Etomi. Aufbruch - Jol Rosenberg - E-Book

Etomi. Aufbruch E-Book

Jol Rosenberg

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Beschreibung

Aus ihrer Gemeinschaft herausgeschleudert, erkunden die verwöhnte Städterin Lea, die unkonventionelle Ingenieurin Josa und der scheue Arbeitsklon Nori die ihnen unbekannte Außenwelt. Ihr Ziel ist es, Hilfe für die bedrohte Kuppelstadt zu finden. Wetterextreme und Intrigen reißen die Gruppe auseinander. Alleine müssen sie sich in der feindlichen Umgebung behaupten. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, nicht nur zu überleben, sondern wieder zueinander zu finden. Werden sie gemeinsam Menschen und Nichtmenschen retten können?

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Seitenzahl: 494

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Für alle, die um Hoffnung ringen.

Für Uli und Thea, meine Homebase

Inhaltswarnungen

Ableismus (besonders internalisierter), Schimpfwörter

Drogenmissbrauch

Alkoholmissbrauch

Exkremente

Erbrechen

Tod (erwähnt)

Gefangenschaft, Einzelhaft

Entführung

Folter (implizit)

körperliche Gewalt/Prügelei

PTBS, Flashbacks

Sexarbeit (erwähnt)

Speziezismus (erwähnt)

Schusswaffengebrauch (Gewehre, Blaster)

Kampf

Verletzungen, Unfall, Narben

Körperbehinderung (Prothesennutzung, Rollstuhlnutzung, Sehbehinderung)

Zwangsarbeit (benannt)

Nov 05 2370 12:24:11 [ZI Eos3] WARNING: Phase E eingeleitet. Team umbenannt in EA0d01 mit den Subjekten EA0d01:01 (ehemals E0d32:0D) und EA0d01:02 (ehemals A:0x0003A1). Störsubjekt OM7-312 entdeckt. Elimination angestrebt. Compliance von Team EA0d01 herzustellen. Erfolgswahrscheinlichkeit 31 %.

Leas Beine schmerzten vom langen Hocken. Der Wagen glitt ruhig ins Unbekannte, Gänge mit kühlen Lichtflecken zogen gleichförmig vorüber. Lea sah zu Nori, der trotz der Taschen zwischen ihnen dicht bei ihr kauerte und sich an der Reling der offenen Ladefläche festhielt. Er wirkte so angespannt, wie sie sich fühlte.

»Meinst du, es dauert noch lange?«, fragte sie.

Nori, der Schlachthausklon, den sie aus Aranus 3 mitgenommen hatte, antwortete nicht. Er hockte reglos, den Blick starr nach vorn gerichtet.

Immerhin war dieser Wagen offen und kein rollendes Gefängnis wie der Versorgungswagen, in dem sie Eos verlassen hatte. Lea umklammerte die Geländerstreben mit beiden Händen. Der Nachteil eines offenen Wagens bestand darin, dass jeder größere Holperer sie hinauswerfen konnte. Entsprach das der Vorstellung der Großen Mutter von Sicherheit? Sie zu transportieren wie Frachtgut? »Sie passt auf mich auf, sie passt auf mich auf, sie passt auf mich auf«, murmelte Lea. Wie winzig diese Ladefläche war. Sie konnten sich nicht einmal hinsetzen.

Wieder würde Lea alles hinter sich lassen, nicht nur Eos und Mari, ihre Mari, deren Tod nun schon anderthalb Jahre zurücklag, sondern auch Bora und Nelson und Milenda und die Kinder. Und Ruben und Dinesh. Noch nie hatte sie so viele Menschen vermisst. Lea schluckte gegen etwas Hartes im Hals an, aber was immer das war, es wollte nicht nach unten rutschen.

Endlich blieb der Wagen stehen.

»Steigen Sie aus!«, wies die Stimme des Assistenten sie an, ohne dass es von außen hörbar war.

»Wir steigen hier aus«, wiederholte Lea für Nori, erhob sich und schwankte.

Nori hielt sie und half ihr aus dem Wagen. Der glitt fast lautlos davon, kaum dass sie und die Taschen in der Haltebucht standen. Hier unten war Aranus so glatt und sauber wie oben nirgends: graue fleckenfreie Wände, ein ebenfalls grauer glatter Boden, alles kantig und gerade. Eine Tür öffnete sich und gab den Weg auf einen weiteren schnurgeraden Gang frei, schmaler diesmal. Lea nickte Nori zu und trat hindurch. Weiße Lichter leuchteten vor ihnen, der Boden glänzte makellos. Ihre Schritte hallten, etwas summte tief und gleichmäßig. Lea fröstelte.

»Folgen Sie dem Gang!«

Wenigstens die Stimme klang vertraut. Lea hielt sich daran fest, während sie ruhig einen Fuß vor den anderen setzte. Nichts und niemand begegnete ihnen. Was, wenn ihr zukünftiges Leben so sein würde: ein von der Großen Mutter bereitgestellter Gang, ausgeleuchtet und sauber, und sie, die immer geradeaus ging. Lea rang nach Atem. Er endete vor einer glänzend grauen Wand, in der bei genauem Hinsehen vertikale Fugen verliefen: eine Tür.

»Bitte legen Sie Ihr Gepäck in die Prüfeinheit und treten Sie einzeln in die Schleuse!«, forderte eine neutrale Automatenstimme.

Vor ihnen glitt ein Wandpaneel zur Seite und gab ein viereckiges Loch frei. Bevor Lea reagieren konnte, legte Nori die Taschen in die Öffnung und trat in eine Bodenmarkierung aus schwarzer Farbe, ein Quadrat. Der Klon stand genau im Zentrum des Farbfelds. Lea beobachtete, wie der Boden sich verschob, nach vorn glitt. Ein Teil der Wand schwebte zur Seite, Nori fuhr durch die Öffnung. Das Wandpaneel schloss sich lautlos hinter ihm.

Lea sprach halblaut: »Bitte passen Sie auf ihn auf! Sie haben es mir versprochen!«

Ihre Stimme hallte in dem leeren Raum nach. Sie hatte das Versprechen vergeblich eingefordert, das war Lea nur zu bewusst.

»Selbstverständlich.« Die Stimme des Assistenten in ihrem Kopf klang besänftigend. Vertraut. Lea starrte die Wand an, hinter der Nori verschwunden war. »Beruhigen Sie sich! Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Sie sind sicher.«

»Und Nori?«

»Ebenso.«

Eine Weile passierte nichts. Dann fuhr die Bodenplatte lautlos an ihren Platz zurück.

»Bitte legen Sie Ihr Gepäck in die Prüfeinheit und treten Sie einzeln in die Schleuse!«

Lea trat in das Viereck, der Boden fuhr ruckelfrei an, die Wand schwebte zur Seite. Mit klopfendem Herzen glitt sie in die Dunkelheit. Ein gelber Scannerstrahl erfasste sie, fächerte sich auf, wanderte über ihren Körper bis hinab zu den Füßen.

Die Stimme des Assistenten erklang im gesamten Raum: »Bitte atmen Sie ruhig. Der Testprozess nimmt nur wenige Minuten in Anspruch.«

Etwas zischte und klickte, ein blauer Lichtstrahl tastete über ihren Körper. Dann schob der Boden sie nach vorn durch eine weitere Tür. Ein karger Raum, nichts weiter als Boden, Decke und Wände. Nori stand in der Mitte, bewegungslos und aufrecht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Lea.

Er sah aus wie eben. Unverletzt.

Nori nickte knapp.

Der Raum erinnerte Lea an die medizinischen Einheiten in Eos: kühl, glatt, steril. Er schien auch in Nori Erinnerungen zu wecken. Nori stand noch steifer als gewöhnlich, von den Füßen bis zu den Fingerspitzen angespannt.

»Lea des Etomi, bitte entkleiden Sie sich und begeben Sie sich in die medizinische Einheit.«

Eine sich öffnende Tür gab einen Umkleideraum frei: eine schmale Bank an der Seite, einen Kleiderhaken an der Wand. Lea ging darauf zu, aber Nori packte ihren Arm, umklammerte ihn so fest, dass es schmerzte.

»Nein!«

Sie drehte sich zu ihm. »Was ist los?«

Noch nie hatte er sie von sich aus berührt. Lea sah in schreckgeweitete Augen.

»Lea des Etomi, bitte entkleiden Sie sich und begeben Sie sich in die medizinische Einheit!«

Lea wandte den Kopf zur Öffnung und obwohl sich ihr Hals zusammenschnürte, sprach sie mit fester Stimme: »Bitte erläutern Sie mir den Zweck der vorgeschlagenen medizinischen Untersuchung. Für uns beide hörbar, bitte.«

Nori hielt sie immer noch fest.

»Es handelt sich um eine Routine-Untersuchung. Sie soll sicherstellen, dass Sie und OM7-312 in gutem körperlichen Zustand sind. Diese Einheit kann eventuell vorhandene Abweichungen viel besser behandeln als die Transporteinheit.«

OM7-312. Die mit der Großen Mutter verbundenen Systeme nannten ihn immer noch nicht Nori. Lea sah auf seine Hand, die kräftigen Finger, die ihren Arm umklammerten. Er bemerkte ihren Blick, ließ los und trat einen Schritt zurück.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Nein.«

»Können Sie sicherstellen, dass Nori nichts passiert?«

»Sind Sie sicher, dass Sie OM7-312 mitnehmen wollen? Die Aufgabe entspricht nicht den für ihn vorgesehenen Parametern. Er wird Ihnen keine Hilfe sein.«

Nori stand da, steif und aufrecht, sein Gesicht leer und abweisend. Er musste wissen, dass sie kommunizierte. Dass es um ihn ging.

»Natürlich bin ich sicher!«, sagte Lea laut. »Ich möchte, dass Sie alles tun, um seine Sicherheit zu gewährleisten!«

Eine Weile blieb es still. Dann füllte die Stimme der Großen Mutter den Raum: »Hiermit wird die Aufnahme von OM7-312 in das Programm bestätigt. Das Team besteht somit aus OM7-312, Josa Massonde, Lea des Etomi und der unabhängigen Transporteinheit.«

»Vielen Dank!« Lea lächelte breit. Der Druck in ihrem Hals ließ etwas nach.

***

Nov 05 2370 14:47:13 [ZI Eos3] INFO: Subjekt OM7-312 in Team EA0d01 aufgenommen um Compliance von EA0d01:01 zu sichern. Entfernung von OM7-312 angedacht. Erfolgswahrscheinlichkeit: 33 %

***

»Lea des Etomi, bitte entkleiden Sie sich und begeben Sie sich in die medizinische Einheit!« Die Stimme erklang nun laut und in Leas Kopf. Und ungeduldig.

»Ist es nötig, dass wir beide untersucht werden?«

»Die Untersuchung ist Teil der gebotenen Fürsorge. Sie ist dringend angeraten.«

Lea sah Nori an. Immer noch stand er starr, die Arme sorgfältig an die Seiten gelegt, das Kinn waagerecht.

»Ich habe in Eos viele Untersuchungen gehabt«, erklärte sie ihm. »Danach wirst du dich sehr viel besser fühlen.«

Nori reagierte nicht.

»Wir sehen uns gleich, ja?«

Er starrte schweigend ins Leere.

Wie lange würde die Behandlung dauern? Wenn sie einen vollen Regenerationszyklus bekam, nahm das mehrere Stunden in Anspruch. Brauchen konnte sie ihn. Lea warf einen weiteren Blick auf Nori, suchte vergeblich nach seinem Blick. Dann trat sie in die Kabine. Die Große Mutter persönlich hatte mitgeteilt, dass er Teil des Teams sei. Das musste reichen.

***

Wenig später trat Lea nackt in eine Standarduntersuchungseinheit. Untersuchungs- und Operationstische wie dieser hatten in Eos zu ihrem Alltag gehört. Das hiesige Modell wirkte älter als die Einheiten in Eos: verblichener Kunststoff, zerkratzte Metalloberflächen. Lea legte sich in die vorgewärmte Mulde, der Deckel glitt über sie, geräuschlos, mit städtischer Perfektion. Die Einheit passte zu ihrem Körper. Einem städtischen Körper. Die Mulde würde zu klein für Nori sein. Oder für Josa.

Lichter huschten, Tastfühler bewegten sich über Leas Körper. Eine Nadel schob sich in Leas Armbeuge. Wie hatte sie das vergessen können? Sie rang um gleichmäßigen Atem, während sich Sonden in Körperöffnungen vorarbeiteten, um Gewebeproben und -abstriche zu nehmen. Nein, diesen Teil städtischen Lebens hatte sie wirklich nicht vermisst.

***

Lea lag mit geschlossenen Augen auf der Liege und wartete auf das Ergebnis der Analysen. Hoffentlich hatte Nori sich beruhigt. Wovor fürchtete er sich so? Ganz sicher nicht vor Sonden und Nadeln.

»Die Untersuchung zeigt, dass Sie in einem suboptimalen Zustand sind«, sagte die Stimme, die Lea schon im Flur gehört hatte. »Sie haben Anzeichen von Mangelversorgung mit Selen, Zink und Eisen, Ihnen fehlen die Vitamine B12, K und C. Außerdem zeigen Sie eine deutlich zu hohe Chemikalienbelastung mit resultierender Funktionseinschränkung der Leber und Niere.« Kein Wunder. »Ich schlage eine Dekontamination Ihres Blutes und Ihrer Zellen vor. Außerdem plädiere ich für eine umfassende Regenerationsbehandlung von Haut und Zellen, inklusive aller Organe.«

»Haben wir Zeit dafür?« Draußen wartete Nori.

»Natürlich. Die vorgeschlagenen Behandlungen werden dringend empfohlen.«

Lea unterdrückte ein Seufzen. Sie würde sich sehr viel besser fühlen, das wusste sie.

»Erklären Sie sich mit der vorgeschlagenen Behandlung einverstanden?«

»Kann ich sie mir leisten?«

»Sie gehört zum kostenfreien Service für alle Teammitglieder.«

Das umfasste auch Nori. So, wie er an Gewicht verloren hatte, konnte es ihm nicht gut gehen.

»Ich erkläre mich mit der vorgeschlagenen Behandlung einverstanden.«

Eine Atemmaske senkte sich auf ihr Gesicht und pustete Lea frische, wohlriechende Luft in die Nase. Unwillkürlich musste sie lächeln: Dieses Eos hatte sie vermisst. Fast jeden Tag! Wenig später schlief sie.

***

Stunden später trat Lea wieder ins Vorzimmer.

»Assistent, wo ist Nori?«

»OM7-312 befindet sich in medizinischer Behandlung.«

»Welche Behandlung?«

»OM7-312 benötigt eine Dekontamination und einen Regenerationsprozess. Außerdem ist seine Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt, was einige chirurgische Anpassungen erfordert.«

»Hat er eingewilligt?«

»Das ist nicht von Belang.«

»Sie haben versprochen, auf ihn aufzupassen!«

Die Stimme der Großen Mutter antwortete Lea: »Das tue ich.« Pause. »Daher habe ich die Ressourcen bereitgestellt, um die nötigen Anpassungen vornehmen zu lassen. Der Körper eines Schlachthausklons ist nicht darauf ausgelegt, Aranus 3 zu verlassen.« Sie klang wie im Erziehungszentrum: bestimmt und unverrückbar.

»Mein Körper ist auch nicht darauf ausgelegt, Eos zu verlassen!«

»Sie sollten aufhören, sich mit ihm zu vergleichen. Aber natürlich haben Sie recht. Daher haben auch Sie die nötigen Anpassungen erhalten. Schließlich dürfen Sie nicht scheitern.«

Lea starrte die Tür zum Umkleideraum an. »Ich bin nicht einmal gefragt worden!«

»Das war nicht nötig. Sie haben die gestellte Aufgabe übernommen, daher bekommen Sie alles, was Sie zu deren Erfüllung brauchen.«

Sie atmete tief durch. In Eos waren die Fragen eine Farce gewesen, ein Schauspiel. Aber dass die Große Mutter selbst dies nicht mehr für nötig hielt …

»Was sind das für Anpassungen?«, fragte Lea.

»Modifikationen von Lungenfunktion und Hautbeschaffenheit. Sie werden mit Luftverschmutzung und UV-Strahlung umgehen müssen.« Wahrscheinlich, ja.

»Ich habe OM7-312 auf Ihren Wunsch ins Team aufgenommen. Aber ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass das nicht ratsam ist. Er wird Ihnen nicht nur keine Hilfe sein, sondern den Erfolg des Teams gefährden. Er ist nicht wie Sie.«

»Wie soll er uns schaden können?«

»Seine reine Anwesenheit stellt ein Risiko dar.«

»Warum?«

»Weil er offensichtlich ein fehlerhaftes Exemplar ist. Eine ungewollte Abweichung.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Bei OM7-312 handelt es sich um eine für schwere, sich wiederholende körperliche Arbeiten optimierte Einheit auf der Basis menschlichen Gewebematerials.«

»Ein Klon.«

»Das Ergebnis jahrzehntelanger genetischer Modulationsprozesse plus der Anwendung modernster Techniken zur körperlichen Optimierung. Jede Person, die dieses Mitglied des Teams sieht, wird wissen, was es ist.«

Lea schnickte mit dem Handgelenk. Das vertraute Gesicht ihres Assistenten erschien.

Nelson hatte ihr das Gleiche erklärt. Trotzdem war es etwas anderes, es von der Großen Mutter zu hören. Nein. Vom Assistenten. Auch wenn er klang wie die Große Mutter. Sie beschloss, die Enge in ihrem Hals zu ignorieren.

»Wenn Sie nicht wollen, dass er als Klon erkannt wird, können Sie ihn verändern«, sagte Lea. »Kosmetische Operationen sind in Eos Teil des normalen Angebots medizinischer Einheiten.«

»Das wäre Ressourcenverschwendung. Ich möchte, dass Sie wissen, was Sie da fordern. Klone der 27. Generation haben weitreichende Modifikationen ihrer körperlichen und geistigen Funktionen. Das führt zu einer massiv erhöhten körperlichen Leistungsfähigkeit unter den vorgesehenen standardisierten Bedingungen. Die Leistungsfähigkeit und kognitive Kapazität der Einheiten unter nicht standardisierten Bedingungen ist jedoch unklar. Es gab hierzu keinerlei Tests. Hinzu kommt die bereits bemerkte Abweichung von OM7-312 von dem für seine Generation vorgesehenen Verhalten. Sie haben die Einheit aus ihrem Umfeld entfernt. Niemand weiß, wie sie darauf reagieren wird.«

»Das habe ich«, gab Lea zu. Es war ein Fehler. Aber sie würde ihn ausbügeln.

»Es war nicht die Idee der Einheit selbst?«

Einheit. Das klang, als sei Nori eine Maschine.

»Nein«, antwortete Lea.

»Und wer hat OB4-607 entfernt?«

Die Große Mutter würde keine gegebene Antwort vergessen. Lea schwieg.

»Wer?«

»Das weiß ich nicht.«

»Offensichtlich funktioniert die Routine zur Kontrolle von Abweichungen nicht, ich werde mich darum kümmern. Ihre Aufgabe ist die Mission, die vor Ihnen liegt. OM7-312 Bedingungen auszusetzen, unter denen seine Funktionsfähigkeit nicht verlässlich ist, erscheint nicht ratsam. Die vorgenommenen Untersuchungen zeigen deutlich, dass seine Leistungsfähigkeit unter den vom Optimum abweichenden Bedingungen gravierend gelitten hat. Es ist davon auszugehen, dass dies eine Beeinträchtigung seines psychischen Wohlbefindens nach sich zieht.«

Lea schluckte. Als schere sich die Große Mutter um das Wohl von Klonen!

»Das ist nicht zu übersehen«, sagte Lea. Auch wenn er sich nie darüber beschwert hatte. »Ihm fehlte die richtige Nahrung. Sie können sie bereitstellen. Oder sein Verdauungssystem an menschliche Nahrung anpassen.«

»Eine Anpassung seines Verdauungssystems ist nicht ohne weiteres möglich. Die Aufgaben, die auf Sie zukommen, gehören nicht zum Arbeitsspektrum von Klonen.«

»Nori kann sich anpassen.«

»In unvorhergesehener Weise, ja.«

Lea zwang sich, ihren Ärger zu verbergen. Wie oft musste sie das besprechen?

»Was sind das für Abweichungen, von denen Sie sprechen?« Es gelang ihr, liebenswürdig zu klingen.

»Können Sie mit dem Begriff Neurodiversität etwas anfangen?«

Lea schüttelte den Kopf.

»Kurz gesagt geht es darum, dass Menschen und verwandte Einheiten eine Vielfalt aufweisen, die nur teilweise kontrollierbar ist. Trotz genauer genetischer Auslese gibt es immer wieder Abweichungen, die den vorgesehenen Parametern nicht entsprechen. Auffälligkeiten. Sie sind eine solche Abweichung. Ruben war es ebenso.«

»Und Nori auch.«

»Ja. Abweichungen ermöglichen Flexibilität. Aber ihre Unkontrollierbarkeit birgt ein Risiko. Ein Klon ist einem Menschen in körperlicher Hinsicht weit überlegen. Wenn es zu psychischen Instabilitäten kommt, wird er zur Gefahr für das gesamte Team.«

Das traf nicht nur auf Nori zu. Auch Josa war Lea körperlich haushoch überlegen.

»Es gibt keinerlei Anzeichen für Aggressivität bei Nori«, stellte Lea heraus. Sie selbst verhielt sich viel aggressiver. Sie hatte sogar zweimal geflucht.

»Das kann sich schnell ändern.«

Lea schüttelte den Kopf. Eine nicht überprüfte Behauptung, das musste es sein. »Sie sagen, dass auch Ruben und ich Abweichungen sind. Das heißt, Sie haben uns gezielt für dieses Team ausgesucht, weil wir … anders sind?«

»Das ist korrekt. Nur deshalb wurde Ihre Aufzucht legitimiert. Zu starke Diversität bereitet zwar im Alltag Probleme, ist aber in Sondersituationen mitunter förderlich.«

Lea schluckte wieder, ihr Mund war trocken wie ein Kleid, das frisch aus dem Reinigungsschrank kam. Dass ihre Andersartigkeit Vorteile haben könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Nori passte also hervorragend ins Team.

»Ich danke für die Aufklärung.«

»Die Aufnahme von OM7-312 minimiert den Komfort für die übrigen Teammitglieder. Sie erfordert einen Umbau der Transporteinheit und verzögert die Abreise.« Die Große Mutter machte eine Pause. »Es ist möglich, die getroffene Entscheidung zu revidieren. Jetzt oder später. Jederzeit.«

Auch wenn Lea das Gefühl hatte, dass die Enge in ihrem Hals ihr fast die Luft nahm: Es gab hier einen Spielraum. Und den würde sie nutzen! Die Große Mutter verhandelte mit ihr, genau wie die Ingenieurinnen Josa und Bora es vorhergesagt hatten.

»Von was für einer Verzögerung sprechen wir? Was braucht Nori?«

»Wir sprechen von einer Verzögerung von voraussichtlich 36 Stunden. Und von der Bereitstellung spezieller Nahrung, einer Umprogrammierung der in der Transporteinheit enthaltenen medizinischen Einheit sowie dem Einbau eines Kompartments.«

»Ein Kompartment?«

»Zur Überwachung seiner Körperfunktionen und Behandlung von Verletzungen, wie sie unter optimaler Auslastung seiner Fähigkeiten passieren.«

Niemand würde Nori wieder in einen Schlachthof schicken. Aber wenn die Große Mutter meint, dass er ein Kompartment braucht … »Wenn ich richtig informiert bin, ist die Transporteinheit ohnehin nicht abfahrbereit.«

»Das ist korrekt.«

»Kann unsere Sicherheit hier garantiert werden?«

»Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, ja. Als Gegenleistung für mein Zugeständnis erwarte ich Ihre volle Kooperation. Bitte nutzen Sie die Zeit, um sich mit der Transporteinheit vertraut zu machen!«

»Natürlich. Ich werde alles tun, was nötig ist.«

Nori starrte auf die Tür. Glatt und grau. Lea hatte keine Angst. Sie war einfach hindurch gegangen. Langsam ging er darauf zu.

»Stehenbleiben!«

Nori gehorchte. Er kannte diese Stimme. Unwillkürlich richtete er sich auf und presste die Hände an die Seiten.

»OM7-312. Warten!«

Das System würde ihn doch eliminieren. Jetzt. Vielleicht hatte der Mensch ihn verraten. Nein. Das System hatte gewartet, bis der Mensch nicht mehr zusah. Lea hatte Nori schützen wollen, als Obee gestorben war. Wenn er hier starb, würde sie es nicht sehen. Nori konnte sauber sterben. Ordentlich. Er stand aufrecht und reglos. Sein Herz schlug schnell, die Wörter im Kopf kamen zum Stillstand. Nori hätte sie gern geschmeckt, ein letztes Mal gefühlt. Aber er traute sich nicht. Auch wenn die Wörter sich jetzt versteckten: Sie waren seine. Niemand würde sie ihm nehmen.

Sehr lange passierte nichts. Gelegentlich klickte etwas. Dann bekam das Hintergrundsummen einen anderen Ton, wurde höher und lauter. Nori stand und wartete, sein Herz schlug und schlug und schlug. Wie in der Ausbildungszeit. Nur dass er damals Teil einer langen Reihe von Klonen gewesen war. Nun wartete er allein.

Endlich öffnete sich eine Tür. Nicht die, durch die Lea gegangen war, sondern eine daneben.

»Vortreten!«

Nori starrte die offene Tür an. Es war kein Mensch hier. Niemand. Das System konnte tun, was es wollte. Es würde tun, was es wollte. Nori wollte weglaufen. Seine Beine gehorchten nicht. Sie standen still. Die Arme drückten sich dagegen. Still.

»Vortreten!« Die Stimme drängte.

Noris Beine bewegten ihn. Durch die Tür. Weglaufen nützte nichts. Weglaufen brachte nur Schmerz.

»Ausziehen!«

Das System redete anders mit Menschen. Freundlicher. Aber er war kein Mensch. Die Stimme erinnerte ihn daran.

Nori zog die Menschenkleidung aus. Er faltete Hose und Oberteil, platzierte beides auf der Bank. Die Unterwäsche schichtete er sorgfältig darauf. Als er sich aufrichtete, glitt eine andere Tür zur Seite.

»Vortreten!«

In dem kleinen Raum stand lediglich ein Podest in der Mitte. Ein Podest mit einer Kiste. Nori starrte sie an. Das war es also. Sauber und ordentlich. Sein Herz schlug und schlug. Es wollte weiter schlagen. Er wollte, dass es weiter schlug.

»Kompartment betreten!«

»Nein.«

Das System schwieg einen Moment.

»Kompartment betreten!«

Nori blieb stehen. Sein Herz klopfte hart in der Brust. Schweiß rann ihm über die Stirn. Nein. Er würde nicht folgen. Das war vorbei. Er war aus dem Takt geraten und auch wenn es das Letzte war, was er tun konnte: Er würde nicht gehorchen.

Nori sah die kleine Drohne. Er wich ihr nicht aus. Drohnen konnte man nicht ausweichen, sie flogen zu schnell. Das wusste er aus dem Aufzuchtzentrum. Eine Nadel bohrte sich in seinen rechten Oberarm. Er spürte, wie sein Körper sich änderte. Nicht mehr ihm gehörte. Die Beine gaben unter ihm nach. Er fiel. Etwas griff nach ihm, kalt, metallisch, dann sank er in Dunkelheit. So ist es also zu sterben.

Es fühlte sich falsch an, ohne Nori weiterzugehen. Als habe sie ihn verraten. Lea dachte an Obee. Daran, wie beunruhigend es für Nori gewesen sein musste, in ein Gesicht zu sehen, das aussah wie das eigene. Und das tot war, leer. Leerer als leer. Die Große Mutter hatte versprochen, sich um Nori zu kümmern. Und wenn sie entschied, ihr Versprechen zu brechen … nein. Die Große Mutter brach Versprechen nicht. Sie sagte nicht immer die Wahrheit, aber sie hielt Zusagen ein. Nori ging es gut. Und es würde ihm bald noch besser gehen.

Lea folgte dem glänzend sauberen Gang, der für sie erleuchtet wurde und hinter ihr in Dunkelheit versank, bis zu einer kleinen Tür, die sich geräuschlos öffnete. Schon am Hallen ihrer Schritte erkannte sie die Größe des Raumes, den sie nun betrat. Einzelne Lichtpunkte ließen einen Saal erahnen, groß wie die Festsäle in Eos. Weiter hinten stand ein kantiges, riesiges Etwas mit Reifen, so groß und rund, wie Lea sie noch nie gesehen hatte.

»Ist das …«

»… die Unabhängige Transporteinheit. Es werden noch Einbauten vorgenommen, aber Sie können sie bereits betreten und mit ihr Kontakt aufnehmen.«

Kontakt aufnehmen? Lea betrachtete verspiegelte Glasscheiben und silberglänzenden Lack, in dem sich die Deckenbeleuchtung spiegelte. Etwas surrte. Lea zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter ihr hatte sich eine Klappe in der Wand geöffnet. Leas Taschen purzelten in einen bereitstehenden Wagen. Der Wagen umkreiste Lea und hielt auf das Gefährt zu, an dessen Seite sich eine Rampe zu senken begann. Der Wagen verschwand im Inneren der Transporteinheit.

In Leas Kopf ertönte das leise Ping, das eine externe Kontaktaufnahme anfragte. Lea gab ihre Zustimmung.

»Worauf warten Sie?« Die Stimme war tief und volltönend.

»Wer sind Sie?«

Die Lichter des Fahrzeuges flackerten kurz. »Ich bin Ihre Unabhängige Transporteinheit, kurz UTE. Ich freue mich darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

In der Tür der Transporteinheit erschien der nun leere kleine Wagen. Er war noch nicht am unteren Ende der Rampe angekommen, als eine hagere Gestalt in die Türöffnung trat.

»Alles in Ordnung da drüben?«

»Josa!« Lea war noch nie so froh gewesen, sie zu sehen. Sie eilte auf die Ingenieurin zu. »Ich glaube schon.«

»Dann sieh dir das an! Wir haben einen Wahnsinnswagen! Inklusive KI! Sie ist etwas vorlaut, aber man kann wohl nicht alles haben.«

***

Wenige Minuten später musste Lea zugeben, dass Josa Recht hatte. UTE war eine Ansammlung puren Luxus’: zwei Schlafkabinen, eine Sanitärkabine, eine eigene medizinische Einheit, ein Zubereiter und dazu eine autarke KI, die in Verbindung mit der Großen Mutter stand, aber kein Teil von ihr war. Lea war sich nicht sicher, was das hieß, aber es begeisterte Josa, also war es wohl gut. UTE informierte sie über die Größe der Wassertanks, über die Energieversorgung – neben Solarumwandlern besaß UTE eine eigene Elektrolyseeinheit zur Herstellung von Wasserstoff für Brennzellen – und ihre Möglichkeiten, Proben zu entnehmen und zu analysieren.

»Was denn für Proben?« Lea hatte die Frage an Josa gestellt, aber UTE antwortete.

»Alles, was zur Versorgung meiner Insassen gebraucht wird: Wasser, Boden, Luft, organisches Material.« UTEs Stimme erklang nun im Innenraum.

Lea hatte nicht die geringste Idee, wozu sie das brauchen sollten. Beeindruckend klang es allemal.

»Verstehe ich es richtig, dass wir einen weiteren Passagier aufnehmen?«, fragte UTE.

»Ja«, sagte Lea.

»Ja?« Josa warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Er heißt Nori. Und ist noch in der medizinischen Einheit. Hattest du auch eine Kontrolluntersuchung?«

»Und was für eine! Wenn wir in Aranus regulär Zugriff auf derartige Versorgung hätten, wäre das Leben um einiges leichter. Gehört das in Eos zum Standard?«

»Ja.«

»Dachte ich mir.« Josa nickte grimmig. »Die haben mich sogar gefragt, ob ich meinen Arm loswerden will.«

»Loswerden?«

Josa lachte. »Nachwachsen lassen. Angeblich geht das. Aber ich bin mit meiner Prothese zufrieden. Wenn ich die zugesagten Ersatzteile bekomme, bin ich sogar mehr als nur zufrieden.« Sie hob den Arm hoch und wackelte mit den Fingern, ein beeindruckender Tanz, der Lea ein ungutes Gefühl im Magen verursachte, weil er nicht dem entsprach, was eine Hand normalerweise tun sollte. Lea sah zu, wie sich die Hand fingerwackelnd um 360 Grad drehte und wieder zum Stillstand kam.

»Praktisch nicht?« Josa grinste. »Wen hast du mitgebracht?«

Lea lächelte breit, auch wenn sie wusste, dass das bei Josa ebenso wenig bewirkte wie bei Bora. »Nori. Er … ist aus Aranus 3.«

»3beta.«

»3.«

Josa zog die Brauen hoch. »Ein Klonarbeiter?«

»Ja. Ich war … habe ihn aus dem Schlachthofdistrikt mitgenommen, ohne zu bedenken, wo er bleiben kann. Es schien das Beste, ihn mitzunehmen.«

Josas Brauen hingen immer noch oben, lugten vorwitzig über den Brillenrand. »Ein Schlachthausklon! Ich denke, wir bekommen ein fähiges Team und was bringt sie mit? Einen Schlachthausklon!«

Lea war froh, dass sich in diesem Moment UTE meldete und sie davon abhielt, etwas Unbedachtes zu entgegnen: »Ich werde die nötigen Anpassungen vornehmen. Da meine Systeme nicht fertiggestellt sind, zieht das keine großen Verzögerungen nach sich. Sie können die Zwischenzeit für Bildungsprogramme nutzen. Josa, Ihre Aufgabe sind die technischen Einzelheiten meiner Systeme. Lea des Etomi, Ihre Themen sind Sicherheit und Diplomatie. OM7-312 wird meine Erkundungs- und Scannersysteme unterstützen.«

»Moment, wer?«

»Nori«, antwortete Lea, »bitte nennen Sie ihn Nori. Und mich Lea.«

»Sicher. Ich schlage außerdem vor, dass wir uns duzen und Sie mich UTE nennen.«

»Sehr gut«, sagte Josa. »Du hast Bildungsprogramme für uns?«

»Natürlich. Ich habe mich auf meine Aufgabe vorbereitet. Ich bin die Einzige im Team, die sich bereits in Estopa bewegt hat. Endlich geht es los! Ich hasse Untätigkeit!«

Eine ungeduldige Transporteinheit. Lea fragte sich, wer sie so programmiert hatte.

»Was ist meine nächste Aufgabe?«, fragte Lea schnell. Sie wollte jetzt keine Fragen zu Nori. Obwohl ihr klar war, dass diese kommen würden. Spätestens, wenn er da war.

»Du lernst Subvokalisation. Genau wie Josa und Nori.«

»Sub… was?«

»Die Kunst, mit mir oder deinem Assistenten zu kommunizieren, ohne laut zu sprechen. In einem zweiten Schritt wirst du auch die Lippenbewegungen einstellen.«

»Warum soll ich das lernen?«

»Es ermöglicht dir, unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne dass andere es merken. Wir können nicht davon ausgehen, dass alle Menschen uns freundlich gesinnt sind.«

Lea tauschte einen Blick mit Josa. Die wirkte nicht überrascht.

»Gibt es auch ein MobKomm für den Klon?«, fragte Josa.

»Nori«, korrigierte Lea. »Er heißt Nori.«

Josa sah sie an, die Stirn in Falten gelegt. Die Falten liefen um die Narbe herum, als schwimme diese auf der Stirn der Ingenieurin, eine faltenfreie Insel, die stets unbewegt blieb. Lea erwartete eine abfällige Äußerung. Aber die kam nicht. Stattdessen sagte UTE: »Natürlich. Jede Person, die mit mir reist, bekommt ein mobiles Kommunikationsgerät. Anders könnte ich meine Passagiere nicht optimal betreuen.«

Lea fragte sich, wie diese Betreuung wohl aussah. Den Gedanken an zwei Überwachungssysteme fand sie alles andere als angenehm. »Was genau ist meine Aufgabe? Was bedeutet Sicherheit und Diplomatie?«

»Ihr alle werdet eine Einführung bekommen, wie ihr euch draußen bewegt. Du wirst dich ausführlicher damit beschäftigen. Da du die zentrale Person des Teams bist, hat die Zentralintelligenz mich angewiesen, dir besonderen Schutz zukommen zu lassen.«

»Die zentrale Person?« Josa klang empört. »Und ich bin mal wieder nur die Aufsteigerin, oder wie?«

»Die Botschafterin von Eos ist das wichtigste Teammitglied«, erklärte UTE. »So sagt es die ZI.«

»Du warst schon einmal draußen?«, fragte Lea. Ein plumper Versuch, das Thema zu wechseln.

»Mehrfach, ja. Seit meinem letzten Ausflug habe ich eine Generalüberholung genossen.« Das Display an der Wand leuchtete auf. »Was ihr hier seht, ist das unmittelbare Umfeld von Aranus, das wir durchfahren werden.«

Josa trat an die Karte. »Sind das Waffensysteme?«

»Das ist korrekt. Aranus ist gut geschützt. Neben Waffen gibt es ein Störfeld. Das schützt den Komplex vor Zugriffen von außen. Es hat den Nachteil, dass jeder Datenfluss massiv behindert wird. In beide Richtungen.«

Josa biss sich auf die Unterlippe. »Das erklärt einiges.«

»Wir müssen uns weit genug von Aranus entfernen, um Kontakt zum Satellitennetz aufzunehmen. Erst dann bekommen wir ein Bild von der aktuellen Situation draußen.«

»Das klingt nach häufigen Veränderungen.«

»In der Tat. In den letzten zwölf Jahren hat allein das Konsortium, das die Führung von Estopa stellt, viermal gewechselt. Hinzu kommen zahlreiche Wechsel innerhalb desselben Konsortiums.«

»Konsortium?«

Josa verstand offenbar genauso wenig wie sie.

»Estopa ist eine Oligarchie«, erklärte UTE. »Mit einer Gruppe von Personen an der Macht. Meistens handelt es sich um große Familienverbünde. Estopas politisches System ist von Streitigkeiten dieser Verbünde geprägt. Das offizielle Staatsgebilde muss zwar ernst genommen und beachtet werden, es hat aber meiner Erfahrung nach nur eingeschränkte Verfügungsgewalt. Die eigentlichen Machtlinien verlaufen dahinter.«

»Und das sollen wir navigieren!« Die Ingenieurin stöhnte.

»Ihr habt ja mich.«

Lea fing Josas Blick auf. Offenbar fand nicht nur sie selbst diese KI etwas eigenwillig.

»Machen wir mit der Systemeinführung weiter?«, fragte Lea.

»Selbstverständlich. Lea, hier ist der Zugriff auf dein Lernprogramm!«

***

Lea war froh, als Josa wenige Minuten später das Fahrzeug verließ. So konnte sie sich in Ruhe mit UTEs Systemen vertraut machen. Für alles und jedes lagen ausführliche Anleitungen vor. Lea zweifelte trotzdem daran, dass sie in einer Stresssituation in der Lage sein würde, all diese Dinge zu nutzen.

»Die meisten meiner Systeme bediene ich automatisch. Die Anleitungen brauchst du nur, wenn meine KI ausfällt. Womit glücklicherweise nicht zu rechnen ist.« Lea richtete sich unwillkürlich auf, als die volltönende Stimme in ihrem Kopf erklang. »Ist unmittelbarer Kontakt dir unangenehm? Du bist doch einen virtuellen Assistenten gewohnt, oder nicht?«

»Ja.« Aber Lea hatte keine Lust auf eine weitere Stimme in ihrem Kopf. »Stellst du die Verbindung über den Armreif her?«

»Aktuell ja. Ich benutze deine Verbindung zu den Systemen von Aranus. Ich werde in den nächsten Tagen eine von diesen Systemen unabhängige Verbindung über mein Bordnetz etablieren. Wir können uns nicht darauf verlassen, immer Zugriff auf ein externes Netz zu haben.«

Josas Stimme drang gedämpft von außen herein. Offenbar sprach sie über ein MobKomm mit UTE.

»Möchtest du die Schlafkabinen sehen?«

»Gern.«

Lea öffnete die Tür. Beide Schlafkabinen hatten übereinanderliegende, in die Wand eingelassene Betten. Auch die Schränke schlossen mit den Wänden ab. Daneben gab es in jeder Kabine einen winzigen ausklappbaren Tisch.

»Ich werde eine Schlafkabine für Noris Bedürfnisse modifizieren und schlage vor, dass du und Josa diese hier teilt.«

»Einverstanden.«

***

Den Rest des Tages verbrachte Lea mit dem Lernprogramm. Es passte sich Leas Vorwissen und Tempo an und leitete sie durch den Lernstoff, nicht ohne auf Pausenzeiten hinzuweisen. Genauso wie die Programme in Eos. Mit dem Unterschied, dass UTE viel mehr Informationen vorlagen als der Großen Mutter. Oder hatte die Große Mutter ihr das vorenthalten?

***

Am Abend trat Lea an den Zubereiter. Es gab tatsächlich all die Gerichte, die sie in Eos geliebt hatte. Josa sah zu, wie Lea ein Menü wählte und Essen aus der Ausgabeklappe nahm.

»Ist es nicht möglich, frisch zu kochen?« Die Ingenieurin beäugte skeptisch das leuchtendgrüne Viereck auf Leas Teller.

»Eine Küche steht mir nicht zur Verfügung«, antwortete UTE.

»Nicht? Wieso keine Küche samt Köchin? Wenn ich hier schon die Scheiße anderer Leute wegräumen soll, will ich wenigstens ordentlich essen.«

Scherzte sie? Die Ingenieurin wirkte, als sei sie wütend und belustigt zugleich.

»Ich kann eine mobile Kochstation anfordern. Wenn es die Witterung zulässt, kannst du sie draußen benutzen«, schlug UTE vor.

***

»Das Angebot nehme ich gern an.«

Leas Assistent verordnete ihr am nächsten Tag ein Sportprogramm, dem sie in der großen Halle nachging. Erstaunt stellte sie fest, dass Josa sich ohne Einladung dazu gesellte. Gemeinsam folgten sie den Anweisungen des Assistenten. Gegen Mittag brachte ein Transportwagen einen riesigen viereckigen Kasten. Josa sah zu, wie zwei Montageroboter ihn vom Wagen hoben und damit in UTE verschwanden.

»Ein einzelnes Kompartment. Für den Klon.« Josa klang skeptisch.

»Es erlaubt seine optimale Versorgung«, antwortete UTE.

»Warum genau ist der eigentlich hier?« Josa fixierte Lea, als müsse sie deutlich machen, wem die Frage galt.

»Weil er sonst nicht mehr leben würde.« Lea richtete sich auf. Sie hatte die halbe Nacht wachgelegen und nachgedacht, was sie sagen konnte. »Er ist Teil unseres Teams und hat ein Recht auf höfliche Behandlung.«

»Das beantwortet meine Frage nicht. Warum ist er hier? Und nicht an seinem Arbeitsplatz?«

Lea schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Aber Josa schien dagegen genauso immun wie Bora. »Er hat mir geholfen und ich habe mich revanchiert. Leider kann er in Aranus 3beta nicht bleiben. Und auch nicht in Aranus 1-11. Darum bat ich um seine Aufnahme ins Team.«

»Ein Klon hat dir geholfen?«

»Er hat mein Leben gerettet.«

Josa biss sich auf die Lippe. »Er war in 3beta und 1-11.«

»Ja.« Lea wusste, dass das nach aranischen Maßstäben ein Ding der Unmöglichkeit war.

»Verstehe.«

Verstehe? Lea wagte es nicht, Josa anzusehen. Konnte es wirklich so einfach sein?

***

Nori kam am nächsten Morgen. Er trat in den Hangar, ging einige Schritte in den Raum hinein und blieb stehen. Sein Blick schweifte durch die Halle und erfasste Lea. Bewegungslos starrte er zu ihr herüber.

Sie eilte die Rampe hinunter auf ihn zu. Erst als er abwehrend die Hände hob, blieb sie stehen. Sein Gesichtsausdruck war abweisend. Lea hörte, wie Josa hinter ihr in die Luke trat, während sie selbst versuchte, sich zu entscheiden, ob Nori abweisender wirkte als sonst oder nicht.

Er stand da, die Hände erhoben, und starrte an Lea vorbei. Er wirkte verkrampft, eine Anspannung, die sich auf Lea übertrug und der sie am liebsten entflohen wäre.

Eine Weile schwiegen sie. Lea suchte nach den richtigen Worten und stellte fest, dass ihr keine einfielen. Dann kam Josa die Rampe herunter und trat neben Lea.

»Du bist also Nori.« Sie sah ihn an. Sein Blick erfasste Josa, spritzte zur Seite. »Ist er immer so?«

Lea schüttelte den Kopf. Er war angespannter als sonst, daran bestand kein Zweifel. »Nori? Ist alles in Ordnung?« Lea sah ihn direkt an. Er sah an ihr vorbei, dann wanderte sein Blick, saugte sich an ihrem fest. Eine Weile starrten sie einander schweigend in die Augen.

»Du … wusstest … nicht.«

»Was wusste ich nicht?«

»Die … Maschine.«

»Die medizinische Einheit?«

»Sie hat … mich … aufgeschnitten.«

Er sah normal aus. Gesund. So wie sie selbst auch. Dann begriff sie.

»Ich bin auch operiert worden«, erklärte Lea. »Ohne vorherige Information. Anscheinend ist das in dieser Situation das normale Vorgehen.«

»Was?« Josa sah von Lea zu Nori und wieder zurück. »Warum das?«

»Notwendige Anpassungen.« Die Stimme der Großen Mutter füllte den Saal. »Eine Vorabinformation hätte nur unnötig Angst erzeugt.«

Josa sog zischend Luft ein, sagte aber nichts.

Lea deutete neben sich. »Nori, das ist Josa, weiblich, sie. Ich habe dir von ihr erzählt. Das Fahrzeug hinter mir hat eine KI und heißt UTE. Ebenfalls sie.«

»Guten Tag, neuer Passagier!«

Nori sah zu UTE hinüber und senkte die Arme. Sein Blick wanderte von UTE zu Josa und blieb schließlich an Lea haften. Er setzte sich in Bewegung, umzirkelte die beiden Menschen und marschierte die Rampe hinauf.

***

Nori stand in der Tür zur Schlafkabine und starrte den dort eingebauten Kasten an. Dann drehte er sich brüsk um.

»Wir … fahren los?«

UTE reagierte sofort: »Bitte nehmt eure Plätze ein!«

Die Rampe fuhr hoch, die Luftschleusentür klickte. Lea winkte Nori zum gepolsterten Sessel neben sich an der Fensterfront. Josas Platz lag auf der anderen Seite, an der zahlreiche Displays und Anzeigen leuchteten. Ein Tor fuhr nach oben und gab die Sicht auf eine Schleuse frei. UTE rollte hinein, das Tor schloss sich wieder. Sie warteten schweigend. Als nichts passierte, sah Lea zu Josa, die mit den Fingern auf die Konsole trommelte.

»Was nun?« Die Ingenieurin klang ungeduldig.

»Ich erhalte keine Freigabe zum Verlassen des Hangars«, erklärte UTE.

»Assistent, haben Sie eine Erklärung dafür?«

Es dauerte ungewöhnlich lange, bis eine Antwort kam. »Nein.«

Lea sah Josa an, dann Nori, der nach vorn schaute, obwohl es dort nichts zu sehen gab außer einer weiteren massiven Tür. Bis auf das leise Atemgeräusch dreier Personen war kein Laut zu hören. Endlich unterbrach UTEs Stimme die Stille: »Ich habe eine externe Verbindungsanfrage.«

»Von wem?« Josas Finger hörten nicht auf zu trommeln. »Egal, stell die Verbindung her!«

»Guten Tag, die Damen! Offensichtlich haben Sie vor, Aranus zu verlassen, ohne vorher eine entsprechende Vereinbarung getroffen zu haben.«

Was für eine merkwürdige Anrede! Josa deute auf Lea.

»Guten Tag«, erwiderte die. »Es tut mir leid, wenn wir etwas versäumt haben. Wie können wir die Vereinbarung nachholen?«

»Indem Sie das Büro von Alpha Karan aufsuchen, die entsprechenden Anträge stellen und die nötige Gebühr entrichten.«

Lea sah fragend zu Josa hinüber. Die schüttelte den Kopf.

»Assistent …«, flüsterte Lea.

»Ich kann Ihnen den Weg zeigen.«

»Ich komme sofort.«

»Sie müssen zuerst einen Termin vereinbaren.«

Josa stöhnte und ließ sich in ihren Stuhl sinken. Lea ignorierte sie. »Selbstverständlich. Ich hätte gern einen Expresstermin. Wenn Sie mir ermöglichen würden, Alpha Karan heute noch zu sehen, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich werde mich natürlich für ein solches Entgegenkommen erkenntlich zeigen.«

Niemand antwortete. Gerade als Lea sich fragte, ob die Verbindung unterbrochen worden war, sprach die fremde Stimme wieder.

»Ich schicke Ihnen jemanden, der Sie abholt. Bitte kommen Sie allein.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

Lea stand auf. Sie trug einen schlichten blauen Anzug, der in Eos als Ausbund an Geschmacklosigkeit gegolten hätte, in Aranus aber völlig üblich war. Er war sauber, das reichte in Aranus, um als gut angezogen zu gelten.

»Assistent, einen Spiegel bitte!«

Lea betrachtete sich: schlichte blaue Hosen, dazu ein ebenso schlichtes blaues Oberteil. Die einzige Extravaganz bestand in einer kleinen aufgenähten Tasche unter der linken Brust.

»Darf ich?«

Lea nickte.

Josa hatte ihr Tuch abgeknotet und arrangierte es um Leas Schultern. Sie zupfte es zurecht, dann schüttelte sie den Kopf. »Sieht das aus wie die Botschafterin von Eos?«

»Nein. Zeit für etwas Neues!«

Lea trat in ihre Schlafkabine und öffnete den Schrank, in dem sich städtische Overalls und Kleider reihten. Sie wählte ein langes, rotes Kleid, zog es an und betrachtete ihr Spiegelbild. Die Regenerationsbehandlung hatte ihr gut getan: Ihr Teint strahlte und ihr Haar glänzte. Wenn die Tätowierung nicht so blass wäre, sähe ich wie ich aus.

»Ich halte es für keine gute Idee, dass du allein gehst«, sagte Josa durch die offene Tür. Sie hatte ihr Tuch wieder um den Oberarm geknotet.

»Es ist definitiv keine gute Idee, sie allein gehen zu lassen«, stimmte UTE zu. »Sämtliche Risikoabwägungen sprechen dagegen. Wir müssen es trotzdem erlauben.«

»Das denke ich auch.« Lea schlüpfte in die passenden Schuhe. »Wenn die Zentralintelligenz dieses Tor nicht öffnen kann, sitzen die Alphas am längeren Hebel.« Meine Güte, ich spreche wie eine Aranerin!

Josa nickte. »Das habe ich befürchtet. Mach keine voreiligen Zusagen. Es ist nichts Falsches daran, sich Bedenkzeit auszubitten.«

Bedenkzeit? Lea würde nicht diejenige sein, die eine Entscheidung traf, sondern die Große Mutter.

»Es wird schon klappen«, sagte sie und zwang sich zu lächeln.

***

Alpha Karan war eine umfangreiche Person, die sich mithilfe eines motorisierten Trumms auf Rädern bewegte. Sie thronte hinter einem riesigen Tisch und sah abschätzig auf Lea herunter, die auf einem harten Stuhl Platz nehmen musste.

»Sie sind also die Schoßkatze der Zentralintelligenz.« Karan zog einen Spitzmund, der in ihrem asymmetrischen Gesicht deplatziert wirkte.

Lea hielt an ihrem Lächeln fest. »Ich möchte den Antrag stellen, Aranus zu verlassen.«

Karan schob ein Eingabegerät über den Tisch. »Dauerhaft?«

Lea nahm das Gerät auf. »Muss das jetzt festgelegt werden?«

Karan lächelte schief und hob die Hand zum Kinn. Offenbar hatte sie nicht vor, zu antworten. Also begann Lea, ihre Daten in das Gerät zu tippen. Bei ›Zweck der Reise‹ stutzte sie.

»Assistent?«, murmelte sie. Noch war sie nicht draußen und schon leuchtete ihr ein, wozu es gut sein konnte, zu subvokalisieren.

Keine Reaktion.

»Assistent?«

Wieder kam keine Reaktion.

Lea sah auf. Alpha Karan sah sie an, ihr hellrosafarbenes Gesicht im Kontrast zu den dunklen, vollen Haaren, die im Flechtzopf über ihre Schulter fielen.

»Können Sie mich bitte beraten, was ich als Zweck eintragen soll?« Lea schenkte Karan ein strahlendes Lächeln. Das Karan an ihrer strengen Miene abprallen ließ.

»Dieses Ding da ist aus Eos?« Karan deutete auf Leas Armreif.

»Ja. So wie ich auch.«

Die beiden sahen einander an, dann senkte Lea den Blick und schrieb ›Forschung‹ in das leere Feld. Sie legte das Gerät vor Karan auf den Tisch. »Bitte sehr!«

Karan beugte sich sehr langsam vor, ergriff das Gerät mit spitzen Fingern, drehte sich herum und ließ es in den Verwertungsbehälter plumpsen, der hinter ihr stand.

»Sie hören von uns, wenn der Antrag bearbeitet ist.« Sie setzte sich surrend in Bewegung zum hinteren Teil des Raumes, der von wandfüllenden Displays dominiert wurde. Lea starrte auf die Rückseite des fahrenden Untersatzes. Der Assistent schwieg immer noch.

»Entschuldigen Sie …« Lea hatte keine Ahnung, wie sie den Satz fortsetzen sollte.

»Ich entschuldige nicht.« Karan sprach, ohne sich umzudrehen.

Lea hob das Kinn. Was hätte Bora in so einer Situation getan? Ganz sicher hätte sie sich nicht abwimmeln lassen.

»Was wollen Sie?« Lea gab ihrer Stimme einen forschen Klang, der in Eos Statuspunkte gekostet hätte.

Alpha Karan drehte sich surrend zurück. »Wie wäre es mit Informationen?« Sie legte den dicken Flechtzopf zur Seite.

Lea nickte. »Was wollen Sie wissen?«

***

Alles über ihren Kontakt zur Zentralintelligenz, so stellte sich heraus. Was für eine Aufgabe Lea hatte, warum der Klon dabei war, welche Ressourcen die ZI ihnen bereitgestellt oder versprochen hatte. Lea berichtete, bemüht, so naiv und offen wie möglich zu klingen, damit ihre Auslassungen nicht auffielen. Auf Hilfe des Assistenten wartete sie vergeblich. Als Lea geendet hatte, schwieg Alpha Karan. Lea saß aufrecht und hielt lächelnd ihrem Blick stand.

»Meine Aufgabe ist im Interesse von Aranus«, sagte Lea, als das Schweigen andauerte. »Und somit auch in Ihrem Interesse.«

»Eine schöne Annahme.« Karan lächelte ebenfalls und Lea stellte erstaunt fest, dass ihr Gesicht auf eine eigenwillige Weise schön wirkte. »Aber wahrscheinlich inkorrekt. Haben Sie nie darüber nachgedacht, warum die Mutter ausgerechnet Sie geschickt hat? Und nicht eine von uns?«

»Doch.« Die Große Mutter hatte es mit Leas Schnittstelle begründet. Was angesichts des Aufwands, eine Städterin nach Aranus zu schleusen, unglaubwürdig erschien. Außerdem trugen die Alphas ebenfalls Schnittstellen. Und waren wesentlich besser auf das Leben außerhalb der Kuppel vorbereitet.

Karan beobachtete Lea lächelnd.

»Sie hört nicht zu?« Lea umfasste den Raum mit einer Geste.

»Dieser Raum ist abgeschirmt. Leider machen die hübschen Störfelder auch Ihre Eingaben hinfällig.« Sie deutete auf den Eimer mit dem Eingabegerät. »Also?«

»Ich habe darüber nachgedacht. Lange. Mit dem ernüchternden Ergebnis, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, warum die Große Mutter mich ausgewählt hat.«

»So, wie Sie das sagen, könnte man glatt auf die Idee kommen, Ihnen zu glauben.« Karan sah Lea an. Sie wirkte nun lauernd. Langsam griff sie unter den Tisch und zog ein langgestrecktes Objekt hervor. Sie deutete damit auf Lea.

»Wissen Sie, was das ist?«

»Nein.«

»Es macht Löcher in Körper.«

Leas Herz ließ einen Schlag aus und stolperte dann weiter. Schweiß trat auf ihre Stirn. »Was hätten Sie davon?«

Karan kratzte sich mit der Waffe am Kinn. »Eine Menge Dreck in meinem Büro. Macht Ihnen gar nichts Angst?«

Leas Lächeln fühlte sich perfekt an, als sie antwortete: »Wenn Sie mich hätten umbringen wollen, hätten Sie es schon lange getan, nicht wahr?«

Sie lächelte gegen den Klumpen an, der in ihrem Bauch wuchs. Die Große Mutter kann mich viel weniger schützen als befürchtet. Was, wenn Rubens Tod kein Zufall war? Wenn … Lea konnte es nicht einmal weiter denken.

»Sie sind nicht ganz so naiv, wie ich dachte.« Karan legte die Waffe in ihren Schoß und sah sie prüfend an, wie eine interessante Datei, die sie auswerten sollte.

»Nehmen wir einmal an, Sie erzählten die Wahrheit. Sie sind eine stinknormale Städterin und die Große Mutter hat Sie ausgewählt, um Eos zu verlassen und nach … Etomi zu suchen.« Karan sah auf.

Lea lächelte stoisch. »Ja?«

»Dann stellen sich doch einige Fragen, nicht wahr?«

Unmengen. Lea nickte.

»Beispielsweise die, warum die Große Mutter«, eine winzige Spur Spott durchzog Karans Stimme, »nicht ihre treuen Alphas mit der Aufgabe betraut, das gelobte Etomi zu finden. Oder die, warum die Große Mutter eine Städterin losschickt, ohne sie mit Informationen darüber zu versorgen, was sie dort draußen eigentlich erwartet.«

»Das ist in der Tat auffällig«, versicherte Lea. »Und ärgerlich dazu.«

»Sehen Sie!« Karan hob Waffe und beschrieb mit ihr einen Kreis. »Wie erklären Sie sich das?«

»Gar nicht, leider. Was ich weiß, ist, dass die Große Mutter ihre Einflussmöglichkeiten über- und ihre Wissenslücken beträchtlich unterschätzt.« Ihr Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen. Es war Blasphemie, so zu sprechen.

»Nun, das schätze ich auch. Besonders, was das Leben in Aranus angeht.«

Lea rutschte auf dem harten Stuhl nach vorn. »Vielleicht finden wir eine Lösung, die den Menschen in Aranus und Eos gleichermaßen gerecht wird«, schlug sie vor. »Ein gemischtes Team kann beide Gruppen vertreten. Die von der Großen Mutter benannten Probleme sind real und betreffen nicht nur Eos.«

»Mhm«, machte Karan. Sie stützte sich auf die Lehnen ihres Untersatzes und schob sich in eine bequemere Sitzposition.

»Eine Destabilisierung von Eos kann nicht in Ihrem Interesse sein«, konstatierte Lea, hoffend, dass ihre Stimme nicht so zitterig klang, wie sie sich fühlte.

»Sie haben Recht«, sagte Karan, als sei ihr das eben erst aufgefallen. »Wir haben beide etwas, was die andere will.«

Lea sah Karan an und wartete.

»Wir haben Wissen über die Welt da draußen«, sagte die Alpha schließlich und deutete mit der Waffe nach oben. »Sie dagegen werden erfahren, was genau die Zentralintelligenz will.«

»Wahrscheinlich.«

Karan lächelte wieder. »Möglicherweise. Mehr als unbedingt nötig werden Sie nicht erfahren.«

Vielleicht. Hoffentlich nicht. »Es wäre in beiderseitigem Interesse, unser Wissen auszutauschen«, stellte Lea fest. »Wenn Sie mich umbringen, wird die Große Mutter jemand anderen losschicken. Und Sie wissen immer noch nicht mehr.«

Karan machte eine wegwerfende Geste. »Wenn wir eine solche Vereinbarung träfen: Woher wüsste ich, dass ich Ihnen vertrauen kann?«

Lea erwiderte ihren Blick. Karan hatte graue Augen, die sehr wach wirkten. Ähnlich wie die von Wos Maltun. Die Vermieterin hatte sich als nicht halb so vertrauenswürdig erwiesen wie vermutet. »Ich denke, Sie haben mehr als genug Ideen, mir Anreize zu schaffen.«

Karan hob die Faust. »Bora, Melinda, zwei süße Kinder, Nelson, Dinesh …« Sie ließ die feisten Finger einen nach dem anderen emporschnellen. »Habe ich jemanden vergessen?«

»Nein, Sie sind gut informiert. Das sind die Menschen, auf die Sie aufpassen sollten, um meine Kooperation zu sichern.« Leas linker Augenwinkel begann zu zucken, ein unangenehmes Flirren, das weglaufen wollte. Sie ignorierte es.

»Gut.« Karan schenkte ihr ein breites Lächeln, schief, wie immer. »Alpha Pean wird Sie ausstatten, damit Sie eine gesicherte Verbindung zu uns aufbauen können. Ich erwarte alle zwei Wochen einen Bericht von Ihnen. Auch dann, wenn es nichts zu berichten gibt.«

»Gern.«

»Alpha Pean wird Ihnen außerdem Dateien zur Verfügung stellen, die einige grundlegende Informationen enthalten. Sie sollten die Hinweise genau beachten. Es ist nicht angeraten, diplomatische Verwicklungen zu provozieren. Davon hätte niemand etwas. Sie erhalten außerdem zwei Identitätskarten, die Sie brauchen werden, um sich draußen auszuweisen und zu bewegen.«

»Drei.«

Karan zog schweigend die Augenbrauen hoch.

»Ich brauche drei Identitätskarten.«

Die Alpha legte den Kopf schief. »Also gut: drei. Geben Sie Pean den gewünschten Namen. Oder soll es eine Nummer sein?«

»Ein Name.«

»Gut. Sie bekommen einen Ausreiseslot für morgen zugewiesen. Ihr erstes Ziel lautet Praha. Dort ersuchen Sie um eine offizielle Legitimation für Ihren Aufenthalt in Estopa.«

»Vielen Dank!« Lea hoffte, dass die zur Verfügung gestellte Datei dieses Kauderwelsch in etwas Verständliches übersetzen würde.

»Bitte!« Karan zeigte ihr auf eine Art die Zähne, die nur schwer als Lächeln missverstanden werden konnte. »Und räumen Sie die Schleuse!«

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Josa trommelte mit den Händen auf den Tisch, froh, dass die anderen beiden draußen waren. Wenn ich mich nicht zusammenreiße, fliegt mir das Ganze schneller um die Ohren, als ich Aua schreien kann. Josa trommelte stärker.

»Brauchst du Hilfe?«

»Keine, die du mir geben kannst!«

Lea war schlimm genug. Aber ein Fahrzeug, das sich einmischte? Niemand wollte so etwas.

Josa hatte nichts gegen UTE. Die Transporteinheit bot den größten Komfort, den Josa je genossen hatte. Aber die Ingenieurin konnte darauf verzichten, dass das Gefährt eine Meinung hatte und sich nicht zu fein war, sie auch zu äußern. Josa sah durch das Fenster auf Nori, der den gefühlt eintausenddreißigsten Liegestütz machte. Eine hochnäsige Städterin, die von nichts eine Ahnung hat, und ein Klon, der keinen Satz am Stück reden kann und den Großteil des Tages stumpf in der Gegend herum starrt. Das ist wirklich die unsinnigste Kombi … nein, Schluss damit. Das ist das, was ich habe. Ich muss damit arbeiten.

»Du machst den Eindruck, als seist du verärgert.«

»Ach ja?«

»Ja. Das lässt mich daran zweifeln, dass die Zentralintelligenz bei der Zusammenstellung dieses Teams sorgfältig genug vorgegangen ist.«

»Du hast Zweifel?!« Josa lachte bitter. Dann hielt sie inne. »Du meinst doch nicht ernsthaft, dass die ZI dieses Team bewusst so zusammengestellt hat? Wir wissen, dass es anders ist!«

Der Klon hatte sich in dieses Team gedrängt. Er hatte Lea manipuliert. Unsinn! Niemals konnte ein Klon das planen. Es musste andersherum gewesen sein: Lea hatte aus irgendeinem Grund einen Narren an ihm gefressen und ihn mitgeschleift. Und nun mussten alle die Folgen tragen.

»Den mir vorliegenden Informationen zufolge gab es bislang mehrere Etomi-Teams«, erklärte UTE. »Die alle gescheitert sind. Es handelte sich um reine Aranus- oder Eos-Teams. Das Zustandekommen eines gemischten Teams ist den begrenzten Möglichkeiten der Zentralintelligenz, was die Auswahl geeigneter Personen angeht, geschuldet. Auch wenn es möglicherweise nicht geplant geschah: Die Erfolgswahrscheinlichkeiten sind so gut wie nie zuvor. Meiner Einschätzung nach ist es in unser aller Interesse, die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.«

»Die Rettung von Eos und Aranus!«

»Du klingst zynisch.«

»Warum nur? Machen wir uns doch nichts vor: Das Team geht seinen ersten gemeinsamen Schritt und rennt gegen die Wand. Du glaubst doch nicht wirklich, dass sich das ändert, nur weil die nächste Wand woanders steht! Die ZI hat ihre eingeschränkten Möglichkeiten aufgrund ihrer fragwürdigen Anwerbemethoden. Wenn sie ein wirklich attraktives Angebot gemacht hätte, hätten ihr die Leute die Bude eingerannt.«

Erst jetzt fiel Josa auf, dass die Mitglieder des Teams trotz aller Unterschiede eine Gemeinsamkeit hatten: Niemand von ihnen konnte zurück. Die ZI hatte Lea in Eos ins Aus manövriert, um sie zur Flucht zu motivieren. Genau wie Josa. Vielleicht sollte ich etwas mehr Mitgefühl für die Städterin aufbringen. Schließlich lebt sie seit über einem Jahr in einer Welt, die ihr unvertraut ist und deren Regeln sie nicht kennt.

Draußen machte Nori immer noch Liegestütze. Einen nach dem anderen wie eine Maschine. Passierte das mit Menschen, die von der ZI kontrolliert wurden? Wurden sie zu maschinenartigen Hüllen? Josa wusste nicht, welche Variante sie schlimmer fand: die ständig lächelnde Lea, die aussah, als sei sie einem Werbeprospekt entsprungen, oder den schweigsamen Klon, dessen Gesicht wie eine neutrale Maske wirkte. Es gab Klone in Aranus 12. In der Produktion. Josa hatte selten mit ihnen zu tun gehabt. Sie sahen anders aus als dieser hier: schlanker, feingliedriger. Natürlich, sie sind an andere Aufgaben angepasst. Die Vorstellung, organische Lebewesen so anzupassen, dass sie möglichst ressourcenschonend eingesetzt und unterhalten werden konnten, war ihr schon in Aranus zuwider gewesen. Einmal hatte sie ein Kompartment auseinandergenommen, eine hocheffiziente MedEinheit, die nur funktionierte, weil jeder ihr anvertrauter Körper innen und außen genau gleich aussah. Und weil für keinen von ihnen eine lange Lebenszeit vorgesehen ist. Was offenbar auch auf Stadtmenschen zutraf. Genetische Modifikationen einer ZI, die die Dreistigkeit hatte, sich Große Mutter nennen zu lassen. Ich bin der einzige richtige Mensch in dieser Gruppe. Und ich will nicht einmal hier sein! Josa fröstelte.

Im Hangar informierte UTE Lea darüber, dass ihnen ein Ausreisefenster in zwei Tagen zugewiesen worden sei. Leas Ärger über die Verzögerung verflog, als sie begann, die Dateien zu sichten, die Pean übergeben hatte. Natürlich war das Land da draußen bewohnt. Das widersprach allem, was Lea für wahr gehalten hatte, aber es erstaunte sie kaum. Wahrheit war seit ihrem Weggang aus Eos eine sehr relative Sache. Dort draußen gab es nicht nur Menschen, sondern auch eine Verwaltung und Infrastruktur mit eigenen Regeln. Lea starrte auf eine Unmenge neuen Wissens. Es zu sichten, dauerte sicher länger als zwei Tage. Sie beugte sich über ein großes Display und überflog das Inhaltsverzeichnis.

»Und?«

Sie spürte nicht nur Josas, sondern auch UTEs neugierige Blicke in ihrem Rücken. Die Blicke eines Fahrzeugs. Unsinn. Alles, was die Große Mutter baute, verfügte über Kameras und Mikrophone. UTE nahm alles auf, jede Regung und Bewegung, jede Lebensäußerung. Wie sollte Lea da ein Geheimnis wie die Vereinbarung mit Alpha Karan wahren? Einmal hatte sie geglaubt, ein Geheimnis zu haben. Dabei hatte die Große Mutter die ganze Zeit davon gewusst. Vielleicht verhielt es sich nun genauso und Karan testete sie, ein weiterer verlängerter Arm der Großen Mutter.

Und was sollte Lea Josa sagen? Dass die Daten über die Außenwelt ein Geschenk der Alphas seien? Niemand, der je mit einer Alpha verhandelt hatte, glaubte das.

»Es war nicht gerade billig, aber wir haben ein Zeitfenster für die Ausreise und diesen Datensatz«, sagte Lea. Die Gebühr war hoch genug, um die Übergabe von Informationen zu rechtfertigen. Guten Willen vorausgesetzt.

»Das ist alles?« Josa klang skeptisch.

»Es gibt dort draußen etwas, was sich Staat nennt«, fuhr Lea fort. »Wir müssen an einen Ort namens Praha fahren, um eine Registrierung zu erlangen.«

»Was für eine Registrierung?«, fragte Josa.

»Haben wir Landkarten?«, fragte UTE.

»Registrieren bei wem? Für was?«, fragte Josa.

»Gibt es aktuelle Wetterdaten?«, wollte UTE wissen.

»Lest es doch selbst nach!« Lea deutete auf das Display. Immerhin stellten sie ungefährliche Fragen.

»Ich schlage vor, wir teilen die Daten auf und sichten sie«, schlug Josa vor. »UTE, kannst du dir einen Überblick verschaffen?«

»Moment …«

Wenige Minuten später teilte UTE Dateien zu. Auch Nori bekam welche. Lea sah unauffällig zu ihm hinüber, wie er mit dem Rücken zum Raum vor einem Display stand, das an einer Schranktür leuchtete. Hinter seinem Rücken traf sie auf Josas Blick. Eine von ihnen würde später seine Dateien übernehmen müssen.

***

In der Mittagspause spuckte der Zubereiter Suppe aus, ohne dass jemand etwas geordert hatte. Josa nahm die Schüssel, roch daran und verzog angewidert das Gesicht. »Was ist das?«

»Hochkalorische Nahrung für den Klontyp O27«, antwortete UTE.

»Mhm.« Josa reichte Nori die Schüssel, orderte Essen für sich selbst und trommelte ungeduldig auf das Gehäuse des Zubereiters. »Rechnest du auch die Menge für ihn aus?«

»Ich berechne die benötigten Kalorien und die optimale Zusammensetzung für alle Insassen.«

Josa hörte auf zu trommeln. »Und wenn ich was anderes will?«

»Du gibst deinen Wunsch an. Mit der Zeit lerne ich deine Vorlieben kennen und gehe darauf ein.«

Ein Summton signalisierte, dass Josas Essen fertig war.

»Bekommst du es auch hin, Milchreis mit Vitaminen anzureichen?« Sie nahm ihren Teller aus der Klappe.

»Sicher. Es gibt keinen Grund, meine Insassen suboptimal zu versorgen.«

Eine Weile war nichts zu hören als das Klappern von Besteck. Josa und Lea saßen am Tisch, Nori stand daneben. Er hatte den Inhalt der Schüssel in seinen Mund gekippt und löffelte nun im Stehen den Rest, wie UTE ihn angewiesen hatte.

»Was ist eigentlich los?« Josa sah Nori an. »Seit du hier angekommen bist, bist du sauer. Ich hätte gern eine Idee, wieso.«

Lea beugte sich tiefer über ihren Teller. Warum konnte Josa nicht einfach den Mund halten? Nori war nicht die einzige wütende Person hier.

»Ich … bin … übrig.«

Josa verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Wie, übrig?«

Lea schnitt mit großer Sorgfalt ein Stück von dem grünen Viereck ab, das der Zubereiter ausgegeben hatte. Grünrauke war in Eos eines ihrer Lieblingsgerichte gewesen, aber hier kam es ihr fad vor. Sorgfältig kaute sie, darauf konzentriert, den Geschmack mit den Dingen zu vergleichen, die sie bei Bora probiert hatte. Städtisches Zubereiteressen fiel in eine ganz andere Kategorie als alles, was real angebaut worden war.

»Ich bin … nicht … Teil … der Einheit.«

Lea schob einen weiteren Bissen in den Mund und kaute. Früher hatte sie Grünrauke als faserig empfunden, aber im Vergleich zu echten Pflanzenteilen war es weich. Widerstandslos.

»Was meinst du damit: kein Teil der Einheit?«

»Was … ist … meine Station?«

»Station?« Josas Bein wippte auf und ab.

»Arbeit. Was … ist … meine Arbeit?«

Lea führte in Zeitlupe einen weiteren Happen zum Mund. Es war der vorletzte.

»Ach so«, sagte Josa. »Verstehe. Ich schätze, wir brauchen alle Zeit, um herauszufinden, wie wir zusammenarbeiten können. Wo unser Platz im Team ist.«

Lea pikte vorsichtig die Gabel in das letzte Stück Grünrauke.

»Lea, ich hab’ keine Ahnung, was du da treibst, aber es wäre hilfreich, wenn du Nori erklären würdest, wieso er hier ist und was du von ihm erwartest. Dann wüsste er nämlich, dass du ihn nicht reingelegt hast. So wie die Scheiß-ZI mich reingelegt hat.«

Lea steckte den Bissen in den Mund und schob ihren Teller weg. Sie kaute, schluckte, dann sah sie auf. Josa saß ihr mit verschränkten Armen gegenüber, Nori stand immer noch da, den Blick auf Lea gerichtet. Sie schob die zitternden Hände unter den Tisch und lächelte. »Es gibt nichts zu erklären!«

»Offenbar sieht Nori das anders. Und ich auch. Wie kam es zu Noris Aufnahme ins Team? Was ist seine Funktion?«

Lea überwand sich, Nori anzusehen. Seine braunen Augen wirkten dunkel und unergründlich. Gefährlich, das hatte die Große Mutter gesagt. Möglicherweise instabil.

»Es ist alles, wie es zu sein scheint«, rang Lea sich ab. »Ich habe die Große Mutter gebeten, Nori mitzunehmen, weil sein Leben in Aranus bedroht war. Sie hat eingewilligt und die nötigen Modifikationen angeordnet.«

»Modifikationen.« Josa klang angewidert.

»Weder er noch ich sind darauf ausgelegt, Aranus zu verlassen. Die Große Mutter stellt zur Verfügung, was wir brauchen: Der Zubereiter kennt das Rezept für Noris Nahrung und ein Kompartment wurde eingebaut.«

»Und was ist mit unserem Willen?«

»Was soll damit sein? Hier geht es nicht um uns! Wir haben eine Aufgabe und die sollten wir ernst nehmen. Wenn ihr es euch anders überlegt habt, könnt ihr gern aussteigen!«

Lea sah Josa an. Die sah Nori an, der aus dem Fenster schaute. Die Ingenieurin hatte recht: Der Klon hatte keine Aufgabe in diesem Team. Und sie würden über Tage, vielleicht sogar Wochen mit ihm im Innenraum dieses Fahrzeugs eingesperrt sein. Was, wenn die Große Mutter recht hatte und er aggressiv wurde? Lea wusste, wie quälend Langeweile sein konnte, und es gab keine Arbeit, die Nori gerecht wurde. Lea stand auf, stellte den Teller in den Spüler und trat in die Schleuse. Wenig später eilte sie durch den fast leeren Hangar.

»Hat UTE Zugriff auf MediDrohnen?«, murmelte sie.

»Warum fragst du mich nicht direkt? Ich habe eine MediDrohne. Brauchst du etwas?«

»Nein, danke, ich möchte mich nur über die Möglichkeiten informieren. Verfügst du über Beruhigungsmittel?«

»Sicher.«

»Überwachst du Noris Anspannung?«

»Genau wie deine.«

Gut. Lea schnickte mit dem Handgelenk und rief die ihr zugeteilten Dateien auf, während sie an der Wand des Hangars entlanglief.

***

Ihre Besprechung am Abend war kurz, wobei UTE Noris Teil referierte. Die Dateien enthielten jede Menge Überraschungen, unter anderem das Wissen, dass die Verwaltungsstruktur, in der Araneos lag, Estopa genannt wurde. Estopa hielt Infrastruktur bereit, deren Nutzung für ihre Mission unabdingbar sein würde. Bei ihrem Besuch in Praha würden sie über den Zugriff verhandeln müssen. UTE wies außerdem auf das Fehlen von aktuellen Daten über Wasservorkommen und Nahrungsquellen hin. Sie würden Datensätze kaufen müssen.

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