Euphorie - Elin Cullhed - E-Book

Euphorie E-Book

Elin Cullhed

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Beschreibung

Sylvia Plath und ihr Mann Ted Hughes ziehen 1960 nach England. Sie renovieren ein altes Pfarrhaus auf dem Land und gründen eine Familie. Doch Ted lässt sie immer öfter allein mit den Kindern und dem Haushalt. Er schreibt in seinem Arbeitszimmer, besucht tagelang Freunde in London, während Sylvia im Grunde nur eins will: Schreiben, leben, lieben, der Welt ihren Stempel aufdrücken. Aber wie aus dieser Situation heraus etwas schaffen, das bleibt? Von Ted komplett verlassen, gerät sie in einen Rausch der Euphorie und Schaffenskraft. Ihr Wunsch zu sterben steht bereits fest, aber ihr Schreiben in diesen letzten Monaten bringt ihr Innerstes zum Leuchten.
Euphorie ist ein Roman über das letzte Lebensjahr von Sylvia Plath, erzählt aus ihrer Perspektive, mit ihren Augen. Ein Buch voller Unmittelbarkeit, Wildheit, Mut – und ein literarisches Juwel, das es so noch nicht gegeben hat.

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Seitenzahl: 405

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Titel

Elin Cullhed

Euphorie

Ein Sylvia-Plath-Roman

Aus dem Schwedischen von Franziska Hüther

Insel Verlag

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Das Original erschien 2021 unter dem Titel Eufori bei Wahlström & Widstrand, Stockholm.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG Berlin, 2022© Elin Cullhed 2021Published by agreement with Ahlander Agency

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagabbildung: Sylvia Plath, 1955, Foto: Archivio GBB/Alamy/mauritius images, Mittenwald

eISBN 978-3-458-77488-4

www.suhrkamp.de

Widmung

FÜR MAMA

Motto

Euphorie ist ein belletristischer Text über Sylvia Plath und sollte nicht als Biografie gelesen werden. Im Buch auftretende Ereignisse und Figuren, die möglicherweise eine Entsprechung in der Realität haben, werden im Kontext des Romans in Fiktion und literarische Fantasie überführt. Sylvia Plath wird damit zu einer fiktiven Figur in diesem Werk.

Euphorie

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

7. Dezember 1962, Devon

Ein Jahr zuvor

Mein Leben war der Text.

Warum war ich heute nicht gut drauf?

Worin bestand die Schuld?

Ein junges Mädchen

Ich stöhnte.

»Ich werde dir einen Podest kaufen«

Wir saßen in einem Auto

Auf dem Wohnzimmertisch lag eine Strickarbeit.

Ich hatte irgendwo gelesen

Es war unser erstes Weihnachten

Silvester war vorbei.

Als am Abend des siebzehnten Januar

Der Junge lag wie eine herabgestürzte Rose

Ted steckte den Kopf

Ich hatte auf Friedas Plastikpferd geschlafen.

Der April war hier

Der Mai in England

Draußen wurde es hell

Wir liebten uns heiß und tierisch

Er war in London

Ich habe über sie geschrieben, dachte ich.

Samstagmorgen.

Gibt es keine wahre Liebe

Ich schleppte ein bleiernes Herz mit mir herum.

An dem Tag

Als Mama nichts sah

Dann stand alles fest,

Die Nächte.

Ich rannte zum Tabakladen

Mama und ich.

Ich war allein im Haus

Erwachte aus Träumen

Ich fühle mich so stabil und gut

Jetzt lautete die Strategie folgendermaßen

Und wie durch ein Wunder

Ted hatte – surprise! – die Betten bezogen

Auf dem Nachtschiff

Eine Schar Dohlen

Gerade war ich noch am Meer gewesen

Ich träumte,

Weicher, gelber Oktober,

Jetzt zählte einzig und allein London!

Bald war November,

Erfüllt von der Stille,

Ich saß die Hände im Schoß

Ende November in Court Green,

Und jetzt London, für ein Wochenende.

Textnachweis

Informationen zum Buch

7. Dezember 1962, Devon

SIEBEN GRÜNDE, NICHT ZU STERBEN:

1. Haut. Nie mehr die Haut seines geliebten Kindes spüren. Nicholas, wenn er im Bett herumkaspert und ich die Nasenspitze an seinem Po reibe. Frieda, die gekitzelt werden muss, um sich lebendig zu fühlen und nach einem reinigenden Lachen zur Ruhe kommt. Meine Haut, wenn sie sich gegen die der beiden stemmt und weiß, dass wir vom selben Fleisch sind for ever and ever in all eternity amen. Oh, niemals wieder ihren pochenden kräftigen Puls spüren zu dürfen, den ich hervorgebracht habe. Niemals kann ich aufhören für sie zu leben, sosehr sie auch gleichzeitig Teds Haut in sich haben, Teds Schlangenhaut, er, der das Maul öffnet und die Beute ganz in seinen Schlund presst, bis man erstickt.

2. Zeit. Ich will meine Kinder aufwachsen und Schrammen an den Knien bekommen sehen, wenn sie Rad fahren lernen, ich will die Schlinge von meinem Hals ziehen und ihm ins Gesicht lachen wenn er bereits (und sehr einsam, Schlangen sind pathologisch selbstbezogen) auf dem Weg zu seiner nächsten Beute ist und ich damit beschäftigt bin zu leben. Ich will an einem Lolli lecken und spüren, wie sich Zucker und Zeit in mir auflösen, ich will an einem Sommertag mit einem Kaffee in der Hand aufwachen und dem Drang, mir die Seele aus dem Leib zu schreiben bis die Zeit ebenfalls stehenbleibt und konserviert wird und wie Meerwasser abrinnt und mir vergibt. Zeit, ich will, dass du mir vergibst. Ich will außerdem erleben, wie die Zeit alles so verdammt vergebungsvoll werden lässt, wie sie Erdbeeren dazu bringt ein weiteres Mal herauszuploppen (obwohl der Tod so gegenwärtig ist, Verwesung das Nächste), den Menschen dazu bringt auf seinem Kopfkissen aufzuwachen und sich ein weiteres Mal einzubilden, alles sei gut.

Gott, ich fühle mich so gut, jetzt da ich sterben werde. Ich sehe alles klarer denn je zuvor. Ich sollte immer leben, um zu sterben es ist wie Heroin, wie der Kick, seinem einstigen Geliebten dabei zuzusehen, wie ihm der Sauerstoff ausgeht, weil er sämtliche ihn in seiner Rüstung umgebende Luft verbraucht hat. Schlangenhaut wirft man ab, die Haut verbleicht wie ein vergessener Fetzen an einem englischen Strand. Lieber verbrenne ich stattdessen, ich bin überzeugt von der Vortrefflichkeit des Feuers als Vergleich für mein eigenes Leben. Oh, Feuer, das nicht mit offenen Armen empfangen werden konnte. Oh, Schrecken, als das Feuer das Geschreibsel eines lebenden Mannes erfasste, welches er fälschlicherweise für Nobelpreismaterial hält. Ich sage euch, man wird meiner in Zukunft gedenken. Also brauche ich weder Haut zu sein noch Zeit noch junge Sechziger, weil die Zeit in Ich umgewandelt werden wird, aber ohne mein Zutun. Makellos, wie ein vollkommenes Wort auf der leuchtenden Seite eines Poesiebands. Ted wird meine Buchseiten waschen, wie ich sein hässliches Hemd gewaschen habe. Er selbst wird verschrumpeln wie ein Fallapfel im Herbstlaub. Einer der Japanischen Wildäpfel, die wir hier haben.

3. Nie mehr ficken, den heißen Pfahl spüren, wenn er in mein Fleisch stößt und mich in Tier und Auslöschung verwandelt. Hätte jemand Lust mich täglich zu vögeln, bräuchte ich nicht zu sterben, haha. Zitiert mich nicht damit, aber zeigt es gern meiner Mutter, dem ungevögeltsten Menschen aller Zeiten (und daher so bitter, so trocken, so banal zu durchschauen, wie ein Glas Wasser, meine Mutter ist ein Glas Wasser, lebensnotwendig, aber so sterbenslangweilig und geschmacklos vorhersehbar und die mich so todesverachtend gemacht hat, so hasserfüllt gegenüber anderen Frauen, wo doch Frauen diejenigen sind, die mir eventuell helfen könnten, sie hat mir ein Gefühl eingegeben, als bräuchte ich kein Wasser, als sei ich jenseits von Wasser, ich bin kein wasserbedürftiges Wesen kein Säugetier, ich stehe über euch ganz gewöhnlichen tödlichen Wasserdurstigen, ich hasse Wasser, verschont mich mit meinem täglichen Glas Wasser!).

4. Es ihm GÖNNEN. Ihm gönnen, dass ich sterbe und all seine Prophezeiungen in Erfüllung gehen. »Es wäre leichter, wenn du tot wärst«, wie er mir im Sommer ins Gesicht spie, um den nötigen Mut aufzubringen mich zu verlassen. »Du und dein Todesstrahl, du hast einen ganz besonderen Biss für den Tod« – sein ständiges Gejammer, ich würde alles töten. Will es ihm nicht gönnen. Will in der Mitte des Rings stehen und leuchten und lebendig sein. Wenn nicht ich in meinem Leben, wer dann? Will ihm die Geschichte meines Lebens nicht gönnen. Damit er deklamieren kann: Ja, Kinder, eure Mutter war ein besonderer Mensch, es ging ihr nicht immer gut, sie hat das Leben geliebt, wenn es wie Gold auf sie zugeströmt ist, aber zum Leben gehören auch harte Kanten und Kälte und Bazillen im März und Ebbe im Portemonnaie. Wir müssen ihr Andenken ehren, Kinder, wir müssen ihre Geschichten erzählen und jedes Frühjahr, wenn die Osterglocken aus der Erde sprießen, müssen wir ihr zu Ehren einen Strauß pflücken. Die Stimme eurer Mutter Sylvia war dumpf und stark, hat es aber nie aus ihrem Körper hinaus und auf eine Buchseite geschafft, deshalb wollte eure Mutter ihren Körper abschalten und nur den Geist weiterleben lassen. Was sie für die Nachwelt geschrieben hat, war ihr mehr wert als das Leben mit uns. Bla, bla. Ekelhaft! Ich will ihm die besten Kuchenstücke meines Lebens nicht gönnen. Dass Olwyn seine große Schwester sich mit ihren Eisenbeinen und verschränkten Armen hinstellt und behauptet: Ja ja, hab ich’s doch gleich gesagt, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, mit dieser Frau kommst du nicht weit Ted, ihre fragile Stärke, ihr Trauerschleier vor dem Gesicht, der sich so verlockend leicht mit einem Sarkasmus wegziehen lässt, durch den ihr gesamtes Selbstbild zum Bröckeln gebracht wird, das breite Lächeln sich in ein Grinsen verwandelt. Ein kleines Fan-Girl, Ted, ein Püppchen, eine schwache Amerikanerin mit Zellophan ums Herz, die behältst du eine Weile, dann zerfällt sie wie Zucker im Regen. Glaub mir!

Und er wird auf seine Schwester hören und erstarken und denken Ja ich war ein Schwachkopf, dass ich versucht habe sie zu lieben, denn sie war unmöglich zu lieben.

Wo doch in Wahrheit sein Zuhause dasjenige ist, in dem es keinen Platz für die Liebe gibt. In seinem Zuhause, da wo er herkommt, da arbeitet man und beißt die Zähne zusammen, da spielen Geist und Ästhetik und die Art wie man miteinander umgeht KEINE ROLLE, in seinem Zuhause gibt es keine Kultur, keine Verfeinerung, keine Veredlung, dort ist man grob und derb und schlecht erzogen und was kann ich dafür, dass ich jemand war, der lieben konnte und schön sein konnte und in sein Haus kam, sein Zuhause, sein England, sein ungehobeltes Kohle-Erbe mit Dreck auf der Kleidung.

Ich wollte teilen, was ich hatte, meinen Wit meine Fähigkeiten mein Talent für Worte und für Dinge, die man sieht. Beobachtungen. Aber wisst ihr, die Welt will keine hübschen fleißigen Mädchen, die aus Gold gemacht sind. Die Welt erträgt sie nicht. Die Welt will harte boshafte Olwynmädchen, solche, die nicht von Männern geliebt werden, die geboren wurden, um allein zurechtzukommen, europäische Nachkriegsfrauen, die wissen, was es heißt ranzuklotzen, aber nicht, was es heißt, intellektuell verfeinert zu sein und Mädchen auf dem Smith zu unterrichten und in der Freizeit erstaunlich hübsche Gedichte zu verfassen. Sie sind neidisch auf mich, oh, so neidisch auf solche wie mich, und trotzdem gewinnen am Ende sie – gewinnen sie das Leben, obwohl sie selbst niemals einem Mann Kinder gebären und die königliche Linie weiterführen, niemals ihre Beine auf der Pritsche aufreißen und glühendes Magma in die Welt pressen werden. Sie wird einen Dreck opfern, Olwyn, denn sie wird niemals brennen. Sie wird dastehen und die Zähne zusammenbeißen und immer weiter zusammenbeißen und das Leben durch sich hindurchfegen lassen, bis sie stirbt. Sie wird niemals selbst ins Leben treten und es umformen, es diktieren, in schöne Formen gießen, ihm neue Kinder schenken. Auf diese Weise braucht sie auch nicht zu spüren, wie die Welt ihre Kraft ihre vernichtende Schönheit ihr Genie nicht erträgt. Sie wird lachen über meinen Tod, sie wird seufzen über meinen Tod, sie wird mich auch beneiden um meinen Tod, denn ha, so mutig wird sie niemals sein!

5. Das Meer, und die Steine. Im zarten Nachmittagslicht in Winthrop Steine für meinen Vater sammeln, sieben Jahre alt sein und erleben, wie die Natur, die ich für ihn finde, uns stärker verbindet als alles andere auf der Welt. Uns allein ist es überlassen, die Mysterien, die ich ihm schenke, zu entdecken und zu hegen, wie die eigenen Geheimnisse des Herzens. Das Meer leckt an meinen braunen Beinen und es riecht nach wütendem Salz und nassem brünstigen Tang, und er bittet mich, einen Spaziergang zu machen, um die schönsten Steine zu finden, die blankesten Steine, über die er dann später etwas erzählen wird. Der Strand und mein Vater, das Meer, seine Ewigkeit. Ich liebe meinen Vater. Ich weiß, dass ich auch aus ihm geboren wurde, dass er mir das Mysterium und die Wörter gegeben hat; die Inbrunst. Nachdem ich nun nach Winthrop zurückgefahren bin, sehe ich die Gewaltigkeit der Strände nicht mehr, und das Meer ödet mich an – ich weiß, dass mich andere Aufgaben erwarten. Ich glaube, ich soll die Ruhe und den Glanz der Kindheit wiederfinden, aber das Ergebnis ist bloß, dass ich sie mit meinem neuen Blick durchschaue und verrate. Vielleicht ist dies also gar kein Grund zu leben. Selbst wenn meine Kinder das Meer ebenso lieben würden wie ich, könnten sie niemals meinen Vater, ihren Großvater, kennenlernen, niemals kleine runde Steine in seine riesigen Pranken legen. Er ist ein Grund zu leben und ist es doch nicht, mein Vater. Ich wollte sein Andenken in Ehren halten, für ihn einstehen und meinen Körper ans Ende der Zeit reisen lassen, als Anker für sein gesunkenes Schiff. Ich wollte aber auch dem Anblick des Meeres entgehen, dem der Steine, wie sich die Muschelschalen in Geister verwandeln. Und dem Gefühl der Rassel des Todes um meinen Hals.

6. Frieda, oh Frieda.

7. Nicholas.

Ein Jahr zuvor

Mein Leben war der Text.

Mein Körper, meine Haut, meine weiß schimmernden Handgelenke, er brachte mich auf dem Fahrrad durch Devon. Wenn ich jemanden traf, den ich wiedererkannte, zitterte ich, es war, als zögen sich Nerven und Adern als feinmaschiges äußeres Netz über meinen Körper, und mein Herz war mein Mund, mein Herz war es, das sprach und ein: »Hallo« herausschoss, wenn ich die Nachbarin traf (die Frau des Bankdirektors), die mich mit Vorliebe einer eingehenden Musterung unterzog, um zu prüfen, ob ich normal war.

Mein Herz puckerte dort im Zentrum von mir. Mein Mund. Mein roter Mund. Ich war das eigentliche Thema, das eigentliche Motiv, wie sollte ich mich da aus mir herausstrecken und selbst die Motive erschaffen? Wie sollte ich mich weit von der Mitte des Motivs entfernt positionieren?

Ted wusste es, deshalb hatte er mich geheiratet: Ich war das Nervensystem, ich war das Blut, ich war das Herz, ich war die weiße Haut, ich war die Perlenkette, ich war der Marmor, ich war die Taube, ich war der Hirsch, ich war der tote Maulwurf, den wir auf dem Boden gefunden hatten, ich war das Mädchen, ich war die Frau, ich war die Mutter seiner Kinder. Ich war Amerika, ich war ein ganzer Kontinent, ich war die Zukunft, ich war das Motiv, das er entdecken wollte, ich war eine Person, die er kolonisieren wollte, er wollte mich verschlingen, er wollte mich beherbergen, er wollte mich verwahren. Er wollte mich heimholen aus Amerika, wo ich geboren worden war, und mich den Puls des Londoner Lebens im Herzen spüren lassen und dann wollte er mich in ein Haus auf dem Land in Devon setzen inmitten all der Osterglocken und Vögel. Er kaufte mir ein Fahrrad. Er nahm mich hart auf dem Sofa im kalten Wohnzimmer, ich war eine warme nasse Lache unter ihm, in der er kam. Es roch nach Fleisch und Blut. Sperma. Danach fühlte er sich allmächtig. Er hatte Amerika besiegt, er hatte seine Grenzen erweitert, er hatte das Motiv vollendet: Die Frau, die sterben muss.

Die zum Tode verurteilte Frau.

Er hatte mich erschaffen.

Ich erhob mich aus der Lache und wusch mich glücklich lächelnd, ich war befruchtet mit seinem Kind seinem Traum seinen Versprechen. England. Ich stand auf seinem Boden. Seine Hasenjagden. Seine Apfelbäume, einundsiebzig Stück (ich hatte zweiundsiebzig gezählt). Seine Worte, seine Bäume, sein Schreiben. Seine Stimme. Ich brachte das Leben für ihn zur Vollendung. Ich ließ eines seiner Kinder aus meinem Fleisch ins Universum fallen. Frieda. Ein Apfel vom Baum. Roter Mund, rotes Herz, roter Puls. Da spürte auch ich, dass ich lebte. »Nichts hat mich je glücklicher gemacht als die Kinder«, schrieb ich Mama in einem Brief nach Hause. Aber ich wusste auch, dass alles, was ich sagte und schrieb (MEINE GESAMTE STIMME; WAS ICH WAR) sich eines Tages gegen mich wenden würde. Meine Wirklichkeit wechselte im Minutentakt die Gestalt, Ted wusste es, im einen Moment war ich zufrieden im zweiten war ich glücklich im dritten war ich verzweifelt im vierten weinte ich, schwitzte ich, verlangte ich, wünschte ich und hoffte.

Nichts davon ließ sich im Grunde ernst nehmen.

Als die Frau des Bankdirektors mich also im Ortskern traf, nachdem ich mich vom Sattel geschlängelt hatte (ich war wieder hochschwanger), wünschte ich, dass ich sie wäre, dass ich diejenige wäre, die SIE sähe, nicht sie diejenige, die mich sah. Ich, Sylvia, muss so viel schöner anzuschauen sein, und trotzdem konnte ich mich nicht selbst sehen!

Ich lächelte angestrengt aus der Atemlosigkeit, wischte mir eine Schweißperle aus dem Gesicht. Warm in der warmen Kleidung. Der Ortskern war geschmückt, es war wenige Wochen vor Weihnachten. Die Frau des Bankdirektors hatte etwas besorgt, das ich eigentlich auch hätte besorgen sollen, ich merkte, wie ich sie kein bisschen eigenständig Raum einnehmen ließ, sondern wie auch ich, unmerklich, sie bereits kolonisiert, mich an ihrer pedantischen Erscheinung im Ortskern bedient und ihr die Macht gegeben hatte, Angst und Stress in mir aufflammen zu lassen.

»Paket abzuholen?«, fragte sie.

»Ganz recht, mir ist daran gelegen, gewisse Abonnements aus Amerika weiterzubeziehen«, antwortete ich und ärgerte mich, eine so lange und umständliche Erklärung für etwas eigentlich sehr Simples gegeben zu haben.

Ich fragte mich, wie es wohl wäre, mit ihr befreundet zu sein, wehrte den Gedanken jedoch mit einem neuen ab: Gott, was für ein scheußlicher Mantel.

»Und wo haben Sie Frieda?«, erkundigte sie sich.

Ich lächelte scharf aus meiner Verschwitztheit.

»Zu Hause bei ihrem Daddy«, antwortete ich stolz.

»Tüchtig ist er, Ihr Ehemann«, sagte die Frau des Bankdirektors.

»Ted«, erinnerte ich sie. »Ted Hughes.«

Die Frau des Bankdirektors nickte. Sie schien über etwas nachzugrübeln.

»Möchten Sie beide nicht mal zum Abendessen vorbeikommen? Nur auf einen kleinen Happen. Ich dachte, es wäre vielleicht an der Zeit für uns Nachbarn, einander etwas besser kennenlernen. Passt es … morgen?«

So … so schicklich. Natürlich. Sie hatte mich erwischt – seht, so listig hatte sie aufgepasst! Die Bekanntschaften zwischen den Leuten waren in keiner Weise wie in meinem Heimatland, wo man die Worte I Love You zu einem Menschen sagen konnte, mit dem man halbherzig zu einem belanglosen Lunch gegangen war. I Love You – man brach sehr leicht ein Stück seines Herzens ab, das musste nicht bedeuten, dass man ein sonderlich intimes Verhältnis hatte. Aber hier in England schien mir der gesellschaftliche Umgang einem strikten Regelwerk zu folgen, man pflegte ihn nicht, weil man Lust dazu hatte, sondern aus einem eigentümlichen Pflichtgefühl heraus. Es wäre vielleicht an der Zeit für uns Nachbarn. Wir müssen. Wir können nicht nebeneinander leben und uns täglich sehen, ohne uns nicht auch zu zeigen, wer wir sind, welche verstaubten Möbel wir zu Hause haben. Oh, das brachte ich nicht fertig. Aber genauso wenig brachte ich es fertig, ihr in die Augen zu schauen und zu sagen: Nein. Nein! Ich will nicht! Vergessen Sie’s!

Ich wandte mich der Nachbarin zu.

»Aber ja«, strahlte ich. »Wir haben keine Pläne. Liebend gern.«

Die Frau des Bankdirektors lächelte zufrieden hinter ihrem Pelzmantel. Sie zwitscherte. Sei’s drum, dachte ich: Jetzt hab ich jemanden beglückt.

»Lovely, honey«, rief sie über den Marktplatz.

Ich erhielt mein Paket von einem jungen Mann, der als Postbeamter hinter dem Schalter arbeitete, und irgendetwas an meiner Erscheinung ließ seinen Blick flackern, oder waren es die Nerven, der Mund wie ein Herz, das rote pochende. Das nervöse.

Dass ich es aber auch nie lernte! Pakete abholen, die üblichen Besorgungen erledigen, auf einem Fahrrad fahren, Worte wie »Hallo« und »Danke« abfeuern, als wäre es das Anstrengendste auf der Welt. Andere Leute führten tagtäglich weitaus schlauchendere Arbeiten aus und alles, was ich zuwege brachte, war 1. schwanger zu sein und 2. mit dem Rad im Ort ein Paket abzuholen und nicht einmal das schaffte ich, nicht einmal das schaffte ich, ohne irgendeinen Abdruck in der Welt zu hinterlassen.

Musste ich? Musste ich wirklich? Musste ich ein lebender Zirkus sein? Musste ich ein Herz haben? Musste ich die Leute an etwas erinnern – an ihre eigenen Gefühle und Beweggründe? Musste ich die fleischgewordene Zeitrechnung eines Lebens sein, die auf dem Rad durch die Gegend fuhr?

Ich hatte mein Paket auf dem Gepäckträger, ich schlingerte mit dem Lenker, ich war enttäuscht, weil meine Besorgung im Ort bereits erledigt war und das, was ICH im Kopf gehabt hatte – dass sich etwas ereignen würde, ein Gedanke sich offenbaren, eine Gedichtzeile durch die Anstrengung in Bewegung kommen würde, oder dass etwas Lustiges einfach so passierte, etwas Spannendes – nicht eintraf. Nicht ein Wort in meinem Kopf, kein Kapitelanfang, kein Roman, keine Figur nahm Gestalt an. Nichts.

Es war zwei Uhr, als ich die Stufen zur Haustür hinaufstieg, schwer und massig in meiner trollgleichen Erscheinung. Ich war wieder zu Hause. Zu Hause in Ted Hughes’ und meinem Reich.

Und Friedas. Sie kam auf mich zugelaufen, sie presste ihren einjährigen Körper an meinen. Ich kam ihr zuvor und sagte: Mami kann dich jetzt nicht tragen, du bist zu schwer. Ich trat sie beinahe weg, während ich mich aus meinem Mantel schälte, behielt den Wollpulli an.

Zu meinem großen Erstaunen stellte ich fest, dass Ted offenbar am Schreiben war, in meinem Studio.

Er hatte mich noch nicht bemerkt, doch nun erhob er sich von dem Stuhl an der Schreibmaschine und schlurfte die Treppe herunter.

»Schreibst du?«, fragte ich. Er machte ein ertapptes Gesicht. Ich lächelte mein verblüfftes Lächeln, das so scharf herausschießt.

»Ich habe ein paar Zeilen geschrieben, ja«, bekannte er. »Die BBC möchte, dass ich noch mehr Material liefere.«

Der hochgewachsene, kräftige Mann. Braunes Haar, längliches Gesicht, scharf geschnittene Nase. Es war kalt in unserem Haus, eiskalt oben und unten, wir mussten Feuer machen. Es war falsch von ihm zu schreiben, während ich draußen in der Freiheit war, ICH war diejenige, die in diesem Moment hätte frei sein sollen, frei in der Stadt auf dem Fahrrad. Und trotzdem …? Trotzdem hatte er geschrieben?

»Wie machst du das?«, fragte ich und beugte mich zu unserer Tochter hinunter, putzte ihr die Nase. »Sobald ich auch nur eine Sekunde etwas anderes mache, kommt sie und zieht und zerrt an mir.«

Ted zuckte mit den Achseln.

»Wie gesagt, ich wollte nur eben eine Zeile schreiben.«

Frieda hatte elterliche Nähe und Liebe aufzuholen, ich glaubte ihr anmerken zu können, dass sie lange allein gewesen war. Jetzt brauchte sie jemanden. Sie hing an meiner Hüfte, aber ich war müde nach der Radtour.

»Hast du ein Paket?«, fragte Ted.

Ich schnaubte in Richtung des Pakets – es hatte seinen Witz verloren. Witzlos.

»Ach«, wehrte ich ab. »Bloß ein paar Frauenzeitschriften von meiner Mutter.«

»Klingt doch toll«, sagte Ted. »Schön, etwas zu haben, worauf man sich freuen kann.«

War das sein Ernst? Ich sah ihn an. Es musste ein Scherz gewesen sein. Ironie. Das konnte er unmöglich ernst meinen … Sollten mir ein paar Illustrierte über Haushalt und Lifestyle aus Amerika wirklich Freude bereiten?

»Wie gesagt, es ist nichts«, erwiderte ich und richtete mich mit dem heftigen Verlangen auf, Frieda abzuschütteln, sie hatte sich an meiner Hüfte festgebissen wie ein Hundewelpe an seinem Knochen.

»Wir sind morgen zum Abendessen eingeladen«, stöhnte ich, während ich mir auf einem Stuhl umständlich die Wollstrümpfe überzog. »Vielleicht ist es bei ihnen zu Hause wärmer. Bei den Tyrers. Ich habe die Frau des Bankdirektors im Ort getroffen.«

»Soll mir recht sein«, sagte Ted. »Dann werde ich jemandem, der sich vielleicht dafür interessiert, von meinen Projekten für die BBC erzählen.«

Was meinte er damit? Was tat sich da für eine schwarzschlammige Dimension unter seinen Worten auf? War er müde? War er sauer? War es nicht mir vorbehalten, müde und sauer zu sein? Ein unruhiger Schmetterling flatterte in mir vorbei, er hatte schon den ganzen Tag gelauert und jetzt ließen seine zarten Flügel mein Inneres erzittern. Der Schmetterling war eingesperrt und mühte sich den richtigen Ausgang zu finden und stürzte geradewegs in mein Fleisch. Ich suchte nach einem Wort.

»Hat Frieda geschlafen?«, fragte ich stattdessen.

»Nein, leg du sie hin«, sagte Ted.

»Hat sie schon Mittag gegessen? Es ist zwei!«

»Es gibt Bacon.«

»Was hast du gegessen?«

»Ich hatte keinen Hunger.«

Ich seufzte, öffnete die Klappe des Kamins im Wohnzimmer und warf ein Holzscheit aufs Glutbett, doch es ließ das Feuer nicht knistern und aufflammen, wie ich mir vorgestellt hatte; stattdessen erstickte das Scheit die Glut, die Feuerstelle wurde schwarz. Es war eiskalt im Haus – die Hebamme hatte uns gesagt, dass es wärmer werden müsse bis zum Januar, wenn das Baby kam.

»BACON HAT SIE ZUM FRÜHSTÜCK GEGESSEN«, schrie ich, sodass das Kind in meinem Bauch einen Salto von der Anstrengung schlug.

»Dann gib ihr halt Butterbrotpapier! Bacon ist, was wir haben.«

Darauf hatte ich keine Antwort.

»Ich werde jetzt dieses Gedicht fertigschreiben«, fuhr Ted ungeduldig fort, ging nach oben und schloss die Tür zum Dachzimmer hinter sich.

»Bacon«, sagte ich zu Frieda und merkte, dass ich selbst einen Mordskohldampf hatte. Ich hakte die Bratpfanne ab, überließ mich dem Hunger. Ein kleiner Teil von mir vergossen. Ich trug meinen kobaltblauen weiten Pullover, bauschig wie ein Zelt über dem Bauch, er wurde mir nicht gerecht. Auf dem höchsten Gipfel des gewaltigen Berges (der ich war) bildete sich ein großer, fettiger Fleck. Ich stand da und sah zu, wie er sich auf dem Stoff ausbreitete, ich fing an zu weinen, versuchte mit aller Kraft, die Tränen zurückzuhalten, aber sie waren da und sie brannten. Scheiß Gedicht! Die lange Scheibe Bacon hatte eine ganze Weile in der Pfanne gebrutzelt, jetzt lag sie steif und hart auf dem Teller. Ich schnitt sie für Frieda klein. Sie kaute und wand sich vor Ekel, weil der Speck bitter und zu salzig war. Ich hatte ihn zu lange gebraten. Ich riss ihren Teller an mich, spießte eine weitere Scheibe labberigen Bacon auf und briet erneut; reduzierte die Hitze der lodernden Gasflamme unter der Pfanne.

Es war meine Verantwortung, die Sache in Ordnung zu bringen.

Früher einmal war Frieda rein und unschuldig gewesen und hatte ausschließlich Milch aus meinem Inneren getrunken, Milch, die aus meiner Brust strömte und von der ich mir nicht ganz sicher war, woher sie kam. Milch. Weiße, warme Milch. Meine Brüste waren auch jetzt wieder prall und empfindlich, und ich war so geil gewesen in diesem letzten Trimester, ich hatte jede Nacht Lust. Aber Ted begriff nicht richtig, was ich da tat. Wenn ich mich in Löffelchenstellung zu ihm legte, drückte mein Bauch in seinen Rücken und wir bekamen keinen richtigen Kontakt. Er seufzte, drehte sich weg. Ich rutschte hinterher, meine Arme und Beine heiß und schwitzig, obwohl es so kalt in unserem Schlafzimmer war.

Jetzt iss endlich, Kind. Ich gab Frieda die weichere Scheibe Bacon. Sie lutschte daran, lachte. Ihr Lachen war wie eingraviert: Vielleicht ist es eine Verteidigung, dachte ich, ein Panzer gegen die Dunkelheit, die sie bei ihren Eltern sieht und die der Wachmann Lachen nicht vorbeilässt. Frieda ist steinhart, dachte ich auch. Sie wird uns alle überleben.

Warum war ich heute nicht gut drauf? Warum war ich mit dem grauen Himmel in meinem Kopf aufgewacht? Heute war doch einfach ein Tag wie jeder andere. Was ließ diesen Tag glauben, er sei so verdammt besonders? Wie konnte ein Mensch, die Bewegung eines einzigen Menschen durchs Leben (die Frau des Bankdirektors im Ortskern) meine Wirklichkeit so vollkommen sabotieren? Sie steckte noch immer in mir, ihr hochnäsiges Lächeln, sie war so von sich selbst eingenommen und gleichzeitig davon, Bescheid wissen zu wollen. Sie wollte Dinge über mich und Ted und Frieda wissen. In London war das anders gewesen, dort waren wir allein und durch die Straßen geschützt. Hier war alles roh und bloßgelegt und es war unangenehm an der Grenze zu schmutzig, auf diese Weise in der Gewalt anderer zu sein. Ich war eine Ratte, die umherrannte und unentdeckt bleiben wollte, und sie wollten mich fangen. Würde ich das durchstehen? Es war eng hier in der englischen Provinz, ich kam aus Boston, das war am Meer leben verglichen damit.

Ich setzte mich aufs Sofa, um die erste Ausgabe des Ladies’ Home Journal zu lesen. Rotes Sofa, dunkles Zimmer, bleiches Winterlicht vom Fenster. Ich hatte Mama in einem Brief geschrieben, dass ich es auf einmal liebte zu nähen und im Haus herumzuwurschteln, die Schwangerschaft mache das mit mir: mache mich träge und liebenswert. Ich wolle Frauenzeitschriften lesen und mich kein bisschen intellektuell betätigen. Doch als ich jetzt die Zeitschrift aufschlug. Jetzt war dem nicht so. Jetzt schlug ich die Zeitschrift auf und im selben Augenblick verriet ich meine Mutter.

Die glatten Seiten der Zeitschrift und farbenfrohe Bilder von Topfpflanzen und gelben und grünen Sofabezügen ließen Übelkeit und Leere in mir aufsteigen. Das war es, was ich laut meinem Brief liebte. Darum hatte ich Mama gebeten. Diese Fürsorglichkeit. Auf einer Seite prangte das Foto eines fluffigen, frischgebackenen Weißbrots. Ein Kastenweißbrot zum Nachbacken. Es zerrte in mir. Es war ein Gruß von daheim, es war ein Zeichen; oh, was wäre selbstgebackenes Kastenbrot nicht wunderbar, eine Köstlichkeit, die morgens im Ofen bräunte. Die englischen Rezepte waren so was von scheußlich, überall manschten sie Gewürze und Malz hinein, Rosinen, Roggen, es war so bäh. Ich würde ein Kastenbrot backen.

Ted war vom Dachgeschoss herunter; er schlitzte in der Küche einen Umschlag auf. Drei Briefe waren für ihn gekommen. Er klang freudig; er hatte einen Bescheid von der Schriftstellervereinigung erhalten. Bewilligtes Stipendium. Er blökte los vor Glück. Ich blätterte in der Zeitschrift, ohne jedoch auf den Inhalt zu achten, ich las die Buchstaben nicht. Es war eine freudige Nachricht für die Familie! Warum gefror dann etwas in mir? Was war das für eine Unruhe, die ich nicht abschütteln konnte, JETZT WAR ICH DOCH HIER IN MEINEM EIGENEN STILLLEBEN, DEM ZEITLOS PERFEKTEN, ICH SASS HIER. Sei glücklich! Ich war die hochschwangere Frau meines Schriftstellerehegatten, war das nicht, was ich wollte? Ich äußerte den Satz: »Glückwunsch, fantastisch« und stand auf und küsste ihn umständlich, weil mein Körper so riesig war. Ich dachte: Auch davon werde ich meiner Mutter schreiben. Ich werde die Worte hervorglühen, sie hinausschicken wie kleine Schlittschuhprinzessinnen auf geschliffenes Eis. Meine Worte werden Schleifchen umgebunden haben. In dieser Hinsicht waren die Briefe meine stärkste Disziplin, in ihnen nämlich konnte ich weiter im Perfekten bleiben, ich konnte die Herrlichkeit schildern, in einem Zustand verweilen, wo alles fix und fertig war und die Wirklichkeit, auf die die Worte hinwiesen, noch immer möglich. In den Briefen war das Leben, wie es sein sollte, nicht wie dieser bescheuerte Tag heute, der mir so gar nicht gehorchte – und dabei war es doch bloß ein Tag wie jeder andere.

Und gestern, als überhaupt keine Bescheide gekommen waren, als ich in der Nacht schlechter geschlafen hatte und eigentlich nur zu Hause blieb und mit Frieda kochte, während Ted in London war und arbeitete, da war ich vollkommen selig gewesen. Der Tag war exakt so zu mir gewesen, wie Tage es sein sollten. Ich fühlte das Versprechen in der Brust, ich spürte die dezemberliche Behaglichkeit, ich band rote Seidenbändchen um die Vorhänge, ich spielte Spiele mit Frieda, die mir tatsächlich Spaß machten, ich entschied, dass so die Tage als Teds Ehefrau zu Hause aussehen sollten.

Ich versuchte fieberhaft, mir im Geiste das Rezept für den gestrigen Tag zu notieren. Was hatte ich da richtig gemacht? Warum ließ mich die Unruhe nicht los, so wie gestern? Lag es daran, dass ich nur den Dorsch mit Petersiliensoße gekocht, aber keinen Kuchen zum Nachtisch gebacken hatte? Lag es daran, dass ich mich mit der Radtour ins Dorf völlig verausgabt hatte? Lag es an Teds Abwesenheit gestern, war es das, was ich so genossen hatte? Warum ertrug ich es nicht, wenn er da war? Lag es an der Schwangerschaft, daran, dass ich heute Nacht sehr viel länger und tiefer geschlafen hatte und ein Teil von mir niemals aufhören wollte zu schlafen – wenn ich mich dem Schlaf hingab, merkte ich, wie müde ich war –, lag es an Frieda, war es ihre Schuld, weil sie heute viel mehr quengelte und klammerte als gestern? Lag es daran, dass Ted schrieb? Ja, es lag vermutlich daran, dass Ted schrieb und sein Schreiben mich an das schreckliche Loch in meinem Kopf erinnerte, aus dem nie wieder fantastische Literatur strömen würde.

Das Telefon, das ausgestöpselt gewesen war, hatte Ted nun wieder in die Dose gesteckt, und jetzt stand er im Flur und rief jemanden mit seiner weichen, begnadigenden Stimme an – mit dieser Satzmelodie, auf deren richtiger Seite man sich befinden wollte, immer. Er hatte jemanden angerufen, er sprach, erzählte: Das gesamte Haus sollte von seiner Stimme erfüllt werden.

Ich spürte, wie Teds Stipendium mein eigenes zerfraß, jenes, das ich im Spätsommer erhalten und dessen geforderte Produktion ich bereits im Vorfeld fertiggestellt hatte. Ein ganzer Roman, den ich mangels Fantasie Die Glasglocke genannt hatte. Nächsten Sommer würde das Geld aufgebraucht sein … Und ich hatte im Ofen meines Körpers einen Sohn für uns gebacken, damit hatte ich mich beschäftigt, mehr hatte ich nicht getan, ich hatte nichts geschrieben.

Ted beendete das Gespräch und war mit einer Hand an meinem Kreuz zurück, weil er mitbekommen hatte, dass ich auf dem Sofa stöhnte, und da wollte er mir behilflich sein.

»Solltest du dich nicht hinlegen und etwas ausruhen?«, fragte er.

»Ich wollte Brot backen.«

Ted seufzte.

»Du brauchst jetzt kein Brot zu backen«, sagte er.

»Aber wir haben kein Brot. Es ist Freitag. Du willst doch auch Brot zum Frühstück, oder?«

»Dann lass mich das machen«, sagte er. »Leg du dich hin.«

Ich legte mich aufs Sofa, besiegt. Ich dachte: War ja mal wieder klar. Er wird es sowieso nicht machen. Ich wollte Brot für meine Familie backen, Punkt. Die Familie braucht Brot! Verstand das denn niemand außer mir? In gewisser Weise sehnte ich mich danach, dass das Baby kam und wir endlich eine richtige Familie wurden, eine richtige, vierköpfige Familie. Aktuell waren wir ein Paar mit einem Kind. Wenn das Baby kam, würde es heikel werden für Ted – dann wäre er gezwungen zu backen, gezwungen, sich um mich zu kümmern … Ich freute mich darauf.

Es klapperte in den Küchenschränken. Ich unterdrückte den Wunsch, in die Küche zu watscheln und Teds Backerei akribisch anzuleiten. Was für ein Brot sollte das werden? Es würde ein schlechtes Brot werden, so viel war sicher. Kein fluffiges Kastenweißbrot. Warum durfte ich das Brot nicht backen? Warum war ich heute nicht gut drauf? Warum funktionierte Schwangerschaft bei mir nicht? Warum fühlte ich mich bloß muffig und obergärig? Ich war komplett verschimmelt, es war nichts von ich übrig, nur die Transformation selbst, der Vulkanausbruch. Manchmal fühlte sich genau das so schön an am Schwangersein: unter dem Radar des Menschen zu fliegen, als der man normalerweise behandelt wurde, und ein anderer zu werden, mit anderen Beweggründen und Ausdrucksweisen. Einem völlig anderen Aussehen. Aber gerade heute.

Ich versuchte, die Stimme einer anderen Person in mir zu finden, die meiner Mutter, meiner Tante, meines Bruders: Ruh dich jetzt aus, Sivvy. Lass los und gönn dir Ruhe.

Ich atmete tief durch. Aber nicht mal das gelang mir. Warum sollte ich ausruhen, wenn ich gar nicht ausruhen wollte? Ich wollte schreiben! Ich wollte Brot backen! Ich wollte leben wie Ted!

Und während Ted die Küche mit den fantastischsten Lebensdüften und Gesprächsthemen füllte (»Ich werde ein Kulturmogul. Ich liebe das Wort: ›Mogul‹, wir werden Mogule, du und ich, Sylvia, Kulturmogule«), saß ich daneben und mhm-te und nagte an seiner Wirklichkeit. Das tat ich, obwohl mir der Hintern furchtbar weh tat vom Sitzen und obwohl ich jeden Zentimeter seines braunen britischen Brotes verabscheute, was ich morgen beim Frühstück kaum würde verbergen können, aber das war ein Problem für später.

Worin bestand die Schuld? Darin, sich nicht gut zu fühlen? Ich machte einen frostigen Nachmittagsspaziergang. Die Sonne hatte ihr letztes Licht auf die Erde herabgelassen. Die Vögel waren wach, obwohl der Dezember ihnen nicht wohlwollte. Ich schleppte mich durch die Gegend, ich dachte Sauerstoff. Sauerstoff im Körper. Sauerstoff in den Hüften. Ich war im Dienst hier auf Erden, ich war ein Körper mit einem Körper darin, ich war zwei. Und trotzdem zog ich meine Füße hinter mir her und bereute, dass wir die Einladung zu diesem Essen heute Abend angenommen hatten.

Ich hatte ein Stück von Teds Brot in der Tasche, Friedas Frühstück, das ich zwischen den Fingern zerkrümelte. Die hohen britischen Hecken waren ein schützendes Tuch zwischen mir und den Höfen. Frost, dachte ich. Frostgekniffen. Ich ging hier entlang, und trotzdem war ich nicht passend gekleidet, um dem zu begegnen, was die Welt mir servierte. Ich war ein undankbares Ding. Ich hatte alles bekommen, was ich mir je gewünscht hatte. Ich hatte fast die Ziellinie im Plath’schen Traum erreicht: zwei Kinder von vieren. Ehemann, der schrieb. Ich, die schrieb. Stipendiatin. Mutter auf der anderen Seite des Erdballs. Besaß die Frechheit, umherzuspazieren und all das Gute in einem völlig anderen Licht zu sehen. Warum war ich jemand, der im Tod und dessen dunklen Gewässern fischte? Was hatte ich dort überhaupt zu suchen, ich Welsfresserin, ich alter Fisch? Hoch mit dir, befrei dich selbst von Gestrüpp, reiß dir diese Schwere vom Leib, die auf deinen Tagen lastet. Ich war hier, ich war englisch, ich war gesund und stabil mit Kind im Bauch. Kein Grund. Kein Grund!

Ich hatte einen Mann, eine Krähe, einen Krähenmann zu Hause, der mich wollte. Er sorgte für mich. Er begehrte mich. Er haftete an mir … wir waren untrennbar, durch Erde vereint. Sein kohledüsteres feuchtes fuchspelzraues England, grün von irischem Gras. Mein emailweißes perlenglänzendes schwer angestrengtes Amerika, mit langen Beinen. Und mein Mund, der einst eine breite Knorpelkirsche zum Hineinbeißen gewesen war, rot und saftig, nun aber zunehmend aussah wie ein Fisch, farblos, aus dem Wasser gezogen – eine Sardine, je mehr Ted mich anschaute.

Wir waren wir. Warum diese Schuld … Warum dieses Schuldgefühl, das auf mir lastete? Es war bloß ein Spaziergang, weiter nichts! Es waren bloß Pflastersteine, es waren bloß Hecken, es war bloß Wetter. Der Spaziergang machte mich schrecklich nervös, weil ich Zeit verschwendete, statt produktiv zu sein. Ich ging und war Material. Daher die Schuld? Ich sammelte kein Material, ich war Material, doch wie sollte ich den Abstand zu meinem eigenen Material (das ich war) ausmessen und auf Basis dessen zu schöpfen beginnen? Es war alles, was ich je hatte tun wollen, es war alles, was ich je getan hatte, aber es war nie genug gewesen. Niemand hatte wirklich haben wollen, und wenn doch jemand gewollt hatte, dann war es nicht exakt das gewesen, was ich wollte, das sie wollen sollten. (SIE: MADEMOISELLE, DER NEW YORKER, ZEITSCHRIFTEN). Hätte ich doch nur entscheiden dürfen! Dann wäre es ein anderes Gedicht geworden, eine andere Kurzgeschichte, ein anderer Roman und Essay, wir hätten es auf meine Art gemacht, aber niemand richtete sich je nach meinen Wünschen.

Ich war vertane Zeit. Die Schwangerschaft, die umherlief und meinen Körper bewohnte, war das perfekte Beispiel für diese Vergeudung. Ich hatte sogar mich selbst hergeliehen.

Schuld.

War es erst mal ein solcher Tag, wusste ich, wie er sich fortpflanzte. Es war, als würde man ein Fläschchen schwarze Tinte auf dem Boden ausleeren, sie verlief, infizierte, befleckte Ted, begann ihn zu plagen, trieb ihn letztendlich in den Wahnsinn. Es war sinnlos, zu dem Dinner zu gehen. Wir würden verloren am Tisch sitzen, weil ich heute verloren war, und Frieda würde als wahnsinniger Schuldausbruch in mir nagen (sie war bockig weil ich bockig war weil es mir beschissen ging) und Ted würde sich weit weg wünschen, vielleicht mit einer anderen Frau.

North Tawton – seufz! Die Verrottung vollzog sich direkt vor meinen Augen, als das braune Herbstlaub an meiner Schuhsohle kleben blieb. Die Dorfbewohner hatten mich wie eine Puppe in ihren Handflächen und da wusste ich, dass ich tanzen musste. Ich musste unter ihren Blicken tanzen und nähen und stricken. Ted war ein Mann; er konnte ins Dachzimmer verschwinden und nach Herzenslaune schreiben. Ich war Allgemeingut, ich war Material. Ich war Frau. Mich wollten sie einfangen.

War das der Grund, weshalb ich die anglikanische Kirche aufgesucht hatte, neben der wir wohnten? Stand vor der Tür und klopfte, um in die Kapelle geführt zu werden. Ich hatte nicht die geringste Lust, Christin zu spielen, ich gab mich keinem Glauben hin und schenkte ganz sicher keinem dieser Schwätzer auf der Kanzel Gehör, die Leben und Menschlichkeit nicht ernst nahmen. Diese Pfaffen sagten nie etwas von Belang, sie redeten mit Stroh im Mund! Mit Stroh und Löschpapier. Sie waren Hampelmänner, verkleidet als wichtige Persönlichkeiten, und sie schlugen sich auf die Brust, weil sie ach so toll und wichtig waren. Bah! Es widerte mich an.

Ich trat auf dem Kies zurück, um zur Kirche hinaufzuschauen, die so grau und mondän ihren Speer in den Himmel reckte. Ein perverser Ständer inmitten des gleichgrauen Englands. Aber warum hatte ich sie dann aufgesucht, warum sollte Frieda prompt in die Sonntagsschule? Ich wollte, dass sie eine gute Kindheit hatte. Ich wollte sie in irgendeiner Art von Kultur wiegen. In London spiegelte sich die Kultur auf den Gesichtern der interessierten und weltgewandten und kultivierten Menschen und in den Dingen, über die sie sprachen; hier in Devon war jegliche Wissbegierde tot, jede Spiritualität erloschen – den Leuten blieb nur die Kirche.

Ich zwang mich fast über die Schwelle, als der Pfarrer öffnete, er musste zurückweichen ob meiner monströsen Erscheinung. Ich stand in der eiskalten steinernen Waffenkammer und sah ihn hilflos an. Könnt ihr euch meiner Tochter annehmen? In England regnet es oft und sie wird still und stumm werden wie eine Puppe mit zwei schreibenden Eltern als einziger Inspirationsquelle. Jemand muss ihr helfen, jemand, der nicht ich ist.

»Meine Tochter wird bald zwei«, brachte ich hervor und bibberte, deutlich hörbar. »Habt ihr Aktivitäten für Kinder in ihrem Alter?«

»Sind Sie das Paar, das kürzlich hergezogen ist?«, fragte der Pfarrer, der einen merkwürdigen schrägen Pony hatte und an einem Notenblatt herumfingerte, das in einem zerfledderten Gesangbuch steckte.

»Wir wohnen in Court Green.«

»Ah, der alte Pfarrhof.« Seine Miene hellte sich auf.

»Wir sind das neue Versprechen«, lachte ich und da kam mein Lächeln, mein Lächeln, das ich Pfarrern und anderen, die es brauchten, so restlos darbot. Mein Lächeln, das im Mund begann und sich beliebig weit übers Gesicht fortsetzen konnte. Ich war nicht immer in der Lage, es dabei zu belassen und nur das Lächeln darzubieten, ich musste dem Lächeln wie von einem Zwangsgedanken gesteuert in seine hintersten, abgelegensten Gassen folgen … in die Dunkelheit. Ich musste die Dunkelheit abfeuern. Ich musste die Freude und den Kummer meiner Seele weggeben. Ich musste einen anderen Menschen zwingen, auf meine Dunkelheit zu reagieren, damit zu interagieren. Ich musste einen anderen Menschen perplex, ratlos machen. Hier hatten sie eine Person, die so angestrengt lächelte, dass sie nicht ernst zu nehmen war! Ich unterminierte mein eigenes Lächeln, während ich so übertrieben lächelte, ja, ich untergrub meine ganze Person. Und dann kam ich zurückgekrochen und musste mich vor dem anderen zusammenflicken, ich musste bitten und betteln, dass sie mich unbedingt trotzdem ernst nehmen mussten, nehmt mein Lächeln, ich bin jemand, ich bin ganz bestimmt ein richtiger Mensch, nehmt mich.

Diesen ganzen Selbstzirkus musste ich permanent vorführen.

Ich konnte die Bewegung in meinem eigenen Blut nicht stoppen.

Jetzt bekam ich Angst, Angst, der Pfarrer würde die Unzulänglichkeit in meinem hohlen amerikanischen Gesicht sehen, Angst, er könnte erkennen, dass ich eigentlich nicht glücklich war.

Angst, mich vor ihm traurig zu zeigen. Vielleicht bin ich diejenige, dachte ich, vielleicht bin ich diejenige, die eine Kirche braucht, vielleicht bin ich diejenige, die einen Priester braucht.

Beichten muss.

Vielleicht war ich diejenige, die eine Sonntagsschule brauchte, die hier das Kind war.

Ich bekam eine Broschüre aus der würdevollen Hand des Pfarrers, die garantiert niemals ein solch vibrierendes Stück Fleisch berührt hatte wie das, aus dem ich bestand, garantiert niemals gesündigt hatte. Oh, könnte ich doch einen Millimeter seiner tristen Sanftmut bekommen!

Der Pfarrer sah in meine braunen Augen.

»Sie sind ebenfalls herzlich eingeladen teilzunehmen«, sagte er und zeigte auf meinen Bauch. »Bei uns gibt es eine Abendandacht, dienstags und donnerstags.«

Ich merkte, wie mir natürlich die Nase lief, und hier stand ich und bot mein heftiges Lächeln dar.

»Danke!« Ich knickste, und begriff, wie furchtbar es war, vor einem Pfarrer zu knicksen. Gab es noch andere Gesten? Ich streckte ihm die Hand hin.

»Frieda wird es so guttun, in die Sonntagsschule zu gehen«, sagte ich und schüttelte dem Pfarrer mehrmals die Hand. »Sie hat im Augenblick ein wirklich starkes Bedürfnis nach Spiritualität. Und Erziehung natürlich.«

»Wir erziehen keine Kinder, vielleicht lehren wir sie«, wandte der Pfarrer ein.

»Aber ja, natürlich.« Jetzt schwenkte ich um. Ich wollte, dass der Pfarrer hingerissen wäre von dem, was ich sagte.

»Die christliche Lehre«, log ich. »Genau das suchen wir.«

Der Pfarrer legte mir würdevolle eine Hand auf die Schulter und begleitete mich nach draußen.

»Wie nett, ich freue mich darauf, unsere neuen Nachbarn aus dem Pfarrhof kennenzulernen«, sagte er und lächelte angesichts des Wortes, lächelte angesichts des Moments und all des Netten; nett.

»Sehr nett«, antwortete ich. »Haben Sie vielen Dank, Herr Pfarrer, dass Sie sich so mitten am Nachmittag Zeit für mich genommen haben. Sie ahnen ja gar nicht, wie dankbar ich bin.«

»Na, na, wir wollen die Sache nicht größer machen, als sie ist. Wir sind da für die, die sich an uns wenden, nicht mehr, nicht weniger. Frieda ist herzlich willkommen, gemeinsam mit Ihnen oder Ihrem Mann.«

Er bekam es leid! Er wurde es leid, direkt vor meinen Augen! Ich konnte es nicht fassen! Ich duckte mich vor Schuld – ich hatte danebengezielt, ich hatte übertrieben, ich hatte die Chance vertan, als nüchtern und stabil zu erscheinen. Launenhaft – ich hatte dem Pfarrer meine Launenhaftigkeit offenbart. Damn!

Wenn ich nach Hause kam, würde ich Ted darum ersuchen, mit dem Kopf auf seiner Brust liegen zu dürfen und diesen verfluchten englischen Priester und seine eingebildete Perfektion lächerlich zu machen. Scheußlich! Ich hätte kotzen können.

Ich lächelte dem Pfarrer zu und winkte. Ich stolperte wie eine Besoffene auf den Kies und wollte zurück nach Hause, nach Hause zu dem anderen, der mich vor mir selbst retten sollte – Ted.

Und zu Hause bei Ted weinte ich. Ich weinte lange langsam tropfende Tränen. Wir saßen auf dem Sofa und Frieda schlief noch. Der Gedanke, dass sie bald aufwachen würde, stresste mich. »Es ist so viel«, sagte ich. »Es ist so viel.« Er fragte, ob ich traurig sei?

»Ich weiß nicht«, antwortete ich.

»Aber du weinst doch.«

»Ich bin nur wütend auf diesen Pfarrer.«

»Warum bist du überhaupt hingegangen?«

Ich fühlte mich angegriffen von Teds Frage, sie vereiste und legte sich unter die Worte, die gerade noch getröstet hatten, wie ein kalter Dolch lag sie dort und pikste mit ihrer spitzen Klinge. Ich wollte keine weiteren Angriffe, keine weiteren anstrengenden Bewegungen an diesem Tag – es reichte – in ein paar Stunden mussten wir los, ich brauchte die Ruhe, braucht den Trost, brauchte es, einfach dazuliegen und in Teds schöne Arme zu fallen.

Vielleicht reichte es ja, hier bei ihm zu existieren.

Ich spürte, wie mein Herzschlag zur Ruhe kam.

Seine warme Hand, ihr war ich im Februar 1956 in Cambridge erlegen. Seine unendlich langen Finger, die sich beinahe um meinen ganzen Körper herum fortsetzten, sie reichten so weit. Die ganze Nacht reichten sie. Die Wärme ging nicht zur Neige. Ich gab mich ihnen hin. Ich wusste, dass ich diese Hände nicht bezwingen konnte. Sie konnte ich nicht brechen. Ted, du hochgewachsener schöner Vogel, ein großer und gewaltiger Rabe, der seinen starken Flügel ausbreitete und um mich legte. Lass mich dort Platz finden. In England gab es jede Menge schwarzer Vögel, die als Schar flogen, die hilflosen Vögelchen, die nicht wussten, wo sie hinsollten, wenn sie sich nicht aneinander orientierten, sie sahen aus wie ein Bienenschwarm hoch oben in den Wolken, ein verlorener Körper, der verzweifelt versuchte, seine schwarzen Leichenteile in der Luft einzusammeln. Aber Ted. Aber Ted war gewaltiger, er war stärker. Er war allein. Er war der Große des Vogelreichs, sein eigener Herrscher, ein großer Poet, und das einzig Schwarmhafte in ihm waren just die Worte, die wimmelnden schwarzen Zeichen, mit denen er das Schreibmaschinenpapier füllte. Seine eigene innere Welt, die mich stärkte und faszinierte und von der er so gelassen und voller Gewissheit meinte, dass sie ihre Berechtigung im Universum hatte, weshalb er es sich leisten konnte mir zuzuhören. Meinen zaghaften Formulierungen und heiseren brüchigen Worten.