Eugénie oder Die Bürgerzeit - Heinrich Mann - E-Book

Eugénie oder Die Bürgerzeit E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

Klassiker von Heinrich Mann über die Werte des Bürgertums im späten 19 Jahrhundert... Sommer 1873: Gabriele West, eine faszinierende, junge Frau, lässt sich auf einen riskanten Flirt mit dem Nachbarn ein. Ihr Mann, der Konsul Jürgen West, wird vom selben Nachbarn zu dubiosen Börsengeschäften verleitet. Der Schwindel fliegt auf und der Nachbar wegen betrügerischer Spekulation verhaftet. Die Ehe von Jürgen und Gabriele scheint zudem gescheitert und der Konsul gesellschaftlich und finanziell ruiniert ... -

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Heinrich Mann

Eugénie oder Die Bürgerzeit

 

Saga

Eugénie oder Die Bürgerzeit

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1928, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726885699

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel

1873 eines Nachmittags im Sommer erhob die Luft sich leicht und so hell wie Perlen über den Gärten vor der Stadt. Die Fahrstraße stand leer. Sie war eine Lindenallee und zog dahin, bis der Blick sich unter den Baumkronen verlor. Wer anhielt vor dem Landhause des Konsuls West, sah seitwärts bis in die Tiefe seines Gartens. Man sah darin klar und schleierlos hingezeichnet die Gestalten, ihre Bewegungen beim Krocketspiel, sah Falbeln und Spitzen flüchtig aufwehen. Das glückliche junge Lachen der Konsulin war einmal genau zu hören.

Sie gewann. Denn Leutnant von Kühn schob seinen Ball absichtlich derart, daß er der Konsulin zum Fortbringen des ihren diente. Sowohl ihre Kusine als auch Leutnant von Kessel widersprachen entschieden. Kessel tat es aus Eifersucht, Emmy Nissen nur, um zu zeigen, daß sie alles durchschaute. Nicht älter als Gabriele West, hatte sie mit zweiundzwanzig Jahren doch schon Schärfe in Ton und Gesicht. Eine mißglückte Heirat lag hinter ihr. Sie hätte, wäre nicht Gabriele dazwischengekommen, Konsul West geheiratet.

Emmy hielt Gabriele für leichtsinnig. Die junge Frau war halb fremd hier. Als noch Unerwachsene, wenigstens Emmy erinnerte sich, verwechselte sie beim Sprechen eine Menge Worte. Seither hatte sie, wie ein kleines Kind, wieder von ihrer ersten Sprache das meiste verlernt. Sie war gefallsüchtig, wohl nicht anders, als alle dort unten; aber keine wendete nun einmal hierzulande den Kopf nach einem Herrn, wie sie nach Kühn gerade jetzt.

Wäre sie nicht auch so liebenswürdig gewesen! Emmy warf es sich vor, wieviel sie selbst an Nachsicht gewährte – dem eigensüchtigen Kind, das niemanden liebte. Für ihren Vetter Jürgen fürchtete Emmy, daß Gabriele ihn vor allem geheiratet habe, um aus dem Mädchenpensionat herauszukommen. Mit den Offizieren spielte sie nur. Hätte sie wenigstens Herz für ihr Söhnchen gehabt! Auch das nicht. Die gleichaltrige Emmy seufzte, als trüge sie Verantwortung.

Neben ihr seufzte Leutnant von Kessel. »Beherrschen Sie sich, mein Lieber!« riet Emmy ihm. Er sagte mit Schwermut – und sie war echt, mußte ihn freilich auch entschuldigen, wenn er Unerlaubtes dachte:

»Wie Ihre Kusine bewundernswürdig das Kleid trägt! Es wäre leicht für die Gestalten, schön zu sein, wenn der Stoff sie nur abformen, sie einfach zeigen dürfte! Hier dagegen: fünf Lagen Rüschen, gebauschte Tunika, dennoch aber siegen die jungen Glieder. Die größte Robe wird lebend, wird durchsichtig und spielt um sie wie ein Quell.«

Emmy war errötet; sogleich rief sie: »Gabriele!«

Die Konsulin wollte laufend dort hinten im Gebüsch verschwinden, Leutnant von Kühn ihr nach. Beide hielten an.

»Gabriele, Herr von Kessel wünschte sehr, eure Sonate mit dir zu spielen.«

»Ich will aber schaukeln«, rief Gabriele zurück.

Da war, schneller als jemand es denken konnte, der schwermütige Kessel ins Gebüsch gesprungen. Kaum, daß die langen Schöße seines Interim-Uniformrockes noch einmal hervorflatterten, fort war er. Die anderen fanden seine flache Infanteristenmütze im Grase liegen, wie nach einem Gefecht. Sie folgten ihm durch die bitter duftende Hecke, schon hatte er sich der Schaukel bemächtigt, schon der Dame die Kissen geordnet. Auch hielt er die Hände unter ihren Fuß, damit sie aufsteige. Zwei ihrer gespreizten Finger zupften am Kleid ein wenig, ihr Fuß erschien. Emmy errötete, Leutnant von Kühn verneigte sich.

Er verneigte sich, sooft die Schaukelnde aus den schwankenden Wipfeln herab und auf ihn zu fuhr. Der Wind von ihren aufrauschenden Röcken bewegte seinen Schnurrbart. In seinem roten Gesicht blinzelten die hellen Wimpern. Er fragte:

»Was hat davon nun Kessel, daß er sie schaukeln darf?«

»Er hat die Ehre, mir Vergnügen zu machen«, sagte aus den Wipfeln die Konsulin.

Ihre Kusine drunten sagte zu Leutnant von Kühn: »Wollen Sie mir, bitte, mein Album holen?«

Er ging ohne Zögern. Er behauptete: »Es ist mir eine Auszeichnung«, – obwohl er schwer den Platz räumte. Inzwischen fragte Emmy:

»Gabriele, würdest du Herrn von Kessel erlauben, daß er mir den Tisch aufstellt?«

Die Konsulin lachte droben wie ein Kind, das begreift. »Wenn du mir nun alle meine Kavaliere weggenommen hast, was wirst du dann anfangen?«

»Dich zeichnen, weil du hübsch aussiehst«, sagte die Kusine, schon kam Kühn mit dem Album. Sie machte einige Striche. »Ist es so?« fragte sie ihn. Es waren aber Buchstaben. Er las: »Sie werden sich zu mir setzen und uns von den Manövern unterhalten.«

»Es ist so«, bestätigte er. Dann rief er aber Kessel, auch der Kamerad mußte den Befehl lesen.

Die Manöver standen für den nächsten Monat bevor. Sie sollten weit fort in der Heimatprovinz der beiden Offiziere sein. »Warum nicht hier?« fragte Gabriele, gab ihrer Schaukel noch mehr Schwung, und dazu jauchzte sie. Ihre Stimme war melodisch und klein.

»Das fehlte noch«, murmelte die zeichnende Kusine.

Die Konsulin verlangte:

»Daß die Herren mir nur pünktlich zum Herbst wieder da sind! An die Kostüme für unseren Maskenball können wir nicht früh genug denken.«

Hierauf schwiegen beide Leutnants so lange, bis Gabriele erstaunte.

»Warum auf einmal so still, und niemand schaukelt mich mehr?«

Diesmal war Kühn der Schnellere. Um sie in Bewegung zu setzen, umspannte er von hinten ihre ganze Taille. »Der oder jener kann versetzt werden nach den Manövern«, sagte er, als sie aus der Luft in seine Hände zurückkehrte.

»Ohne daß ich gefragt werde?« bemerkte die Konsulin, wieder auffliegend.

Leutnant von Kessel betrachtete, was die Kusine zeichnete. Er lobte es, indes er aber dachte, es sei vergebens. ›Wer gab die Leichtbeschwingtheit wieder, dem Unglück fremd und abgeneigt. Wem gelang unter dem hohen, weichglänzenden Haar, das der Zopf krönte, dies ovale Gesicht, seine noch unbeschattete Helligkeit und freundlich ungeprüfte Lust‹ – dachte Kessel. ›Goldene Augen, leise gelöst der Mund mit Perlenreihe‹, dachte Kessel, ›wer sagt eure ganze zutrauliche Freundschaft zum Leben. Euren heiteren Himmel!‹

Ihn hielt es nicht länger, er stürzte dorthin, wo sie durch die Luft schwang, wo sie lebte! Einige Worte an den Kameraden, er war mit der Herrlichen allein, er wollte sprechen. Sie sagte aber im Davonfliegen: »Bei euch drunten ist keine Sonne!« Denn bei jedem Aufflug, zugewendet den durchsonnten Wipfeln, glaubte sie dahinter den Himmel ihrer ersten Heimat zu erblicken. Das Blau ward so dunkel zwischen den Zweigen.

Als sie zurückkehrte, schwärmte Kessel: »Die Sonne geht von Ihrem Antlitz aus«, – worüber sie lachte.

Schnell brachte er noch vor:

»Sie fragen nicht einmal, wer so unglücklich ist, versetzt zu werden?«

Sie antwortete hoch oben, auch die Kusine und der Kamerad konnten es hören:

»Vom Unglück spricht man nicht.«

Kusine Emmy rief plötzlich: »Das Kind weint!« Sofort wollte Gabriele angehalten sein, Kühn breitete schon seine Hände hin, sie sprang ab, sie lief. »Jürgen! Mein kleiner Jürgen!« rief ihre zarte Stimme.

Gabriele, der alle folgten, wehte über den Rasen dem Haus zu. Es hatte hinten die offene, breite Galerie aus Holz. Sie eilte hinan, durch das große Schlafzimmer fort in den Wohnraum, hinaus vorn auf die Steinterrasse. Kein Jürgen. Sie lief zurück um das Haus, sie war schnell. Schon langte sie wieder beim hinteren Eingang an. Als sie ihn wieder betrat, verschwanden die drei anderen grade erst vorn.

Gabriele drückte sich im Schlafzimmer neben der hohen Kommode an die Wand, sie sollten vorbeilaufen und sie nicht sehen, ihr klopfte das Herz. Sie nahten denn auch, nach ihr rufend, sie machten die ganze Runde nochmals.

Nur Leutnant von Kessel nicht, er blieb zurück, er hatte sie entdeckt. »Gabriele!« stammelte er in der Überraschung. Aber vor ihrem tief erschrockenen Gesicht sagte er sofort: »Frau Konsul.«

Er sagte:

»Frau Konsul, ich darf nach dem Manöver nicht mehr wiederkehren, weil ich heiraten soll. Ich kann mich nicht wehren, meine Eltern wollen es. Aber ich liebe jenes Mädchen nicht.« Viel leiser: »Wie könnte ich!« Schnell schnitt sie ab.

»Das glauben Sie nur«, erwiderte sie.

Ihr Herz klopfte noch von der Überraschung. Ihre Stimme versuchte vielmehr, gnädig zu sein angesichts des romantischen Vorganges, blieb aber nicht ganz fest. Dies war nun das Erlebnis der verheirateten Frau. Sie hatte es herausgefordert, ohne an seinen Eintritt zu glauben. Jetzt war es da, war schmeichelhaft, erregte die Neugier und konnte doch immer, wer weiß wie, ausgehn.

»Haben Sie aber erst Ihre eigene Frau, ist alles andere vergessen«, sagte sie, ängstlich gespannt, ob mehr geschähe. Nun geschah aber, daß er schluchzte. Hier faßte sie sich völlig, sie ward die Überlegene, bereit, den romantischen Vorgang zu ihrem Vorteil zu lenken.

»So weit fort«, schluchzte er, »werde ich leben müssen von hier, wo ich ewig sein möchte.«

»Sie tun es für mich«, bestimmte sie. Da verklärte sich sein Schmerz.

Sie fragte:

»Möchte ich selbst denn hier sein? Ich war einstmals zu Hause noch viel weiter fort«, erklärte sie, stolz auf ihr fremdes Stück Leben, das Stück, das ihr allein gehörte. Als er wieder unruhig werden wollte, bemerkte sie strafend:

»Und Sie sind im Krieg gewesen!«

Mütterlich fragte sie weiter: »Wie alt waren Sie eigentlich im Krieg? ... Zweiundzwanzig, so alt wie ich heute. Auch jetzt sind Sie erst fünfundzwanzig, Herr von Kessel. Mein Mann fünfunddreißig, so ist alles in Ordnung. Machen Sie ein freundliches Gesicht!« Sie öffnete das Schränkchen auf der hohen Kommode.

Sie nahm aus einem Behälter den Fächer. Der Leutnant inzwischen strich mit der Hand über das schöne, glatte Möbelstück, statt über die Gestalt, die ewig unberührbar blieb. Sie fächelte ihn, denn er schien erhitzt. Dankbar und hingegeben schloß er die Augen. Da hörten sie näher als vorher die Stimme Emmys, die »Jürgen« rief.

»O Gott! Das Kind!« flüsterte Gabriele, die Faust an der Wange, aber der Unterbrechung im Grunde froh. Sie war ein unheimliches Gefühl während des ganzen Vorganges nicht losgeworden, als wäre es nicht sicher, wie sie im nächsten Augenblick sich verhalten werde ... Gottlob, der Leutnant verschwand eilends nach hinten.

Vorn auf der Steinterrasse erschien die Kusine, hatte sie ihn noch gesehen? Gabriele lief ihr entgegen. Jürgen? Der ganze Garten schon abgesucht. War denn das Kind hinausgelaufen? Gleichwohl brachte Leutnant von Kessel es fast augenblicklich zurück. Es hatte sich versteckt – wie vorhin die Mutter, sagte ihr ein Blick, der nur noch neckend war.

Schon hatte Kessel jene Trauer ganz vergessen. In seiner Art haftete sie am Ende so wenig wie bei dem kleinen Jürgen. Auch der war wegen eines Schmerzes in den Busch gekrochen. Jetzt jagten die beiden einander. Daraus wurde ein Spiel für alle. Sie erfüllten den Vorgarten mit ihren Sprüngen, ihrem Gelächter.

Plötzlich fühlten sie, jemand sehe zu.

Zweites Kapitel

Gabriele, die anhielt, weil die anderen schon still waren, unterdrückte einen Schrei. Dort stand der Schwarze über seinem Stock – die Kleidung schwarz, das Haar von schwarzer Glätte und zwischen schwarzen Backenbärten dies gelbgefärbte, teuflische Gesicht! Gleich darauf sah sie, daß es nur der Nachbar war.

»Herr Pidohn!« rief sie. »Wen stellen Sie vor?«

Der Mann nahm dies als Einladung, er öffnete die Pforte und trat ein. »Da bin ich«, verkündete er dumpf, noch in der Rolle der Schreckensgestalt.

»Komödiant!« sagte Gabriele, – worauf er lachte. Seine schwarzen Brauen trennten sich, sie schnellten an den Rändern der Stirn spitz hinauf.

»Ich fuhr spazieren ... Pidohn ist mein Name«, sagte er zu den Offizieren, denn Emmy Nissen kannte er.

»Immer fahren Sie spazieren«, hielt Gabriele ihm vor. »Hu! was Sie für einen Wagen haben.«

Eine zu große Karosse, über hohen Rädern schwankend, zog mit Ächzen auf der Straße vorüber im Trauerschritt der Pferde, die schwarz wie der Kutscher waren.

»Obwohl er nur einfach vom Lohnkutscher Pagels ist«, ergänzte Gabriele.

Emmy Nissen bemerkte:

»Natürlich sind alle Herren der Stadt um diese Tageszeit in den Kontoren. Darum ist es ausnahmsweise«, dies betont, »doch herrlich durch die Wälder zu fahren, vielleicht bis ans Meer.«

»Ich bin die Ausnahme«, verkündete Herr Pidohn. Er konnte schalkhaft die weißen Zähne zeigen. Nur der kühne Blick mußte düster weiter glänzen. Da er grade auf Leutnant von Kühn traf, fühlte Leutnant von Kühn sich verpflichtet, zu sagen, daß Spazierenfahren das Ideal sei: so unwiderstehlich wirkte der Blick.

Leutnant von Kessel, den kein Blick getroffen hatte, meinte spöttisch, unter Bäumen sei gut träumen.

»Denken!« berichtigte jener. »Spekulieren!« sagte er, schon hatte Kessel bescheiden den Atem angehalten. Der Mann aber stand nicht mehr über dem Stock, er hatte Körper und Kopf zurückgeworfen, er sprach von oben.

»Konsul West inzwischen sitzt auf seinem Schemel an der Spitze eines langen Pultes, wo noch sechs andere sitzen, und schreibt. Auf dem Exerzierplatz hingegen üben sich Leute wie Sie«, sagte er zu den beiden Offizieren, die einander ansahen, warum in aller Welt sie dies nur ruhig hinnähmen.

»Sie alle haben keine Zeit, ihr Feld ist der Augenblick. Meines –« er wuchs noch, »die Ferne.« Er wuchs. »Das Grenzenlose.«

»Weil Sie an der Börse spielen?« fragte Emmy Nissen nur wenig eingeschüchtert.

Seine Brauen verschränkten sich. »Der Spekulant kann stürzen«, entschied er. »Der Spekulant kennt die Gefahr, ihn bedrohen die Zukunft und der, dem die Zukunft gehört.«

»Wer ist das?« fragte Gabriele unschuldig.

»Sind Sie nicht Christin?« fragte Pidohn selbst ... Er wartete ihr Erstaunen ab. »Denken Sie an die heiligen Frauen, – die alle Sünderinnen waren«, sagte er anzüglich, sah aber fort. »Sie wurden groß durch das Unglück.«

Mit ungewöhnlich schöner, ernster Stimme fragte er:

»Riefen Sie das Unglück noch nie herbei?«

Da Gabriele heftig den Kopf schüttelte:

»Verleugnen Sie es nicht! Das Unglück ist mitten im strahlendsten Glück unsere heimliche Lockung. Wir wissen von ihm nicht, schon ist es unser merkwürdigster Besitz.«

Da alle ihn nur betrachteten, ward ihm wohl bewußt, daß er abweiche, ja, sich dadurch wieder einmal schade. Denn unvermittelt ward er ein Mensch wie andere, ein Börsenbesucher voll Leutseligkeit und mit gefärbtem Haar.

»Womit nicht gesagt sein soll, daß wir es schon satt hätten, zu gewinnen. Nie im Leben!«

Er lachte geräuschvoll. Zu den Offizieren besonders sagte er:

»Sieger wie wir! Wann könnte es uns fehlen!«

Sie wußten auch diesmal nicht, wie sich verhalten. Ermunternd rief Pidohn noch:

»Stürzen wir uns in neue Schlachten!«

Grade hier erblickte er Konsul West, den noch niemand kommen sah.

Er nahte mit wiegenden, schnellen Schritten, in hellen Beinkleidern, dunklem Rock, und über einem Arm lag sein Mäntelchen, mit dem seidenen Futter nach außen. Er hielt den steifen, grauen Hut in der Hand. Aus dem Hause lief ein Dienstmädchen und nahm ihm beides ab. Er begrüßte die Gesellschaft mit Würde und Leichtigkeit. Seine Frau küßte er auf die Wange, dann hob er seinen Jungen zu sich auf. Der Fünfjährige mußte berichten, womit er den Tag verbracht habe. Er wurde gefragt, wer in der Stadt drinnen, rechts und links von ihrem Stadthause und die ganze Straße entlang ihre Nachbarn seien.

»Und hier draußen, junger Freund, im Sommer?« fragte seinerseits Herr Pidohn.

Es fiel auf, daß er sich vordrängte. Der Konsul begegnete ihm gemessen, mit schwer erkennbarem Spott. Nur Gabriele verstand den Ausdruck ihres Mannes genau. Pidohn war eine Persönlichkeit, die noch geschont werden mußte, im Grunde achtbar war er nicht.

Beiseite sagte sie dem Mädchen: »Decken Sie den Tisch für fünf Personen. Unser Nachbar kann nicht bleiben.«

Inzwischen gelang es diesem, den Konsul von den übrigen abzutrennen. Sogleich teilten die beiden jungen Offiziere einander ihre Zweifel mit. War es von der Ehre geboten, jenen Herrn wegen seiner auffallenden Äußerungen zur Rede zu stellen? Fräulein Nissen, die es hören konnte, deutete eifrig und stumm auf ihre Stirn, aber sie wollten ihr nicht glauben. Erst Frau Konsul West, die zurückkehrte, brachte durch ihre lustige Nachahmung des Sonderlings die Herren zum Lachen. Sie rückte wichtig den Kopf umher; bei ihr freilich war es mehr ein Vögelchen, das getrunken hat, als der großartige Mann. Gleichviel, sie lachten gern und blickten von ihr zu ihm. Dort drüben entfaltete Pidohn sich vor dem Konsul.

Er fing klein an, befangen sogar – versuchte, sein Gegenüber am Knopf zu fassen, was aber der Konsul geschickt vereitelte. Gabriele lachte lauter, ihr Gatte verständigte sich mit ihr von fern durch die Augen. Er hatte blaue, sehr klare Augen, sie blickten selbstbewußt und heiter. Das runde Gesicht zeigte noch Jugendblässe. Die dunkelblonden Haare schlugen über der Stirn eine Welle, an den Schläfen stießen sie in zwei dichten Büscheln nach vorn. Sein Schnurrbart endete in lang ausgezogene Spitzen.

Er konnte auf seinem niedrigen, umgelegten Kragen den Kopf ein wenig schräg tragen, so wirkte er vollends romantisch. Das hatte, als sie ihn kennen lernte, auch Gabriele gewonnen, sie selbst nach vielen anderen. Seine Erfolge hatten ihm bei ihr nur genützt, besonders aber, wie er sie trug, seine Selbstverständlichkeit, sein Takt. Sie sah in ihm den schönsten Mann, ohne je zu vergleichen, und das Unangemessene Glück, obwohl sie kein schlechteres in Betracht zog. Auch der liebliche Tag um sie her war da, und sie atmete ihn einfach.

Wie liebenswürdig und in der Form wie sicher blieb Konsul West bis jetzt gegenüber den Zumutungen des Spekulanten. Er schien mehr oder weniger besorgt um ihn, vielleicht auch um die von jenem verletzten Konventionen. So verhielt sich ein wohlgeratener, vom sicheren Geschick getragener Mann zu einer verdächtigen Existenz, die gegen das hergebrachte Wahrscheinliche ging.

Es trat deutlich hervor, sogar für die beiden Leutnants. Emmy Nissen erinnerte unter dem Eindruck an dunkle Hintergründe, die Herrn Pidohn nachgesagt wurden. Er sollte in abgelegenen Teilen der Stadt unter falschem Namen bekannt sein, ja, nicht einmal mehr die äußere Maske des ehrbaren Kaufmanns wahrte er dort. Die Echtheit seiner dicken, schwarzen Backenbärte ward aus solchen Gründen angefochten.

Die Gruppe der Beobachter versenkte sich in ihr spannendes Gespräch. Wie aber, als sie wieder hinsahen? Das Bild der beiden war verändert, es veränderte sich noch vor aller Augen. Der eine wuchs jetzt, er wollte wieder so hoch wachsen, wie in seinen anmaßendsten Augenblicken. Der andere ward im Gegenteil kleiner. ›Nein!‹ fühlte Gabriele, ›nicht kleiner. Aber er sieht nicht mehr her, er hält die Hand am Schnurrbart, senkt den Kopf, und Pidohn hat ihn, wo er will. Jürgen ist in Versuchung.‹

Sie fühlte dies ohne Worte. Ihr kam Angst, sie wußte nicht woher. Was jener dort redete, verstand sie nicht; statt dessen hörte sie, deutlich wie vorhin, seine verschönte, ernste Stimme sagen:

›Denken Sie an die heiligen Frauen, die alle Sünderinnen waren! Sie wurden groß durch das Unglück.‹

Es klang ihr abscheulich. Sie empörte sich, weil sie es noch einmal ertragen sollte. Daher ging sie hin und stellte sich an die Seite ihres Mannes.

»Herr Pidohn!« befahl Gabriele. »Mein Mann spricht mit mir niemals von Geschäften. Was aber Sie ihm jetzt sagen, will ich wissen.«

Vergebens versuchte Konsul West, sie zu besänftigen.

»Sie sagen ihm sicher abscheuliche Dinge!« rief sie zornig und melodisch. »Auch zu mir haben Sie etwas gesprochen, das ich noch jetzt höre und will es doch nicht. Sie sind ein Mann, der nicht hierher gehört. Ich hasse Sie!«

Dies waren nun Worte, die niemand mehr begriff. Man stand betreten. »Aber Gabriele!« murmelte der Konsul. Der Angegriffene selbst schrumpfte sofort zu seinen gewöhnlichen Maßen zusammen, ward eine Person wie jede andere und sagte:

»Das tut mir leid, Frau Konsul. Das tut mir innig leid. Gehaßt werden, das will ich nicht ...«

Er verbeugte sich, ging, wiederholte aber noch den ganzen Gartenweg entlang:

»Das war nicht meine Absicht, gehaßt zu werden. Bei Gott, das nicht.«

Alle sahen ihm nach, – wobei sie zum erstenmal bemerkten, daß es dunkel ward. Schon lange dämmerte es, die lange nordische Dämmerung. Aber selbst der Schatten blieb durchsichtig.

Der Abgehende hatte die Pforte erreicht, da mußte er in seinem Schmerz an noch jemand vorbei. Jemand stand dahinter.

Man erkannte ihn an seinem hohen Schlapphut und dem gefalteten Plaid über der Schulter. Jeder hätte ihn erkannt.

»Professor von Heines«, raunte Konsul West seiner Frau zu.

»O Gott!« rief sie gedämpft. »Will er denn zu uns?«

Sie grüßten ihn wohl auf der Straße; die ganze Stadt grüßte in dem alten Dichter ihren eigenen Ruhm. Aber er verkehrte bei ihnen nicht. Auf einmal stand er draußen, ja, wartete, daß sie ihn hereinholten. Hier half Emmy, dank ihren Beziehungen zur Kunstwelt.

»Herr Professor«, begann sie mit tiefem Knicks. Schon war auch der Konsul angelangt und erbat weltmännisch die große Ehre. Heines trat ein.

»Ich war auf einem Abendgang begriffen«, erklärte er, »als gewisse Beschwerden des Alters mich nötigten, zu rasten. Eine glückliche Fügung erlaubt, daß es geschehen darf im Licht der schönsten Jugend.«

»Ah!« machte der Konsul aus wahrer Bewunderung. Die Konsulin sah mit groß geöffneten Augen, ob ehrfürchtig oder befremdet, in die des Dichters, – bis er sich über ihre Hände beugte.

Er kam aus Ländern, wo man Damen die Hände küßte! Dort hatte er sein Leben verbracht, nur sein Alter gehörte der entlegenen Heimatstadt. Sie blieb im Grunde mit ihm unvertraut, sie hätte vergebens erraten wollen, welche Abenteuer, welcher Glanz oder unbekannte Schmerz fern hinter ihm verdämmerten. Seine Haltung drückte aus, daß er viel erfahren habe, aber stolz und keusch davon schweige. Sie drückte Abstand aus. Sein Gedicht und Geschick, das alle in Liedern lasen oder sangen, samt seiner Rolle als Herold der sich einenden Nation, alles erlebte er öffentlich und für ein Volk, nur war es keins in Atemnähe, es war ein innen angeschautes. Vor dem Leben hielt er zurück.

In den schönen Augen dieser Dame aber hatte er die Spur von Tränen erblickt, vergossen um jenen abgehenden Mann, der gleichfalls weinte. Der Mann war vom Unglück gezeichnet, die Dame schön und jung. Nur der Dichter sah und verband, was anderen ohne Sinn blieb.

Er dachte sich diesen Garten voll besonnten Jugendglückes, erst mit der Dämmerung schlich das Unglück sich ein, griff an und fand Entgegenkommen. Der alte Dichter wußte: Unglück wie Laster zogen an, sie lockten ungesund. Man ward wohl heftig, wie vorhin die junge Konsulin, im Grunde aber war man versucht. Das hatte gute Weile, noch gehst du, schöne Dame, und trägst den Kopf hoch. Für den Wissenden bist du dennoch gefährdet.

Alle erstiegen die Terrasse, wo Windlichter brannten. Der Dichter ergriff das eine, er näherte es dem schönen Gesicht.

»Ich schrieb noch kürzlich in ein südliches Land«, sprach er sorgfältig, »auch unter unserem Himmel wüchsen Helden und göttliche Frauen, er sei gefährlich wie irgendeiner.«

»Danke, Herr Professor, danke«, erwiderten einstimmig die Leutnants, denn mit Recht bezogen sie dies auch auf sich. Sie nahmen die Absätze zusammen. In allem lag, daß sie ihre Pflichten gegen den Dichter kannten, wie er gegen sie die seinen. Unterdrückt lag auch noch Spott darin – zugleich mit Unsicherheit. Der Dichter warf den Kopf, sein weißer Knebelbart ward stolz gehoben, der Blick bekam Pathos.

Der Konsul wünschte dem berühmten Gast seinen Sohn zu zeigen. Der Mutter fiel das Kind erst jetzt wieder ein. »Wo ist er? Jürgen!« Wieder begann das große Suchen. Der Junge war noch immer nicht zu Bett, keins der Mädchen kannte sein Versteck. Im Garten? Er fürchtete das Dunkel. Dennoch ward er dort zuletzt entdeckt, auch diesmal fand Leutnant von Kessel das Kind. Es lag auf dem Rasen, mit dem Gesicht im Hyazinthenbeet. Die Pflanzen dufteten nächtlich stark. Reglos lag es und atmete nur.

»Sofort hierher!« rief der Konsul drohend. Als Jürgen aber kam, ward ihm vom Vater die Backe nur gestrichen, wie im Spiel. Der Vater lachte dabei wohlwollend. Ungeduldig war nachgerade die Mutter.

»Ich kenne dich, du willst, daß ich mich ängstige!«

Sie übergab das Kind dem Mädchen, damit es nur wegkomme.

Einzig der alte Dichter hielt es an der Hand noch zurück. Er sah ihm streng in die Augen, dies Kind gefiel ihm nicht.

»So lagest du und berauschtest dich?« fragte er – ließ das Kind aber los, bevor es antworten konnte; es verschwand gedemütigt.

Konsul West und seine Gattin luden eindringlich zum Abendessen, dennoch überlegte der Dichter, ob hier seines Bleibens sei. Das Kind war sinnlichem Überschwang zugeneigt, der Verderbnis vielleicht bestimmt. Ihm drohte für die Zukunft ein Weg: ach! seine schöne Mutter betrat ihn schon. Verdächtige Gäste klopften hier an. Warum näherten frische junge Krieger sich den wankenden Mauern dieses Hauses? Tragisch war das Los des tätigen Mannes, der es errichtet hatte mit eigener Kraft, und dies Ende eines ganzen tüchtigen Bürgerstammes! Der Dichter war voll Eifer und Reinheit für die Dauer des Bürgertums, aller seiner Stämme. Er tat auch hier seine Pflicht. ›Dies Haus sei von den Göttern preisgegeben. Gleichviel, ich bleibe.‹

Außerdem drängte sein altes Leiden ihn, noch zu verweilen. Er nannte es nicht, erklärte nur: »Ich holte es mir auf meinen Sängerfahrten«, und bat, sich für kurze Zeit zurückziehen zu dürfen.

»Heines ist sonderbar«, sagte alsbald die Konsulin.

Der Konsul lächelte. »Ihn wandeln menschliche Gefühle an.«

Hierüber verzogen beide Damen das Gesicht, es war gewagt. Der Konsul konnte gewagt sein. Die Offiziere erlaubten sich nicht, zu lachen.

Gabriele hatte nur sagen wollen, daß Heines trotz allem sich wichtiger nehme, als sie je geglaubt hätte. Freilich versicherte grade ihre unüberwindliche Befangenheit sie, daß er recht habe. Er wäre, für sich allein genommen, lächerlich gewesen, mit Glatze, Kopfrücken, erhabenem Blick. Aber hinter ihm gab es Welten,– er hatte sie gekannt, und sie verlor man nicht. Gabriele wußte es. Vor ihrem Innern erschienen zwei mit Standbildern gekrönte alte Säulen an einem besonnten, breiten Fluß.

»Ich würde dich bitten, jetzt nicht zu träumen«, – der Konsul zog nur die eine seiner blonden Brauen hinan.

Der Tisch war vorzubereiten. Während auch sie selbst dabei half, unterrichtete Fräulein Emmy Nissen doch die drei Herren über Eigenheiten des Ehrengastes. Sie war ihm in anderen Häusern begegnet; so weit entfernt die Ehrenplätze dort von dem ihren lagen, sie hatte sich umgesehen. Professor von Heines aß dies und jenes nicht, er trank vor allem keinen weißen Wein. »Sehr vernünftig«, bemerkte der Konsul.

»So nennst du ihn nicht mehr lange«, verhieß seine Kusine ihm. Hierauf erwähnte sie noch auffallendere Eigenheiten Heines'.

Der alte Dichter war empfindlich über jedes gewohnte Maß. Sie bat ihren Vetter dringend, seine Neigung für Gewagtes ganz zu unterdrücken.

»Vor allem aber darfst du nie bezweifeln, daß alles, was er aus seinem Leben erzählt, auch wahr ist.«

»Du glaubst doch nicht, daß er lügt?« fragte Gabriele, die geschlossene Hand an ihrer schmalen Wange.

Emmy zuckte die Achseln.

»Er dichtet, – und versteht mich alle wohl! Nichts anderes steht in der Welt für ihn obenan, einzig das Dichten.«

Die Konsulin verzog den Mund. Aber der Konsul sagte:

»Der Ansicht kann man sein.«

Drittes Kapitel

Die Tür ging auf, eins der Mädchen hielt eine Lampe hoch, damit der Professor von Heines die Schwelle sehe. Seine Miene zeigte gefaßten Schmerz, sie sollten es für die Spur vergangener Seelenkämpfe halten, statt für alltägliches Leiden seines Leibes. Ihre Gesichter wurden denn auch achtungsvoll.

Der gedeckte Tisch stand nahe der weit offenen Gartentür. Der Alte sah es mit Besorgnis. Da erblickte er den Kamin, das leichte Holzfeuer, – er machte einen schnelleren Schritt, er hob seinen langen grauen Rock auf und ließ sich von rückwärts die Beine wärmen.

»Sie kennen den Süden«, sagte die Konsulin und legte hin, was sie in der Hand hielt.

Sie gab ihm den Platz beim Kamin, eigenhändig wickelte sie ihm sein Plaid um die Knie. Er hatte die Hausfrau rechts, zu seiner Linken die andere Dame. Die drei Herren saßen der Tür zu, der Tisch war rund. Er trug zwei silberne Kandelaber mit Kerzen, der Kamin die beiden chinesischen Lampen aus Porzellan. Es war hell, warm, ins Zimmer duftete der Garten. Alle betrachteten einander erwartungsvoll und mit Wohlwollen.

Die Mädchen in weißen Häubchen reichten Krebse, Spargel und russische Rebhühner, eine Seltenheit, mitgebracht von einem Kapitän der Firma. Die Gesellschaft sprach aber, sie aß nicht, obwohl die Speisen verschwanden. Es geschah nebenher, sie schienen nicht darauf zu achten. Professor von Heines unterbrach die Reden einzig, um den Wein zu loben. Konsul West hatte beide Weine zugleich anbieten lassen. Der alte Dichter ward warm von seinem Léoville und dem Kaminfeuer, er sagte aber: von Erinnerungen an Griechenland, die er ablese aus den wundervollen Augen der Hausfrau.

Sogleich war er versetzt in Ölwälder, wo Hirten die Schalmei bliesen, ihm träumte dabei vom Flötenspiel des großen Pan. Er war versetzt unter Bogentore, um die ein wilder Rosenbusch rankte. Zwischen Säulen stieg und fiel der Brunnen, gefaßt von Porphyr. Er rundete den Namen Porphyr, die Namen Kephissia, Lorbeer, Opal. Wenige Worte: drei Palmen, Geklüfte und blaues Meer weiteten durch seinen Mund sich zur Landschaft, dorthinaus starrten alle geblendet, indes sie um diesen Tisch doch nur in das Kerzenlicht blinzelten.

Gabriele fragte zuerst. Sie fragte nach den Frauen Griechenlands, sie hatte bisher fast nur von den Knaben gehört.

Noch einmal erweckte er eine Stadt aus Marmor, die Treppe, das Portal. Darunter stand das Mädchen, Abendröte umspielte ihr Haar.

»Wie war sie gekleidet?« fragte die Konsulin.

Emmy Nissen begriff, daß sie an ein Maskenkostüm für den Winter dachte. Sie sollten es nicht erfahren.

»Da sah ich dich zum ersten Male«, sagte statt dessen der Greis – verriet auch, daß er ein Weib von jenes Landes gottähnlichem Geschlechte fast gefreit hätte. Ihn hinderte seine Sprache, sein Lied, bei dem dort drüben niemand aufhorchte. Ja, auch Kampf und Schicksal seines Volkes riefen ihn ab. Hier erhob er sein Glas gegen die beiden Leutnants.

Der Konsul nickte seiner Frau zu. »Ähnlich schwer ward es uns nicht gemacht«, sagte er.

So erfuhr der Dichter, daß auch sie eine Fremde sei. Er habe es gewußt, behauptete er. Ihr beglänzter Blick verrate es ihm, ihr leichter Schritt. Er erkenne die Tochter des Südens wie eine Verwandte.

Emmy Nissen dachte: ›Jeder hat ihm gesagt, woher sie ist.‹ Dennoch staunte auch sie ... Gabriele aber begann zu sprechen.

»Als Kind lebte ich in Bordeaux. Wir wohnten beim öffentlichen Garten, in einer kurzen Straße mit Bäumen, Cours de Gourgue, Sie kennen sie?«

»Auch dorthin trugen mich meine Sängerfahrten. Die alten Häuser werden von Bäumen beschattet«, wiederholte der Dichter. Er warf den Kopf, sein Blick sah Erhabenes.

»Den öffentlichen Garten säumen lange Terrassen mit stolzen Palästen. Ein stärkerer Himmel dunkelt über der Orangerie, den tiefen Alleen.«

So war es; sie mußte wohl sein Glas, das er hinhielt, mit dem ihren streifen. Sie war beglückt, wenngleich eifersüchtig auf sein Wissen. Seltsam, seine durchdringenden Worte entfernten sie auch von Haus und Mann, die ihr gehörten. War ihre arme Mutter dort unten gestorben, der Vater hatte sie doch aus einer anderen Heimat in diese gebracht, und die war wieder ihr. Sie entgegnete:

»Am Hafen dort roch es genau wie hier am Hafen.«

Es hieß: ›Ich habe die Heimat nie verloren. Hier ist sie wieder.‹

Ihr Gatte sagte: »Natürlich. Dieselben Schiffe fahren hin und her.«

Da lächelte sie ihn dankbar an.

Hier kehrte das Gespräch, niemand sah klar warum, aus der Welt in die Nähe zurück. Der Konsul erwähnte Pidohn.

»Ich weiß, wer er ist«, sagte der Konsul. »Ich kenne seine Existenz, ich kann sogar berechnen, wie lange er sich beiläufig noch hält. Dennoch hatte er mich von seinen sinnlosen Hirngespinsten einen Augenblick lang beinahe überzeugt. Haben Sie dafür eine Erklärung, Herr Professor?«

»Er ist ein Spekulant, müssen Sie wissen«, bemerkte die Konsulin wichtig. »Ich habe sogar gehört, daß er alles Getreide der Welt kauft, damit das Brot ganz billig wird ... Oder ganz teuer?« fragte sie, unsicher geworden.

Der Konsul lachte leise, aber so heftig, daß es ihn schüttelte. Ohne Übergang ward er völlig ernst. »Er weiß es selbst nicht. Er sieht nur, daß durch Spekulation jetzt häufiger Vermögen entstehen, als mit gediegener Arbeit. Merkt er nicht auch, daß die Rückschläge schon häufiger werden – und uns näherkommen?« fragte der Konsul sichtlich nur sich selbst. Dann fielen ihm seine Zuhörer wieder ein. »Solchen Leuten fehlt die klare Vorstellung ihrer Grenzen. Auch ihrer Pflichten«, ergänzte er streng.

Kusine Emmy bestätigte es, nicht weniger streng. »Seine Frau lebt meistens bei ihren uralten Eltern, so sehr leidet sie unter ihm. Die Söhne meiden ihn tunlichst, die Villa gehört der Frau.«

»Jedenfalls führte der Herr unzulässige Reden«, behauptete Leutnant von Kühn. Sein Kamerad Kessel schloß:

»Eigentlich hätten wir ihn zur Verantwortung ziehen müssen.«

»Verantwortung!« rief der Konsul. »Daran liegt es grade. Er ist ihrer unfähig, sonst hätte er sich längst darauf besonnen, daß wir Kaufleute nicht nur da sind, unbegrenzt Geld zu verdienen. Wir sind Teile eines Ganzen, das in noch höherem Maße unsere Sorge sein muß als das eigene Wohl. Um so sicherer gedeihen auch wir.«

Er sagte dies mit noch helleren Augen, weil es nicht mehr ganz so wie früher die reine Wahrheit war – für andere nicht und bald auch für ihn.

Er versicherte sich, daß der verehrungswürdige Gast ihm zuhörte. Ein solcher Tischgenosse regte ihn an, seine Grundgedanken zu äußern, zu vertreten, was ihn bisher noch sicher und stolz machte. Ein letzter Nachdruck war seiner Rede noch zu geben.

»Der große Schlag, den Pidohn vor hat, kann ihn selbst zum Bettler machen. Es ist das Wahrscheinliche und es wäre verdient. Mit ihm gehen Ungezählte zugrunde, gut, ihre Sache. Und wenn er gewinnt? Auch dann. Er aber ist dann reicher, als man sein darf. Zu großer Reichtum ist selten achtbar«, endigte Konsul West.