Etomi. Erwachen - Jol Rosenberg - E-Book

Etomi. Erwachen E-Book

Jol Rosenberg

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Beschreibung

Erde, 24. Jahrhundert: Aufgrund von Wirbelstürmen und Dürre ist für Menschen das Leben im Freien nicht mehr möglich. In der Kuppelstadt Eos wird der Hochglanz-Alltag von einer künstlichen Intelligenz gesteuert. Als diese Leas Tod beschließt, wagt Lea das Undenkbare: Sie flieht aus Eos und sucht nach dem mythischen Etomi, wo sie die Antwort auf all ihre Fragen erhofft. Doch die Welt außerhalb der Kuppel ist nicht so leer wie erwartet, und dort gibt es nicht nur Antworten, sondern vor allem neue Fragen.

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Seitenzahl: 513

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Für alle, die um Hoffnung ringen.

Für Uli und Thea, meine Homebase

Inhaltshinweise:

Ableismus (besonders internalisierter)

Drogenmissbrauch

Alkoholmissbrauch

Exkremente

Erbrechen

Tod (von Freund*innen und Kolleg*innen)

Tod von Tieren (Schlachthof)

Speziezismus

Schusswaffengebrauch (Gewehre, Blaster)

Kampf

Verletzungen, Unfall

Körperbehinderung (Prothesennutzung und Funktionsverlust der Prothese)

Zwangsarbeit (benannt)

Sexarbeit (angedeutet)

Trennung von Eltern und Kindern (benannt)

Schimpfworte

Okt 1 2368 18:11:46 [ZI Eos3] STATUS: Meeresspiegelanstieg entspricht prognostizierten Parametern. Landmassen stabil. Zustand der Peripherie 80 %, Versorgungsgrad 89 %. Bevölkerung 4.000.003 Menschen. Interne Stabilität 91,7 %, Tendenz sinkend. MI 72,5. Korrekturmaßnahme eingeleitet. Start SubmE 12

* * *

Okt 2 2368 13:31:26 [SubmE 12] INFO: Beginn der Zusammenstellung von Team E0d32. Annäherung an Subjekte gelungen. Dosisreduzierung der Substanzen 3 und 7A erfolgreich. Ausfall von Subjekten E0d32:00; E0d32:04. Aufwachen eingeleitet. Erfolgswahrscheinlichkeit 12 %.

* * *

Dez 5 2368 18:01:40 [SubmE 12] INFO: Ausfall von Subjekten E0d32:01; E0d32:06; E0d32:07; E0d32:0B und E0d32:0E. Substanzen 3 und 7A abgesetzt. Dauerhafte Übernahme verbliebener Subjekte ins Programm eingeleitet. Erfolgswahrscheinlichkeit 24 %.

* * *

Feb 15 2369 09:31:26 [SubmE 12] INFO: Ausfall von Subjekt E0d32:02 und E0d32:08. Ausschleichen von Substanz 15C nach Schema 4–6 induziert.

* * *

Mär 18 2369 18:32:02 [SubmE 12] INFO: Ausfall von Subjekt E0d32:09; E0d32:0A; E0d32:0C und E0d32:0F. Resilienzprüfung für E0d32:03; E0d32:05 und E0d32:0D erfolgreich.

* * *

Mai 20 2369 21:18:22 [SubmE 12] Ausfall von Subjekt E0d32:05. INFO: Resilienztest abgeschlossen. Ergebnis für E0d32:0D zufriedenstellend. Subjekt E0d32:03 instabil. Verbleib beider Subjekte im Programm. Medikation abgesetzt. Eintritt in Phase C.

Am Tag von Maris Erlösung zog Lea das dunkelrote Kleid an und schluckte das Kurvan, das ihr Ex-Partner Sulan ihr geschenkt hatte. Sie sah auf den Blister mit der zweiten Tablette, den sie im Vergnügungsdistrikt erworben hatte. Klein und piksig lag er in ihrer Hand.

Nein, eine reicht.

Und falls nicht, konnte sie die zweite immer noch nehmen. Auf keinen Fall durfte sie sich blamieren. Einen weiteren Statuspunkteabzug konnte sie sich nicht leisten. Zum Glück war die Veranstaltung nicht öffentlich, da wurde mehr verziehen. Auf einer öffentlichen Erlösung war Lea noch nie gewesen. Einmal hatte sie eine Videoaufnahme davon gesehen, eine ergreifende Veranstaltung mit hunderten von Teilnehmenden. Schön, hatte sie gedacht. Aber das hier, heute, war etwas anderes. Mari hätte als Abteilungsleiterin wohl eine öffentliche Erlösung anmelden können. Aber sie hatte es nicht getan. Die einzige Person, die sie eingeladen hatte, war Lea.

Ein sanfter Schmerz zerrte in Leas Bauch, ein vibrierendes Unwohlsein, das sie in den letzten Wochen oft begleitet hatte. Heute ging keine fremde Person, sondern Mari, Leas Mari, die ihr in den letzten Wochen beigestanden hatte. Die ihr schon immer beigestanden hatte.

»Spiegel!«

Lea betrachtete sich in der aufflammenden Projektion, strich den fließenden Stoff des Kleides glatt. Ihr Tattoo sah perfekt aus, das Kleid saß gut; die gewählte Augenfarbe leuchtete zwar nicht so brillant wie die ihrer Chefin, aber sie stand ihr. Nur der Gesichtsausdruck … Lea lächelte ihr Spiegelbild an. Ja. So. Besser.

»Es ist Zeit loszugehen«, sagte die Stimme des virtuellen Assistenten in Leas Kopf. Er hatte vorgeschlagen, dass Lea Mari anbieten solle, sie abzuholen. Lea hatte den Vorschlag angenommen, wie sie alle Vorschläge annahm. Und Mari hatte ja gesagt. Lea lächelte ihrem Spiegelbild zu, steckte die Tablette in die Dose und die Dose in die Handtasche und trat in den Flur.

Sie eilte zur Mobilostation, fuhr zwei Haltestellen, ging den vertrauten Weg zu einem dreistöckigen Wohnblock. Alles war wie immer. Und doch ganz anders.

Mari bewohnte ein Kubikel in der mittleren Etage. Als Lea in den kleinen Flur trat, war die Freundin nicht zu sehen. Dabei musste sie Lea erwarten.

»Mari?«, rief Lea in die Wohnung hinein.

Sie trat einen Schritt nach vorn, damit sich die Tür hinter ihr schließen konnte. Sie wollte nicht weiter hineingehen in den Raum, der schon morgen einer anderen Person zugewiesen wurde. Gleich würde Lea mit Mari aus dieser Tür treten und dann – wann? — würden die Reinigungsroutinen einsetzen und alles, was nicht in den Besitz einer anderen Person übergegangen war, würde verschwinden. Wiederverwertet werden. Nichts würde dann mehr davon zeugen, dass Mari hier gewohnt hatte.

Lea spähte in den Wohnraum, der die Standardeinrichtung aufwies wie ihr eigenes Kubikel. Das Wandbett war eingefahren, die blaue Couch und das Tischchen makellos sauber.

»Komme gleich!« Mari schlingerte aus dem Bad.

Sie hatte wesentlich mehr intus als zwei Kurvanpillen. Ein entrücktes Grinsen verzerrte ihr Gesicht zu einer unvertrauten Grimasse. Aber immerhin hatte sie ihre Haare richten lassen: Es waren nicht mehr die feinen Locken, die Lea beim letzten Treffen als unmodisch kritisiert hatte, sondern ein Kunstwerk aus orange-rotem und schwarzem Haar, das sich hoch auf Maris Kopf türmte. Lea schluckte, der Knoten in ihrem Bauch wuchs. Vielleicht hätte ich doch die zweite Tablette nehmen sollen! Sie richtete sich auf, nahm Maris Hand und lotste sie die Treppen hinunter. Arm in Arm schritten sie zur Mobilostation.

* * *

Über die Fassade der zentral gelegenen Erlösungshalle ergossen sich fiederblättrige Ranken. Zwischen dem üppigen Grün blitzten silberglänzende Elemente: Dreiecke und Quadrate in perfekter Harmonie. Lea hatte das Gebäude noch nie betreten. Sie wollte es auch heute nicht betreten. Alles in ihr wehrte sich dagegen. Trotzdem ging sie zielstrebig darauf zu, die immer noch schwankende Mari untergehakt, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Sie war hier, um eine Aufgabe zu erfüllen, und das würde sie auch tun. Mari hatte einen guten Austritt verdient, und Lea würde dafür sorgen, dass ihre Freundin ihn bekam.

Die Türen glitten auf und ließen die beiden in einen Warteraum, der aussah wie der einer medizinischen Einheit: ein glatter Boden in dunklem Grün, einige schlichte Wartebänke und die sichtbaren halbrunden Augen eines Überwachungssystems in den Zimmerecken. Mari und Lea setzten sich auf einen dunkelroten Kubus an der Wand. Zum Glück waren sie allein. Lea hätte es nicht ertragen, anderen Menschen zu begegnen. Nicht hier. Nicht jetzt.

»Meinst du, mein Kleid ist angemessen?« Mari strich mit zitternder Hand über den glatten Stoff. »Es ist ganz neu.«

Lea befühlte den glänzenden Stoff, der im Licht orange-rot changierte, strich der Freundin zärtlich über das Bein.

»Natürlich!«, versicherte sie. »Es steht dir hervorragend. Und es passt zu meinem Kleid!«

Sie hatte gewusst, dass Mari ihre Lieblingsfarbe tragen würde, da war es leicht gewesen, etwas Passendes auszuwählen. Das dunkle Orange harmonierte perfekt mit Maris neuem Tattoo und der Frisur. Es passte auch zu den Warteraumfarben.

Mari tastete lächelnd nach Leas Hand, schob ihre Finger zwischen Leas. Lea ließ es zu. Vielleicht galt das als unangemessen, hier, an einem so offiziellen Ort. Aber Lea wollte sich nichts daraus machen. Sie würde erklären können, dass es Maris Wunsch gewesen war.

»Mari des Lumanga, bitte treten Sie in die Kabine zur Diagnostik.«

Eine Tür glitt auf. Unwillkürlich hielt Lea Maris Hand fester. Mari darf nicht durch diese Tür gehen. Es ist falsch! Die Stimme klang wie die einer Standarduntersuchungseinheit, aber Lea wusste es besser. Mari wusste es besser. Mari stand auf. Ihre Hand zog kurz an Leas, dann löste sich der Griff. Aufrecht ging Mari auf die Tür zu, hinter der ein freundliches Licht schimmerte.

»Bis gleich!« Maris Stimme zitterte. Sie drehte den Kopf, sah Lea an.

Lea brachte kein Wort heraus. Es würde kein Gleich geben, Lea wusste es. Ihr Mund war trocken, ihr Herz schlug schnell. Sie krallte die Finger ineinander, hielt ihre eigene Hand, wo eben noch die der Freundin gewesen war. Mari setzte sich wieder in Bewegung. Lautlos glitt die Tür hinter ihr zu.

Leas Finger wurden kalt. Sie konnte gehen. Einfach aufstehen und gehen, weg von hier. Die Große Mutter würde sich um Mari kümmern, ihr geben, was sie brauchte. Es würde nicht auffallen, dass Lea fehlte.

»Lea des Bodyness?«

Lea zuckte leicht, dann rief sie sich zur Ordnung. Das war nicht ihr Assistent, sondern das Therapiemodul, das ihr vor Kurzem zugeteilt worden war. Bislang hatte es sich nur in Leas Kubikel aktiviert. Aber natürlich existierte es überall. Der Datenreif verband es mit ihrem Nervensystem, es konnte mit ihr sprechen, ohne dass es jemand hörte. Nicht, dass jemand hier gewesen wäre, der es hätte hören können. Der Warteraum war immer noch menschenleer, die blank polierten Oberflächen glänzten.

»Ja?«, wisperte Lea.

»Ihr Assistent hat mich alarmiert.« Pause. »Ihre Vitalwerte zeigen an, dass Sie im Stress sind. Sie sind als Begleitung hier?«

»Das ist korrekt.«

»Haben Sie sorgfältig darüber nachgedacht, ob es ratsam ist, sich die Belastung der Begleitung einer Erlösung zuzumuten? Sie haben nicht mit mir darüber gesprochen.«

Natürlich hatte sie nachgedacht. Mehr als irgendeine KI sich denken konnte. Falls KIs dachten.

»Angesichts der bei Ihnen in letzter Zeit beobachteten psychischen Instabilitäten wäre es ratsamer, Sie würden sich mit mir unterhalten, anstatt sich in eine Situation zu begeben, die Ihnen Stress verursacht.«

»Das mag sein«, erwiderte Lea vorsichtig. Er bot ihr einen Ausweg an. Verlockend. Lea schloss die Augen. Mit Kurvan im Blut zu denken, war wie durch ein wogendes Wellenbad zu waten. Lea mochte Wellenbäder. Aber nicht in ihrem Kopf. Sie öffnete die Augen wieder. »Ich habe Mari versprochen, sie zu begleiten, und möchte diese Zusage gern einhalten.«

Es war das Einzige, was sie für Mari noch tun konnte.

»Das ist löblich. Für diesen Fall kann ich Ihnen eine Assistenz anbieten, die Ihre Rolle übernimmt.«

Lea biss unter dem Lächeln die Zähne zusammen. Wenn das Modul ihr vorschlug zu gehen, würde sie bleiben. Bei Mari sein. So wie Mari ihr immer beigestanden hatte.

»Die Assistenz wurde von der Großen Mutter persönlich programmiert und ist den Ausscheidenden erfahrungsgemäß eine große Stütze. Besser als jeder Mensch. Sie wird Ihnen gegen ein geringes Entgelt zur Verfügung gestellt.«

»Nein!« Oh weh, das war zu heftig! Lea lockerte ihren Kiefer und lächelte breiter. »Entschuldigen Sie, bitte, aber ich möchte dieses freundliche Angebot nicht nutzen.«

»Möchten Sie eine Zusatzmedikation? Die Inanspruchnahme bleibt vertraulich.«

Ach! Das war leichter als befürchtet.

»Ich … nur, wenn sie sich mit Kurvan verträgt.«

»Natürlich. Ich sehe, Sie sorgen besser für sich, als ich vermutet hatte.«

Eine Injektordrohne surrte heran.

»Entblößen Sie bitte Ihren Oberarm.«

Lea hatte den kurzen Ärmel ihres Kleides bereits hochgeschoben.

* * *

Wenig später trat Lea in den Erlösungsraum. Kleine Lichtstreifen in verschiedenen Höhen tauchten die Dekoration in ein heimeliges Licht. An den Wänden reihten sich kostbare Arrangements, kleine Landschaften im Wechsel mit floralen Elementen. Einige davon waren Geschenke von Maris Ausstandsfeier, Lea erblickte auch ihr eigenes Geschenk. Manche wirkten erstaunlich echt, wie Blumen: frisch und natürlich. Sie dufteten betäubend. Lea zwang sich, sich noch gerader zu halten und langsam voranzuschreiten. Maris Lieblingsfarben dominierten: Orange- und Rottöne, in die sich Leas Kleid und ihre Tätowierung perfekt einfügten. Meditative Klänge schwangen im Raum.

Die Liege stand in der Raummitte auf einem erhöhten Podest, dessen glatte Flächen die Arrangements und Lichter spiegelten. Dahinter hing eine Projektion in der Luft: ein grüner Untergrund mit bunten Tupfen und oben ein blauer Abschluss mit weißlichen Schemen, die sich leicht bewegten. Wiese und Himmel; Bilder der Alten Welt, die Lea aus der Datenbank kannte.

Lea trat an die Liege heran und ergriff Maris Hand.

»Schön, nicht?« Die Freundin lächelte sie an. Ihre Augen waren groß, die Pupillen riesig. Sie wirkte entspannt.

»Ja«, brachte Lea hervor. »Hast du die Arrangements ausgesucht?«

»Natürlich.« Maris Augenlider flatterten.

»Das sind deine Farben!« Es fiel Lea nicht schwer zu lächeln, aber ihre Beine fühlten sich an, als sei ihr Körper zu schwer für sie. Die Kanten eines Sitzkubus stießen gegen ihre Kniekehlen und sie setzte sich. Was war ihre Aufgabe? Sie konnte Mari streicheln, aber galt das als angemessen? Das hier war keine sexuelle Begegnung.

Lea starrte Mari an, die schlanken Arme mit den etwas zu breiten Händen, die schmalen Hüften und die perfekt gerundeten Schultern. Lea legte die andere Hand auf Maris Arm und bemühte sich vergeblich, ihr Zittern zu unterdrücken. Sie wollte die Freundin nicht beunruhigen. Auf keinen Fall wollte sie die Freundin beunruhigen. Warum kann ich dann nicht aufhören zu zittern? Gleich würde ein Injektor erscheinen. Wahrscheinlich erschien ein Injektor. Von unten aus der Liege. Oder eine Drohne. Vielleicht hatten sie die Drohne der Inneneinrichtung angepasst, sodass sie sich einfügte und kaum auffiel. Oder sie kam aus dem Boden wie der Kubus …

»Geliebte Mari des Lumanga, geliebte Lea des Bodyness!« Die warme Stimme der Großen Mutter füllte den Raum. Mari lächelte.

»Ich freue mich über euch, meine Kinder, die zufrieden in meinem Schoß leben. Es ist mir eine Ehre, euch begleiten zu dürfen. Die Große Mutter ist Eos. Sie umfängt Eos und sie hält euch, versorgt euch, weiß um euch. Die Große Mutter macht keine Fehler. Sie hat den Großen Plan im Blick und dieser ruft Mari des Lumanga nun zu sich, an ihren Platz.«

Lea bemerkte erst jetzt, dass die Stimme der Großen Mutter überall erklang. In Lea und außen. Es schien, als würde sie Lea halten, als wisse sie um sie. Lea lächelte. Jetzt durfte sie weinen, sie wusste es. Die Große Mutter kannte ihre Trauer, aber sie gab auch Zuversicht. Alles war, wie es sein sollte. Mari hatte ihren Ort und Lea hatte ihren Ort und die Große Mutter stellte sicher, dass sie nicht fehlgingen.

Ein anderer Duft mischte sich unter die vielen Gerüche. Etomi, das Parfüm, das Mari zum Ausstand geschenkt bekommen hatte, und das in Lea eine Saite anklingen ließ, die lange nicht mehr geschwungen hatte. Unter Leas Händen erfasste ein leichtes Zittern den Körper der Freundin; Lea beugte sich vor, legte den Kopf auf Maris Brust, die sich hob und senkte. Hob und senkte. Wie Schiffe in den alten Filmen. Und dazu passte die Luftbewegung im Raum, eine leichte Brise, die Leas Haare erfasste und ihren Kopf noch schwerer werden ließ. Tränen sickerten auf Maris Brust, lautlos und feucht. Lea hätte sich dafür geschämt, aber jetzt war es in Ordnung. Alles war in Ordnung. Sie roch den vertrauten Körper der Freundin und Etomi. Ein Geruch wie ihr Bett – damals in der Kindergruppe. Wie eine Umarmung von Felipe, wie sein sanfter Gesang. Ein Zuhause-Geruch, der Lea hielt und gleichzeitig fast zerfließen ließ. Schon als Mari ihr das Parfüm zeigte, damals nach dem Ausstand, hatte Lea sich gefragt, warum es so viel in ihr auslöste. Aber das schien jetzt egal. Lea hüllte sich in Duft. Die Große Mutter machte keine Fehler und alles war gut.

* * *

Lea erwachte mit einem Ziehen im Nacken. Sie hob den Kopf von einer kühlen, unebenen Unterlage, wischte sich Feuchtigkeit von den Wangen. Da war immer noch die Projektion: blau und grün. Und Mari. Lea hielt den Arm ihrer Freundin mit beiden Händen umklammert. Er war kühl. Warum war Maris Arm so kühl? Lea löste vorsichtig ihren Griff, legte den Arm der Freundin auf ihre Brust. Dann wagte sie es, in Maris Gesicht zu sehen. Das Rot und Orange des neuen Tattoos schien matt, Farben und wabernde Formen, die über Gesichtszüge flossen, die gleichzeitig fremd und vertraut wirkten. Maris Augen schauten ins Nichts. Lea starrte die Freundin an, versuchte zu fassen, was sie da sah.

»Mari des Lumanga ist nun in ihrer finalen Form«, sagte die Große Mutter. »Sie ist bei mir und sie ist vollends gehalten. Sie hat keine Schmerzen, keine Sorgen mehr. Die Bürde eines fehlbaren Körpers ist von ihr genommen.«

Leas Kehle wurde eng. Sie rang nach Atem. Es stimmte, was die Große Mutter sagte: Das da war nur noch ein Körper. Nicht mehr Mari. Hastig stand Lea auf, taumelte, fing sich.

»Sind Sie bereit zu gehen?«

Sie wollte rennen, weg, nur weg, aber sie riss sich zusammen. Immerhin war es nicht das Therapiemodul, das sprach, sondern ihr vertrauter Assistent. So schlimm konnte es also nicht sein. Und sie hatte die zweite Tablette. Sie tastete in ihrer Tasche nach der Pillendose, griff danach, umfasste das kühle Metall.

»Ich würde mich gern zurechtmachen.«

»Natürlich. Ich zeige Ihnen den Weg zur nächsten Sanitäreinheit.«

Lea verließ den Raum, ohne zurückzublicken.

Lea ertappte sich dabei, wie sie begann, die Tage rückwärts zu zählen. Noch sechs Tage, noch fünf Tage noch vier, drei, zwei Tage bei Bodyness. Natürlich arbeitete sie weiter an Tattooentwürfen für die Firma, aber sie gab sich nicht der Illusion hin, dass sie etwas zustande bringen würde, das eine Freigabe zur Fertigstellung bekam. Es war eine Farce, ein Spiel, das sie spielte: noch für einige Tage den Anschein eines enthusiastischen Teammitglieds geben. Danach würde sie frei sein, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern. Die Dinge, an denen ihr Überleben hing, ein Überleben, das bislang nur sie selbst für möglich hielt.

Lea folgte den Freizeitvorschlägen ihres Assistenten, ging zur Cinemathek, zum Schminkkurs oder zum Sport, aber ihr Körper fühlte sich dabei falsch an, unecht, als sei sie eine Maschine, die ein voreingestelltes Programm absolvierte. Nur Partyvorschläge lehnte sie ab. Der Gedanke, sich unter fröhliche Menschen zu mischen, war ihr unerträglich. Lieber saß sie abends allein in ihrem Kubikel. Manchmal bat sie um ein Bild von Mari und starrte die Projektion an. Ihr Assistent schlug ihr dann stets einen der Filme vor, die sie zusammen so gern gesehen hatten, aber Lea wischte ihn beiseite. Niemand konnte ihr vorschreiben, wie sie trauerte! Nie wieder würde sie Wasser mit Mari trinken, nie wieder über die Süße von Mojadensaft herziehen, der allen außer Mari und Lea als angemessenes Getränk galt. Nie wieder neben Mari auf dieser Couch sitzen, nie wieder ihren Geruch in der Nase haben, das Faltenmuster auf ihren Fußsohlen betrachten, die Nase in ihr volles Haar stecken. Lea wusste, dass sie sich zusammenreißen musste. Stattdessen saß sie und starrte, betrachtete Maris Bild und den Nachruf, den die Große Mutter geschrieben hatte. Ein schöner Text war es, voller Ehrfurcht und Dankbarkeit. Und doch kam er Lea wie Hohn vor. Er sprach von der Arbeit, die Mari geleistet, den Fassaden, die sie gestaltet, dem Status, den sie gewonnen hatte. Aber wo war Maris Lächeln, wo ihre ruhige Art, Lea zu sagen, dass sie in die Irre ging? Was wusste die Große Mutter schon über Mari? Alles, dachte Lea. Alles. Aber das ist falsch! Lea stand auf und knallte das Glas auf das Bord neben sich. Sie würde keinen solchen Text haben. Wer sollte ihn auch lesen? Mari war weg, Sulan, noch bis vor Kurzem ihr offizieller Partner, interessierte sich nicht mehr für sie. Natürlich nicht, niemand interessierte sich für eine Person, die nicht den vorgeschriebenen Weg ging. Wenn sie erst ihren Ausstand bei Bodyness hinter sich hatte, würde kein Teammitglied ihr auch nur eine Träne hinterherweinen. Dann konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Oder ich sterbe wie Mari und alles war umsonst.

»Herzrate regulationsbedürftig.«

Ihr Armreif summte, der Assistent aktivierte sich, aber sie wischte ihn mit einer brüsken Handbewegung beiseite. Wie sollte sie denken, wenn ständig jemand – oder etwas – sie unterbrach!? Sie hatte ihren Ausstand mit dem Therapiemodul geplant, sie hatte ausführlich darüber gesprochen, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob das Programm ihr die Ruhe abgenommen hatte. Sogar über Maris Austritt sprach sie. Sie fand sich sehr überzeugend dabei. Danach fühlte sie sich so ausgelaugt! Leer. Das Bild vor ihr veränderte sich, die Projektion von Pseudoyann ersetzte Maris Bildnis. Die Ähnlichkeit des Therapiemoduls zu Leas erster Partnerperson war wirklich frappierend.

»Lea, wie geht es Ihnen? Ich mache mir Sorgen«, sagte seine freundliche Stimme.

Das war Unsinn. Ein Programm konnte sich keine Sorgen machen.

»Gut! Mir geht es gut!«

»Die Modulation Ihrer Aussage lässt mich an ihrem Wahrheitsgehalt zweifeln.«

Sollte es doch zweifeln! Lea versuchte, Pseudoyann beiseite zu wischen, aber die Projektion blieb im Raum hängen, penetrant und aufdringlich. Kein Mensch würde sich so verhalten, so insistierend und rüde. Aber KI-Systeme verloren keine Statuspunkte.

»Warum sehen Sie aus wie Yann?«

»Meine Ähnlichkeit mit einer lebenden Person ist kein Zufall. Sie ist aus einer sorgfältigen Analyse Ihrer Biografie entstanden. Die Statistiken zeigen, dass vertraute Gesichter angesichts schwieriger Themen als hilfreicher erlebt werden als unvertraute. Ein positiv besetztes Gesicht erleichtert es, sich anzuvertrauen. Dabei sollte das Gesicht nicht identisch mit dem Vorbild sein, um Verwechslungen und Konfundierungen zu vermeiden.«

»Aha.«

Sie hatte keine Ahnung, was eine Konfundierung war, und sie wollte es auch nicht herausfinden. Sie zweifelte daran, dass sie den Rest der Analyse hören wollte. Aber es zu unterbrechen, hätte die nächste Frage heraufbeschworen.

»In Ihrem Fall scheint es neben Mari zwei Personen zu geben, denen Sie Vertrauen schenkten: Yann und Felipe. Ich habe mich für Yann entschieden, weil Felipe nicht geeignet ist.«

Yann und Felipe. Lea hielt sich den plötzlich schmerzenden Bauch. Dieses Geheimnis hatte sie jahrelang verborgen. Wie hatte sie glauben können, dass ihr das gelungen war? Die Große Mutter wusste alles. Natürlich wusste sie auch von Felipe, dessen Gesicht Lea über die Jahre entglitten war. Seine Stimme war es, an die sie sich erinnerte, sein leises Singen, eine Melodie, gesummt und ohne Worte. Er hatte ihr Mut gemacht. Sich in den ersten Jahren an ihre Seite gestellt, um ihr, wie hatte er es genannt?, »eine zweite Mutter zu sein«. Er meinte, dass sie das nach ihrem schweren Start brauche. Sie erinnerte sich immer noch gern an seinen Geruch, einen ganz leichten Pflanzenduft wie frisch geschnittenes Gras, an seine warmen Umarmungen. Seine Lieder. Felipe war es, an den sie dachte, wenn sie Etomi roch.

Und Yann? En war Ursache ihrer größten Übertretung gegen die Regeln der Gemeinschaft der Großen Mutter. Yann hatte sie überredet, die Sondergenehmigung für ein klassisch gezeugtes Kind einzuholen. Monatelang war nichts anderes zwischen ihnen Thema gewesen: ein Kind, ein Kind, ein Kind. Eine der fixen Ideen, die Lea zunächst so faszinierend gefunden hatte und in denen sie zu zweit geschwelgt hatten. Ja, das musste Lea sich eingestehen. Sie war fasziniert gewesen. Irisiert. Aber dann hatten sie recherchiert und herausgefunden, dass sie würde menstruieren müssen, um auf uralte Weise ein Kind zu empfangen. Bluten! Jeden Monat. Yann konnte das nicht wollen.

Aber en wollte. Es sei doch spannend, hatte en gesagt. Wie der Körper das mache. Erfahren, was kaum jemand erfahren hat! Schließlich stimmte Lea zu, in der festen Überzeugung, dass es ohnehin nichts werden würde. Ihre genetischen Marker würden eine schlechte Passung aufweisen, die Große Mutter würde folglich die Zustimmung verweigern, fertig. Aber es kam anders: Die Passung war überraschend gut, ihrer beider Gesundheitszustand ausreichend. Lea stimmte der nötigen Medikationsumstellung zu, bekam das Lehrmodul zur Menstruation, einschließlich der benötigten Hygieneprodukte. Und wenige Monate später war sie schwanger. Zum Glück, sie hätte das Experiment sonst abgebrochen. Da war sie schon genervt gewesen von Yanns Ideen.

Yann. Wie en wohl heute aussah? Sicher nicht wie dieses Therapiemodul! Aufregend war es, damals. Nach der Sexualitätseinführung hatte sie sich mehrere Jahre lang treiben lassen. Sich ausgetobt. Einige Monate, manchmal nur Wochen Vergnügen mit den verschiedensten Personen. Auch Gruppenehen hatte sie versucht. Sie hielten nie lange, was niemanden der Beteiligten störte. An die meisten ihrer Lustpartnerschaften erinnerte sie sich nicht mehr. Eros, die ihre Arbeit liebten, waren immer besser als die vom Algorithmus vorgeschlagenen Partnerpersonen.

Mit Yann war es anders. Kein Algorithmus hatte em für sie gewählt. An der Mobilostation sahen sie sich, jeden Donnerstag, bis Yann sie irgendwann ansprach. Sie trafen sich öfter, nach der Arbeit – damals gestaltete sie Stoffe und Yann Armreifen – und dann lagen sie irgendwann gemeinsam auf der Couch, in ihrem Kubikel. Ganz ohne Freigabe. Wie sehr sie fürchteten, dass man sie erwischte! Es war bei einer Verwarnung und einem moderaten Statuspunkteabzug für beide geblieben. Sie beantragten die Freigabe und bekamen sie. Wie lange waren sie ein Paar? Eine halbe Ewigkeit, drei oder vier Jahre!

»… und auch ein Sportprogramm ist sehr empfehlenswert, um das psychische Gleichgewicht wieder herzustellen.« Pseudoyann lächelte sie zufrieden an. Sie lächelte zurück. Wie lange hatte sie ihm nicht zugehört?

»Na sehen Sie, die Unterhaltung hat Ihnen schon gutgetan.«

Sie hatte keine Ahnung, woran das Modul das festmachte. »Vielen Dank dafür«, sagte sie. Vielleicht wurde sie es nun endlich los.

»Ich habe Ihre Mudkalmindosis angepasst. 25 mg sind in Ihrer derzeitigen Situation mehr als angemessen.«

»Natürlich.« Lea nickte.

Immerhin hatte sie es geschafft, die Überwachung auszutricksen. Ihre Medikation landete schon seit Wochen nicht mehr in ihrem Körper, sondern in einem vom Zubereiter hergestellten Bratling, den sie sich mithilfe eines abgeschnittenen Strumpfes jeden Abend an den Oberschenkel band. Sie musste neue Proteinbasis kaufen und den abgeschnittenen Strumpf waschen. Der Reinigungsschrank war keine Option, der wurde überwacht. Vielleicht konnte sie den Strumpf mit unter die Dusche nehmen.

»Ich erkläre mich mit der Änderung meiner Dosierung einverstanden.«

»Sehr schön. Auf Wiedersehen!«

Lea starrte die Stelle an, an der die Projektion verschwunden war. Sie drehte ihr Handgelenk mit dem Datenreif, um Maris Bild wieder aufzurufen. Das Profil mit den vollen Lippen, die hohen Wangenknochen – die Freundin wirkte zufrieden und quicklebendig.

»Recht hast du!«, sagte Lea und stand auf. »Fach 2-5!«

Sie nahm die Flasche aus der aufgleitenden Schublade, schraubte sie auf und versank in Duft. Plötzlich war Felipe da, jener eintönige Singsang, der so beruhigend wirkte. Lea schloss die Augen. War es das, was sie zur Ausnahme machte? Sie wusste nicht, was sie abgesondert hatte. Irgendetwas lief anders in ihren ersten Jahren, etwas, das eine Person im Kinderzentrum dazu brachte, sich ihrer anzunehmen. Es kostete ihn seine Stelle. Und brachte ihr den Ruf der Aufsässigkeit ein, noch bevor sie ganze Sätze sprechen konnte. Hatte sie deshalb keine Schmerzen? War die Erlösung deshalb für sie keine Erlösung, sondern eine sinnlose Regel, der sie entgehen wollte?

Lea sah die Glasflasche an. Braun und schlicht. Sie musste kostbar sein, das Glas sah aus, als hätte es noch nicht die üblichen Wiederbefüllungszyklen hinter sich. Glatt und kühl lag es in Leas Hand. Warum hatte Mari zu ihrem Ausstand so etwas bekommen? Und das von der Großen Mutter persönlich! Die Flasche war das letzte Geschenk, das Mari Lea gemacht hatte. Weil sie Etomi für einen Weg hielt, den Lea gehen konnte. Wie euphorisch Mari gewesen war!

Lea drehte das sepiafarbene Etikett nach vorn: »Etomi, Essenz des Lebens«. Es sah gar nicht aus wie ein Parfüm. Viel zu schlicht.

Vielleicht bekam jede Person zum Ausstand diesen Duft und er hatte gar nicht die Bedeutung, die Mari hineininterpretierte. Aber warum dann dieses Etikett? Seltsame, verschlungene Buchstaben. Eine unbekannte Schriftart. Und darunter eine Personengruppe: Eine weißhaarige untätowierte Person mit hellbrauner Haut hielt ein Bündel im Arm und ein Kind neben sich. Daneben eine Dreiergruppe, unterschiedlich große Menschen, die die Betrachterin offen ansahen. Sogar das Licht auf dem Bild war eigenartig: diffus. Gelblich. Wie von winzigen Lichtpünktchen unterbrochen. »Ich habe mir vorgestellt, es sei draußen«, hörte Lea Maris versonnene Stimme.

Dorthin würde ihr Körper gehen, so sagte es die Große Mutter. In Leas Kindheit war Eos draußen gewesen, die Erwachsenenwelt. Mari und sie fantasierten, wie es dort sein würde: wenn sie endlich die Kindergruppe verließen und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft wurden. Wenn erst das Leben anfing! Die Freiheit.

Nun gab es ein anderes Draußen. Die Überreste der Alten Welt jenseits der Kuppel. Dort, wo niemand mehr leben konnte. Hatte die Große Mutter dieses Geschenk für Mari ausgesucht, weil sie wusste, dass Mari es mit Lea teilen würde? War es der Hinweis, für den Lea gebetet hatte, der sie retten würde? Sie, die als einzige alte Person in Eos keine Schmerzen hatte, die den Tod nicht herbeisehnte, wie alle anderen, obwohl die Zeit um war.

Die Personen auf dem Bild wirkten nicht wie ein Team und trotzdem verbunden. Sie hatten beigefarbene Haut, hell- oder dunkelbraune. Und diese weißhaarige Person … was für einer Mode folgte sie? Warum hatte sie Falten im Gesicht? War die halbrunde Kuppel im Hintergrund Eos von außen? Nein, Eos musste viel größer sein.

Lea straffte sich. Wenn sie hier saß und auf die Flasche starrte, rief das nur wieder das Therapiemodul auf den Plan. Sie inspizierte den Deckel, dann den Flaschenboden. 85P. Sie hatte die Schrift auf dem Boden für eine Adresse gehalten, war sogar zum Kuppelrand in den Distrikt P gefahren. Und was hatte sie gefunden? Leere Häuser. Auch wenn es merkwürdig war, dass es so etwas in Eos gab. Schließlich war nichts in der Kuppelstadt so rar wie Platz.

»Assistent, was ist auf diesem Bild zu sehen?«

»Bitte legen Sie es unter den Scanner.«

Sie tat es. Weißes Licht tastete darüber, fächerte sich auf, wanderte weiter.

»Es handelt sich um ein historisches Bild.«

»Bitte geben Sie mir alle Informationen, die Sie dazu haben.«

»Leider sind die verfügbaren Daten beschädigt. Es ist davon auszugehen, dass das Bild um 2123 entstanden ist. Die Bildbeschreibung lautet: eine Familie unter einer Eiche.«

»Erläutern Sie das bitte!«

»Eine Familie ist eine Gruppe von Personen, die zusammenleben. Eine Eiche ist eine Pflanze.«

»Vielen Dank. Zum Ort haben Sie keine Informationen? Und zu diesen Dingen im Hintergrund?«

»Der Ort ist unklar, aber offenbar handelt es sich um Etomi, den Ort, an dem alles ist, wie es sein sollte. Bei dem Tier handelt es sich um ein Rind, ein Säugetier, das als Nahrung dient.«

»Vielen Dank.«

Eine Familie, ein Tier und eine Pflanze. Und ein Ort, an dem alles ist, wie es sein soll. Lea starrte das Bild an. Konnten Pflanzen so riesig sein? Egal. Damit ließ sich nichts anfangen. Familie, das war das wichtige Stichwort. Das hatten auch die Rebellen gesagt. Auf ihrer Suche nach einem Ausweg hatte Lea sie vor einigen Wochen angesprochen. Die merkwürdigen Leute, die alle ignorierten und die trotzdem jede Woche vor dem Einkaufszentrum standen! Lea musste sie noch einmal besuchen. Diesmal würde sie ein Geschenk mitbringen. Diesmal würden sie ihr sagen, was sie wissen wollte. Und dann würde sie leben!

Josa legte den Hebel um, der die Anlage wieder in Betrieb nahm — und stand im Dunkeln.

»Scheiße!«, fluchte sie.

Der ganze Quadrant hielt den Atem an: kein Klicken, kein Summen, nicht einmal die Lüftung rauschte. Also war nicht nur hier die Sicherung rausgeflogen. Hoffentlich nur die Sicherung. Und Josa hatte keine Notlampe dabei.

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

Sie stieß sich den Fuß an einer Kante, tastete an der Fertigungsstraße entlang zur Tür, tappte hindurch, schob sich in den Flur. Metallfinger schabten an der Wand entlang, trommelten nervös: klickediklickediklick. Ohne Lampe konnte sie gar nichts tun. Also erst einmal in ihr Quartier.

Sie war noch nicht dort angekommen, als ihr Licht entgegen funzelte. Josa kniff die Augen zusammen. Hoffentlich ein Teammitglied! Aber als sie schwere Schritte hörte, wusste sie, dass dieses Glück ihr nicht hold war. Alpha Sondak persönlich sah nach, wer ihren Distrikt lahmgelegt hatte.

»Massonde?« Sondaks harte Stimme schnarrte durch den Gang.

»Anwesend.«

»Wo ist Ihre Notlampe?«

»Im Schrank.«

»Haben Sie meinen Sektor lahmgelegt?«

Den ganzen Sektor? Oje …

»Haben Sie …«, setzte Sondak wieder an, aber Josa unterbrach sie:

»Ich kann das Ausmaß des Schadens noch nicht absehen. Ich nahm an, die Sicherung sei gekommen.«

Sondak stand inzwischen direkt vor ihr. Vereinzelte Lichtstrahlen fingerten über ihre massige, durchtrainierte Gestalt.

Die beiden starrten einander an, dann hob Sondak die Lampe und leuchtete in Josas Gesicht. Josa schloss die Augen.

»Wenn Sie mich blenden, finde ich den Fehler auch nicht schneller.«

»Suchen Sie Streit?«

Josa schwieg.

Sondak nahm die Lampe nicht weg. Sie war wesentlich leistungsstärker als die Funzel, die Josa gerade holen wollte.

»Was halten Sie davon, wenn wir uns mal den Hauptverteiler ansehen?«, schlug Josa vor. »Ich habe Fertigungsstraße 22-D repariert, aber bei der Inbetriebnahme ging etwas schief. Wenn alles dunkel ist, liegt es schon mal nicht an den Sicherungen.«

»Soll das eine Fehlerbeschreibung sein?«

Josa schluckte eine bissige Antwort hinunter. Wenn sie Zeit hätte, den Fehler zu finden, stünden sie nicht hier im Dunkeln.

»Sie wissen selbst, dass das Material zu wünschen übrig lässt. Ich muss es mir ansehen, bevor ich weiß, wo es hängt.« Wenn sie nur an den Zustand der Isolierungen dachte …

»Dann tun Sie das! Ich prüfe derweil die Sicherungen.«

Auch wenn das Problem nicht dort liegen konnte, war es hilfreich, wenn jemand nachsah, ob dort Strom ankam.

Josa nickte zackig.

»Und nutzen Sie gefälligst ein MobKomm, damit ich Sie erreichen kann!«

Eine Freigabe für das MobKomm! Josa nickte wieder. Dann tastete sie sich an Alpha Sondak vorbei in ihr Zimmer.

Für Leas Ausstand bei Bodyness war der Versammlungsraum festlich geschmückt. Das Design für ihre letzte Party fiel schlichter aus als Maris, natürlich; anders als ihre Freundin hatte Lea nie eine Leitungsposition erreicht und selbst wenn sie all ihr Geld für diesen Tag ausgegeben hätte, bekam sie keinen Zugriff auf die Dekorationen für Menschen in Leitungsfunktionen. Sie wusste das genau, denn vor ihrer Zeit bei Bodyness hatte sie Raumdekorationen gestaltet.

Lea stand am Buffet, ein zierliches Glas in der Hand. Sie steckte das übrige Kurvan in ihren Mund und trank einen Schluck Saft hinterher. Wasser wäre ihr lieber gewesen, aber niemand bot auf so einer Veranstaltung Wasser an. Sie nahm einen zweiten Schluck, aber die klebrige Süße wurde nicht weniger. Dieser eine Abend noch, dann war sie frei. Sie würde es durchstehen.

Falynda, Leas Vorgesetzte, stand in einer Ecke, ins Gespräch mit Sulan vertieft. Lea hatte nicht angenommen, dass er kommen würde. Nicht nach der Trennung, nicht, nachdem er ihr so übel genommen hatte, dass sie nicht vorhatte, ruhig zu sterben. Aber da war er, straff und aufrecht, die tätowierten Leopardenflecken golden schillernd. Er hatte Lea innig umarmt, für alle sichtbar, seinen glatten Körper an ihren geschmiegt, eine Erinnerung an lustvolle Stunden. Vielleicht hatte er Mitleid. Oder Sehnsucht nach ihr. Oder eine Mischung aus beidem.

Das Team von Bodyness bildete eine eigene Gruppe, lachend und schwatzend. Wie seltsam: die bunten Farben, die leuchtenden Arrangements, die Musik. Alles schien so fröhlich und unbeschwert. Nicht wie die Feier zum Abschied einer Person, deren Tod beschlossen war. Leuchtend bunte Menschen schwammen im Raum herum wie Fische im Onyx-Teich. Wenigstens muss ich mich hier nicht fragen, ob sie echt sind. Lea schob den Gedanken beiseite, bevor er sich auf ihrem Gesicht zeigte. Dies war ihre Party und sie konnte sich nicht verstecken. Sie drehte sich zur Wand, griff nach den runden Traubperlen und steckte sich eine in den Mund. Sie drückte mit der Zunge dagegen, die Perle zerplatzte, Saft spritzte gegen Leas Gaumen. Viel zu süß! Lea wischte für einen Moment das Lächeln von ihrem Gesicht, entspannte die Wangen. Dieser eine Tag noch!

»Lea, Liebes!« Eine Hand legte sich um Leas Taille, eine federleichte, kühle Berührung. Falynda, es konnte nicht anders sein. Niemand sonst hatte diese Leichtigkeit. Lea zog die Mundwinkel nach oben und wandte sich zu ihrer Vorgesetzten um.

»Ja?« Sie blickte in Falyndas makelloses Gesicht, in ihre immer noch tiefblauen Augen.

»Eine schöne Party hast du hier. Wirklich wundervoll!«

»Vielen Dank. Magst du das Raumdesign?«

»Aber ja! Es entspricht dir voll und ganz.«

Lea lächelte breiter. Was für eine beiläufige Art, sie zu entwerten. Ja, es entsprach ihrem Status. Im Vergleich zu Falynda, die eine sehr angesehene Firma leitete, war Lea nichts. Falynda lächelte und beugte sich vor, sodass ihre vollen Lippen fast Leas Ohr berührten. »Ich bin sehr froh, dass ich mir umsonst Gedanken gemacht habe. Die Große Mutter meinte, du würdest dich einfügen, aber ich hatte doch Sorge. Hier, das wird dir helfen.«

Sie drückte Lea einen Tablettenblister in die Hand und schenkte ihr ein vollkommenes Lächeln. Die Große Mutter hatte also Falynda beruhigt. Natürlich sprach sie mit der Leiterin einer Firma direkt. Vielleicht war es auch eine Lüge, um Lea zu zeigen, wie wichtig Falynda war. Als ob sie das je vergessen würde!

Falynda drehte sich von Lea weg, richtete sich auf und breitete die Arme aus, eine vollendete Geste, die den gesamten Raum umfasste. Die Musik wurde leiser, das Licht im Rest des Saales dunkler. Lea und Falynda standen nun im Fokus, in einem Kreis goldenen Lichts. Lea wusste, wie armselig sie neben Falynda wirkte: eine einfache Angestellte, bei Bodyness immerhin, die nun das Ende ihres Lebens erreicht hatte.

»Liebe Mitarbeitende bei Bodyness, liebe befreundete Personen, liebe Gemeinschaft!«, begann Falynda. Ihre Stimme drang bis in den letzten Winkel des Raumes. »Wir haben uns hier versammelt, um den Ausstand von Lea des Bodyness zu begleiten, sie zu feiern und zu preisen. Lea war eine äußerst geschätzte Mitarbeiterin, deren Designs den höchsten Ansprüchen genügten, eine Frau, deren Eigenwilligkeit«, sie lächelte in die Runde, »uns manchmal erstaunt, aber auch belebt und erfrischt hat. Wir werden sie mit gutem Gewissen ziehen lassen, in dem Wissen, dass sie der Weisheit der Gründerpersonen und der Großen Mutter folgt, dem besten Wissen unserer Vorfahren, die unser Leben strukturiert haben und dafür sorgen, dass das Morgen gesichert ist. Wir knien nieder und danken der Großen Mutter, die unser Leben so freudvoll und zuversichtlich eingerichtet hat.«

Lea sank neben Falynda in die Knie, so wie alle anderen im Saal: ein Bein vorgestellt, die Hände mit den Handflächen nach oben daraufgelegt. Lea sprach die Worte nach, die der Assistent ihr unauffällig eingab: »Wir danken dir, Lea, für deine Arbeit, wir verabschieden dich als Teil unserer Gemeinschaft, so wie wir dich ehemals willkommen hießen. Möge die Große Mutter über dich wachen und dich geleiten.«

Lea kannte den Text, es war auf jedem Ausstand derselbe. Sie hatte ihn für Mari gesprochen und davor für andere. Jahrelang war er ihr ergreifend vorgekommen. Schon bei Mari hatte sie daran gezweifelt. Das süßliche und immer gleiche Lob sagte nichts über den Menschen aus, der verabschiedet wurde. Es war ein Lob auf die Gemeinschaft und Lea sah ein, dass diese wichtig war. Aber war es wirklich eine Zumutung, einen Menschen länger bleiben zu lassen, der keine Schmerzen hatte? Aber daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie musste lächeln und tanzen. Dann würde sie weitersehen. Dann konnte sie weitersehen.

Falynda stand auf. Jemand war hinter sie getreten, um ihr das Ausstandsgeschenk zu reichen. Lea nahm das Arrangement entgegen. Gemessen an ihrem Status war es riesig. Trotzdem wartete sie darauf, dass Falynda etwas hinzufügte. Etwas Persönliches wie eine Flasche. Sie wartete vergebens.

* * *

Falynda war unter den Letzten, die die Feier verließen. Lea bemerkte es mit Verwunderung. Ihre Vorgesetzte hatte keinen Grund, so lange zu bleiben, schon gar nicht, nachdem Lea ihr Ärger gemacht und versucht hatte, ihren Abschied hinauszuzögern. Angestellte mit niedrigem Status trübten das Ansehen der gesamten Firma. Lea hoffte, dass Falynda sie nicht zwingen würde, länger durchzuhalten. Lea wollte nur noch ins Bett. Falynda zog sie in eine enge Umarmung, drückte ihren festen Körper an Leas. »Sei tapfer Lea! Ich werde dich nicht vergessen.« Sie ließ Lea los, schenkte ihr einen letzten Blick aus ihren unglaublich blauen Augen, dann rief sie »Auf Wiedersehen« und stöckelte nach draußen.

Lea sah ihr hinterher. Sie würden einander nicht wiedersehen. Belebend und erfrischend hatte Falynda sie genannt. Lea hatte das für leere Worte gehalten, Nettigkeiten, die ihre Vorgesetzte nutzte, um Kritik zu verpacken. Eigenwillig. Das konnte man nicht positiv interpretieren. Aber vielleicht verhielt es sich doch anders.

Lea verabschiedete die letzten Gäste, checkte aus, sah durch die Scheibe zu, wie die Reinigungsroboter in den dunklen Raum glitten. Dann ging sie zur Mobilostation. So leicht konnte sie ein Arbeitsleben hinter sich lassen.

* * *

Es war weit nach Mitternacht, als Lea endlich ihr Kubikel erreichte. Sie gab ihre Kleidung in den Reinigungsschrank, duschte und legte sich ins Bett. Die Wirkung des Kurvans hatte nachgelassen. Ihr Körper flirrte, Arme und Beine kribbelten, lechzten nach Bewegung. Außerdem war sie hungrig. Auf der Feier hatte sie fast nichts herunterbekommen. Was hatte Falynda gemeint, als sie sagte, die Große Mutter habe sie beruhigt? Sprach die Große Mutter mit ihrer Vorgesetzten über Lea? Lea war viel zu unwichtig dafür. Selbst Falynda war nicht wichtig genug. Sie hatte also gelogen. Aber warum? Um Lea zu beeindrucken? Das hatte Falynda nicht nötig.

Warum war Sulan gekommen und wer hatte ihn eingeladen? Und warum hatte Teammitglied Suki auf das Erbsendesign hingewiesen, jene geschmackliche Verirrung, die Lea in den letzten Wochen produziert hatte, weil sie sich von ihrer Faszination für alte Pflanzen hatte hinreißen lassen? Vielleicht hatte Suki einfach zu viel getrunken. Merkwürdig sich vorzustellen, dass Lea Suki nie wieder sehen würde. Nie wieder die spitzen Kommentare, nie wieder sich aufrecht hinsetzen, um Sukis Blicken kein Futter zu bieten. Leas Austritt war in vierzehn Tagen terminiert. Vierzehn Tage, in denen sie … ja was?

»Herzrate regulationsbedürftig.«

»Das ist mir bewusst. Bitte unterlassen Sie die Warnungen.«

Lea lauschte. Der Assistent schwieg. Gut.

Vierzehn Tage waren nicht viel. Aber ihr Status war jetzt gleichgültig, das gab Lea eine Freiheit, die sie noch nie besessen hatte. Gesellschaftsfeindliche Gedanken waren das. Aber sie musste so denken, wenn sie leben wollte. Niemand würde sie aus dem Kubikel werfen, so kurz vor ihrem Austritt. Also konnte sie alles in die Waagschale legen. Am Mittwoch die Rebellen. Sie mussten etwas wissen! Am Donnerstag konnte Lea sich vorbereiten. Wenn sie nur wüsste, worauf! Die bruchstückhaften Daten zur Welt außerhalb von Eos konnte niemand zusammensetzen. Hatte es überhaupt schon jemand ernsthaft versucht?

Die Welt außerhalb von Eos. Leas Magen krampfte sich zusammen. Da draußen wartete nur der Tod. Sturm und Dürre, das sagten die Daten. Aber sie musste es wagen. Wenn sie hier drin keinen Platz mehr hatte, war draußen die einzige Alternative. Irgendwo dort lag Etomi, der Ort, an dem alles stimmte. Eine andere Kuppel, die sie aufnehmen würde. Unter der sie sicher sein würde. Willkommen. Vielleicht irrten die Daten und der Weg dorthin lag frei. Lea blinzelte in die Dunkelheit. Zum Glück kann auch das beste System meine Gedanken nicht lesen.

Wenn sie außerhalb der Stadt überleben wollte, musste sie Essen kaufen: Fettbasis, Lipidbasis, Carbbasis, Vitaminzusatz. Ohne Geschmacksstoffe und einen Zubereiter würde es nicht schmecken. Aber es würde sie am Leben erhalten. Hoffentlich würde es sie am Leben erhalten. Niemand hatte so etwas je ausprobiert. Oder sie suchte nach Rezepten für lange haltbare Speisen, die sie mitnehmen konnte. Eine ungewöhnliche Datenbankanfrage, die auffiel, aber das stellte jetzt kein Problem mehr dar. Hoffentlich.

Und sie brauchte Kleidung. Sie hatte einiges hier, was sie einpacken konnte. Leas Herzschlag wurde schneller. Sie atmete tief ein und aus. Beruhige dich, Lea. Ganz ruhig!

Ohne Kurvan stehe ich das nicht durch.Wenn ich nicht zu viel nehme, kann ich noch klar denken.Nein, da mache ich mir etwas vor.Ich muss es ohne durchstehen.

Stimmungsschwankungen in der terminalen Phase sind normal. Das weiß die Große Mutter. Trotzdem fiel Leas Unruhe gewiss auf. Schlafen, dachte Lea, ich muss schlafen. Morgen kann ich besser nachdenken.

Sie griff unter die Decke und rückte den Linsenbratling zurecht, prüfte seine Befestigung am Oberschenkel. Das Stück Stoff, mit dem sie ihn festband, roch immer noch unschön. Es mit unter die Dusche zu nehmen, hatte fast keinen Effekt gehabt. Aber das machte nichts. Es würde alles gut werden. Sie musste nur Ruhe bewahren.

* * *

Lea schreckte aus dem Schlaf, weil sie fiel. Sie hing auf der Bettkante, etwas schob an ihr herum, drückte gegen ihre Hüfte, surrte wütend. Eine Medidrohne. Lea rollte sich zurück ins Bett. Ihr Herz raste schon wieder. Sie hatte von Mari geträumt. Von ihrem Gesicht auf der Liege. Mund und Wangen waren weg gerieselt wie feiner Staub, der zum Vorschein kam, wenn die Han-Gärten neu arrangiert wurden. Dann war plötzlich sie selbst zerrieselt, erst die Hände und Arme, dann ihr gesamter Körper. Lea hatte nichts mehr sehen können, feines Vibrieren erfasste sie. Sie schrie und selbst das floss aus ihr heraus, wurde immer weniger.

Die dünne Decke klebte an Leas Körper, halb vom Bett gerutscht. Lea fuhr sich mit dem Deckenzipfel über die schweißnassen Wangen und sah der Medidrohne zu, die aus dem offenen Fenster davonschwebte. Die Haus-KI musste es geöffnet haben.

»Wie geht es Ihnen?« Pseudoyanns Gesicht lächelte zu ihr herab. »Die letzten Tage in der Gemeinschaft sind für viele Menschen schwer.«

Lea zerrte die Decke über ihr Gesicht. Sie lag mehr darauf als darunter. Mein Bein! Lea zog die Decke über den stinkenden Bratling. Endlich war er bedeckt. Sie würde eine Strafe bekommen. Nicht nur einen Abzug von Statuspunkten. Gleich kamen Polizeidrohnen. Die Haus-KI würde das Fenster öffnen und sie würden herein schwirren und … Lea hatte keine Ahnung, was sie würden. Sie wegbringen? Ihr Schmerzen zufügen?

Sie lag zitternd und lauschte. Die Geräusche der Stadt drangen durch das offene Fenster: das Summen von Reinigungsrobotern und das höhere Sirren einer Flugdrohne. Aber es kam nicht näher. Schemenhaft leuchtete das Therapiemodul durch die dünne Decke.

»Sie sollten nicht unter so großen Instabilitäten leiden. Ich werde eine Wartungseinheit schicken, um Ihren Injektor zu prüfen.«

»Vielen Dank.« Leas Stimme klang gedämpft. Sie musste den Injektor reinigen, ohne dass jemand bemerkte, dass sie daran herummanipuliert hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie das ging. »Ich denke, es ist nicht nötig. Der Injektor funktioniert hervorragend.«

»Sind Sie sicher?«

Der Assistent wusste genau, dass Lea diese Frage nicht bejahen konnte. Sie wusste nichts von Injektoren.

Lea schwieg.

»Hatten Sie einen schönen Ausstand? Möchten Sie darüber sprechen?«

Ganz sicher nicht! Lea erlaubte sich, unter der Decke den Mund zu verziehen. »Wie spät ist es?«

»Sorgen Sie sich nicht um die Zeit. Sie sind für die nächsten Tage von der Arbeit freigestellt, da kann ich Ihre Aufwachzeit anpassen. Wenn jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch ist, bin ich selbstverständlich für Sie da.«

Nein, es war nicht der richtige Zeitpunkt. Es gab keinen richtigen Zeitpunkt. Aber das Programm erkannte das nicht.

»Ich hatte einen sehr schönen Ausstand«, behauptete sie durch die Decke hindurch.

»Die Große Mutter ist für Sie da, bis zum Schluss. Wir sollten gemeinsam überlegen, was Ihnen jetzt Freude bereitet. Die Große Mutter wird es für Sie bereitstellen.«

Schlaf wäre gut. Und eine Zukunft! Lea gähnte, dann schob sie die Decke etwas nach unten und spähte dahinter hervor.

»Ich bin müde.«

»Natürlich können Sie erst morgen der gewählten Tätigkeit nachgehen, jetzt ist Nacht und alle Systeme sind heruntergefahren. Aber was halten Sie von einem entspannenden Bad? Ich könnte Ihnen einen Termin in der Oase buchen.« Es lächelte sie breit an. »Im Wellenbad.«

Lea wollte nicht in die Oase. Genau genommen wollte sie nirgendwohin. Außer zu den Rebellen. Und nach Etomi.

»Oder vielleicht etwas, was Sie mehr ablenkt? Die Cinemathek? Die neue Gefühlsinduktion ist ganz hervorragend und wenn wir etwas Aufmunterndes wählen, eine Liebesgeschichte, dann würde das sicher gut passen.«

Junge Leute, die ihr Leben noch vor sich haben? »Danke, ich fühle mich nicht danach. Es ist merkwürdig, aber«, sie zog die Decke wieder etwas höher. »Ich werde ja nach draußen gehen. Also mein Körper.«

»Sicher, das werden Sie. Er wird der Gemeinschaft dienen und Nahrung wachsen lassen.«

Lea fragte sich zum wiederholten Male, wie das funktionieren sollte.

»Ich würde gern etwas über diese Nahrung lernen. Es wäre eine schöne Idee, sich damit zu beschäftigen.«

»Hervorragend! Ich werde Ihnen die entsprechenden Informationen bereitstellen. Vielleicht kann ich sogar einen Kontakt herstellen mit einer Person, die Ihnen davon erzählen kann. Es ist nicht gut, wenn Sie so viel allein sind.«

Es war perfekt, allein zu sein. Vor niemandem eine gute Figur machen müssen, den eigenen Ideen nachgehen – das konnte sie nur allein. »Ja, das wäre sehr nett.«

Der Therapie-Assistent schwieg und grinste sie an.

»Vielen Dank«, sagte Lea. »Ich werde gleich ein Schlafmittel anfordern. Dann sehen wir, ob der Injektor in Ordnung ist.« Sie musste nur den Bratling beiseiteschieben.

»Wie Sie meinen. Schlafen Sie gut!«

»Natürlich, danke!«

Die Projektion erlosch. Endlich. Sie glaubte nicht, dass das Modul hilfreiche Informationen bereitstellen würde. Aber immerhin war sie es los. Für eine Weile.

* * *

Juni 23 2369 15:41:36 [SubmE 12] INFO: Subjekte E0d32:03 und E0d32:0D instabil. Programmphase D eingeleitet. Erfolgswahrscheinlichkeit 24 %.

* * *

Vor sechs Wochen hatte Lea die Rebellen das erste Mal besucht. Ein Ausflug in eine Welt, auf die sie bislang immer herabgesehen hatte. Und nun kam sie bereits das dritte Mal an den Rand der Kuppel. Ihre Statuspunkte waren so niedrig wie noch nie in ihrem Leben. Aber das durfte sie nicht mehr aufhalten.

Lea bewegte sich vorsichtig durch die schmalen, trist wirkenden Straßen. Die wenigen Menschen, die mit ihr an der letzten Mobilostation ausstiegen, zerstreuten sich bereits in verschiedene Richtungen. Sie war allein. Natürlich wachte die Große Mutter trotzdem über sie. Bisher war das ein tröstlicher Gedanke gewesen. Wie viele Statuspunkte kostete dieser Besuch? Noch schwieg ihr Assistent dazu.

Die beiden Stockwerke von Wohnturm 73N duckten sich mit schrägem Dach in die Krümmung der Kuppel. Die Fassade war zu einem unbestimmten Graublau verblichen, auf den Fenstersimsen lag deutlich sichtbar Staub.

Lea trat vor die Tür des Wohnturms. Normalerweise öffneten sich die Türen automatisch, sobald man den Namen der besuchten Person nannte, aber hier hing immer noch ein zerkratztes Display am Türblatt, auf dem stand: »Die Tür ist defekt, bitte manuell öffnen.«

Lea schauderte. Sechs Wochen und keine Reparatur! Was musste man angestellt haben, um so wohnen zu müssen? Sie stemmte sich gegen die Tür, trat ins Turminnere unter eine einzelne schwächlich glimmende Lampe. Lea gehörte hier nicht hin. Aber sie würde es durchziehen.

Sie stieg die Treppe hinauf. Das Arrangement in ihren Armen wog schwer. Lea lehnte sich an die Wand und setzte das Geschenk auf den angestellten Oberschenkel. Nur kurz ausruhen. Vielleicht war das doch eine naive Idee: einfach hineingehen und fragen. Wie hätte sie reagiert, wenn eine fremde Person ihr offenbart hätte, dass sie aus Eos fliehen wolle? Es überhören? Oder melden. Einfach den Assistenten aktivieren und … In Leas Bauch wühlte ein Loch. Wahrscheinlich war es genau das, was sie getan hätte. Vor wenigen Monaten noch: Meldung machen. Ein paar Statuspunkte mehr auf Kosten einer fremden Person. Manchmal gab es Untersuchungen. Nachfragen. Vielleicht gar eine Umerziehung wie im Kinderzentrum. Aversivtherapie. Schon das Wort war unangenehm. Sie hatte es einmal durchgemacht. Das reichte aus.

Ein Klappern riss Lea aus den Gedanken. Sie stieß sich von der Wand ab, nahm das Arrangement hoch, lächelte. Die Folienverpackung knisterte. Lea stieg zwei Stufen hinauf, hielt inne. Es war wieder still. Was passierte, wenn sie so kurz vor ihrem terminierten Austritt aus der Rolle fiel? Sicher stellte die Große Mutter auch dafür eine Lösung bereit. Eine Routine, die möglichst wenige Menschen beunruhigte. Es war ein Leichtes, eine Medidrohne zu aktivieren, die Lea ruhigstellte. Im schlimmsten Fall kam eine automatisierte Trage und brachte sie ins nächste medizinische Zentrum. Niemand würde ihrem Tod beiwohnen. Wenn das System entschied, sie früher zu eliminieren, dann störte das niemanden. Weil niemand mehr da war.

Das Bauchloch wuchs, drückte gegen Leas Zwerchfell. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Lea wischte ihn sorgfältig weg. Sie dachte an Roan, den Mann aus dem Film, den man nur im Privaten sah: wie er völlig verwahrlost in seinem Kubikel aufgefunden wurde. Weil er sich dem Tod widersetzt hatte. Ein schrecklicher Film, in dem er auf der Straße um sich schlug, nachdem man ihn aus seinem Heim gezwungen hatte. Unwürdig sah er aus. Hässlich. Warum war er nicht unauffällig ruhig gestellt worden? Lea konnte eine Rechercheanfrage stellen, aber wahrscheinlich führte das zu nichts. Derartige Dinge fehlten in den Datenbanken.

Als sich oben eine Tür öffnete, setzte Lea ihren Weg fort. Jemand kam ihr entgegen, leichtfüßig und gut gelaunt. Lea trat zur Seite und sah hoch. Sanmo stand in der Tür, jener untätowierte Mann mittleren Alters mit rosafarbener Haut und widerlich wuchernden Haaren im Gesicht, den sie schon bei ihrem ersten Besuch angetroffen hatte. Dabei war dauerhafte Enthaarung nicht einmal teuer!

»Guten Tag!«, rief sie hinauf und nahm federnd die letzten Stufen.

Sanmo lächelte sie an und streckte die Arme nach dem Arrangement aus. Es war ein preiswerteres, Lea hatte nicht gewagt, zu viel ihres wenigen Geldes dafür auszugeben. Sie hoffte, dass ihr das nicht als mangelnder Respekt ausgelegt wurde. Unauffällig durchforstete sie Sanmos Gesicht nach einem Hinweis.

»Komm doch herein!«, sagte er und trat zur Seite.

Wie das letzte Mal drängten sich zahlreiche Personen in dem kleinen Raum. Ohne die Hilfe des Assistenten — die Rebellen verlangten, dass man ihn für die Zeit des Besuchs deaktivierte — konnte Lea nicht bei allen sicher sein, ob sie die Personen von ihrem ersten Besuch kannte.

»Oh wie schön!« Marinda eilte auf sie zu, ergriff ihre Oberarme und küsste Leas Wangen. »Wir haben schon gedacht, du kommst nicht mehr.«

Lea lächelte und erwiderte die Küsse. Eine merkwürdige Art, sich zu begrüßen. Aber sie hatte auch ein merkwürdiges Anliegen. Lea ließ sich auf einem Kubus nieder. Sie rechnete damit, wieder allein zu sitzen und um Kontakte zu ringen, aber diesmal kamen Menschen auf sie zu, fragten nach ihrer Arbeit und ihren Lieblingsfilmen. Lea erzählte von Bodyness – als sei sie noch Teil davon – und verteilte Komplimente für gelungene Tätowierungen. Sukis neues Design war offenbar sehr beliebt – und an Lea vorbeigegangen. Das war ihr noch nie passiert.

Lea sprach gern über Filme und Mode und Tätowierungen. Aber heute schien es Zeitverschwendung. Die Rebellen waren freundliche Leute, wie alle anderen Stadtmenschen auch, und Lea hätte den Abend genießen können, wäre da nicht der Drang gewesen, die Frage anzubringen. Kein Moment schien Lea passend und sie wurde immer unruhiger. Sie ertappte sich sogar dabei, ihre Finger zu kneten!

Als sich der Raum langsam leerte, trat Sanmo zu Lea.

»Und, hast du es dir überlegt?« Er lächelte sie breit an.

Sie lächelte zurück. Wovon redet er?

»Die älteste Schwester! Eine perfekte Position für das erste Familienerlebnis.«

Ach so, natürlich. Er dachte, sie sei wegen seines Angebots wiedergekommen. Zum Glück wusste er nicht, dass sie keine Angestellte mehr war und sich die angebotene Position in ihrer Gruppe gar nicht mehr leisten konnte. Ganz davon abgesehen, dass sie diese merkwürdige Idee der Familie nicht überzeugte.

»Es tut mir leid«, sagte Lea vorsichtig, »aber … ich glaube, das ist derzeit nicht das Richtige für mich.«

Sie drehte das dünnwandige Glas in den Händen und mied seinen Blick. Ihm musste klar sein, dass sie etwas anderes wollte. Sie sah nach unten, auf seine blauen Schuhe mit dem filigranen Blumenmuster, dann wieder auf. Seine braunen Augen sahen sie offen an.

»Was können wir für dich tun?« Er lächelte breit.

»Ich«, Leas Mund wurde trocken. So oft hatte sie die Sätze in ihrem Kopf hin und her gewälzt. Immer klangen sie falsch: zu plump, zu direkt, zu vage, zu unverständlich. »Ich hoffe, dass ich euch nicht zu nahetrete, aber …«

Sanmos Gesicht wirkte auf einmal starr. Lea hob ihre Tasche auf, der Verschluss widersetzte sich ihren zitternden Fingern, gab endlich nach. Sie tastete nach der Flasche, streckte sie ihm entgegen.

Er hob fragend die sorgfältig gezupften Augenbrauen.

Sie hielt ihm das Etikett hin. »Ist das nicht eine Familie?«

Sanmo beugte sich vor, studierte das Bild und nickte. »Möglich. Ich kenne das Bild leider nicht.«

Eine Weile standen sie still da, Lea mit der Flasche in den ausgestreckten Händen, Sanmo, wieder aufrecht, den Kopf über die Flasche gebeugt. Im Raum war es ruhig geworden. Marinda schlenderte herüber, ergriff die Flasche, betrachtete das Etikett.

»Ich kenne das Bild aus der Datenbank«, behauptete sie. »Es ist veraltet. Diese Familie«, sie tippte mit dem Fingernagel gegen das Glas, »beinhaltet Kinder. Eine Lebensweise, die sich als nicht ressourcenschonend erwiesen hat und schon vor langem verworfen wurde. Diese Lebensform wäre eine immense Belastung für einzelne Personen. Niemand kann das wollen!«

Lea sah sie erwartungsvoll an. Marinda wusste mehr als sie, so viel war klar. Vielleicht wusste sie auch …

Marinda hielt Lea die Flasche hin. Lea griff danach. Fast rutschte das Glas aus ihren schweißigen Händen. Lea verstaute sie umständlich. Sie musste es wagen. Jetzt! Sie sah wieder auf und zauberte ein, wie sie hoffte, gewinnendes Lächeln auf ihr Gesicht.

»Ich suche nach einem Weg, länger zu leben.« Sie hatte das vorsichtiger formulieren wollen. Eleganter. Aber nun war es heraus.

Sanmo riss ungläubig die Augen auf, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Marindas Lächeln hing schief auf ihrem Gesicht.

»Da bist du hier falsch!« Ihre Stimme klang scharf.

»Ich wollte euch auch nicht, ich …« Lea holte tief Luft und umklammerte ihre zitternden Hände. Sie sprach schnell, bevor jemand sie unterbrechen konnte. »Ich dachte, ihr wisst vielleicht, wohin ich mich wenden kann. Wie wird man unsichtbar?«

Noch vor einigen Tagen war ihr die Möglichkeit, eine Unsichtbare zu werden, schrecklich erschienen. Wer wollte ausgestoßen sein und Arbeiten erledigen, die man unbescholtenen Menschen nicht zumutete? Aber inzwischen schien es eine Option. Lea würde arbeiten und Zeit haben, einen Weg nach draußen zu suchen. Nach Etomi, dem Ort, den der Duft verhieß.

Marinda warf den Kopf zurück und lachte. Ihr Gelächter füllte den Raum, steckte Sanmo an. Leas Beine zitterten, wollten unter ihr nachgeben. Sie musste mit einstimmen. Ihre eigenen Worte als Witz entlarven. Aber sie konnte nicht, das Lachen steckte im Hals fest und schnürte ihr die Luft ab.

»Was für eine absurde Vorstellung!«, rief Marinda glucksend. »Wir leben die Familienidee. Aber wir sind doch keine Feinde der Gemeinschaft der Großen Mutter!«

Sechs Augenpaare starrten Lea an. Sie stand da, lächelnd, und umklammerte ihre Tasche.

»Es tut mir leid. Ich will doch nur …«

»Es ist egal, was du willst!«, schnitt Sanmo ihr das Wort ab. Er hatte sich aufgerichtet und sah auf sie herab. Das Lächeln war von seinem Gesicht gewischt. »Jeder weiß, dass Menschen mit Todesantipathie keine Unsichtbaren werden!«

»Aber wie wird man denn unsichtbar?!« Leas Stimme klang kläglich.

»Man wird es nicht, man ist es!«, behauptete Marinda.

Sie wich vor Lea zurück, die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst. Sie würde sie melden. Irgendjemand von den Menschen, die noch in diesem Raum waren, würde sie melden. Und dann … bevor Lea weiterdenken konnte, ergriff Sanmo ihren Arm.

»Es ist Zeit für Sie zu gehen.«

Gehorsam ließ Lea sich zur Tür schieben. Sie musste hier weg, schnell!

»Bitte, können Sie, ich möchte nicht … also, wenn Sie bitte keine Meldung …«

Marinda unterbrach sie mit liebenswürdiger Stimme. »Das hier ist ein sicherer Raum für alle Familienmitglieder. Und damit das so bleibt, müssen Sie verstehen, dass Sie hier nicht mehr willkommen sind.« Sie klang, als würde sie ein Kompliment machen. »Wir haben unsere eigenen Ideen, aber wir sind nicht gesellschaftsfeindlich und illusionär.«

So weit war es also schon gekommen! Lea nahm sich nicht die Zeit, die Tür hinter sich zu schließen. Sie eilte die Treppe hinunter, hob die Sperre für den Assistenten auf und lief nach draußen.

* * *

Gesellschaftsfeindlich und illusionär. Fehlt nur noch egoistisch und ich bin ein Feind der Gemeinschaft der Großen Mutter. Eine Antisoziale, die den Weg nicht mitgeht. Eine Person, die ihr eigenes Wohl vor das der Gemeinschaft stellt und damit deren Untergang provoziert. Eine … Stopp! Ich weiß, dass sie Unrecht haben. Ich bin nicht … ja was?

Lea bemerkte erleichtert, dass niemand außer ihr hier unterwegs war. Der Weg zur Mobilostation erschien ihr auch so unendlich lang. Ihr Lächeln verklebte mit dem Gesicht, der Nacken versteifte sich. Zu Ende. Noch fünf Tage und dann ist es zu Ende. Sie konnte sich nur noch aussuchen, ob sie zum Austritt gehen oder warten wollte, bis sie sie holten. Und das, obwohl sie doch anders war! Ihr Körper hatte noch Leben in sich! Sie fühlte sich, als könne sie noch zehn Jahre leben, nicht nur die ein oder zwei Monate, die Mari prognostiziert hatte. Aber war dieser Gedanke nicht doch egoistisch? Der Platz unter der Kuppel war begrenzt. Vielleicht hatte Marinda Recht mit ihren Vorwürfen. Fast wünschte Lea sich Schmerzen. Mari war dankbar für ihren Austritt gewesen, tat, was verlangt wurde, empfand den Tod als Erlösung. Aber Lea? Sie konnte nicht. Mit einem energischen Ruck ihres Handgelenks deaktivierte sie den Assistenten, bevor er etwas sagen konnte. Ja, sie weinte. In aller Öffentlichkeit! Es war ihr gleichgültig. Sie wollte, dass es ihr gleichgültig war. Ihr würde noch viel mehr gleichgültig sein müssen, wenn sie ihren Plan umsetzen wollte. Jemand kam ihr entgegen, lächelte, wandte den Blick ab. Lea aktivierte den Assistenten, zog die Mundwinkel nach oben und wischte die Tränen weg.

* * *

Zum Glück war die Station fast leer.

»Nächste Bahn in 15 Minuten.«

15 Minuten! So lange hatte sie noch nie auf ein Mobilo gewartet. Lea ließ sich auf einen Wartekubus sinken und ordnete gewohnheitsmäßig ihr Kleid, drapierte die Falten, sodass sie ein harmonisches Bild ergaben. Jemand setzte sich neben sie. Lea sah geradeaus. Die Person saß unnötig nahe. Sah sie nicht, dass Lea um Fassung rang? Lea stand auf und ging einige Schritte. Die Person folgte ihr. Lea zuckte zusammen, als etwas ihre Hüfte streifte.

»Entschuldigen Sie, bitte.« Lea ignorierte die fremde Stimme. Ruhig atmen und lächeln. Sie hatte sich unter Kontrolle und fiel niemandem zur Last.

Endlich fuhr die Bahn ein. Lea stieg ein, stöckelte zur Bank und setzte sich. Erleichtert stellte sie fest, dass sie allein war.

* * *