Sozialphilosophie - Detlef Horster - E-Book

Sozialphilosophie E-Book

Detlef Horster

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Beschreibung

Soziale Wandlungsprozesse erfordern neue Sichtweisen von Politik und Kultur, von Individuum und Gesellschaft. Sozialphilosophie stellt die philosophischen und soziologischen Perspektiven und Ansätze vor, die zur Neu- und Umorientierung der menschlichen Gemeinschaft einen unverzichtbaren Beitrag leisten. Text aus der Reihe "Grundwissen Philosophie" mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

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Seitenzahl: 202

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Grundwissen Philosophie

Sozialphilosophie

von Detlef Horster

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:Prof. Dr. Hartmut BöhmeProf. Dr. Detlef HorsterPD Dr. Geert KeilProf. Dr. Ekkehard MartensProf. Dr. Barbara NaumannProf. Dr. Herbert SchnädelbachProf. Dr. Ralf SchnellProf. Dr. Franco Volpi

Alle Rechte vorbehalten© 2005, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., StuttgartReihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele BurdeGesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2012ISBN 978-3-15-960111-3ISBN der Buchausgabe: 978-3-15-020118-3

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

1. Zur Reflexionsproblematik der Sozialwissenschaften

2. Die Entstehung der Geistes- und Sozialwissenschaften: Erklären und Verstehen

Auguste Comte

Herbert Spencer

Exkurs: Ernst Cassirer

Wilhelm Dilthey

Max Weber

Karl-Otto Apel

3. Zum Verhältnis von Soziologie und Sozialphilosophie

4. Handlungs- und Systemtheorie

Karl Marx

Max Weber

Jürgen Habermas

Niklas Luhmann

5. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft

Thomas Hobbes

John Locke

Jean-Jacques Rousseau

Immanuel Kant

Émile Durkheim

Talcott Parsons

Jürgen Habermas

Niklas Luhmann

6. Resümierende Bewertung

Zu den Analysen des Geschichtsverlaufs

Zur Frage des Sinnverstehens

Anmerkungen

Zitierte Literatur

Kommentierte Bibliographie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

[7]Vorwort

Das vorliegende Buch thematisiert meine eigene Profession. Ich verfolge schon lange die Absicht, eine Einführung in die Sozialphilosophie zu schreiben, und habe im Laufe von zwanzig Jahren Aufzeichnungen dazu gemacht. Dementsprechend verbinden sich mit einzelnen Abschnitten Erinnerungen an verschiedene Anlässe und Begebenheiten. Schon ganz früh ist das Marx-Kapitel aus meiner Habilitationsschrift entstanden. Etwas später, Anfang der Achtzigerjahre, das Kapitel über Karl-Otto Apel. In diese Zeit reicht auch die Beschäftigung mit Dilthey, Weber und von Wright zurück. Die Klassiker Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Durkheim habe ich in den nachfolgenden Jahren oft in Lehrveranstaltungen behandelt. Die Exzerpte waren die Grundlage für die Kapitel in diesem Buch. Mit Jürgen Habermas und Niklas Luhmann habe ich mich während der Zeit meiner Hochschullehrertätigkeit durchgängig befasst; mit Parsons und Spencer erst Ende der Neunzigerjahre. Einige Vorarbeiten zum Thema Sozialphilosophie habe ich bereits publiziert. (Vgl. Horster 1998, 368ff. und Horster 1999, 44ff.) Der Begriff Sozialphilosophie – habe ich dort geschrieben – wird uneinheitlich verwendet. Mindestens sieben verschiedene Bestimmungsweisen habe ich angeführt. Zum einen wird Sozialphilosophie als umgreifende Klammer für die praktischen Teildisziplinen der Philosophie verstanden. Zweitens wird ihr die Funktion zugeschrieben, die deskriptiv verfahrende Soziologie normativ zu ergänzen. Drittens wird sie als Disziplin verstanden, Zeitdiagnosen zu geben. In der angelsächsischen Tradition wird sie – viertens – oft als das deklariert, was wir politische Philosophie nennen. Fünftens ist sie als ein Verfahren aufgefasst worden, in dem die sozialen Pathologien erörtert werden. (Vgl. Honneth 1994a, 9f.) Max Horkheimer, der die zweite Bestimmung vertrat, sah außerdem [8] ein dialektisches Verhältnis zwischen philosophischer Theorie und sozialwissenschaftlicher Praxis und nannte das – die sechste Bestimmung – Sozialphilosophie. (Vgl. Horkheimer 1988, 29) Man kann sie, siebentens, verstehen als eine Disziplin, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Probleme aufgreift; wobei der Maßstab dafür, was ein Problem ist, die gesamtgesellschaftliche Ordnung ist. Hierin sind andere Bestimmungen – wie man leicht sehen kann – enthalten, z. B. die zweite, dritte und fünfte. Normativität wird – in Anlehnung an Niklas Luhmanns Systemtheorie – in dieser siebenten Bestimmung verstanden als Funktionalität und nicht als philosophische Belehrung über die Richtigkeit von sozialen Verhältnissen. Das in der siebenten Bestimmung Enthaltene ist auch zentrales Thema des vorliegenden Buches, wie man dem Inhaltsverzeichnis leicht entnehmen kann.

Der wichtigste Anlass, auf der Basis meiner Unterlagen ein Manuskript zu erstellen, war meine einjährige Gastprofessur an der Universität Zürich. Im Institut für Sonderpädagogik hatte ich Soziologie zu vertreten. Für die Lehrveranstaltungen dort habe ich Struktur in meine Aufzeichnungen gebracht. Besonderer Dank gilt den Teilnehmerinnen meines Doktorandenkolloquiums, den Studentinnen und Studenten der Lehrveranstaltungen, die ich zur Hermeneutik sowie zur Handlungs- und Systemtheorie durchgeführt habe, für die kritischen Einwürfe und Diskussionen, namentlich Francisca Eugster Büsch, Franziska Felder, Sara Heer, Dorothea Lage und Judith Ruben.

[9]1. Zur Reflexionsproblematik der Sozialwissenschaften

»Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« (Hegel 1970, 28) Dieses wohl bekannte Zitat stelle ich an den Anfang meiner Monographie zur Sozialphilosophie, um Folgendes zu zeigen: 1821 noch fühlte sich einer der bedeutendsten Philosophen inkompetent, über Fragen der Zeit zu urteilen. Die Philosophie komme dafür zu spät, sagte Hegel. Erst wenn alles fertig und überdies noch alt geworden sei, beginne der Philosoph seinen Erkenntnisprozess, der allerdings – wie die Eulen-Metapher suggeriert – ein Prozess des scharfen Hinschauens sei. Das wurde noch vor der Geburtsstunde der Sozialphilosophie gesagt und erregte zu dieser Zeit keineswegs die Gemüter.1 Heute ist das anders. Wir spüren das Bestreben, mehr über unsere Gesellschaft, über die Methode ihrer Erkenntnis zu wissen – oft um des gestalterischen Eingriffs willen. Vittorio Hösle konstatiert, dass sich gegenwärtige Gesellschaften von früheren dadurch unterscheiden, dass sie über einen erhöhten Grad von Reflexivität verfügen. (Vgl. Hösle 1999, 125) Selbstverständlich hatten aber auch die Menschen in vormodernen Gesellschaften ein Bild von ihrer Sozietät; dementsprechend stellte Max Weber fest, dass »der ›Wilde‹ [...] von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr [wusste] als der im üblichen Sinn ›Zivilisierte‹«. Der Zivilisierte glaube lediglich daran, dass er Phänomene wie »Trambahn oder Lift oder Geld oder Gericht oder Militär oder Medizin« besser durchblicke als der Wilde seinen Zauberer, weil [10] alles rationaler und kalkulierbarer sei. Er könne bei erhöhter Anstrengung dennoch mehr sehen als der Wilde und mit den ihn umgebenden Gegenständen kalkulieren und sein Handeln daran orientieren. (Weber 1922, 449) Hierzu befähige ihn die wissenschaftliche Zugangsweise, wie es Hösle ausdrückt. Darin unterscheide sich der moderne Soziologe vom vormodernen Menschen. (Vgl. Hösle 1999, 125) Unter »wissenschaftlicher Zugangsweise« versteht Hösle zum einen das methodische Vorgehen und zum anderen die Fähigkeit des Wissenschaftlers, zu seinem Gegenstand, das ist die Gesellschaft, in der er selbst lebt, distanziert Stellung zu nehmen. (Vgl. Hösle 1999, 136)

Der moderne Soziologe entdecke auch Entwicklungsgesetze. (Vgl. Hösle 1999, 137) Der Erste, der dies in prononcierter Weise tat, war Auguste Comte, wie wir weiter unten sehen werden. Außerdem benutzten späterhin die Soziologen, etwa seit Durkheim, statistische Methoden. (Vgl. Hösle 1999, 153) Das gilt in gleicher Weise für die Philosophie, wie Ernst Tugendhat und Günter Patzig erklären. Beide halten die Zusammenarbeit von Philosophie und empirischer Sozialforschung, besonders im Bereich der Moralphilosophie, für unumgänglich. (Vgl. Patzig 1980, 98; Tugendhat 1986)

Vittorio Hösle weist uns richtigerweise darauf hin, dass die Naturwissenschaften und die Mathematik ihrer Geschichte nachspüren, nicht aber die Sozial- und Geisteswissenschaften. (Vgl. Hösle 1999, 126) An dieser Stelle muss man hinzufügen, dass sie sich erst später entwickelten als die Naturwissenschaften. »Das große Erwachen bzw. die große Revolution in den Naturwissenschaften z. Z. der Spätrenaissance und des Barock fand in der systematischen Erforschung des Menschen, seiner Geschichte, seiner Sprachen, Sitten und sozialen Institutionen eine gewisse Parallele im neunzehnten Jahrhundert.« (Wright 1974, 17) In diese Zeit erst fiel die Geburtsstunde der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Betrachtet man die Sozialphilosophie historisch, so kann man eine Entwicklung zur deskriptiven Sozialwissenschaft und [11] eine Befreiung von Normativität beobachten. Man kann in dieser Hinsicht grob skizziert einen Entwicklungsstrang von Comte bis Luhmann, mit Zwischenstationen bei Marx, Durkheim, Weber und Pareto, sehen. Seit Comte befreit sich die Sozialwissenschaft immer mehr von der Metaphysik. (Vgl. Negt 1974, 21–28) Dort beginnt bereits – wenn man so will – nachmetaphysisches Denken. Erst Habermas’ Sozialphilosophie ist wieder normativ. Luhmanns Theorie ist die – von heute aus gesehen – endgültige Konsequenz der Wertfreiheit einer Sozialwissenschaft und Habermas’ Sozialphilosophie der Versuch, diese Wertfreiheit zu überwinden. (Vgl. Hösle 1999, 129f.) Noch mehr: Comte war von den Naturwissenschaften fasziniert. Die Naturwissenschaftler könnten Gesetze erkennen, sich nach ihnen richten, sie aber nicht verändern. Aufgrund seiner Orientierung an den Naturwissenschaften, die man Monismus oder Positivismus nannte (vgl. Wright 1974, 18), war Comte von einem gesetzmäßigen Ablauf gesellschaftlicher Entwicklung überzeugt, der nicht zu beeinflussen sei. Marx bedrückte das Elend der arbeitenden Klasse in England, das Engels schilderte, so sehr, dass er von der Notwendigkeit eines Eingriffs überzeugt sein musste. Seine eigenen Untersuchungen am Ende des dritten Bandes vom Kapital führten allerdings dazu, dass er ähnlich wie Max Weber den Eindruck von einem »ehernen Gehäuse« gewann, aus dem man nicht entfliehen konnte. Herbert Spencer war vom Parallelismus von Natur- und Geisteswissenschaft überzeugt, sodass ihm jeder politische Eingriff nutzlos erschien. Auch Max Weber betonte vor dem Hintergrund der langen vergeblichen Bemühungen der Arbeiterbewegung die Aussichtslosigkeit solcher Kämpfe. Habermas und Luhmann waren selbst nicht mehr so sehr in die Ereignisse verstrickt, verfügten über eine größere Distanz und konnten so von zwei konkurrierenden Theorien, der Handlungs- und der Systemtheorie, sprechen, die ich später darstellen werde.

Aus dem zuletzt Geschilderten ergeben sich die beiden Themenkomplexe der vorliegenden Monographie, die Gegenstand [12] in den Kapiteln 2 und 4 sind: Zum einen geht es um die Entstehung der Geistes- und Sozialwissenschaften bei Comte, Spencer, Dilthey und Max Weber. Zum anderen geht es um die Entwicklung von der Handlungs- zur Systemtheorie bei Marx, wiederum Max Weber, Talcott Parsons, Habermas und Luhmann. Daran, dass Max Weber zweimal behandelt werden muss, ist schon die Unmöglichkeit abzulesen, eine eindeutig systematische Gliederung zu wählen; die verschiedenen zu behandelnden Themenkomplexe überlappen sich vielmehr. Konzentrische Kreise, die einen gemeinsamen Mittelpunkt haben, überlappen sich nicht. Insofern ist keine rein chronologische Darstellung der Sozialphilosophie möglich, wie sie Vittorio Hösle vorschwebte. Dennoch werde ich versuchen, weitgehend diachron vorzugehen, wenigstens innerhalb der einzelnen Kapitel.

Theoriebildung in den Wissenschaften dient – so wurde angenommen –, ob nun in den Natur- oder in den Sozialwissenschaften, »zwei Hauptzwecken. Der eine besteht darin, das Vorkommen von Ereignissen oder Ergebnissen von Experimenten vorauszusagen und so neue Tatsachen zu antizipieren. Der andere besteht darin, bereits bekannte Tatsachen zu erklären oder verständlich zu machen.« (Wright 1974, 16) Dass es aber in den Sozialwissenschaften Theorien geben könnte, die Voraussagen über den weiteren Verlauf der Gesellschaftsgeschichte zulassen, daran hatten verschiedene Theoretiker bereits unmittelbar nach dem Entstehen der Sozialwissenschaften erhebliche Zweifel. Man konnte zwar die historische Tatsache erklären, dass beispielsweise Ludwig XIV. am Ende seiner Regentschaft unbeliebt war, weil er eine für Frankreichs Interessen schädliche Politik betrieb. Daraus ließ sich jedoch kein allgemeines Gesetz ableiten, das man in anderen, ähnlich gelagerten historischen Situationen anwenden konnte. (Vgl. Wright 1974, 34) Das wurde als Mangel gegenüber den Naturwissenschaften angesehen. Diese Einsicht führte zur Entwicklung einer genuin eigenen Methode der Sozialwissenschaften, die von der der Naturwissenschaften [13] verschieden ist. Dilthey grenzte ebenso wie Max Weber die erklärende Methode der Naturwissenschaften von der interpretativen und verstehenden der Sozialwissenschaften ab. Die verstehende Methode ging im Unterschied zur erklärenden der Naturwissenschaften nicht von Kausalverhältnissen und der Relation von Ursache und Wirkung aus. Ich werde die verstehende Methode im Dilthey-Abschnitt darstellen.

Die Geschichtswissenschaft bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer eigenständigen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Methode, die sich von der der Naturwissenschaften abzugrenzen hatte. Darum soll hier die Sicht der unterschiedlichen Theoretiker auf den Geschichtsverlauf auch der Prüfstein und Vergleichsmaßstab in fast allen Themenkomplexen, die ich behandeln werde, sein.2 Mit der Kreierung der verstehenden im Gegensatz zur erklärenden Methode wird auch eine eigenständige Sozialwissenschaft geboren. Diese Geburt werden wir uns im folgenden Kapitel ansehen. Doch auch bei der Unterscheidung von Handlungsund Systemtheorie, den beiden großen sozialwissenschaftlichen Theorien, steht deren Geschichtsauffassung im Mittelpunkt. Auf diese Weise wird die Vergleichbarkeit gewährleistet. Bereits jetzt sei erwähnt, dass die Handlungstheorie der verstehenden und die Systemtheorie der erklärenden Methode nahe steht.

Die einzelnen Kapitel haben unterschiedliche Schwierigkeitsgrade, was mit den von mir behandelten Theorien zusammenhängt.

[14]2. Die Entstehung der Geistes- und Sozialwissenschaften: Erklären und Verstehen

AUGUSTE COMTE

Geschichtsverlauf und Gesellschaftsanalyse

Comte wurde 1798 geboren und erlebte in Frankreich die Auseinandersetzungen zwischen Revolution und Restauration, die sich für ihn »als ein sinnloser Kräfteverschleiß« darstellten. (Bock 1999, 42) Wer von den Vertretern beider Richtungen nun Recht hatte, wollte er nicht der Sympathie oder Antipathie überlassen. Er war der Auffassung, dass man das nur auf der Basis eines Entwicklungsgesetzes entscheiden könne. Wenn man erkennt, welches Gesetz der sozialen Entwicklung inhärent ist, dann könne man auch sagen, wohin ein solches allgemeines Gesetz die Gesellschaftsentwicklung laufen lässt, sodass zu entscheiden ist, welche von den beiden Parteien Recht hat, die der Restauratoren oder die der Revolutionäre. Comte gelangt infolgedessen zu der Auffassung, dass die alte Ordnung eine Struktur enthalte, auf der die neue aufbauen könne. Darum sei die Anarchie der Revolutionäre verfehlt. Ebenso sei es verfehlt, die alte Ordnung beibehalten zu wollen. Sie entwickle sich historisch zu einer besseren neuen Ordnung. Diese Entwicklung sei unaufhaltsam, unbeeinflussbar und irreversibel. (Vgl. Bock 1999, 49) Infolgedessen sei das Handeln der Reaktionäre sinnlos; sie würden die Entwicklung ohnehin nicht aufhalten können. (Vgl. Bock 1999, 49) Das Movens war für Comte die Dialektik von These, Antithese und Synthese. »Auf einen Zustand der Ordnung soll ein Zustand des Fortschritts folgen, der wegen seiner zersetzenden Züge [Comte denkt an die Schreckensherrschaft Robespierres] in [15] einen dritten Zustand überführt werden müsse, um Ordnung und Fortschritt zu vermitteln.« (Wagner 2001, 37)

Nach Comte durchläuft sowohl die menschliche Zivilisation wie das menschliche Wissen und jeder einzelne Mensch jeweils drei Stadien. Das erste Stadium der Menschheitsgeschichte ist das theologische oder das fiktive der Kindheit (vgl. Comte 1933, 167ff.), das zweite ist das metaphysische oder das abstrakte der Jugend (vgl. Comte 1933, 267ff.) und das dritte ist das wissenschaftliche oder das positive des Erwachsenenalters (vgl. Comte 1933, 320ff.). Die Stadien bezeichnen die Entwicklung des menschlichen Geistes zu seiner Vervollkommnung. Im dritten Stadium schöpfen die Menschen ihr Wissen aus Beobachtungen und Erfahrungen. Die Verbindung von empirischer Beobachtung und logischem Denken ermöglicht es den Menschen, Beziehungen zwischen den Phänomenen herzustellen, die zu sozialen Gesetzen nach Art der Naturgesetze führen. Die Gesetzmäßigkeit der drei Stadien der Entwicklung ist auf alles zu übertragen; auf den Verstand, der sich vom Fetischismus und Monotheismus über die Metaphysik hin zum Positivismus entwickelt; auf die Aktivität, die von der Eroberung über die Verteidigung zur Arbeit verläuft; die Gefühle, die sich vom Egoismus zum Altruismus entwickeln; die Sympathie, die von der nationalen zur universalen fortschreitet; und den Organismus, der zunächst militärisch, dann feudal und schließlich industriell ist. (Vgl. Bock 1999, 48)

Die Erfolge der Naturwissenschaft übten zu Comtes Zeit eine große Faszination auf die Menschen aus. Hatte man in der Naturwissenschaft einmal ein allgemeines Gesetz entdeckt, so konnte man es auf viele vergleichbare Fälle anwenden und das Ergebnis eines Experiments vorhersagen. So entstand der Wunsch, das auf die Sozialwissenschaft übertragen zu können. Vergessen hat man dabei aber, dass die Naturwissenschaften des beginnenden 17. Jahrhunderts das bis dahin übliche Von-innen-Verstehen der Natur aufgegeben hatten. (Vgl. Apel 1979, 57) Und nachdem man mit Hume den logischen [16] Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung festgestellt hatte, konnte man von einer Durchgriffskausalität in den Naturwissenschaften ausgehen. Man geriet aber mehr und mehr in Zweifel, ob das auch im sozialen Zusammenhang möglich sein kann. Das Wachsen des Zweifels führte zur Entwicklung einer sozialwissenschaftlichen Methode sui generis bei Dilthey, wozu ich ein paar Seiten später noch kommen werde. Comte allerdings ging von einer Durchgriffskausalität im sozialen Zusammenhang aus. (Vgl. Apel 1979, 57) Das hatte seinen Grund wohl darin, dass er in das »Klima des überschießenden Glaubens an die Möglichkeiten von Naturwissenschaft und Technik« hineingeboren wurde. (Bock 1999, 39) Man nannte die an den Naturwissenschaften orientierte Sozialwissenschaft auch Positivismus. »Eine der Grundannahmen des Positivismus ist der methodologische Monismus bzw. die Idee von der Einheit der wissenschaftlichen Methode inmitten der Verschiedenartigkeit des Gegenstandes wissenschaftlicher Untersuchungen. Eine zweite Grundannahme besteht in der Ansicht, daß die exakten Naturwissenschaften, insbesondere die mathematische Physik, ein methodologisches Ideal bzw. einen methodologischen Standard setzen, an dem der Entwicklungs- und Perfektionsstand aller anderen Wissenschaften, einschließlich der Humanwissenschaften, zu messen sei. Eine dritte Grundannahme ist schließlich eine charakteristische Auffassung von wissenschaftlicher Erklärung. Solche Erklärung ist, in einem weiten Sinne, ›kausal‹. Sie besteht konkreter gesagt in der Subsumtion individueller Sachverhalte unter hypothetisch angenommene allgemeine Naturgesetze, einschließlich Gesetze der ›menschlichen Natur‹. Finalistische Erklärungen, d. h. Versuche, Tatsachen mit Hilfe von Intentionen, Zielen und Zwecken zu erklären, werden entweder als unwissenschaftlich abgelehnt oder es wird zu zeigen versucht, daß sie bei entsprechender Eliminierung ›animistischer‹ oder ›vitalistischer‹ Relikte in Kausalerklärungen transformiert werden können.« (Wright 1974, 18)

Wegen der Orientierung an den Naturwissenschaften bezeichnete [17] Comte, der als Erster den Begriff »Soziologie« verwendete (vgl. Comte 1933, 6)3, diese neue Wissenschaft bis zu diesem Zeitpunkt – wie alle anderen Positivisten – als »soziale Physik«. Die soziale Entwicklung sei einem Naturgesetz der Entwicklung unterworfen, das Comte durch Beobachtung und daraus resultierende allgemeine Aussagen entdeckt habe. Darum seien sichere Aussagen über die Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung möglich. Auch der Aufbau der Wissenschaften gestaltete sich laut Comte nach einem Gesetz, dem enzyklopädischen Gesetz. Die Wissenschaften hätten ebenfalls einen Stufenbau. Die Astronomie sei von allen folgenden Wissenschaften unabhängig, denn alle irdischen Phänomene hingen von der Stellung der Erde im Sonnensystem ab. »Die physikalischen Phänomene sind komplexer als die astronomischen, daher ist die Physik schon weniger präzise als die Astronomie.« (Bock 1999, 45) Danach folgen bei Comte noch unpräzisere Wissenschaften wie Chemie und Biologie. »Die Biologie ist von allen vorhergehenden Wissenschaften abhängig.« (Bock 1999, 46) Die Soziologie nun bildet das Schlusslicht im System der Wissenschaften.

Für Comte blieb die Restauration, mit ihrem Beharren auf einem König von Gottes Gnaden und einem göttlichen Recht, dem theologischen Stadium verhaftet oder verfallen. Die Revolutionäre hätten in jeder Hinsicht, bis hin zur Einführung eines neuen Kalenders, mit der alten Ordnung gebrochen. »Im positiven Stadium würde es seines Erachtens keine derartigen übernatürlichen Vorstellungen mehr geben, weshalb auch die neue Ordnung auf wissenschaftlichen, rein durch Beobachtung erkannten Grundlagen beruhen würde.« (Wagner 2001, 38)

Zum Schluss ist noch zu fragen, ob die Fortschrittslehre Comtes Vorläufer hatte, auf die er sich bezog. Joachim von Fiore sah die Dreiheit Gottes in der Weltgeschichte verwirklicht. Bei Joachim gibt es ebenfalls drei Stufen der organischen Entwicklung, die sich in der Geschichte vollzieht: »Die erste Stufe ist die des Vaters, des Alten Testaments, der Furcht und [18] des gewußten Gesetzes. Die zweite Stufe ist die des Sohnes oder des Neuen Testaments, der Liebe und der Kirche, die in Kleriker und Laien geschieden ist. Die dritte Stufe, die bevorsteht, ist die des Heiligen Geistes oder der Erleuchtung aller, in mystischer Demokratie, ohne Herren und Kirche.« (Bloch 1959, 591) Und Ernst Bloch interpretiert weiter: »Es ist kaum möglich, alle Wege zu bestimmen, die dieser höchst geschichtlich gemeinte Traum genommen hat. Er lief durch lange Zeiten und in weit entfernte Länder, echte und gefälschte Schriften Joachims waren jahrhundertelang verbreitet. Sie liefen nach Böhmen und Deutschland, auch nach Rußland.« (Bloch 1959, 593) Und selbstverständlich wurden sie darüber hinaus in Frankreich bekannt. »Auch Comtes Gedanke einer dreistufigen Entwicklung entstand wahrscheinlich unter dem Einfluß von Lessings Abhandlung« Die Erziehung des Menschengeschlechts, der darin von einem »dreifachen Alter der Welt« spricht. (Löwith 1983, 223; vgl. auch Wagner 2001, 101) Über seine Lessing-Lektüre wurde das Dreistadiengesetz Joachims von Fiore auch Comte bekannt. Nach Bloch entstand durch die Vermischung von christlichem Gedankengut und positiver Philosophie eine »phantastische Traumhochzeit zwischen heiligem Sozialismus und profanem Vatikan« (Bloch 1959, 661). Weniger barock drückt Karl Löwith diesen Sachverhalt aus: »Wie alle seine Vorgänger und Nachfolger ist sich Comte nicht darüber klar gewesen, in welchem Maße seine Idee vom Fortschritt noch selbst theologisch ist.« (Löwith 1983, 94) Worin liegt für Löwith das Theologische bei Comte? Er sieht es in der Eschatologie, der Erwartung einer besseren Zukunft, der Erlösung. »Nur innerhalb dieses Horizontes der Zukunft, wie ihn der jüdische und christliche Glaube gegen die ›hoffnungslose‹, weil zyklische Weltanschauung des klassischen Heidentums schuf, konnte die Fortschrittsidee überhaupt zum Leitgedanken des modernen Geschichtsverständnisses werden.« (Löwith 1983, 95)

Ganz im Gegensatz dazu ist Vittorio Hösle der Auffassung, dass Comte radikal mit seinen christlichen Voraussetzungen [19] gebrochen habe. (Vgl. Hösle 1999, 130) Er erinnert daran, dass Comte eine mit allen Details ausgearbeitete positivistische Religion entworfen habe, die ihm als legitime Erbin des Katholizismus bzw. als Alternative zum Christentum galt, »und ein großer Teil seiner späten Aktivität galt der Ausbildung einer Esperantoreligion mit einem eigenen Katechismus, eigenen Sakramenten und einem eigenen Kalender, in dem die Heiligen des Christentums durch die seiner Ansicht nach wichtigsten Figuren der menschlichen Geschichte ersetzt werden. Er bemühte sich auch um eine Allianz mit der römischen Kirche, um die zentrifugalen Kräfte aufzuhalten, die die Institutionen von Privateigentum und Monogamie bedrohten, an denen er unbedingt festhielt.« (Hösle 1999, 150) Seine positivistische Religion fand nur in Lateinamerika eine gewisse Verbreitung, z. B. finden wir in der brasilianischen Flagge die Worte »ordre e progreso«, die die Synthese des comteschen Programms, Fortschritt bei sozialer Stabilität, kennzeichnen. Doch jenseits dieser unterschiedlichen Interpretationen vom Zusammenhang moderner und christlicher Fortschrittslehre ist die Frage zu stellen, was für Comte das Anziehende an der Lehre Joachims von Fiore gewesen sein kann. Letzterer säkularisierte die Heilsgeschichte. Das Eschaton erfüllte sich danach nicht erst im Jenseits, sondern im Diesseits. (Vgl. Wagner 2001, 102) Comte selbst hat auf den christlichen Ursprung der Fortschrittslehre hingewiesen. (Vgl. Wagner 2001, 103) Für Comte gibt es ein Leben vor dem Tod. Darum war diese Lesart Joachims für ihn so faszinierend.

Gesellschaftsentwicklung

Die Entwicklung nach dem Dreistadiengesetz, sagt Comte, sei unaufhaltsam, unbeeinflussbar und irreversibel. Er ist der Überzeugung, dass es zwar schnellere oder langsamere Entwicklungen geben könne, aber auf ein früheres Stadium der Entwicklung könne keine Gesellschaft zurückfallen, wenn sie [20] einmal ein höheres erreicht habe. Doch gebe es trotz dieses gesetzmäßigen Fortschritts eine gewisse Handlungsmöglichkeit für die Menschen. »Sowohl die anfallenden ›Kosten‹ als auch das Tempo der Entwicklung können beeinflußt werden, wenn erst ihr gesetzmäßiger Gang bekannt und in Zukunft extrapoliert ist. Das ›progressive‹, den Fortschritt befördernde Handeln wird zur ethischen Pflicht. So ist etwa eine beschleunigte Entwicklung der nichteuropäischen Regionen durchaus möglich.« (Bock 1999, 49) Das ist eine Auffassung, die – wie wir später noch sehen werden – auch Habermas in ähnlicher Weise vertritt. (Vgl. Habermas 1997)

HERBERT SPENCER

Geschichtsverlauf und Gesellschaftsanalyse

Auch Spencer (1820–1903) hatte den hohen Anspruch, mit seiner Theorie ein allgemein gültiges Entwicklungsgesetz aufzustellen, das dem Verlauf der Menschheitsgeschichte zugrunde liege. Damit sollte man in die Lage versetzt werden, Voraussagen über die Zukunft zu machen. Auch er glaubte – wie Comte –, dass es keine Entwicklungsrückschritte geben könne. Es gebe Kräfte in der Gesellschaft, die durch ihr Zusammenwirken diese vorwärtsgerichtete Entwicklung bewerkstelligen würden. Der Natur und der Gesellschaft liege ein und dasselbe Gesetz zugrunde, das es zu erkennen gelte, um Aussagen über Geschichtsverläufe und Gesellschaftsentwicklungen treffen zu können. Als allgemeines Gesetz nimmt er das evolutionäre »Survival of the fittest« an, dessen Entdeckung oft Darwin zugeschrieben wird. Tatsächlich war es umgekehrt. Darwin übernahm diese Formulierung auf Alfred R. Wallaces’ Empfehlung von Spencer. (Vgl. Hösle/Illies 1999, 62) Die Besten würden also in den sozialen Auseinandersetzungen überleben und die mit geringem Vermögen Ausgestatteten »sterben in Menge«, [21] sodass »nur sehr wenige eine irgend erhebliche Lebensdauer erreichen« würden. (Spencer 1887, 186)

Spencer behauptet weiterhin, dass die Entwicklung vom »unzusammenhängenden Homogenen zum wechselseitig abhängigen Heterogenen« gehe. (Kunczik 1999, 77) Er schreibt: »Im Anfang sind die Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Gruppen ihrer Einheiten der Zahl wie der Art nach sehr unbedeutend, sobald aber die Bevölkerung ansteigt, treten immer mehr und entschiedener ausgeprägte Abtheilungen und Unterabtheilungen hervor.« (Spencer 1887, 6) Eine vergleichbare Entwicklung sieht Spencer in der Biologie, wie er überhaupt Parallelitäten zwischen der Natur und der Gesellschaft auszumachen meint, was er andererseits bestreitet, indem er den Glauben daran zurückweist, »dass es irgendeine besondere Analogie zwischen dem socialen Organismus und dem menschlichen Organismus gebe« (Spencer 1887, 171f.). Dennoch muss man sagen – und wenn man sein Werk liest, ist es unübersehbar –, dass Spencer die Parallelität zwischen Biologie und Soziologie sehr weit treibt.4 Dies ist bereits bei seinem Grundgesetz der Entwicklung, dem »Survival of the fittest«, der Fall, weiter unten werden uns in dieser Hinsicht noch weitere einschlägige Zitate begegnen. Hinzu tritt noch das ausführliche Referieren von völkerkundlichem Material, sodass wir bei ihm von der deskriptiven und vergleichenden soziologischen Methode sprechen müssen.

Spencer verstand unter Soziologie das Studium der Evolution. Robert G. Perrin kann vier Konzepte von Entwicklung bei Spencer ausmachen. (Vgl. Perrin 1976, 1342–1353)

1. Evolutionäre Entwicklung zu einer idealen Gesellschaft hin.

2. Evolution als Differenzierung in funktionale Subsysteme, wie eben gesehen.

3. Evolution als zunehmende Arbeitsteilung.

4. Evolution als Entwicklung verschiedener Gesellschaftstypen.

Diese vier Konzepte nebeneinander zu sehen ist keineswegs ein Widerspruch, denn wie Luhmann in seiner Soziologie später [22]