Ethisches Verhalten in der modernen Wirtschaftswelt - Cornelia Nietsch-Hach - E-Book

Ethisches Verhalten in der modernen Wirtschaftswelt E-Book

Cornelia Nietsch-Hach

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Beschreibung

Debatten über Korruption, Kinderarbeit, Umweltzerstörung oder Schadstoffein Genussmitteln finden sich täglich in den Medien. Die Frage nach der ethischen und sozialen Verantwortung von Unternehmen wird im Zeitalter der Globalisierung immer häufiger gestellt. Doch wie kann ethisches Verhalten in unserer Wirtschaft nachhaltig verankert werden? Welche Beiträge zur Umsetzung können die Akteure leisten und wie sollen sich diese künftig weiterentwickeln? Cornelia Nietsch-Hach liefert die Antworten. Sie bietet mit diesem Buch eine praxisnahe Einführung in die Wirtschaftsethik und geht speziell auf die sich gegenseitig beeinflussenden drei Orte der Moral Staat, Unternehmen und Wirtschaftsbürger ein. Nach der Klärung grundlegender Begriffe, wie Tugend und Moral, und einem Rückblick in die Historie, werden verschiedene aktuelle Leitideen ethisch orientierten Wirtschaftens dargestellt und verglichen. Für die staatliche Seite erörtert die Autorin die bislang eingeführten Gesetze und weitere Initiativen, insbesondere gegen Korruption. In Bezug auf die Unternehmen werden aktuelle Fallbeispiele zum Umgang mit Corporate Social Responsibility erläutert. Darauf aufbauend folgen acht Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens in Unternehmen. Hinsichtlich der Wirtschaftsbürger wird der Frage nachgegangen, inwieweit sie Einfluss und Verantwortung auf die Dynamik von nachhaltiger Unternehmensführung haben.

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Dr. Cornelia Nietsch-Hach lehrt an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management in Berlin.

Inhalt

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Einführung

Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik)

Wirtschaftsethik in der Historie

3.1 Tugendethik in der Antike (Sokrates, Platon und Aristoteles)

3.2 Ethik im Mittelalter (Scholastik)

3.3 Ethik in der frühen Neuzeit (deontologische Konzepte und Utilitarismus)

3.4 Ethik in der klassischen Moderne (Klassik, Neoklassik und im Keynesianismus)

3.5 Die Kirche historisch als moralische Instanz

Ethik und aktuelle Leitideen modernen Wirtschaftens

4.1 Die Business Ethics-Bewegung im angloamerikanischen Raum

4.2 Ordnungsethik nach Homann

4.2.1 Ursachen für moralisches Handeln

4.2.2 Handlungsempfehlungen für ethisches Verhalten

4.3 Die Integrative Wirtschaftsethik nach Ulrich

4.3.1 Moralität und ökonomische Rationalität

4.3.2 Persönliche Sinnfindung

4.3.3 Die Legitimationsfrage für Wirtschaften und gerechtes Zusammenleben

4.3.4 Wirtschaftsbürgerethik

4.3.5 Ordnungsethik

4.3.6 Unternehmensethik

4.4 Diskursethik nach Jürgen Habermas

4.5 Ökonomische Ethik nach Suchanek

4.5.1 Das Gefangenendilemma aus ethischer Perspektive

4.5.2 Unternehmen und ihre Verantwortung

4.5.3 Gerechtigkeit und Moral

4.6 Wertemanagement als Element eines präventiv wirkenden Risikomanagements nach Michael Fürst

4.7 Hippokratischer Eid für Manager nach Rakesh Khurana und Nitin Nohria

4.8 CSR-Ansatz nach Michal E. Porter und Mark R. Kramer

4.9 Zusammenfassender Vergleich der dargestellten Ethik-Ansätze

Setzt der Staat die richtigen Rahmenbedingungen?

5.1 Der fehlende Ausgleich zwischen Moral und Ökonomie in der Finanzkrise

5.2 Mitbestimmung

5.3 Nachhaltigkeit

5.4 Korruptionsbekämpfung

Wie reagiert das Management bisher?

6.1 Beispiel Siemens

6.2 Beispiel Motorola

6.3 Beispiel L’ORÉAL

6.4 Beispiel Texas Instruments

6.5 Beispiel Fujitsu

6.6 Soziale Verantwortung und finanzieller Erfolg – ein Zielkonflikt?

Was bedeutet M

o

ral für den einzelnen Bürger

?

7.1 Die menschliche Natur und ihre Selbsterhaltung

7.2 Genetische und soziale Entwicklungsstufen von Moral

7.3 Moral muss/kann man trainieren

Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens

8.1 Was kann der Staat tun?

8.2 Was kann das Management tun?

8.3 Was kann der Wirtschaftsbürger selbst tun?

Fazit/Ausblick

Literaturverzeichnis

Glossar

Index

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abb. 1 Die drei Orte der Moral: Staat, Unternehmen und Bürger

Abb. 2 Das Gefangenendilemma in Normalform

Abb. 3 Bausteine eines integrativen Ethikprogrammes in Unternehmen nach Ulrich

Abb. 4 Zusammenspiel von Wirtschaftsbürger-, Ordnungs- und Unternehmensethik

Abb. 5 Gefangenendilemma mit Sanktionen

Abb. 6 Gefangenendilemma mit Fehlanreizen (100-prozentige Lohnfortzahlung)

Abb. 7 Entstehung von Gerechtigkeit

Abb. 8 Beispiel Risiko-Relevanz-Matrix

Abb. 9 Die Wirkung von Wertemanagementsystemen nach Fürst in Anlehnung an Williamson 1991

Abb. 10 Soziales Engagement entlang der Wertschöpfungskette

Abb. 11 Weg-Pyramide zu integriertem verantwortlichem Verhalten bei L’ORÉAL

Abb. 12 Das Selbstverständnis von Fujitsu

Abb. 13 Unternehmenswerte

Abb. 14 Unternehmensprinzipien

Abb. 15 Mögliche Kennzahlen und Beurteilungskriterien für ethisches Verhalten

Abb. 16 Informationsbedürfnis von Stakeholdern nach Epstein

Abb. 17 Gewünschte Länge von Berichten zu Umweltfragen

Abb. 18 Stützen und Nutzen für ethisches Verhalten

Abb. 19 Gleichheit versus größerer Anteil des Wohlstandskuchens

Tab. 1 Zusammenfassung Begriffsabgrenzung

Tab. 2 Ethik im Kontext klassischer moderner Wirtschaftskonzeptionen

Tab. 3 Rekonstruktion von „Handeln“ (für Unternehmen)

Tab. 4 Strategieempfehlungen für Handlungssituationen nach Homann

Tab. 5 Idealtypische Grundmodelle der Bürgertugend und der Bürgergesellschaft

Tab. 6 Vergleichende Darstellung Neo- und Ordoliberalismus

Tab. 7 Vergleichende Zusammenfassung ethischer Ansätze

Tab. 8 Klassisch liberale, corporatistische und pluralistische Ansätze Vergleich

Tab. 9 Auszug der Indikatoren SA 8000

Tab. 10 Motorola CSR-Daten 2005–2009

Tab. 11 Entwicklungsstufen des Moralbewusstseins von Ulrich nach Kohlberg

Tab. 12 Balanced Scorecard mit Ethik-Kennzahlen

Tab. 13 Ethische Entscheidungsfindung

Tab. 14 Integration von Nachhaltigkeit bei Gehaltszulagen

Tab. 15 Nutzen ethischen Verhaltens nach Epstein

1 Einführung

In den letzten Jahren wurden in Deutschland ethische Fragen in der Öffentlichkeit und in den Medien zunehmend diskutiert. Die Presse informiert weiter fast täglich über Wirtschaftsskandale, seien es Schadstoffe in Genussmitteln, horrende Boni-Abrechnungen bei Banken oder Plagiate bei Doktorarbeiten.

Die Globalisierung schafft verzweigte Handlungsketten, in denen Risiken verschnürt und umgeladen werden, bis der Überblick verloren geht. Hierdurch entstehen bei Bürgern Ängste. Die Konsequenzen der Finanzmarktkrise mit der einhergehenden Rezession und die starken Veränderungen in der Arbeitswelt, in der traditionelle, langfristige Beschäftigungsmuster durch unstete, flexiblere Formen der Beschäftigung abgelöst worden sind, verunsichern breite Bevölkerungsschichten. Es entwickelt sich eine Arbeitswelt, in der die Angst vor der Verlagerung und Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen zum Tagesgespräch wird. Vielfach scheinen althergebrachte Eigenschaften, wie Verlässlichkeit und Ausgewogenheit, als Auslaufmodell betrachtet zu werden, zugunsten neuer Tugenden des „Spielsaals“, wie Risikofreude und Spekulation. Kurzfristige Gewinnmaximierungsstrategien werden zunehmend langfristigem strategischem Handeln vorgezogen.

Es entsteht der Eindruck, dass Banken und multinationale Wirtschaftskonzerne die Weltmärkte dominieren und die Regierungen der Länder zunehmend an Einfluss verlieren. Bei einer 2004 durchgeführten Umfrage des Emnid-Instituts für das World Economic Forum stuften 70 % der Deutschen das Verhalten der Konzernchefs in Deutschland als unethisch ein und 80 % hielten sie für zu mächtig. In Frankreich erachten nur 20 % der Landsleute das Verhalten ihrer Konzernchefs für unethisch, in England 42 %, in den USA 37 % und in Japan 47 %. Das Bild der deutschen Manager ist demnach mit Abstand in dieser Vergleichsgruppe am schlechtesten.1

In Unternehmen zunehmend eingesetzte Compliance Offices beschäftigen sich damit, wo die rechtlichen Grenzen der Legalität liegen. Dabei ist nicht alles, was legal ist, auch ethisch vertretbar. Umgekehrt zeigt sich, dass ethisch sein kann, was nicht legal ist. Wenn ein Unternehmen in ein Embargo-Land Waffen an Terroristen liefert, ist dies illegal und unmoralisch. Liefert es Waffen an unterdrückte Opfer zur Selbstverteidigung zum Schutz ihres Lebens, kann dies ebenfalls illegal sein, aber ethisch vertretbar.

Das Ideal des ehrbaren Kaufmanns ist beschädigt. Aufgrund immer neuer vielfältiger Auswüchse stellt sich die Frage, wie ethisches Verhalten in unserer Wirtschaft nachhaltig verankert werden kann. Das Verhältnis von Marktwirtschaft und Ethik wird bislang kontrovers diskutiert, ohne dass sich ein allgemein akzeptierter Ansatz weitgehend durchgesetzt hätte. Bis heute sucht die Ethik nach nicht hintergehbaren Begründungen für Normen.

Kaum jemand möchte eine Welt voller Armut, Korruption, Kinderarbeit oder Umweltzerstörung. Dennoch treten diese Probleme massiv auf. Im Rahmen der praktisch angewandten Ethik geht es darum, den Sinn und die Umsetzungsbedingungen vernünftiger individueller und kollektiver Selbstbindung zu klären.

Im vorliegenden Buch werden nach der Klärung grundlegender Begriffe, wie Tugend und Moral, und einem Rückblick in die Historie verschiedene aktuelle Leitideen ethisch orientierten Wirtschaftens dargestellt und versucht, diese ansatzweise zu vergleichen. Dabei wird insbesondere auf die von Ulrich geprägten, sich gegenseitig beeinflussenden drei Orte der Moral – Staat, Unternehmen und Wirtschaftsbürger – eingegangen.2 Anschließend wird betrachtet, welche Beiträge von staatlicher, wirtschaftlicher und wirtschaftsbürgerlicher Seite derzeitig erfolgen und wie diese sich zukünftig weiterentwickeln sollten.

Für die staatliche Seite werden die bislang eingeführten regulativen Gesetze und weitere Initiativen insbesondere gegen Korruption erörtert. Zu suchen ist nach den Ursachen von Korruption und der allgemeinen Lebensdienlichkeit schadendem Verhalten.

In Bezug auf die Unternehmen werden aktuelle Fallbeispiele zum Umgang mit Corporate Social Responsibility (CSR) erläutert. Darauf aufbauend folgen acht Bausteine zur nachhaltigen Integration ethischen Verhaltens in Unternehmen. Es schließen Überlegungen an, ob die Wahrnehmung sozialer Verantwortung und der finanzielle Erfolg eines Unternehmens einen Zielkonflikt bedeuten.

Die Einsicht in die kritische Verletzlichkeit der Natur durch die technische Intervention führte zur beginnenden Wissenschaft der Umweltforschung (Ökologie) und zu dem Bewusstsein der menschlichen Verantwortlichkeit für unseren Planeten/unsere Biosphäre. In Bezug auf den Wirtschaftsbürger wird der Frage nachgegangen, inwieweit er Einfluss und Verantwortung auf die Dynamik von nachhaltiger Unternehmensführung hat. Seine Beweggründe werden unter Hinzuziehung aktueller neurologischer Forschungsergebnisse näher betrachtet.

1 Vgl. http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken/interview-kemmer-ist-ein-bauernopfer-seite-2/3041962-2.html

2 Vgl. Ulrich (2008), S. 309

2 Begriffsabgrenzung (Werte, Tugend, Moral und Ethik)

Im Kontext ethischer Überlegungen existiert eine anspruchsvolle Begriffsvielfalt, die als Grundlage im Folgenden näher betrachtet wird.

Jedes Individuum, jede Gruppe und jede Gesellschaft verfügt über Ziele, die auf bestimmten Werten basieren. Werte sind Überzeugungen, Einstellungen und Vorstellungen in Bezug auf einen selbst und auf andere, wie man leben und sich verhalten sollte.3 Dabei können innere Werte, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Freundschaft, Liebe oder Harmonie, von äußeren Werten, wie Geld, Macht oder Eigentum, unterschieden werden. Werte bestimmen machtvoll das Leben des Menschen. In einer demokratisch orientierten Gesellschaft gelten Werte wie Presse- und Religionsfreiheit sehr viel, in anderen z.B. diktatorischen Gesellschaften dagegen wenig. Werte anderer können akzeptiert werden, ohne dass man damit einverstanden ist. Werte wie Wohlstand und Nachhaltigkeit oder Freiheit und Gleichheit können konfligieren. Teilweise sind Konflikte dieser Art bei Betrachtung der Zeitachse lösbar. So kann der Wert „Wohlstand“ nur kurzfristig im Gegensatz zu Nachhaltigkeit stehen, da langfristig ohne Nachhaltigkeit kein Wohlstand generiert werden kann.4

Für die Entwicklung eines Wertsystems kann auf die seit 2000 Jahren geltenden Tugenden als Basis des Entscheidens und Handelns zurückgegriffen werden. Aristoteles beschreibt Tugend als das, „was den, der sie besitzt, in seinem Sein und Handeln gut macht“.5 Es geht nicht nur um die Erkenntnis des Guten, sondern um das gute Handeln. Tugend ist ein Habitus, der nicht von alleine entsteht, sondern sich durch Ausübung und Gewöhnung im Laufe des Lebens ausbildet. In den Worten Senecas lautet dies „Niemand ist zufällig gut, die Tugend muss man lernen.“6 Jean-Jaques Rousseau führt aus „Indem man Gutes tut, wird man selbst gut.“7

Tugenden sind mit der Identität des Handelnden verknüpft. Sie gehen über Gesinnungen hinaus und bestimmen das Handeln von Menschen.8

Die wichtigsten auf Platon zurückgehenden Tugenden sind Weisheit, Tapferkeit und Maßhalten. Werden alle drei genannten Tugenden ausreichend gelebt, entsteht die übergeordnete Tugend Gerechtigkeit.9 Heute spricht man auch von Kardinaltugenden. Jeder Kardinaltugend lässt sich eine verwandte Komplementärtugend zuordnen, die sie ergänzt. Bei der Klugheit ist es die Weisheit, bei der Gerechtigkeit die Wahrheit, bei der Tapferkeit die Treue und beim Maßhalten die Versöhnung. Für Aristoteles sind die Tugenden die ausgewogene Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Untugenden, einem Zuviel und einem Zuwenig. Hierbei steht z.B. die Tugend „Tapferkeit“ in der Mitte zwischen den Untugenden „Tollkühnheit“ und „Feigheit“. 10

Den negativen Gegenpool zu den Tugenden bilden die Untugenden, auch Laster genannt, die durch einen Mangel oder Überfluss charakterisiert werden.11 Die sogenannten „Todsünden“, die auf den asketisch lebenden gelehrten Mönch Evagrius Ponticus (345–399) zurückgehen, wurden später im Mittelalter als die „sieben Todsünden“ viel diskutiert und über die Jahrhunderte bis heute immer weitergegeben. Sie lauten:

Hochmut,

Neid,

Geiz,

Trägheit,

Zorn,

Wollust,

Völlerei.

Die genannten sieben Sünden oder Laster sind bis heute aktuell. Ihre Zunahme führt in Gesellschaften zu einer Erosion der Werte. Sie bilden häufig die Ursachen von Wirtschaftsskandalen und schwächen Glaubwürdigkeit und Integrität.12 Dabei kann sich eine kleine Prise von Lastern durchaus positiv auswirken. Geiz kann vorübergehenden notwendigen Sparwillen ausdrücken. Zorn bewirkt möglicherweise die erforderliche schnelle Änderung schädlichen Verhaltens. Wie in der Homöopathie kann ein Gift mit sehr geringer Dosierung heilenden Erfolg entfalten. Die Dosis macht also das Gift. Wie bereits Aristoteles beschrieb, geht es um die richtige Ausgewogenheit.13

Die Einstellung oder Haltung zu den Tugenden prägt die menschlichen Wertvorstellungen und damit auch ihre Moral. Der Ausdruck Moral geht auf das lateinische moralis (lat: mos, mores: die Sitte, die Sitten) zurück, das im von Cicero neugeprägten Ausdruck philosophia moralis als Übersetzung von êthikê (Ethik) verwendet wird.

Unter Moral versteht Homann „einen Komplex von Regeln und Normen, die das Handeln von Menschen bestimmen oder bestimmen sollen und deren Übertretung zu Schuldvorwürfen gegen sich selbst bzw. gegen Andere führt.“14 Velasquez führt aus: „We can define morality as the standards that an individual or a group has about what is right and wrong, or good and evil.“15 Moral bezeichnet wiederkehrende Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien von Individuen, Gruppen oder Kulturen. Sie regelt, was man in einer sozialen Gemeinschaft tun darf oder nicht und ermöglicht dem Menschen, sein Leben im Hinblick auf gerechtes solidarisches Zusammenleben bewusst zu gestalten. Moralisch sind Handlungen somit, wenn sie sich an diesen Konventionen, Normen, Idealen und Werten ausrichten. Dabei ist zu beachten, dass diese Orientierungsnormen kulturell geprägt sind und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen variieren können.16 Moralische Normen sind im Gegensatz zu Rechtsnormen rechtsstaatlich nicht erzwingbar. Ihr Verbindlichkeitsanspruch hängt von der überwiegenden Akzeptanz in der jeweiligen Gemeinschaft ab.17 Moralische Regeln werden gebildet, durch die Übernahme moralischer Werte aus der sozialen

Umgebung (z.B. Elternhaus, Freunde, Schule, Kirche, Fernsehen). Mit der Entwicklung der Persönlichkeit werden moralische Standards verworfen erweitert oder verändert.18

Für Ulrich19 ist Moralität der unabweisbare Selbstanspruch des Menschen als eines Subjektes, das sich prinzipiell frei bewegt. “Moralität ist also die Idee, unter der personale Freiheit und zwischenmenschliche Verbindlichkeit vereinbar sind.“20 Sie setzt sich aus den gewohnten geltenden Wertvorstellungen und Normen zusammen, die das Handeln in einer kulturellen Gemeinschaft bestimmen. Die Moral regelt, was man in einer sozialen Gemeinschaft tun darf oder nicht, und ermöglicht dem Menschen, sein Leben im Hinblick auf gerechtes solidarisches Zusammenleben bewusst zu gestalten. Moralische Normen sind im Gegensatz zu Rechtsnormen rechtsstaatlich nicht erzwingbar. Ihr Verbindlichkeitsanspruch hängt von der überwiegenden Akzeptanz in der jeweiligen Gemeinschaft ab. „Der Mensch ‚ist‘, was er in der menschlichen Gemeinschaft als soziales, kulturelles und geschichtliches Wesen aus sich macht oder zu machen versucht.“21 Die Gründe für moralisches Verhalten finden sich für Ulrich in keiner äußeren Instanz, sondern in unserer humanen Moralität (in unserem guten Willen) selbst. Er geht davon aus, dass jeder Mensch mit einer einigermaßen gesunden Persönlichkeit aufgrund seiner Bedürfnisse nach Selbstachtung und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft ein Leben nach moralischen Grundsätzen führen will, auch wenn ihm das nicht immer gelingt. Menschen wollen anständig behandelt und als vollwertige Mitglieder der sozialen Gemeinschaft, in der sie leben, anerkannt werden. Persönlicher Lebenssinn ist selten bis gar nicht ohne ein gewisses Maß an Gemeinsinn und ein Bestreben zur Zugehörigkeit zu finden. Moralische Selbstansprüche entfalten sich auf dem Erfahrungshintergrund seit der Kindheit, indem Ansprüche und Wertorientierungen verarbeitet werden. Diese beinhalten auch selbstsüchtige Neigungen, die manchmal zu unsozialem Verhalten führen. Sogenannte „Free Rider“ oder „Trittbrettfahrer“ profitieren von der Gemeinschaft ohne sich selbst kooperativ einzubringen. Zwischen moralischer Einsicht und faktischem Handeln besteht häufig eine Diskrepanz, die Beschäftigung mit Ethik nicht hinfällig, sondern gerade erst nötig macht. Wenn wir moralisch zuwider handeln, entstehen häufig „Gewissensbisse“. An Individuen mit mehr oder weniger gestörtem Moralbewusstsein wird deutlich, dass Moralität nicht, wie ein Instinkt, angeboren ist, sondern das Resultat einer unablässigen Kultivierung darstellt.22

Als berechtigt werden gemäß Ulrich Handlungsweisen betrachtet, durch die keine moralischen Rechte anderer Personen verletzt werden. Im Rahmen der sozialen Integration stellen sich dem Individuum unter anderem folgende Fragen:23

Unter welchen Menschen fühle ich mich zu Hause?

Wo habe ich meinen sinnvollen Platz in der Welt?

Mit welchen Menschen verbindet mich Gemeinsinn?

Mit zunehmender Unübersichtlichkeit und Komplexität des täglichen Daseins, bedarf es umso mehr der Orientierung an stabilen „Grundfesten“. Wo moralische Wertordnungen fehlen, beginnt leicht der Weg zur Verletzung von Menschenrechten. Hier setzt der Diskurs um faire Spielregeln zur Regelung von Konfliktfeldern an, auf den an späterer Stelle in Kap. 4.3 noch genauer eingegangen wird.

Die Ethik ist eine Disziplin der Philosophie, die moralische Prinzipien, Werte, Tugenden, Geltungsansprüche, Forderungen, Begründungen etc. untersucht und begründet.

Ethik beschreibt laut Homann „die wissenschaftliche Theorie der Moral“.24 Sie beschäftigt sich mit den Prinzipien der Moral und dem Zusammenhang der einzelnen Normen mit ihrer Entstehung und Funktion. Für Konfliktsituationen wird nach Vorrangregeln und Handlungsempfehlungen gesucht.25 Velasquez beschreibt Ethics als „the discipline that examines one’s moral standards or the moral standards of a society“.26Es geht um den Prozess, moralische Normen einer Person oder Gesellschaft hinsichtlich ihrer Angemessenheit, Sinnhaftigkeit und Zumutbarkeit zu untersuchen.27

Audi28 definiert: „Leadership in ethics stresses ultimative values such as justice, fidelity, and the well-beeing of individuals- the object of the obligation of beneficence.“ Ethisches Führungsverhalten betont die ultimativen Werte Gerechtigkeit, Treue und Wohlergehen des Einzelnen als Verpflichtung zur Wohltätigkeit. Hier wird die Verantwortung gegenüber dem Individuum deutlich.

Unterschieden wird zwischen der deskriptiven und der normativen Ethik. Die deskriptive Ethik systematisiert und erklärt bestehende Wertesysteme und Verhaltensweisen ohne zu bewerten. Die normative Ethik nimmt hingegen wertend Stellung. Sie trifft Aussagen über sinnvolles und gerechtes Handeln und zeigt auf, was moralisch gut oder böse ist.29

Ein Ethnologe, der in Australien die Sitten eines Stammes der Aborigines beschreibt und erklärt, ist deskriptiv ethisch tätig. Wenn er bestimmte Sitten und Gebräuche verurteilt, tut er dies im Rahmen der normativen Ethik.

Ein Teilgebiet der Ethik stellt die Unternehmensethik dar, die sich mit moralischen Standpunkten in unternehmerischen Organisationen befasst.30 Unternehmensethik zielt auf die normative Selbstbindung (ohne rechtliche Regelungen) von Unternehmen ab.

Steinmann/Löhr definieren als Unternehmensethik „alle durch dialogische Verständigung mit den Betroffenen begründeten bzw. begründbaren materialen und prozessualen Normen, die von einer Unternehmung zum Zwecke der Selbstbindung verbindlich in Kraft gesetzt werden, um die konfliktrelevanten Auswirkungen des Gewinnprinzips bei der Steuerung der konkreten Unternehmensaktivitäten zu begrenzen.“31 Unternehmensethik stellt hier den Versuch dar, anstelle (zusätzlicher) rechtlicher Regelungen durch normative Selbstbindung den Interessen der Betroffenen besser gerecht zu werden.

Zu klären ist bei dieser Herangehensweise, wie Betroffene identifiziert werden und welche Priorität ihren Anliegen einzuräumen ist.

Umgangssprachlich werden Moral und Ethos häufig gleichgesetzt. Der Begriff Moral bezieht sich ursprünglich auf Werte- und Normengefüge eines abgegrenzten Kulturkreises (z.B. Moral des Judentums oder Christentums) oder einer Gruppe. Das Ethos (griech. Gewohnheit, Sitte, Brauch) bezeichnet die praktische Ausformung eines sittlichen Handelns im Leben des Einzelnen, also das gelebte Werte- und Normengefüge des Individuums. Das persönliche Ethos kann durchaus von der allgemeinen Moral abweichen. Unter „Standesethos“ oder „Berufsethos“ versteht man bestimmte Wertvorstellungen eines Berufsstandes (z.B. der Ärzte oder Ingenieure). 32

In der Wirtschaftsethik werden moralische Probleme der Wirtschaft im Hinblick auf praktische Lösungen behandelt. Dabei orientiert sie sich an Werten, wie Humanität, Solidarität und Verantwortung. Als Teilgebiet der Wirtschaftsethik beschäftigt sich die Unternehmensethik mit der Frage, wie unternehmerisches Gewinnstreben und moralische Ideale zueinander stehen. Da Ethik nicht unbedingt gesichertes Wissen liefert, ergeben sich oftmals weniger Ergebnisse als neue Fragen und Denkmöglichkeiten. Es geht um Orientierungswissen statt um Verfügungswissen, wie häufig im wissenschaftlichen Bereich.

Für die Einstufung einer Handlung als gut oder böse lassen sich im Wesentlichen drei unterschiedliche Ansätze unterscheiden:33

Beim

deontologische Ansatz

(deon: griech. die Pflicht) erfolgt die Bewertung der Handlung alleine.

Die

teleologische Ethik

(griech. Telos: Ziel, Zweck) bezieht die Folgen von Handlungen mit ein. Der Aufkauf von illegal geraubten Computerdateien Schweizer Banken durch den deutschen Staat ist nach deontologischer Sicht unethisch (damit würde Diebesgut anerkannt), aus teleologischer Perspektive legitim, da als Folge resultierend eine höhere Steuergerechtigkeit entsteht.

Bei der

Diskursethik

steht zur Bewertung einer Handlung der gemeinsame Gedankenaustausch im Vordergrund. Philosophen, wie z.B. Apel, der eine ideale Kommunikationsgemeinschaft beschreibt, führen aus, dass die formallogische Begründung von ethischen Sätzen nicht die einzig mögliche ist, sondern dass eine intersubjektive Geltung von Sätzen ebenso zur Legitimation führt. Diese basiert auf Regeln für einen machtfreien, rationalen unhintergehbaren Diskurs, der zu gewissen Verallgemeinerungen von Werten führt, die in der Gesellschaft von möglichst vielen akzeptiert werden. Somit wird das Zusammenleben erleichtert.

34

Vertreter dieses Ansatzes sind neben Apel z.B. Habermas, Rawls, Ulrich und Honnet.

Hegel folgend führt Honnet35 aus, dass die eingangs skizierten Werte (z.B. Freiheit, Gerechtigkeit, Freundschaft, Liebe oder Harmonie) in modernen liberaldemokratischen Gesellschaften auf einen einzigen zusammengeschmolzen sind, nämlich auf den der individuellen Freiheit im Sinne der Autonomie des Einzelnen. In den Institutionen einer Gesellschaft, in ihren sozialen Praktiken und Routinen hat sich niedergeschlagen, welche normativen Überzeugungen die Mitglieder teilen.36 Ziele der gesellschaftlichen Produktion und kulturellen Integration werden letztlich durch Werte reguliert, die insofern einen ethischen Charakter besitzen, als sie den Vorstellungen des gemeinsam geteilten Guten entsprechen. Der Begriff Gerechtigkeit ist abhängig von den übergeordneten Werten. Gerecht ist, „was innerhalb einer Gesellschaft an Institutionen oder Praktiken dazu angetan ist, die jeweils als allgemein akzeptierten Werte zu verwirklichen. ... Als ‚gerecht‘ muss gelten, was den Schutz, die Förderung oder die Verwirklichung der Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet.“37

Eine sogenannte „Letztbegründung“ als Versuch, Werte und Normen als logisch nicht mehr bestreitbare Aussagen zu beweisen, ist bislang nicht verfügbar oder sehr umstritten.38 Dem liegt zugrunde, dass aus ethischen „Ist-Sätzen“ keine „Soll-Sätze“ ableitbar sind. So ist z.B. die Sachlage, dass viele Menschen Steuern hinterziehen, moralisch dennoch nicht vertretbar. Der Tatbestand, dass viele Unternehmen Umweltschäden häufig bereits einkalkulieren, führt nicht zu moralischer Akzeptanz. Der Schluss von „Sein“ auf „Sollen“ ist hier falsch (naturalistischer Fehlschluss). Bis heute sucht die Ethik nach nicht hintergehbaren Begründungen für Normen. Hierbei gerät man in einen unendlichen Begründungsregress oder sieht sich im Zirkelschluss gefangen. Ein dogmatischer Abbruch, indem man ein mehr oder weniger willkürlich ausgewähltes Axiom als erste Behauptung aufstellt, hilft der streng angewandten Logik auch nicht weiter. In der Diskursethik werden Werte und Normen nach dem Konsenzprinzip begründet. Hierauf wird in Kapitel 4.4 noch genauer eingegangen.

Zusammenfassend sind in der folgenden Tabelle die wichtigsten in diesem Kapitel behandelten Begriffe dargestellt:

Begriff

Definition

Tugend

Fähigkeit und innere Haltung, das Gute mit innerer Neigung zu tun, Einstellung zu den Tugenden prägt Werte

Werte

wünschenswerte Ziele

Normen

Handlungsanleitungen

Moral

wiederkehrende Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien von Individuen, Gruppen oder Kulturen; Gesamtheit der Normen und Werte in einer Gesellschaft

Ethos

gelebte Wert- und Normgefüge des Individuums; Moral, personales Selbstverständnis des Menschen

Ethik

wissenschaftliche Beschäftigung mit Moral a) deontologische Ethik (Pflichtenethik, z.B. Kant

39

) b) teleologische Ethik (Zielorientierung, „Zweck heiligt die Mittel“, z.B. Max Weber

40

) c) Diskursethik (z.B. Habermas, Apel, Ulrich)

Wirtschaftsethik

Integration ökonomischer und ethischer Vernunft sowie Methodik

Tab. 1: Zusammenfassung Begriffsabgrenzung

Die Werte eines Menschen werden von seiner Haltung gegenüber den Tugenden geprägt. Werte wiederum nehmen Einfluss auf die Moralvorstellungen und Moral auf ethisches Verhalten. Ethisches Verhalten findet sich in einer Gesellschaft an drei Orten, Staat, Unternehmen und Bürger, wieder.41

Abb. 1: Die drei Orte der Moral: Staat, Unternehmen und Bürger42

Diese dargestellten drei Orte für ethisches Verhalten (Staat, Unternehmen, Bürger) gilt es, in den folgenden drei Kapiteln näher zu beleuchten, beginnend mit dem Staat. Da unser heutiges Ethikverständnis seinen Ursprung in der antiken Philosophie findet, wird in den folgenden beiden Kapiteln vorab ein Blick auf die Historie und auf weiterentwickelte ethische Leitideen modernen Wirtschaftens geworfen.

3 Vgl. Karmasin et al. (2008), S. 13

4 Vgl. ebd., S. 13

5 Koch/Wegmann (2007), S. 12

6 Koch/Wegmann (2007), S. 13

7 ebd., S. 13

8 Vgl. Karmasin/Litschka (2008), S. 15

9http://www.michaelmaxwolf.de/antike/griechenland/griechische_philosophie.html, letzter Zugriff 06.09.2012

10 Vgl. Koch/Wegmann (2007), S. 14 f.

11 Vgl. Stevenson (2008), S. 119

12 Vgl. Koch/Wegmann (2007), S. 136 ff.

13 Vgl. ebd., S. 222 ff.

14 Homann (2005), S. 12

15 Velasquez (2006), S. 8

16 Vgl. Heidbrink et al. (2011), S. 32

17 Vgl. Karmasin et al. (2008), S. 15

18 Vgl. Velasquez (2006), S. 9

19 Vgl. Ulrich (2005), S. 25

20 ebd. (2005), S. 25

21 Ulrich (2005), S. 25

22 Vgl. Ulrich (2005), S. 28 ff.

23 Vgl. Ulrich (2005), S. 35

24 Homann/Lütge (2005), S. 12

25 Vgl. Homann/Lütge (2005), S. 12

26 Velasquez (2006), S. 10

27 Vgl. ebd., S. 11

28 Audi (2009), S. 105

29 Vgl. Velasquez (2006), S. 12

30 Vgl. ebd., S. 12

31 Steinmann/Löhr (1991) in Pradel (o.J.), http://www.fernuni-hagen.de/PRPH/pradunt.pdf, letzter Zugriff 17.01.2012

32 Vgl. Kreikebaum et al. (2001), S. 6

33 Vgl. Homann/Lütge (2005), S. 14 ff.

34 Vgl. Karmasin/Litschka (2008), S. 23 f.

35 Vgl. Honneth (2011), S. 9, 35

36 Vgl. Honneth (2011), S. 11

37 Honneth (2011), S. 30, 40

38 Vgl. Karmasin/Litschka (2008), S. 23

39 Kants kategorischer Imperativ gilt als so unbedingt, dass alle Folgekalkulationen zurückstehen müssen. Notlügen sind also nicht erlaubt.

40 Nach dem Nationalökonom und Mitbegründer der Soziologie Max Weber ist die Erreichung guter Zwecke oft daran gebunden, sittlich bedenkliche Mittel einzusetzen (Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik).

41 Vgl. Ulrich (2008), S. 309

42 In Anlehnung an: Ulrich (2008), S. 309

3 Wirtschaftsethik in der Historie

3.1 Tugendethik in der Antike (Sokrates, Platon und Aristoteles)

Die mit „Ethik“ verbundene Frage nach dem richtigen Tun wurde bereits frühzeitig in der Menschengeschichte erörtert. Als Entscheidungshilfe für sittliches Handeln finden sich erste Ansätze bei den Sumerern (ca. 4000–3000 v. Chr.), die zu „Güte und Wahrheitsliebe, Gesetz und Ordnung, Freiheit und Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, Mitleid und Anteilnahme“ aufriefen.43 Die gleiche Intention spiegelt sich im alten Ägypten beispielsweise im Rahmen des dritten Gebotes „Handle und wandle recht und gerecht“44 wider.

Der Ruf nach ethischen Prinzipien ist demnach nicht neu. Die wahrscheinlich grundlegendste ethische Norm, die Goldene Regel, ist in der ganzen Welt zu allen Zeiten in ähnlicher Weise formuliert worden:

Der griechische Philosoph Thales antwortet um 600 v. Chr. auf die Frage nach der besten Lebensführung: „Wenn wir selbst nicht tun, was wir anderen übel nehmen.“ Analog führt der chinesische Weise Konfuzius um 500 v. Chr. als Lebensmaxime das Prinzip der Gegenseitigkeit an: „Was du selbst nicht wünschst, das tue keinem anderen an.“ Auch in dem Märchen vom Weisen Achikar, das im gleichen Jahrhundert in Babylon und Ägypten erzählt wurde, spricht der König Sanherib zu Naddan ben Achikar: „Mein Sohn, was dir schlecht scheint, sollst du deinem Genossen nicht antun.“45 Im Buddhismus heißt es im 6. Jahrhundert v. Chr.: „Verletze nicht andere auf Wegen, die dir selbst als verletzend erschienen.“46 Aus hinduistischen Überlieferungen des 4. Jahrhunderts v. Chr. erfahren wir: „Man soll sich nicht auf eine Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde.“47 Im Christentum lautet es: „Du sollst deinen nächsten lieben, wie dich selbst.“48 Jesus proklamiert in der Bergpredigt von Feindesliebe:49 „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“ Daraus entwickelte sich später „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“

Sokrates (469–399 v. Chr.) lehrte ein positives Menschenbild, da er die Meinung vertrat, niemand tue freiwillig unrecht.50 „Tue anderen nicht an, was dich ärgern würde, wenn andere es dir täten.“51 Zu den ethischen Pflichten des Menschen gehöre, Gutes zu tun. Einer seiner wichtigsten Leitsprüche lautete „Erkenne dich selbst“. Er beschäftigte sich ausführlich mit der Frage nach einer sittlich optimalen Gestaltung des menschlichen Lebens, die von seinem Schüler Platon (428–348 v. Chr.) und später Aristoteles (384–322 v. Chr.) weiter ausgeführt wurde. Aufgrund seiner Studien gilt Aristoteles als Begründer der „Ethik“ als philosophischer Disziplin.

Nach Platon existiert im Jenseits ein Reich ewiger unverwandelbarer Wesenseinheiten, die er Ideen nannte als Urbild, nach dem die Welt geformt wurde. Für ihn stellte das Gute das Ziel und den Ursprung alles Seins dar und galt ihm als Idee aller Ideen.52

Während Platon bezüglich der Frage nach dem „guten Leben“ die Idee des Guten (Ideenlehre) als Fundament des politischen Lebens betrachtete, ging Aristoteles einen Schritt weiter und fragte nach den Vermögen oder Tugenden, die eine Verwirklichung des für den Menschen Guten ermöglichen. Für Aristoteles strebt jedes Wesen nach einem ihm eigentümlichen Gut, in dem er seine Vollendung findet. Das Endziel des menschlichen Strebens sei Glückseligkeit (Eudämonie). Dabei zeige sich das Gute der Seele in den Tugenden. Einen Teil der Tugenden könne man selbst beeinflussen durch Ausübung der Vernunft und durch Klugheit. Den anderen, selbst kaum oder nicht beeinflussbaren Teil der Tugend gäbe die Gesellschaft durch Normen, Gewohnheiten und Tradition vor. Durch den freien Willen des Einzelnen könne sich jeder für das Gute entscheiden, wobei das Gute auch trainiert werden müsse.53

Für Aristoteles befasst sich die Ethik mit der Frage individueller Handlungen. Dabei bilden Ethik, Ökonomie und Politik für ihn eine untrennbare Einheit, die er „praktische Philosophie“ nannte.54 Aristoteles hinterfragte das alltägliche Handeln, überkommene Sitten und tradierte Gewohnheiten. Das menschliche Gute resultiere aus der Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft.55 Er betrachtete, welches Handeln das richtige, also vernünftige sei. Das oberste Gebot war das Gemeinwohl aller Bürger. Ziel des richtigen Handelns sei als höchstes Gut die Glückseligkeit, eingebettet in ein gutes, gelingendes Leben. Um dieses Ziel zu erreichen, bedürfe es als grundlegendem Mittel der Einübung moralischer Tugenden (Gerechtigkeit, Weisheit, etc.). Durch die Ausbildung in den Tugenden würde der Mensch in die Lage versetzt, sich in allen Lebenslagen gewachsen zu zeigen. Hierzu gehöre auch, einen Beitrag im guten Gemeinwesen zu leisten. Moralische Normen sind Teil der sozialen Ordnung. Es sei eine Staatskunst, die Bürger zur Tugend auszubilden, damit sie fähig und willig sind, Gutes zu tun.56 „Wenn auf der Erde die Liebe herrschte“, führte Aristoteles aus, „wären alle Gesetze entbehrlich.“57

Die antiken Philosophen vertraten weitgehend übereinstimmend die Ansicht, dass der Mensch ein politisches Wesen sei. Philosophie und Politik hingen eng zusammen.

Sokrates war dabei der Meinung, die Natur des Menschen sei so, dass es keine Gleichen geben könne. Er folgerte, somit könne es auch keine politische (demokratische) Idee von Gleichheit geben. Demokratie handele dementsprechend gegen die Naturgesetze. Für Platon bestand in einem Staat Gerechtigkeit, wenn der herrschende Stand, den er nicht anzweifelte, und sonstige Bürger in Harmonie leben. Er träumte von einem Idealstaat, der nie umgesetzt wurde, in dem kein Privatbesitz bestünde und Frauen und Kinder allen gemeinsam seien. Die Zeugung der Kinder sollte nach dem Kriterium der Auslese erfolgen.58

Aristoteles stimmte mit Platon überein, dass die Aufgabe des Staates in der sittlichen Vervollkommnung der Bürger liege. Anders als der Utopist Platon stützte sich Aristoteles in seinen Überlegungen auf empirische Daten, indem er 150 verschiedene Verfassungen der Welt analysierte. Aristoteles wollte in seinen Studien, anders als Platon, nicht den besten Staat, sondern den bestmöglichen finden. Er betrachtete den Menschen als ein von Natur staatsbildendes Wesen, das nach Gemeinschaft strebe, auch nach politischer. Das staatsformende Prinzip sei die Verfassung. Hierzu unterschied Aristoteles drei Extreme:

Königtum (negativ, wenn Entartung in Tyrannei),

Aristokratie als Herrschaft der Besten (negativ, wenn Entartung durch Herrschaft Weniger, die nicht zu den Besten gehören),

Volksherrschaft (negativ, wenn Abart Demokratie als Tyrannei des Volkes).

Aristoteles befürwortete die auf der Basis des Mittelstandes ruhende gemäßigte Volksherrschaft. Im Gegensatz zu Platon sprach er sich für den Erhalt von Familien und Privateigentum aus. Der Besitz sollte dabei aber allen zugänglich gemacht werden. Diesen modernen Ideen steht seine Grundauffassung entgegen, dass Sklaverei und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zur natürlichen Ordnung gehören, ebenso wie Gleichheit unter freien Männern.59

Die antike wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen („Ethos“) ging davon aus, dass menschliches Handeln grundsätzlich einer vernünftigen und theoretischen Reflexion zugänglich sei. Gerechtigkeit sei die Brücke zwischen dem Charakter des Einzelnen und der Gemeinschaft.60 Zu den Urformen menschlicher Verhaltensweisen in der Gemeinschaft gehörend, folgt die Goldene Regel dem Grundsatz der Gegenseitigkeit und wirkt so stabilisierend.61

Auch der ökonomischen Ethik liegt diese Logik zugrunde. Wenn die Goldene Regel auch aktuell gilt und die Aristotelische Ethik in ihrem Grundsatz bis heute anerkannt ist, gibt es in der jetzigen Gesellschaft bedingt durch den technischen Fortschritt (Rationalisierung, Datenschutz, Gentechnik etc.) zusätzliche Fragen, denen nachzugehen ist. Mit den Folgen der gesellschaftlichen Entwicklung beschäftigt sich die Philosophie der Neuzeit, angefangen mit dem Zeitalter der Aufklärung. Vorher wird jedoch auf die dazwischen liegende mittelalterlichen ethischen Ansätze eingegangen.

3.2 Ethik im Mittelalter (Scholastik)

Die Philosophie des Mittelalters wurde geprägt durch den Versuch Einzelner und ganzer Gruppen, sich in ihrem Leben denkend zu orientieren. Oft ging es um alltägliche Fragen, wie z.B. ob eine Monarchie besser als eine Volksherrschaft sei oder ob möglichst alle wie Mönche leben sollten. Auch wurde erörtert, ob Handel oder Kriegsdienst Sünde seien. Es wurde allgemein für Konflikte der Zeit nach Antworten gesucht.62

Die philosophische Lehre des Mittelalters wird Scholastik genannt und beginnt mit der Patristik (Zeit der Kirchenväter), die bis ca. 800 n. Chr. dauerte. Es handelte sich um eine philosophische und theologische Bewegung, die auf die Harmonie von Glauben und Vernunft abzielte. Die Ethik als Bestandteil der Scholastik wurde fast ausschließlich durch das Christentum in Europa geprägt. Neben dem Christentum wurden später im Laufe der Scholastik auch jüdische, ägyptische, babylonische und persische Einflüsse wirksam.63

Als Wegbereiter der auf die Patristik folgenden Frühscholastik (800– 1200 n. Chr.)64 holte Karl der Große Gelehrte aus ganz Europa zusammen. Äbte und Bischöfe erhielten den Auftrag, Schulen zu unterhalten. Mit dem folgenden Erstarken der Universitäten im Hochmittelalter profitierte Europa von der damals kulturell und wissenschaftlich überlegenen byzantinischen und islamischen Welt, deren Gelehrte Fortschritte in Philosophie, Medizin und Mathematik vermittelten.

Bis zum 11. Jahrhundert beschränkte sich das intellektuelle Leben auf die Klosterschulen, in denen eine Kultur des Schweigens herrschte. Mit der Klosterreformbewegung des 12. Jahrhunderts entstanden Kapitular- und Bischofsschulen, die in Städte eingebunden waren und deren Zentrum die Kathedralen bildeten. Gelehrt wurde zunächst in den Sprachkünsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und später auch Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.65 Neben dem Klerus beschäftigten sich einige andere gesellschaftliche Gruppen, wie vor allem Juristen und Ärzte, mit dem antiken Wissen und seiner Weiterentwicklung.66 Ethische Belange wurden im Wesentlichen im Rahmen der Metaphysik behandelt, die auch in die anderen Disziplinen wirkte. „Nur wenn man das wahre Glück von sinnlichem Genuss, das reine Denken von der Phantasievorstellung unterscheide[,] ... könne man Erleuchtung erfahren.“67 Der Mensch sei dazu da, um sich mit Hilfe der Höheren von seinen Leidenschaften zu reinigen, die Welt im Lichte ihrer Idealgründe zu betrachten und sich mit dem Einen zu vereinen.68 Das Wesen des Guten bestehe darin, sich zu verströmen.69 Das wahre Glück als das einzig verlässlich Gute sei nicht auf Erden zu finden, sondern im Jenseits als höchstes Gut.70