? Kant beginnt die Entwicklung dieses Prinzips mit folgender Einsicht: Der Mensch ist von Natur aus ein Vernunftwesen und als solches frei, das heißt, er kann sich von Natureinflüssen mittels der Vernunft frei machen. Alle anderen Wesen werden von der Natur in ihren Handlungen bestimmt; Tiere durch ihre Instinkte. Pferde können bei Gefahr immer nur fliehen und Raubtiere nur angreifen. Tierisches Verhalten ist festgelegt und berechenbar. Darauf beruht der Erfolg der Dressur. Der Mensch hingegen kann sein Handeln selbst bestimmen und kann sich das Gesetz des Handelns selbst geben.

Jeder Mensch hat von Natur aus Vernunft. Darum kann Kant die Vernunft als apodiktisch evidenten Anfang für die Entwicklung seines Moralsystems nehmen. »Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 64) Oder anders: »Was den Menschen zum Menschen auszeichnet, was ihm seine menschliche Gestalt gibt, ist die Vernunft, das Vermögen, nach selbstgesetzten Zwecken in der Welt zu wirken.« (Volkmann-Schluck 1974, 98) Erst aus der Vernunft eines solchen Wesens, das den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat, kann Kant ein [18] allgemein geltendes Prinzip herleiten, das die Autonomie dieser vernünftigen Wesen garantiert. Wenn es überhaupt ein oberstes praktisches Prinzip geben kann, muss »es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann«, schreibt Kant. »Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 66)

Der kategorische Imperativ ist das gesuchte Prinzip, von dem aus alles seinen Ausgang zu nehmen hat. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gibt es noch zwei weitere Formulierungen des kategorischen Imperativs: 1. »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« Und 2. »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« (BA 52) Die Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft lautet: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« (A 54)

Wenn nun vom kategorischen Imperativ die Rede ist, stellt sich die Frage, was »kategorisch« heißt. Dazu sagt Kant: »Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer [19] möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten BA 39)

Der Zweck des kategorischen Prinzips liegt nicht außerhalb seiner. Demnach kann man nicht sagen, dass man sich deshalb moralisch richtig verhält, damit man in den Himmel kommt. Auch bei der Goldenen Regel liegt der Zweck des Gesetzes außerhalb des Gesetzes: Man verhält sich moralisch richtig, damit man selbst von den anderen ebenfalls anständig behandelt wird. Das moralische Gesetz Kants wird dagegen um des Gesetzes willen befolgt. Das heißt »kategorisch«. Man muss das Gesetz unbedingt befolgen, ganz gleich, was die Befolgung dieses Gesetzes bewirken wird, sonst verliert man die Achtung vor dem Gesetz. Und weil der Mensch sich das Gesetz selbst gegeben hat, verlöre er letzten Endes die Achtung vor sich selbst.

In welchem Verhältnis steht nun das Gesetz zur Freiheit? Ist die Freiheit des Menschen Bedingung des kategorischen Imperativs, oder ist der Mensch erst dann frei, wenn er den kategorischen Imperativ befolgt? Darauf gibt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine klare Antwort, denn dort sagt er, dass das Gesetz unter der Kausalität der Freiheit steht. Dies fasst er in der Kritik der praktischen Vernunft genauer: Die Freiheit sei die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz hingegen die ratio cognoscendi der Freiheit. (A 5 Fn.) Freiheit von der Natur muss vorausgesetzt werden, damit man den kategorischen Imperativ überhaupt denken kann. Nur ein vernünftiges Wesen, das qua Vernunft frei sein kann von fremden Einflüssen, kann sich den kategorischen Imperativ als Handlungsgesetz geben. Die Unabhängigkeit von den Naturgesetzen muss möglich sein, damit der kategorische Imperativ überhaupt gedacht und formuliert werden kann. Nur durch die Geltung [20] des kategorischen Imperativs realisiert und stabilisiert der Mensch die Freiheit zu etwas, und zwar zur autonomen Lebensgestaltung. Der kategorische Imperativ selbst ist nur möglich aufgrund von potenzieller Freiheit, der Freiheit von etwas: »Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise auf einander zurück.« (KpV A 52)

Wille, Maxime, Prinzip und Gesetz