Europa ohne Identität? - Bassam Tibi - E-Book

Europa ohne Identität? E-Book

Bassam Tibi

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Angesichts der Herausforderung durch die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen aus dem islamischen Raum und den Umgang mit den aktuellen Migrationsbewegungen rückt das gestörte europäische Selbstverständnis, die europäische Identitätskrise, immer verstörender ins Bewusstsein. Welche Werte, welche Bürger-Identität, welche Identifikation bietet Europa Flüchtlingen an, die nicht nur ihr materielles und menschliches Elend bewältigen müssen, sondern die zugleich eine neo-absolutistische Weltanschauung vormoderner ethnisch-religiöser Prägung mit sich nach Europa bringen? Bassam Tibi diagnostiziert die Vorherrschaft eines Narrativs, das vor lauter Kultur- und Werterelativismus keine Unterscheidung zwischen Toleranz und Selbstverleugnung mehr kennt. Er stellt der mit absolutem Anspruch vorgetragenen Gesinnungsethik aktueller deutscher Politik eine Besinnung auf und ein Eintreten für das entgegen, was Europa zivilisatorisch ausmacht: Eine europäische Kultur, die auf Vernunft und Aufklärung fußt und daraus, mit ausdrücklich universellem Anspruch, unverhandelbare und individuelle Menschen- und Freiheitsrechte ableitet, für sie aktiv eintritt – und sie zugleich entschieden gegen antidemokratische Ideologien verteidigt, die durch ihren totalitären Anspruch Demokratie, Freiheit und die offene Gesellschaft als solche bedrohen und akut gefährden. Bassam Tibis bestechende Analyse, in der er 1998 den Begriff einer europäischen Leitkultur einführte und damit die Debatte um eine speziell deutsche Leitkultur – gegen die Tibi vehement eintritt – lostrat, wird hier endlich neu und aktualisiert zugänglich gemacht, erweitert um eine über hundert Seiten umfassende Einführung, die seine Warnungen in den aktuellen Kontext von Migration und Flüchtlingskrise einbettet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 856

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ibidem-Verlag, Stuttgart

Zum Andenken an meinen verehrten jüdischen Lehrer Max Horkheimer, in dessen philosophischen Seminaren und durch dessen Schriften ich als ein arabischer Muslim gelernt habe,mich gegenüber Europa–wie er es lehrte–»kritisch zu verhalten und es dennoch zu bewundern,zu seinen Ideen zu stehen,sie gegen den Faschismus Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz«–also auchgegen den Fundamentalismus,wie ich hinzufüge–»zu verteidigen«. VonMax Horkheimer habe ich gelernt,keiner europäischen Rhetorik Glauben zu schenken,vielmehr die Ideen Europas an »ihrem eigenen Begriffzu messen«,nicht aber an den Beteuerungen europäischer Politiker und Ideologen.

Inhaltsverzeichnis

Vorrede zur Ausgabe 2016
Einführung
Vorbemerkungen
1. Die Neuausgabe des Buches, die Aktualität seiner Thematik und die Geschichte seiner Themen 1998–2016 als historisierte Gegenwart
2. Der Ausgang: Europäische Identität nach der Diagnose von 1998 neu gesichtet mit Blick auf die Flüchtlingskrise 2015/2016: alte Probleme in neuem Gewand
3. Zivilisatorische Identität und Wertekonflikte. Im Wettstreit zwischen dem Zeitgeist des Kulturrelativismus und der kulturpluralistischen Universalität der kulturellen Moderne
4. What are we talking about? / Worum geht es?
5. Eine demokratische »Debating Culture« erfordert ein freies Debattieren über Europa »ohne Aufnötigung« (John Stuart Mill) und ohne »innere Zensurinstanz« (Adorno). Daher diese Warnung vor der Tyrannei des herrschenden Narrativs
6. Was ist ein Zivilisationskonflikt? Der Wertekonflikt zwischen der islamischen Weltanschauung und der europäischen kulturellen Moderne über die Welt- und Staatsordnung
7. Ist eine Europäisierung des Islam zu einem Reform-Islam möglich als eine friedliche Lösung des Zivilisationskonfliktes? Und was geschieht, wenn sie scheitert?
8. Die deutsche Leitkulturdebatte von 2000, ihre Neubelebung und die politische Kultur der Bundesrepublik. Es geht um eine europäische Leitkultur als Wertekonsens, nicht um das deutsche »Pathos des Absoluten«, verpackt als deutsche Leitkultur
9. Wohin treibt Europa im 21. Jahrhundert im Wettstreit von Europäisierung vs. Islamisierung? Eine Einladung zur Diskussion auf der Grundlage der Normen einer Debating Culture sowie Zivilität
Zur Debatte um die Leitkultur (2000)
Einleitung
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Zweiter Teil
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Dritter Teil
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Vierter Teil
Kapitel 10
Kapitel 11
Schlussbetrachtungen
Bibliographie
Pressestimmen
Nachwort zur ersten Taschenbuchausgabe (2000)
Anmerkungen

Vorrede zur Ausgabe 2016

Das BuchEuropa ohne Identität?erschien erstmals 1998 als Hardcover und 2000 als Siedler-Taschenbuch, beide Male mit dem UntertitelDie Krise der multikulturellen Gesellschaft. 2001 und wieder 2002 erschienen weiterezusätzlicheAuflagen,ebenfalls als Siedler-Taschenbuch, jedoch mit dem veränderten neuen UntertitelLeitkultur oder Wertebeliebigkeit. Nach langen Überlegungen über die vorliegendeaktuelleAusgabe2016einigten sich mein neuer Verleger Christian Schön und ich darauf, diese Ausgabe nicht als 5. Auflage, sondern als neues Buch zu veröffentlichen. Warum? Ich werde dies wie folgt begründen:

Erstens: Die neue Ausgabe trägt nicht nur den veränderten UntertitelEuropäisierung oder Islamisierung,den ichnochnäher,wissenschaftlichundauf Tatsachen basierend,begründe; auch ist sie von Inhalt und Umfang her neu. Die Verwendung des inzwischen kontaminierten Begriffes»Islamisierung«istin Deutschlandmit einem Risiko verbunden. In den USA hatte ich in drei großen Forschungsprojekten in Berkeley, Cornell und Stanford (vgl. dazu Abschnitt 1) gar keine Probleme,hierüber zu arbeiten und zu veröffentlichen, weil dort Wissenschaftsfreiheit und Sachverstand die Regel sind. In Abschnitt 1 liefere ich eine streng wissenschaftliche,auf diese US-Perspektive bezogene Begründung. Der neue,veränderte Untertitel»Europäisierung oder Islamisierung«bezieht sich auf eine Massenmigration in Millionenhöhe nach Europa seit 2015/2016 aus der Welt des Islam. Als frei denkender Wissenschaftler anerkenne ich in meinem Denkprozess keine Tabus. Hierüber habe ich in der Schweiz meinen Artikel»Ich weigere mich, zu schweigen«(Basler Zeitungvom 05.08.2016) veröffentlicht.

Zweitens: Es entstehen unter den neuen Bedingungen reale Optionen für Europa. In diesem Zusammenhang kann man sachlichundohne Panikmache von einer Verwandlung der islamischen Herausforderung an Europa in eine Bedrohungdurcheine graduelle Islamisierung durch einen Kopftuchislam sprechen. Ich trete als aufgeklärter Muslim für einen europäischen Islam und für ein säkulares Europa ein; hier sind Kompromisse nicht möglich, weil es keine halbe Säkularität gibt oder geben kann. Es ist mir klar, dass derjenige, der den Begriff»Islamisierung«kritisch verwendet, wie ich es tue, es riskiert, mit folgender verbaler Keule konfrontiert zu werden:»Dasverwendet auch die AfD!«, um somit erschlagen zu werden.Daher der angeführte wissenschaftliche Schutz, den ich in Abschnitt 1 liefere. Ich füge hinzu: Diese Denkart der Erzwingung einer Selbstzensur weise ich strikt zurück und begründe dies demokratietheoretisch in Abschnitt 5.Dazu hier nun folgendesArgument: Die AfD beruft sich auch auf das Grundgesetz. Darf ich dies deshalb nicht mehr tun, eben nur,weil die AfD es tut? Deutsche sollten sich von einer solchen Art des»Debattierens«verabschieden und sich die angelsächsische demokratische»Debating Culture«aneignen, mit der ich meine deutschen Leser in Abschnitt 5bekannt mache.

Drittens: Die neue,weit über hundert Seiten umfassende Einführung geht weit über eine Aktualisierung eines bestehenden Buches hinaus und verleiht der Veröffentlichung von 1998 die Qualität eines neuen Buches. Der neue UntertitelEuropäisierung oder Islamisierungbezeichnetauch denprimärenInhalt deraktuellenEinführung, die auch in dieser Hinsicht in voller Kontinuität zum Text von 1998 steht. Auf diese Weise wird der Inhalt von 1998 in die Realitäten von 2016 überführt,welchedie neue Einführung beleuchtet.

DieseaktuelleNeuausgabe von»Europa ohne Identität?«besteht aus zwei Segmenten:Sie enthält die neue, weit über den Textvon 1998hinausgehende und aktualisierende umfangreiche Einführung, in der ich eine Diagnose unserer Zeit der globalen Flüchtlingskrise vornehme. Auf diesen Originaltextvon 2016, in dem ich mich mit den entsprechenden Auswirkungen der genannten Krise auf Europa und auf seine zivilisatorische Identität beschäftige, folgt– bis auf die Anpassung an die neue Rechtschreibung –unverändert der Text derOriginal-Ausgabevon 1998. Dies werde ich in Abschnitt 1 über die Struktur dieses Buches näher begründen.

Ich begreife mich als ein Deutschlandkritiker mit Migrationshintergrund. Aus dieser Perspektive betrachte ich mit Sorge, wie sich Europa heute von einem Land mit beschädigter Identität, nämlich Deutschland, anführen lässt, das nicht nur»kein rechtes Maß«(Helmuth Plessner) findet, sondern auch wegen seiner krisenhaften Nationsbildung und durch seine unbewältigte NS-Vergangenheit unter unbewältigten Problemen leidet und andere in diesen Sog hineinzieht. Das zitierte Urteil vonPlessnerist in seinem BuchDiesseits der Utopieenthalten, er ist ein deutsch-jüdischer Denker, der auchDie verspätete Nationgeschrieben hat, das Beste, was je einer über dieses Land schrieb. Ich schreibe in diesem Geist und bedauere es aufrichtig, dass Deutsche, die in der Vergangenheit stets ihreSonderwege hatten, heute während der Flüchtlingskrise diese kranke Tradition fortsetzen; sie lassen sich bedauerlicherweise von der Führung einer KanzlerinMerkel,»sozialisiert in der SED-Diktatur der DDR«(soHelmut KohlsehemaligerMedienberaterHans-Hermann Tiedjein derNeuenZürcherZeitung(NZZ)vom 08.08.2016), in einen solchen Sonderweg, der Europa zerstört, verirren.Merkelversucht ohne Erfolg, anderen Europäern diesen Sonderweg aufzuzwingen. Das dürfen Deutsche angesichts ihrer totalitären Vergangenheit, gleichermaßen Nationalsozialismus wie Stalinismus (DDR), nicht tun.TiedjewirftMerkelvor, nicht zu verstehen, was es für Europa bedeutet, wenn Millionen Muslime mit einer Kopftuchkultur ohne Kontrollen und ohne Auswahlin den Kontinenthineingelassen werden. Er schreibt:»Kohl wusste, das Kopftuch ist mehr als ein Stück Stoff. Es trennt das Abendland vom Morgenland. Wie weit ist die Pfarrerstochter Merkel heute von solchen Gedanken entfernt.«Ferner schreibt er:Merkellässt zu, dass»Europa zum gelobten Land für Millionen Migranten aus der arabischen und schwarzafrikanischen Welt«wird, indem sie im Namen einer Willkommenskultur»den muslimischen Zustrom…auf Kosten der deutschen Bürgerschaft nach Europa«einlädt.Tiedjehat seinen ArtikelDer Unterschied(NZZ)ebenfallsin der Schweiz veröffentlicht. WederMerkelnoch die sie flankierenden Medienmacher lassen Widerspruch zu; sie erlauben weder eine solche Kritik noch eine freie Debatte. Ich habe 2015nicht von Deutschland, sondernvon der Schweiz auseine»Warnung vor der Tyrannei«veröffentlicht(zu finden auf meiner Homepagewww.bassamtibi.de).

Wer auf Islam-Kritik des Kopftuchs mit der Keule»islamophober Vorwurf«antwortet, dem kann ich–Hans-Hermann Tiedje verteidigend – vorhalten, dass das islamistische Kopftuch keine bloßreligiöse Kleidung ist; vielmehr ist die islamistische Kopftuch-Uniform der Ausdruck einer antiwestlichen Weltanschauung der zivilisatorischen Abgrenzung. Hierbei berufe ich mich auf meine türkische MitstreiterinNilüfer Göle, die in ihrem BuchThe Forbidden Modern.Civilizationand Veilingschreibt, dass die Verschleierung der Frau eher Ausdruck des Konflikts der Moderne als eine Loyalität gegenüber der Religion des Islam sei. Sie fügt hinzu:»Keinanderes Symbol kann mit dieser Wucht so schlagkräftig das Anderssein des Islam gegenüber dem Westen demonstrieren wie der Schleier.«Wer diese Fakten nicht verstehen will, dem kann ich nur das Urteil vonMax Weberüber Gesinnungsethiker vorhalten,welche die reale Welt nicht sowahrnehmen wollen, wie sie ist.Weberschreibt in seinem Essay»Der Beruf zur Politik«, wer die Realität»nicht sieht, ist in der Tat politisch ein Kind«. Mehr von dieser DenkweiseMax Webers, die ich mir zu eigen mache, werde ich in denVorbemerkungenvortragen.

In diesem Buch folge ichHannah Arendt, die Kommunismus und NS-Faschismus als Totalitarismen gleichsetzt. Das tunHorkheimerundPopperauch. In dieser Linie habe ich in meinem BuchDer neue Totalitarismusvon 2004 den Islamismus als Gefahr eines neuen Totalitarismus beschrieben. Bereits in meinerHorkheimer-Widmung in der Erstausgabe desvorliegendenBuches fügte ich den islamistischen Fundamentalismus an dritter Stelle hinter Faschismus und Stalinismus (vgl. oben) hinzu. Wer diese Warnung mit dem VorwurfderIslamophobie abtut, gehört zu den»Feinden der offenen Gesellschaft«(Karl Popper) und auch zu den»politischen Kindern«, die nachWebernicht sehen wollen.

Ein deutsches Oktroi, andere Europäer im Namen der Solidarität zu zwingen, die Millionen Flüchtlinge aus der Welt des Islam aufzunehmen, ist unzulässig. Die WochenzeitungDie Zeithat in ihrer Ausgabe vom 28.01.2016 zuRechtauf der Titelseite die Frage gestellt»Sind die Deutschen verrückt? Oder ist es der Rest der Welt, der keine Flüchtlinge aufnimmt?«Nein, die deutschen»Opinion Leader«sind es, die nicht nur»verrückt«sind, sondern auch totalitär versuchen, ihre Idee einer irrsinnigen»Willkommenskultur«den»Widerstrebenden aufzunötigen«. Diese Worte stammen vonJohn Stuart Mill, dem Autor der Bibel der Demokratie im 19. JahrhundertOnLiberty, über Leute, die eine»Tyrannei der herrschenden Meinung«mit allen Mitteln aufzwingen.

Andere Europäer weigern sich mitzumachen. Die britische ZeitungFinancial Timesstellt ebenfalls auf der Titelseite vom 29.06.2016 fest: Für die Briten sei der»Brexit defeat«auf das»EU-failure to tackle immigration«zurückzuführen, sie weigerten sich, den deutschen Sonderweg zu gehen.Die Zeitschreibt in der zitierten Ausgabe, die deutsche Willkommenskultur sei für Deutsche eine Art, sich von der NS-Vergangenheit zu heilen auf einem Weg»gewissermaßen von Auschwitz direkt zum Münchner Hauptbahnhof«. Warum sollen wir Menschen, die mit dem deutschen NS-Mord nichts zu tun haben,an dieser – soDie Zeit–»völlig irrationalen Willkommenskultur«beteiligen? Es geht darum, dass Deutsche zur Normalität zurückkehren, nicht, dass andere sich an Deutschland anpassen.Und es kommt noch schlimmer: Unter den Menschen,welchedie deutschenGutmenschen willkommen heißen, sind mehrheitlich Träger des Kopftuch-Islam, die zudem aus Ländern kommen,in denender Antisemitismus die politische Kultur bestimmt. Dies habe ich in einem am Center for Advanced Holocaust Studies entstandenen Buch nachgewiesen, das bei Yale University Press unter dem TitelIslamismand Islamerschienen ist.

Die neue Einführung stellt eine verbindende Linie dar zwischen jener Diagnose von 1998 und der vorliegenden unserer Zeit 2015/2016 mit demsoeben als»irrationale Willkommenskultur«gekennzeichneten Merkmal. Diese Zeit dokumentiert den Zerfall der EU als sinkendes Schiff, nicht nur wegendesBrexit. Im abschließenden Abschnitt 9 zu dieser Einführung versuche ich die heutige besorgniserregende Lage Europas zu rekonstruieren.

Das Schönste an der BundesrepublikDeutschlandist ihr vorbildliches Grundgesetz, das in Artikel5 Absatz1 Meinungsfreiheit und in Artikel5 Absatz3 Wissenschaftsfreiheit garantiert. Trotz der in Deutschland störenden Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit möchte ich als Syrer mit deutschem Pass in dieser neuen Einführung von der im Grundgesetz garantierten Freiheit vollen Gebrauch machen. Ich hoffe auf verantwortungsethische deutsche Leser, die frei von der tradierten kulturprotestantischen Gesinnungsethik und»ihrem Pathos des Absoluten«(Theodor W. Adorno) sind. Ein Moralisieren blockiert jede freie Sichtaufdie Krise Europas unter dem millionenstarken Flüchtlingsdruck. Die Zahl der Flüchtlinge in der globalen Flüchtlingskrise ist Mitte 2016 auf 65 Millionen angestiegen,und sie wird weiter rapide ansteigen. Dieses Problem kann definitiv nicht auf dem europäischen Kontinent gelöst werden. Wenn ich hierüber laut nachdenke, versuchen linke und grüne Deutsche mir als einem freien Denker in Deutschland einen Maulkorb gegen die Vorschriften des Grundgesetzesaufzuerlegen. Ichwichdeshalb in die Schweizausund veröffentlichte dort in der Basler Zeitung den bereits zitiertenJ’accuse-ArtikelIch weigere mich, zu schweigen. Man kann diesen Text auf meiner Homepagenachlesen.

Gleich einleitend will ich noch den Geist des vorliegenden Buches offenlegen, indem ichfeststelle:Selbstarabischer Muslim aus dem westasiatisch-syrischen Damaskus,lasse ich mich im Folgenden von dercartesianischenErkenntnis»cogito ergo sum«leiten, d.h.,ich denke, also bin ich. Ich beuge mich nicht den Aufforderungen deutscher Gesinnungsethiker,mich für mein Denken»zu entschuldigen«. Mein Vorbild ist der britische politische PhilosophJohn Stuart Mill, der jene kritisiert, die Anderen ihre»eigenen Ideen und Gesinnung durch andere Mittel als bürgerliche Strafen«aufnötigen wollen. Dieser Satz ist in dem bereits zitierten BuchOn LibertyvonJohnStuartMillenthalten, worin er die Freiheit von Menschenverteidigt, die ihre eigene Individualität gegen die»Tyrannei der herrschenden Meinung«bewahren wollen. Mit diesem Buch setze ich im 21. JahrhundertMills Mission aus dem 19. Jahrhundert fort. Im zitierten Artikelin der Basler Zeitungnenne ich meine Ideen inAdornos Worten»unbequeme Gedanken«und füge hinzu:»Hiervonwerde ich niemals ablassen«.

Zu John Stuart Mill ziehe ich weiterhin die Autorität meines jüdischen LehrersTheodor W. Adornohinzu; er kontrastiert zwei deutsche Traditionen, die als Option zur Wahl stehen. Erstens die bessere Tradition nachImmanuel Kant, die auf»Autonomie und Selbstverantwortung des vernünftigen Individuums«fußt, sowie – zweitens–die entgegengesetzte Tradition vom»Pathos des Absoluten«, das»jede Abweichung gereizt ahndet«. Dies ist nachzulesen inAdornos AufsatzAuf die Frage:Wasist deutsch?Ich bin Zeuge und Opfer einer solchen Ahndung. Die Abweichung, die ich sowohl in diesem Buch als auch in anderen Veröffentlichungen wage, ist brutal»geahndet«worden; ich bin aus den deutschen Medien von 2002 bis 2016 total verbannt worden. Jüngst,im Juli 2016,hat mich der grüne PolitikerJürgen Trittin, der laut Wikipedia bis 1980 eine Biografie als ein»aktives Mitglied im kommunistischen Bund/KB«hatte, aufgefordert (Göttinger Tageblattvom 07.07.2016), mich für meine»unbequemen Gedanken«zu entschuldigen,und drohte mit»Konsequenzen«. Dazu hat er mich –mich, der ich Vollblut-Demokrat bin–mit höchster Impertinenz aus der»Wertegemeinschaft des Grundgesetzes«exkommuniziert, so wie dies imGöttinger Tageblattsteht. Was für eine politische Kultur des Landes ist dies?

In meinem Denken folge ich meinem deutsch-jüdischen akademischen Lehrer und Holocaust-ÜberlebendenAdorno, der mir als Muslim aus Damaskus in meinen Frankfurter Lehrjahren beigebracht hat, mich keinem Zwang zu beugen und mein Denken nicht»einer inneren Zensurinstanz«unterzuordnen,welche»die Äußerung unbequemer Gedanken verhindert«, sondern vielmehr den Mut zu haben, zu»unbequemen Gedanken«zu stehen, soAdornoin seinem AufsatzAuf die Frage:Wasist deutsch?Im gleichen inneren Engagement folge ich der Warnung meines zweiten Frankfurter LehrersHorkheimer, dem dieses Buch mit einer Begründung gewidmet ist (vgl. oben). In seinem BuchEclipse of Reason(Umnachtung der Vernunft), das 1947 in New York erschienen ist, verteidigt Horkheimer Reason im Sinne derKantischen Vernunft gegen die instrumentelle Vernunft. In Frankfurt studierte ich zudem auch bei dem PhilosophenIring Fetscher, der mein Doktorvater in den Jahren 1968–1970 war. Es gehörte zu den größten Ehren meines Lebens, dass dieser große deutsche Gelehrte, dessen Vater von den Nazis in Dresden erschossen wurde, im Oktober 2009 als 91-Jähriger extra aus Frankfurt nach Göttingen kam, um als Ehrengast bei meiner Emeritierung in der Aula der Universität Göttingen anwesend zu sein,und allen Reden über mich lauschte. Der Laudator war mein jüdischer Freund und MitstreiterMichael Wolffsohn, zu dem ich unten noch mehr zu sagen habe.

Ich bleibe hier beiFetscher, der mein philosophisches Verständnis weitgehend geprägt hat. In dem Abschnitt über Leitkultur werde ich sein HauptwerkRousseaus politische Philosophiezitieren und möchte hierEinigesantizipieren, weil ich diesesRousseau-Verständnis auf den Islam übertrage: In der modernen Gesellschaft sei der Mensch nachRousseaukein gläubiger Christ (entsprechend auch kein gläubiger Muslim), sondern ein Citoyen, d.h. ein Mitglied eines säkularen Gemeinwesens. Nur bei einer solchen Bestimmung des Menschen in einer modernen Gesellschaft kann, wieIring Fetscherschreibt,»eine freie dauerhafte republikanische Staatsordnung geschaffen werden«.Fetscher meint, dies sei der»wesentliche Gedanke der politischen Philosophie Rousseaus«. Diese Bestimmung des Menschen als Citoyen sowie Gesellschaft und Staat als»republikanische Ordnung«der Citoyenneté gehören zur zivilisatorischen Identität Europas. Dies wird heute von Linken und Grünen im Namen von Minderheitenschutz und Diversity zerstört. So steht Scharia über Citoyenneté. Anders denktMichael Wolffsohn. Das Schönste, was er über mich in seiner in der Aula der Universität Göttingen im Oktober gehaltenen Laudatio gesagt hat, war laut dem Bericht desGöttinger Tageblattsdieser Satz:»Bassam Tibi ist ein Citoyen, ein Bürger des aufgeklärten säkularen Europa.«Das ist auch mein Selbstverständnis.

Mein Text verrät einen großen europäischen Einfluss auf mein Denken. Dennoch verneine ich niemals meine westasiatisch-arabisch-muslimischen Wurzeln. Freiheitlich gesinnte Juden verstehen mich besser alschristliche Deutsche. Dies hatauchMichael Wolffsohnin seiner Laudatio auf mich bei der Emeritierungsfeier in der Göttinger Aula festgestellt, als er sagte»Tibi ist der Orient, Tibi ist der Okzident«.In seiner Laudatiohat erwiederholt auf dieses BuchEuropa ohne Identität?rekurriert und daraus mehrmals wortwörtlich zitiert. Das war das beste Emeritierungsgeschenk. Ein ebenso großes Geschenk waren die wertvollen Beiträge von zwei weltgroßen Gelehrten, nämlichBernard Lewisaus Princeton undHerbert Kelmanaus Harvard zu meiner FestschriftZwischen Konfrontation und Dialog.

Selbst bekennender Muslim,sage ich gleich hier im Vorwort, dass ich keine Ambiguität in meinem Verhältnis zu Europa zulassen würde. Nur wenn Muslime bereit sind, auf ihre Scharia-Weltanschauung zu verzichten,und die hier beschriebene Bestimmung von Mensch, Staat und Gesellschaft akzeptieren, kann es eine genuine Integration im Rahmen eines europäischen Islam geben. Diese Probleme werden in deraktuellenEinführung in den Teilen über Europäisierung des Islam (Abschnitt 7), Leitkultur (Abschnitt 8) und Zivilisationskonflikt (Abschnitt 6) näher undTabu-frei diskutiert. Im Namen einerKultur der Ambiguität, so derTitel des Buches vonThomas Bauer, werden dagegen islamische Eigenarten geduldet. Dieses hier kritisierte Denken entspringt einem Kulturrelativismus, den ich schlicht verabscheue. Ich werde den unbequemen Gedanken gleich hier formulieren, dasseinsolcher Unsinn der Umkehrung des Orientalismus (orientalismin reverse) abzulehnen ist. Der Geist meines Diktums lautet:»Yes weKant«(Matthias Heitmann,Zeitgeistjäger). Wir Muslime haben zusätzlich zum deutschenKantunserenIbn Ruschd/Averroës(1126–1198) aus dem Mittelalter undMohammed Abed al-Jabri(1935–2010) im 20. Jahrhundert, die beideKants Geisteshaltung in nichts nachstehen. Beide sind islamische Rationalisten; sie sind wieKantein Vorbild für mein Denken. In meinem im Feuilleton derSüddeutschen Zeitung(SZ)vom 09.08.2016 erschienenen EssayDie Erleuchtetenargumentiere ich implizit gegen die deutschen IslamwissenschaftlerThomas BauerundFrank Griffelmit dieser Richtigstellung: Der Islam braucht eine Aufklärung,und sein größter Denker, nämlich der eben angeführteAverroës,forderte schon lange vorKantdie Anerkennung desPrimats der Vernunft. Die genannten Islamwissenschaftler verstehen den weltanschaulichen Konflikt innerhalb der islamischen Zivilisation zwischenfalsafa-Rationalismus undfiqh-Orthodoxie nicht. Sie reduzieren die essenzialisierte Kulturart auf die Scharia. In Wirklichkeit haben islamische Philosophen gegen die Scharia-Orthodoxie argumentiert; eine Tradition, die heute frei denkende Muslime desEnlightened MuslimThoughtfortsetzen. Es ist schlicht eine Geschichtsfälschung, wennGriffelbehauptet, es habe im Islam weder eine Unterdrückung der Philosophie noch Ketzerprozesse gegeben. In meinem SZ-Artikelvom 09.08.2016zeige ich, dass genau das Gegenteil die Wirklichkeit der islamischen Zivilisation im Mittelalter war.

Nun komme ich zum Abschluss dieser Vorrede und fasse zusammen, indem ichFolgendes festhalte:Weil der Kontext von 1998 gerade wegen der bundesrepublikanischen Leitkulturdebatte von 2000 ein Stück deutscher Geschichte geworden ist, kann dieses Buch als Teil dieser Zeitgeschichte eingeordnet werden. In Abschnitt 8 werde ich mehr darüber schreiben, jedoch möchte ich schon hierFolgendes klarstellen: Ich bin nicht nur von der CDU, sondern auch von vielen anderen zu einem Befürworter einer»deutschen Leitkultur«brutal verfälscht worden. Ich nenne es brutal deshalb, weil ich ein leidenschaftlicher Gegner einer jeden»deutschen Leitkultur«bin. Ich beschreibe das hässliche Gesicht der deutschen Leitkultur in den Abschnitten 5 und 7. Richtig ist, dass ich für eineeuropäische Leitkulturbin, die das Gegenteil einer»deutschen Leitkultur«ist. Das, was ich in Abschnitt 5 kritisiere, ist die deutsche Leitkultur, zu deren heftigsten Kritikern ich mich rechne. Wie oft habe ich dies in den Jahren seit 1998 bis heute klargestellt, jedoch ohne Erfolg. Vergleichbar ist der deutsche Umgang mit meiner Islamologie und deren Verwechslung mit Islamwissenschaft. In der Sektion»Bücher«auf meiner Homepage verrate ich bei meiner Vorstellung meiner beiden Buchtrilogien zur Begründung der Islamologie,wie genervt ich als Islamologe bin, wenn ichvon Deutschenals Islamwissenschaftler tituliert werde. Islamwissenschaft ist eine deutsche Disziplin mit altkolonialen Wurzeln, wohingegen Islamologie eine entkolonialisierte historisch-sozialwissenschaftliche Islamforschung ist.

Zum Abschluss gehört noch diese Ausführung über die neue,über hundert Seiten lange Einführungzur Ausgabe 2016. Der 380 Seiten lange Text von 1998 und die neuen 120 Seiten gehören inhaltlich und historisch zueinander und sind somit verzahnt. Dies möchte ich anhand derGellner-Geertz-Kontroverse von 1994 (vgl. unten,Kapitel 4) auf dem Symposiumder ErasmusFoundation anführen. Sowohl im 4. Kapitel des»alten«Textes sowie in mehreren Abschnitten des neuen Textes greife ich auf diese maßgebliche Kontroverse zurück, umargumentativ darzulegen, dass zwischen der säkular-demokratischen, an der Aufklärung orientierten Identität Europas und dem Eindringen des Islamismus sowie des Salafismus eines schriftgläubigen Islam ein Zivilisationskonflikt besteht (vgl. Abschnitt 6).

Der heutige Zeitgeist Europas wird nicht mehr vomKantder Aufklärung und von der Citoyenneté der Französischen Revolution, sondern vom selbst-defaitistischen Kulturrelativismus derAnything-Wertebeliebigkeit bestimmt. Heutige Deutsche, die weiterhin vom»deutschen kollektiven Narzissmus«(soAdornoin seinem AufsatzAuf die Frage:Was ist deutsch?) befallen sind, predigen uneingeschränkte Toleranz gegenüber den islamischen Flüchtlingen und wenden hierdurch kulturrelativistische Standards auf einen Neo-Absolutismus an, der von vielen dieser Flüchtlinge vertreten wird. Wer dieser europäischen Selbstverleugnung widerspricht, wird der Islamophobie bezichtigt. Es klingt absurd, wenn islamische Neo-Absolutisten von Kulturrelativisten lernen und Europäer mit dieser Keule bewerfen. Um es klarzustellen: Ich trete für einen europäischen Islam ein, bejahe kulturpluralistische Vielfalt parallel zu einer Inklusion der Muslime in eine europäische Citoyenneté, aber bin nachdrücklich gegen die Verleugnung der europäischen Idee und ihrer Inhalte zugunsten des Respekts für andere Kulturen, d.h. mit anderen Worten zugunsten des Respekts für einen Neo-Absolutismus. In Anmerkung19 zu Kapitel 4 des alten Textes wird der Titel desim Rahmen desangeführten Erasmus-Projekt erschienenen Buches (Amsterdam 1994) zitiert:The Limits of Pluralism.Zu diesen Limits gehört ein klares Nein als Antwort auf die Forderungen der»enemies of the open society«, die im Namen religiöser Toleranz dafür eintreten, den in der Aufklärung erstrittenen Primat der Vernunft zugunsten der angeblich von Allah offenbarten Scharia aufzugeben.

Ich schloss diese Vorrede am 08.08.2016 nach dem Abschluss der Veranstaltung Diner Republicain des Schweizer Ringier-Verlages ab, auf der die Verleihung des»Europapreises für politische Kultur«erfolgte. Der deutsche Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier war der Preisträger,und unter den Gästenbefand sich auchder ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Am nächsten Tag,bei der mehrstündigen Frühstücksdiskussion unter den teilnehmenden Europa-Experten in Ascona,waren wir uns alle darüber einig, dass der Respekt für den Islam nicht mit einerfreien Eintrittskarte für die islamische Weltanschauung nach Europagleichgesetzt werden darf.

In Ascona habe ich bei der Finalisierung dieserVorrede Anfang August 2016schweizerische,deutsche und französische Politiker, Schriftsteller und Denker erlebt, die diese politische Kultur des freien Debattierens – frei von Keulen – praktiziert haben, die ich mir in diesem Buch wünsche. Der»Europapreis für politische Kultur«, den ich oben anführte, gilt für europäische politische Kultur, die eine solche des Debattierens, nicht der Verfemung durch die Bewerfung mit Keulen sein soll. Und diese politische Kultur fußt auf dem Prinzip der laizistischen Citoyenneté als Identität Europas.Wer für dieseopen societyeintritt, muss bestimmen können, dass das Akzeptieren der laizistischen Citoyenneté für alle gilt, Muslime bilden keine Ausnahme!

Um Verwechslungen zu vermeiden, verwende ich den Begriff»Abschnitt«für die neuen Teile der Einführung von 2016 und den Begriff»Kapitel«fürdie Teile des Urtextes von 1998. Obwohl ich in Abschnitt 5 argumentiere, dass es in der Bundesrepublik Deutschland keine Tradition einer»Debating Culture«gibt, gebe ich als Rationalist die Hoffnung nicht auf, dass es Deutsche gibt, die eine solche pluralistisch-demokratische Kultur befürworten und mit dieser Geisteshaltung das vorliegende Buch lesen werden.

Ascona, August 2016

Bassam Tibi

Einführung

Die Frage»Europa ohne Identität?«neubelebt im Lichte der millionenstarken Zuwanderung aus der Welt des Islam: Der Zivilisationskonflikt

Die vorliegende Einführungder Ausgabe 2016ist in neun Abschnitte untergliedert,und sie beginnt mit folgenden grundsätzlichen Vorbemerkungen, in denen ich die drei Stufen meiner Vorgehensweise bzw. meine Denkweise angebe und erläutere:

Das anstehende Problem identifizieren.Die analytische und faktenmäßige Durchdringung des festgestellten Problems erläutern. Das sollte als Grundlage und Vorarbeit dafür dienen, die Suche nach Lösungen für das angegebene Problem zu ermöglichen.Hiernach gehe ich zu dieser Stufe über und suche eine Lösung. Ich tue dies auf Grundlage der 1998 vorgeleisteten Arbeit, die in dieseraktuellenFassung fortgesetzt wird. Ich weise jede Gesinnungsethik zurück und bestehe stattdessen auf Verantwortungsethik imWeber’schen Sinne. Was dies ist, werde ichinden folgenden Vorbemerkungen näher erläutern.

Vorbemerkungen

Ich trete stets, also auch hier, für Transparenz ein. In diesem Sinne lege ich meine Karten, d.h. meine Denkweise,gleich zu Beginn offen. Wie ich verfahren werde,habe ich in den oben genannten drei Schritten dargelegt, um erstens das anstehende Problem zu identifizieren und es dann sowohl faktenmäßig als auch analytisch zu durchdringen. Erst danach ist es möglich, zu Lösungen zu gelangen. Dafür halte ich zunächst fest: Mir scheint folgender Sachverhalt das Problem auszumachen: Westeuropa ist schon seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und extrem seit der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts der globale Anziehungspunkt für alle Formen von Flucht und Migration aus allen Teilen der Welt geworden. Ein einziges europäisches Land – Deutschland – übertrifft als Zuwanderungslandstatistisch sogar die USA und Australien. Warum nenne ich die USA ein Einwanderungsland, aber bezeichne Deutschland als Zuwanderungsland?

Unter Einwanderung verstehe ich regulierte Migration,wiesie in Australien und den USAstattfindet; dagegen ist Zuwanderung naturwüchsig ohnejeglicheRegeln und Verfahren,so wie sie2015/2016erfolgte, als ca.zweiMillionenMenschen nach Deutschland kamen.

Die überwiegende Zahl dieser Zuwanderer kamdabeinicht wie ursprünglich vermutet aus ehemaligen kommunistischen Ländern Osteuropas, sondern aus der Welt des Islam. Mit dieser Erkenntnis des zentralen Problems verbinde ich die Frage: Kann Europa in diesem Kontext seine säkular-demokratische zivilisatorische Identität bewahren?Die zwei Fragen,welche die Untersuchung dominieren, werden gleich als Titel und Untertitel dieses Buches verwendet, womit das zentrale Thema des Buches angegeben wird.

Nun können wir zur zweiten Stufe übergehen und damit beginnen, nicht nur eine analytische, sondern eine faktenmäßige Vorgehensweisezuelaborieren. Damit mache ich klar, dass weder Moralisieren noch Wunschdenken meinen Erkenntnisprozess leiten. Wenn ein Problem ansteht, dann muss man gleich die Fakten hierzu heranziehen. In einem Begleitbrief zum Jahresbericht des Verbandes»Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe«in Berlin/Bonn steht folgende Feststellung im ersten Absatz:»…die aktuellen Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sind erschütternd: Mehr als 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, davon allein aus Syrien seit 2011 fast fünf Millionen Menschen.«

Allein mit dem gesunden Menschenverstand und ohne Fachwissen kann man sichFolgendesausmalen:Wenn diese 65 Millionen Flüchtlinge der im Rahmen der deutschen Willkommenskultur ausgesprochenen Einladung von Bundeskanzlerin MerkelFolge leisteten undnach Europa kämen, dann würde Europa zusammenbrechen. Genau das ist das Problem, mit dem sich Europa als Anziehungskontinent für diese 65 Millionen Flüchtlinge im kommenden Jahrzehnt auseinandersetzen muss. Es wird nicht bei 65 Millionen bleiben. Die Zahl betrug letztes Jahr56Millionen und istnunauf 65 Millionen gestiegen. Das wird so weitergehen, und auch die derzeit aktuelleZahl von 65 Millionen wird wachsen.

Anfang September 2015 ging global durch alle elektronischen Kommunikationsmittel diese Nachricht aus Deutschland: BundeskanzlerinMerkelhat verkündet,»ein freundliches Gesicht zu zeigen«. Deshalb ordnete sie am 4. September 2015 nicht nur die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge, sondern auch die Suspendierung aller Grenzkontrollen unddie Zuwanderung regelnderAbmachungenan, wie etwa des Dublin-Abkommens, nachdemFlüchtlinge im Ankunftsland ihren Asylantrag einreichen müssen. Daraufhin kamen in weniger als einem Jahr ca.zweiMillionen Menschen allein nach Deutschland, sowohl über die Balkanroute als auch über das Mittelmeer; die Flüchtlinge sagten vor Fernsehkameras nur ein Wort:»Germany«. Die Bundesregierung hatte die Statistiken frisiert, um die Bevölkerung zu beruhigen. VonzweiMillionen Flüchtlingen wurden 900.000Menschen, die das Land verließen, abgezogen, und somit wurden die Neuankömmlinge nurnochmit 1,1 Millionen angegeben. Dasverstößtgegen alle wissenschaftlichen Regeln der Statistikund ist manipulativ.

Die Bundeskanzlerin hatte außer ihrem Vorsatz,»ein freundliches Gesicht zu zeigen«, keine Policy, d.h. kein Politikkonzept, um mit diesem neuen Phänomen umzugehen; die Leerformel vonMerkelaus dem Jahr 2015»Wir schaffen das«ersetzte jedes Politikkonzept. Diese Bundeskanzlerin beweistdurch Folgendes, dass sie lernunfähig ist:Nach den Terroranschlägen im Juli 2016 in Reutlingen, Würzburg und Ansbach unterbrach FrauMerkelihren Urlaub und kehrte nach Deutschland zurück, um die Durchhalteparole»Wir schaffen das«zu wiederholen. Dashätte sielassen können,denn inzwischen warklargeworden, dass die deutsche Willkommenskulturetwasversprochen hatte, was sie nicht liefern konnte. Nunwurde von anderen Europäern Solidarität unter politischem Druck eingefordert, um die Illusion aufrechtzuerhalten. DieseMerkel-Solidarität ist nichts anderes,als anderen Europäern einen deutschen Sonderweg aufzuzwingen.

Nun stellt sich diese Frage: Kann Europa 65 MillionenFlüchtlingeaufnehmen, ohne dabei zusammenzubrechen? Mit dieser Frage habe ich auf der ersten Stufe das anstehende Problem angegeben. Ich versuche im Folgenden,dieses Problem zu durchdringen, um dann später eine Lösung zu suchen. Ich bitte meine Leser, meinen Stil zu respektieren, weil ich vor der Beantwortung der Fragen eine den Gegenstand betreffende persönliche Erfahrung voranstellen möchte.

Die folgende Erfahrung ist persönlich,und wer hierauf mit der für mich als hämisch bekannten Verbalinjurie»Tibis Selbstbezüglichkeit«reagiert,dem schlage ich vor, gleich hier die Lektüre abzubrechen. Denn die erforderliche Chemie zwischen Autor und Leserwürde in diesem Fall fehlen. Seitdem ich in vier Sprachen schreibe, also seit 50 Jahren, verfahre ich so und nicht anders. Ich lasse mich von niemandembeißen.InAmerika sagt man:Takeit or leave it. Ich will niemandem gefallen, ich schreibe, was ich denke.

In meinem Leben bin ich durch drei Sozialisationsstufen gegangen:

Die erste Stufe fand statt in der arabisch-islamischen Umwelt von Damaskus. Dort habe ich eine islamische Weltanschauung des Umma-Kollektivs verinnerlicht.In Europa entdeckte ich meine menschliche Bestimmung alsvernunftbegabtes Individuumim Verständnis vonDescartesundKant.In den USA lernte ich pragmatisches Denken kennen sowie den Bedarfnach Umsetzung imPolicy-Bereich, d.h.,nicht mehrnurrein normativ zu denken,wie Europäer und Muslime eszumeisttun, sondernauf dieUmsetzung von Wissen in eine politische Realitätzu achten.

Diese Informationen sind sehr wichtigdafür, um die ArtundWeise zu verstehen, wie ichan Problemeherangehe. Das ist keine»Selbstprofilierung«, wie ein hässliches deutsches Wort lautet.

In der 3sat-FernsehsendungVis-à-visvom 26. Juni 2016 habe ich Frank A. Meyer von dem Schock berichtet, den ich in meinem ersten Harvard-Jahr 1982 erlebt habe. Ich legte ein wissenschaftliches Papier vor,und statt Lob zu bekommen, wurde ich gefragt:»What are your policy implications?«MeineAntwort war:»Muss ich dies als Wissenschaftler tun? Ich habe dies in Deutschland nicht gelernt.«Meine amerikanischen Kollegen sagten, es sei noch nicht zu spät für mich, diesen Lernprozess nachzuholen. Denn ich war 1982 ein erst 38 Jahre junger Professor.

Nach diesem Vorspann lege ich meine Karten, d.h. meine Denkweise offen:Als islamisch erzogener Mensch aus Damaskus, der 56 Jahre in Deutschland gelebt hat, weiß ich, wie Nahost-Muslime als Neo-Absolutisten auftreten und wie im Gegensatz dazu kulturprotestantische Menschen als Kulturrelativisten denken; beide gehen unterschiedlich mit dem oben festgehaltenen Problem um. Für traditionelle Muslime gehört die gesamte Welt Allah–und Europa ist hierbei keine Ausnahme; sie empfinden sichin Europa nicht als Flüchtlinge, da sie nur Gottes Güter in Europa in Anspruch nehmen,und sie müssen hierfür nur Allah dankbar sein. Mit anderen Worten:Sie verstehen die Forderung nicht, dass sie europäische Verfassungen zu respektieren haben; im Gegenteil:Sie fordern die Geltung der Scharia für sich. Deutsche Gesinnungsethiker verstehen dies wiederum auch nicht. Beide Parteien haben entgegengesetzte Logiken und können einander nicht verstehen. Die Neo-Absolutisten geben nicht nach und sind nicht kompromissbereit. Kulturprotestantische Kulturrelativisten relativieren alles und geben nach. Diese Europäer gehen nicht von Fakten aus und nehmen noch nicht einmal wahr, dass die islamischen Flüchtlinge Europäer als»Ungläubige«einordnen. Kulturprotestantische Europäer reden vom Vorurteil. Welche Denkweise kann in diesem Dickicht helfen weiterzukommen?

Eine Hilfe finde ich in diesem Erkenntnisprozess bei einem großartigen deutschen Denker, der meine Geistesentwicklung in meinem Leben als Wahleuropäer weitgehend beeinflusst hat. Dieser Denker istMax Weber, dem ich die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethiker und Verantwortungsethiker verdanke.

Als Mensch mit westasiatisch-arabisch-islamischen Wurzeln bin ich neben meinen Frankfurter akademischen Lehrern vonWeberstark geprägt worden. In dem Band mit dem TitelSoziologie, weltgeschichtliche Analysen, PolitikausWebers gesammelten Schriften findet man den AufsatzDer Beruf zur Politik(so der Titel nach der Winckelmann-Ausgabe). Darin prägtMax Weberdie für dieses Buch grundlegende Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Ich erlaube mir im Folgenden, den Weber’schen Gedanken länger mit Originalzitaten auszuführen, weil die Basisgedanken dieses Buches hiervon ausgehen.

Weber erwartet, dass»drei Qualitäten«für jeden Politiker entscheidend sein müssen, nämlich»Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß«. Er fügt schnell erklärend hinzu,»Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit, leidenschaftliche Hingabe an eine Sache«. Augenmaß ist dies für Max Weber:»die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen«. Ich kenne keineneinzigen Berliner Politiker, der diese von Max Weber angegebenen Voraussetzungen für den»Beruf zur Politik«erfüllen würde, auch und gerade Merkel und ihr Stab tun dies nicht.

Was ist nun der Unterschied zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik?

Nach Max Weber schiebt der Gesinnungsethiker jede Verantwortung von sich und weist jede Rationalität zurück; die gesinnungsethische Betrachtungsweise sieht nach Max Weber so aus:

»Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen. …Verantwortlich fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung … nicht erlischt.«

Diese Denkweise gedeiht unabhängig von den gesinnungsethisch begründeten»ganz irrationalen Taten«. Ein Paradebeispiel für diese Denkweise ist die deutsche Willkommenskultur, die sich als das Gute begreift und das Böse in der gesamten Welt abschaffen will.

Dagegen zeichnet sich der Verantwortungsethiker durch die eingangs aufgelisteten Qualitäten aus:

·Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit,

·Augenmaß als Fähigkeit, die Realitäten rational zu erkennen,

·Verantwortungsgefühl, das völlig frei ist von einer»ins Leere verlaufenden Romantik des intellektuell Interessanten«(Max Weber).

Gibt es einen Mittelweg zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik? Weber antwortet auf diese Frage verneinend mit folgenden Worten.»Es ist nicht möglich, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen.«Man kann die Frage erneut stellen, warum ein Mittelweg nicht möglich ist. Weber antwortet, dass der Gesinnungsethiker»aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen«sieht; sein Denken ist von diesem Manichäismus geprägt. Dagegen denkt der Verantwortungsethiker rationalistisch, aber»der Gesinnungsethiker erträgt die ethische Irrationalität der Welt nicht«. Ich frage meine Leser im amerikanischen Sinne: Do you get it? / Verstanden? Ich möchte hier einen Satz von Weber benutzen, der,im Gegensatz zu mir, nur streng sachlich schreibt, aber bei diesem Gegenstand sich folgenden Satz erlaubt, den ich mir auch zueigen mache:»Wer das nicht sieht, ist in der Tat politisch ein Kind.«

Mit diesem Weber’schen Denken gehe ich an das oben angegebene Problem heran. Ich verbinde dies mit dem Vermächtnis von Horkheimer.Dieses Vermächtnis findet der Leser in dem oben stehenden Text der Widmung dieses Buches für Horkheimer.

Gerade im verantwortungsethischen Geist Webers stelle ich analytisch und faktenmäßig auf der zweiten Ebene das Vorhandensein von Konflikten fest als eine gesellschaftliche Realität. Diese Vorgehensweise steht im Widerspruch zur Veredelung der fremden Flüchtlinge zubons sauvagesin der Gesinnungsethik der deutschen Willkommenskultur. Zum Verständnis dieser sozialen, politischen, ökonomischen und religiös-kulturellen Konflikte gehört vorrangig der Zivilisationskonflikt, dem ich in Abschnitt 6 dieser Einführung nachgehen werde. Diese analytische und faktenmäßige Durchdringung des oben festgehaltenen Problems wird vermutlich auf Widerstand, sogar auf Diffamierung meines Denkens und Infragestellung meiner Person als Wissenschaftler stoßen. Ich bin daran gewöhnt. Meine Biografie ist, wie man im Englischen sagt, von einer»implacable«, d.h. von einer unerbittlichen Integrität gekennzeichnet. Auf diesem Boden denke und forsche ich seit fünfzig Jahren und tue dies auch weiterhin so. Meine Persönlichkeit steht in diametralem Widerspruch zum Charakter des deutschen Gesinnungsethikers, also desMenschentyps, den ich oben mit Hilfe Max Webers näher beschrieben habe.

Der Gesinnungsethiker hat ein Menschen- und Weltbild, das ihm als unerschütterlich gilt. Nach diesem Bild soll die Welt sich formieren. Mit Gesinnungsethikern, die alles moralisieren, kann man deshalb nicht rational debattieren. Denn zur Rationalität gehört die Bereitschaft, alles – auch die eigenen Glaubenssätze – der Reflexion unterzuordnen. Die Gesinnungsethik glaubt an eine Dualität von Gut und Böse. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Unterteilung dieses Landes in»das helle und das dunkle Deutschland«durch den evangelischen PastorGauck, der zum Bundespräsidenten aufgestiegen ist und vorwiegend langweilige gesinnungsethische Predigten als politische Reden hält. NachMax Weberspricht ein Politiker anders als BundespräsidentGauck.

Der Leser möge sich das obige Zitat vergegenwärtigen, wonach bei Gesinnungsethikern»aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses hervorgeht«,und dies anwenden auf das Denken des deutschen Bundespräsidenten in Bezug auf das»helle und dunkle Deutschland«. Ich möchte der gesinnungsethischen Maxime widersprechen, dass ausGutem nur Gutes hervorgeht, mit diesem Faktum:Die Vertreter der deutschen Willkommenskultur wollen Gutes tun, indem sie ihre Nazi-Vergangenheit durch Aufnahme von Flüchtlingen sühnen wollen. Das ist Gutes. Aber 90Prozentder Flüchtlinge, die aus Nahost kommen und von diesen Gutmenschen willkommen geheißen werden, sind Antisemiten. Ist das Gutes?

Ich komme nun zum Abschluss dieser Vorbemerkungen zu der gesamten Einführung und spreche die dritte Stufe meines Denkprozesses an. Die Flucht erfolgt aus Gründen von Armut, Gewalt und Not. Hierfür gibt es tiefe Ursachen, die man in der Konfliktforschung»root causes«nennt. Bei der Ursachenbekämpfung der Flucht von 65 Millionen Menschen sollte man diese»root causes«ansprechen. Das ist ein wissenschaftlicher Begriff, der jedoch in der deutschen Politik von FrauMerkeldurch die Formel»Bekämpfung von Fluchtursachen«inflationär verwendet wird und inhaltlich deformiert ist. Diese»root causes«sind Armut, Gewalt durch Staatszerfall, Überbevölkerung und vieles mehr. Wenn Frau Merkel zwei Millionen Menschen aus Afrika und Nahost nach Deutschland einlädt, dann ändert sie nichts an diesen»root causes«in Nahost und Afrika. Es kommt noch schlimmer, sie hat kein Politikkonzept für den Umgang mit Migration und Integration. Ursachenbekämpfung wird somit zu einem wertlosen gesinnungsethischen Begriff. Schlimmer ist nur noch die Leerformel»Wir schaffen das«.

Max Weberwürde einersolchenPolitikentgegenhalten, dass hier Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit sowie Verantwortungsgefühl und Augenmaß schlicht fehlen. Mehr als diese klugen WorteWebers benötigt man hier nicht.

1.Die Neuausgabe des Buches, die Aktualität seiner Thematik und die Geschichte seiner Themen 1998–2016 als historisierte Gegenwart

Der kulturrelativistische Postmodernismus entpuppt sich als ein Neo-Absolutismus, weil er ein Narrativ einführt, für welches ereine Deutungshegemonie beansprucht. Dieses verleugnet die zivilisatorische Identität Europas. Als ein Kritiker des herrschenden postmodernen wertebeliebigen Narrativs bzw. als einer der»Zeitgeisterjäger«(Matthias Heitmann) setze ich mich mit dieser Ideologie auseinander. Im Bewusstsein, dass ich aus diesem Kreis zahlreiche Feinde habe, die ihre Anfeindungenfälschlich»Kritik«nennen, bin ich daran gewöhnt, Sprüche wie»Tibi-Selbstprofilierung«und ähnliches mehr an persönlichen Injurien zu ertragen. Dieser Kreis beanstandet meine Art, persönlich zu schreiben, und verwendet dies als Vorwand, meine»unbequemen Gedanken«(Adorno) zu verfemen. Ich überhöre diesen Vorwurf und schreibe:Dieses erstmals bei Bertelsmann zur Frankfurter Buchmesse 1998 mit der Frage»Europa ohne Identität?«als Titel erschienene Buch gehört zur Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Denn es war die Grundlage einer deutschen Debatte über Islam, Migration und Integration im Kontext von Leitkultur, dieim Jahr2000 (vgl. Abschnitt 8) stattgefunden hat und zur deutschen Geschichte der Begegnung mit dem Islam durch Zuwanderung gehört.

Wie im Vorwort vermerkt, hieß der Untertitel der ersten Auflage1998»Die Krise der multikulturellen Gesellschaft«. Zwei Jahre später, im Jahr 2000, stand dieses Buch im Zentrum der angesprochenen deutschen Leitkulturdebatte, die von Oktober bis Dezember jenes Jahres bundesweit stattfand. Der Grund hierfür war, dass der in diesem Buch geprägte BegriffLeitkultur,den ich erstmals als Ausländer in die deutsche Sprache einführte, eine Leitkulturdebatte entfachte. Viele deutsche Meinungsmacher haben bei dieser»Debatte«unter Beweis gestellt, dass sie Zivilität nicht kennen und weder die Regeln einer zivilgesellschaftlich-demokratischen»debating culture«respektieren noch gewillt sind, diese für Deutschland überhaupt zuzulassen. Hierüber werde ich in Abschnitt 5 dieser Einführung mehr sagen.

Trotz der damaligen Verheizung des Buches und seines Autors durch den Zeitgeist, den undemokratische Meinungsmacher als herrschendes Narrativ aufoktroyieren, genoss dieses Buch zwischen 2000 und 2002 drei weitere große Auflagen, die beim Siedler-Taschenbuchverlag erschienen,und so wurde es quasi zum Bestseller. Die Taschenbuchausgabe trug den veränderten Untertitel»Leitkultur oder Wertebeliebigkeit«. Die Flüchtlingskrise von 2015/2016 erzeugt einen erneutenBedarfnach dem Inhalt dieses Buches,und daher dieseibidem-Ausgabe2016; sie erscheint mit der Ambition, eine neue,hoffentlich bessere Debatte mit Argumenten gegen den Zeitgeist und sein herrschendes Narrativ anzuregen. Warum hat dieses fast zwei Jahrzehnte alte Buch an Aktualität nichts eingebüßt?Antwort auf diese FragegibtdieNeue Zürcher Zeitung, eine der größtenund angesehenstenZeitungen Europas.In derNZZhebtMatthias Heitmanninseinem ArtikelTrügerische Toleranzvom 17.02.2016die Aktualität dieses Buches hervor. Darin wird konstatiert, dass der»Siegeszug des Multikulturalismus in Deutschland als Ausdruck linker Vorherrschaft«gedeutetwird. Dann wird vermerkt:»Die Gleichstellung aller Kulturen steht der Integration von Migranten in die Aufnahmegesellschaft entgegen. Darauf wies bereits Ende der 1990er Jahre der deutsch-syrische Politologe Bassam Tibi in seinem Buch›Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit‹hin: Er kritisierte darin die Bereitschaft von Multikulti-Verfechtern, ›die fundamentalistische Forderung nach einer Geltung der Scharia für die in Europa lebenden Muslime im Sinne von multikultureller Toleranz‹zuzulassen. Tibis Argument ist hochaktuell: Wer der Zulassung der Scharia zustimmt, muss gesellschaftliche Zonen akzeptieren, in denen islamische Gesetze und nicht nationales Recht gelten. Insofern sind die vieldiskutierten Parallelgesellschaften…Bestandteile einer multikulturellen Gesellschaftsperspektive.«Anders formuliert:Eine Geltung der Scharia in islamischen Parallelgesellschaften ist der Beginn einer schrittweisen Islamisierung Europas. Diese islamische Agenda wird mit Hilfe des kulturrelativistischen Multikulturalismus ermöglicht. Das muss klar und deutlich ausgesprochen werden.

Parallel zum»Siegeszug des Multikulturalismus in Deutschland«(NZZ)nimmt die islamische Zuwanderung nach Europa massive Züge an. Im Zeitraum 2015/2016, in dem der Zeitgeist einer auch von Merkels Regierung geförderten Willkommenskultur dominierte, sindrund2MillionenMenschen (nicht,wie fälschlich behauptet wird,1,1Millionen) vorwiegend aus der Welt des Islam allein nach Deutschland zugewandert. Eine Frage korrespondiert mit diesem Sachverhalt; ich habe diese Frage in den neuen veränderten Untertitel dieser 2016er-Ausgabe aufgenommen. Diese Frage lautet: Europäisierung oder Islamisierung? Mein Argument ist dieses: Muslime können sich in Europa integrieren, aber Integration bedeutet gesellschaftliche Eingliederung in ein Gemeinwesen und nicht das, was die staatliche deutsche Politik angibt, nämlich räumliche Unterbringung und Alimentierung. Das ist faktisch eine Verhunzung des Integrationsbegriffs. Eine Integration von Muslimen in Europa erfordert eine Europäisierung, für die ein Integrationskonzept fehlt. Eine Integration als Europäisierung steht diametral gegen die Multikulti-Ideologie der Wertebeliebigkeit. Wer nicht zustimmt,mögeein Gegenargument bringen, aberbitte keine Keule, weilsichdiesnicht mit einerdemokratischenDebating Cultureverträgt.

Die Diversity und der Schutz der Minderheiten als Grundrecht sind nicht mit kultureller Vielfalt, die ein Kulturpluralismus der Gesellschaft abverlangt, gleichzusetzen. Multikulti-Diversity würde resultieren in einer Ausradierung der europäischen Identität durch eine kulturrelativistische Herabsetzung Europas zu einem kulturrelativistisch eingeschränkten Narrativ, das nur unter anderen Narrativen, die in Europa alle gleichberechtigt nebeneinander–nicht miteinander–existieren, zugelassen wird. Wer gegen die Europäisierung der islamischen Zuwanderer eintritt, öffnet die Tür sperrangelweit für die Islamisierung Europas. Diese unbequemen Gedanken bestimmen das Denken dieses Buches sowohl in seiner 1998er- als auchindieser erweiterten 2016er-Ausgabe. Ich lasse mich als ein Aufklärungsdenker von Multikulti-Kulturrelativisten mit ihrem»Pathos des Absoluten«(Adorno) nicht einschüchtern; solange Artikel5des Grundgesetzesgilt, schweige ich nicht und lasse mich durch links-grüne Keulen nicht mundtot machen. Ich bin gegen jede Panikmacherei gleichermaßen,wie ich gegen Verdummung und Augenverschließen bin. Ich mache dies am folgenden sehr aktuellen Beispiel klar: Seit 2004 (Terroranschläge von Madrid am 11.03.2004), 2006 (Terror in Amsterdam, London und Paris) und erneut, sogar mehrfach seit 2015/2016,finden regelmäßig islamische Terroranschläge statt. Hierüber habe ich 2007 mein BuchDie islamische Herausforderung. Religion und Politik im Europa des 21. Jahrhunderts(drei Auflagen bis 2008) geschrieben. Die europäische Reaktion auf diese kontinuierlichen und auch bis in die Zukunft reichenden djihadistischen Terroranschläge findet im Pendeln zwischen zwei Extremen statt:

Panikmacherei durch islamfeindliche rechtsradikale Bewegungen.Politisch korrekte Dummheiten wie»das hat alles mit dem Islam nichts zu tun«,»das sind Einzelfälle«,»nicht pauschal mit Generalverdacht urteilen«,»es sind traumatisierte Menschen«, also bitte Milde etc.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Rationalist und nehme Abstand von beiden Denkweisen. Dies tue ich jedoch,ohne meine Augen zu verschließen und meine Vernunft außer Kraft zu setzen. Als Sozialwissenschaftler und Islamologe beobachte ich seit mehreren Jahrzehnten dies: eine Islamisierung als ein Prozess,der in Europa bereits begonnen hat. Ich habe Religionssoziologie durch das Studium derWerkeÉmile Durkheims gelernt, der hervorhebt, dass ein Religionssoziologe sich nicht mit dem religiösen Glauben bzw. den Dogmen einer Religion, sondern mit dieser alsfait sociale, d.h. als sozialerWirklichkeit,befasst. Auf diese Weise könnte man die von mir begründete Islamologie als Religionssoziologie bezeichnen.

Das vorliegende gesamte Buch, sowohl in seiner Fassung1998als auch in seiner Fassung2016, fußt auf einem Denkprozess, der,wieAdornoschreibt,»unbequeme Gedanken«hervorruft. Die Träger des herrschenden Narrativs verbieten informell durch ihre mediale Macht solche Gedanken und tun dies somit gegen die Verfassungsnorm des Grundgesetzes.Siemoralisieren, warnen vor möglichen islamfeindlichen Folgen von»unbequemen Gedanken«und predigen Rücksicht statt Information und Aufklärung. Das ist ein deutsches Pathos der Unfreiheit, vor demAdornoin seinem AufsatzAuf die Frage:Was ist deutsch?warnte.Adornoverabscheut dieses Pathos mit folgenden Worten:»Rasch verselbständigt sich solche Rücksicht zu einer inneren Selbstzensurinstanz, die schließlich nicht nur die Äußerung unbequemer Gedanken, sondern diese selbst verhindert.«Adorno ließ sich nicht von Hitler einschüchtern,und ich schließe mich an als sein Schüler und bin gegen jede Denkpolizei.

In diesem Geist habe ich die vorliegendeibidem-Ausgabe mit einer weiteren,bereits angegebenen Veränderung des Untertitels vorgenommen. Dieser lautet nun:»Europäisierung oder Islamisierung«. Für diese Wortwahl, die ich als Vorwarnung begreife, muss ich mich und mein Buch gleich einleitend vor Multikulti-Schmutz schützen und gegen die Gesinnung der deutschenMeinungsmacherpolizei und ihre»Tyrannei«(JohnStuartMill,OnLiberty) Argumente vorbringen. Ich tue dies mit zwei Hinweisen (zu dieser Problematik mehr in Abschnitt 5 unten).

Erstens berufe ich mich auf das Grundgesetz,Artikel 5:Absatz1garantiertden Schutz der Meinungsfreiheit,Absatz3verpflichtetzum Schutz der Wissenschaftsfreiheit.

Der zweite Hinweis dient dem Schutz des sachlichen Begriffes»Islamisierung«vor der Verfemung, weil er für manche provokativ klingen mag.

Den neu von mir gewählten Untertitel für dieibidem-Ausgabe habe ich lange vor der Entstehung islamfeindlicher Bewegungen wie Pegida und AfD sowie lange vor der Flüchtlingskrise 2015/2016 in seiner islamischenBedeutung, also nicht als Schablone,verwendet. In drei Forschungsprojekten an drei US-Eliteuniversitäten habe ich die Formel geprägt, die als Untertitel dieser Ausgabe dient. Ich habe bereits im Vorwort begründet, warum ich nicht bereit bin, Begriffe aufzugeben nur deshalb, weil sie von islamfeindlichen Bewegungen kontaminiert werden. Ich bleibe der Aufklärungstradition der Religionskritik treu und lehne die Gleichsetzung von Islam-Kritik und rechtsradikaler Islamophobie strikt ab. Nun zu den drei Forschungsprojekten in den USA, an denen ich mitgewirkt habe undin deren Rahmenich den Begriffskontrast Europäisierung–Islamisierung international geprägt habe. Dies geschah im Zeitraumvon1998bis2010 auf einem hohen akademischen Niveau in Berkeley, Cornell und Stanford, also in einer Zeit, in der es weder Pegida noch AfD gab. Die Welt ist viel größer als Deutschland. Ich führe diese Binsenweisheit an, um zu rechtfertigen, warum ich die Welt nicht durch eine deutsche Brille sehe. Das erste Forschungsprojekt wurde in den Jahren 1998–2000 an der University of California Berkeley durchgeführt.Der Titel des Projektes war:»Islam and theChangingIdentity of Europe«.Das Projekt wurde von einer internationalen Konferenz der European Studies und der Middle East Studies begleitet; sie fand im Oktober 1998 in Berkeley statt. Die Ergebnisse des Projektes wurden 2002 als Buch der University of California Berkeley unter dem TitelMuslim Europe or Euro-Islamveröffentlicht. Die Leiter des ForschungsprojektesNezar Al-SayyadundManuel Castellswaren auch die Herausgeber des Buches, das im Verlag LexingtonBooks in Lanham, New York und Oxford erschienen ist. Die Projektleiter geben in ihrer Einleitung auf Seite 19 an, dass das Konzept der Europäisierung des Islam zu einem Euro-Islam von mir stamme (vgl. hierzu Abschnitt 7 dieser Einführung). Mein Kapitel indiesemBuch trägt die Überschrift»Muslim Migrants in Europebetween Euro-Islam and Ghettoization«. IndemBuch wurde argumentiert, dass»Muslim Europe«aus einer Islamisierung inParallelgesellschaftenresultieren würde. Als bessere Alternative dazu wurde der Euro-Islam als Integrationskonzept vorgestellt. Diese euro-islamische Alternative präsentierte ich 2009 in dem deutschen Buch»Euro-Islam«, das parallel zu meiner Emeritierung an der Universität Göttingen als Abschiedsbuch erschienen ist. Die erhoffte Diskussion fand vermutlich deshalb nicht statt, weilinDeutschland eine politische Kultur der Tabus, nicht eine der Debating Culture,vorherrscht.

Von Gegnern, die Diffamierung mit rationaler Diskussion verwechseln, wurde ich dafürgeschmäht, dass ich meine unbequeme Idee vom Zivilisationskonflikt entwickelte. Nachdem Huntingtons BuchClash of Civilizations1996erschien, ein Jahr nach meinem BuchKrieg der Zivilisationen(1995), wurde ich mit Huntington in diffamatorischer Absicht gleichgesetzt. Eigentlich ist das eine Ehre, weil Huntington zu seinen Lebenszeiten der Top-Professor für Internationale Beziehungen in Harvard war. Ihm verdanke ich meine Harvard-Anbindung (Affiliation), die von 1982 bis 2000 andauerte (vgl. meine Autobiografie auf meiner Homepage).

Lange vorHuntingtons These vom»Clash of Civilizations«habe ich in einem Projekt der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) über dieHerausforderung an Deutschlands Außenpolitikseit dem Ende des Kalten Kriegesgearbeitet und in diesem Rahmen den Begriff Zivilisationskonflikt geprägt– ich beziehe michauf Band 2 der dreibändigen Veröffentlichung der DGAP:Deutschlands neue Außenpolitik. Dieser Band 2Herausforderungenenthält ein Kapitel von mir mit meiner Theorie des Zivilisationskonfliktes. In Abschnitt 6 unten über den Zivilisationskonflikt werde ich mehr über dieses DGAP-Projekt sagen. Danach habe ich bei Hoffmann & Campe mein BuchKrieg der Zivilisationenveröffentlicht. Ich belasse es bei diesen Angaben, weil dieser Gegenstand hier nicht das anstehende Thema ist; wie gerade angekündigt, wird diese Thematik in Abschnitt 6 näher erläutert.

Das zweite US-Projekt wurde gleich zu Beginn meiner Zeit als A.D. White Professor at Large an der Ivy-League-Hochschule Cornell University, die von 2005 bis 2010 andauerte, geführt. Damals habe ich an dem von ProfessorPeter Katzensteingeleiteten Forschungsprojekt»Religion in Expanding Europe«mitgearbeitet. Aus diesem Projekt ging das Buch mit demselben Titel des Projekts hervor, das Prof.Katzensteinbei Cambridge University Press herausgegeben hat. Der neue Untertitel dervorliegendenAusgabe vonEuropa ohne Identität?, also»Islamisierung oder Europäisierung«, basiert auf den Ergebnissen deserwähntenCornell-Forschungsprojekts. Das gilt auch für die Formel selbst.Mein Kapitel in jenem Buch trägt den Titel»Europeanizing Islam or the Islamization of Europa: Political Democracy vs. Cultural Difference«.Dieser Untertitel meines Forschungsbeitrages bringt meine aufImmanuel Kant,John Stuart MillundKarl Popperfußende Überzeugung, dassdie WertepolitischerDemokratieüber jeder»cultural difference«stehen.Nichteuropäische Migranten, die nach Europa kommen,dürfen sich nicht auf das Recht auf»political diversity«berufen, wenn sie für ihre europafeindliche Scharia-Weltanschauung, die sie im Gepäck bei der Einreise nach Europa mitbringen, Geltung beanspruchen. Diese Position ist kein Rassismus, sondern politische Aufklärung. Schon an dieser Stelle trennt sich das Buch»Europa ohne Identität?«von Multikulti-Grünen und Kulturrelativisten jedweder Couleur und von Muslimen und Islamisten, die Anspruch auf Geltung einer islamischen,Scharia-orientierten»sectarian enclave…in the west but not of it«erheben,wie esder amerikanische IslamwissenschaftlerJohnKelsayin seinem BuchIslam and Warvon 1993formuliert hat. Wer Europa als»Insel der Freiheit in einem Ozean der Gewaltherrschaft«(Horkheimer)bewahren will, muss gegen diese Enklaven sein, also keine Ambiguität zulassen und klar gegen die islamische Scharia-Weltanschauung Front beziehen.Die Orientierung hierfür bietetPoppersWerkTheOpen Society andIts Enemies(1945),das in der deutschen AusgabeDieoffene Gesellschaft und ihre Feinde(1957/1958) im Andenken anImmanuel Kantveröffentlicht worden ist.Dieses großartige zweibändige Werk kombiniere ich mitJohnStuartMillsOn Libertysowie mit einigen Schriften (nicht allen) vonAdornoundHorkheimerals die AlternativezumKoran als Gesetzbuch für Europa. Auf dem Public Market, also in der Öffentlichkeit,möchte ich nach den Normen des Grundgesetzes, nicht nach denen des Koran,leben; ich akzeptiere zudem nicht allekoranischen Normen, weil ich Reform-Muslim bin, der Schriftgläubigkeit und Salafismus ablehnt.Als Muslim und Islamologe, der sich auf eine fünfzigjährige Islamforschung in 22 islamischen Ländern beruft, weiß ich, dass Islamisierung der Welt durchDa’wa(Mission) undDjihad-Qital(Gewalt) ein Bestandteildes islamischen Glaubens ist.Das ist weder Vorurteil noch Panikmacherei. Wie ich bereits in der Ausgabe von 1998 in Kapitel 7 über Hidjra/Migration zeige, gehört Migration von Muslimen auch zu den Mitteln der Verbreitung des Islam. Als Reform-Muslim trenne ich mich von diesem Teil des islamischen Glaubens zugunsten einer europäisch-säkularen Identität.

Das dritte US-Projekt, an dem ich an der Stanford Universityvon2007bis2010 mitgearbeitet habeund dasmein Denken im vorliegenden Kontext inspiriert, istEthnicity in Contemporary Europe. In diesem Stanford-Projekt habe ich mein Konzept von der»Ethnisierung der Islam-Diaspora in Europa«entwickelt. Die islamische Zivilisation ist kulturübergreifend,d.h.,sie ist auch»cross-ethnic«. Das bedeutet, dass es keine islamische Ethnie gibt. Doch ändert sich dies in Europa durch die fehlende Integration. Im real existierenden Islam in Westeuropa formiert sich heute aus den bestehenden,ethnisch übergreifenden Gemeinden (türkisch, nordafrikanisch, arabisch, südasiatisch) doch eine supra-ethnische»Islam-Community«. Diese ist durch ethnische Armut und religionisierte Politik bestimmt; deren Führer beanspruchen die Einheit der Muslime in den islamisch ethnisierten Parallelgesellschaften. Diese Parallelgesellschaften sind ein Resultat der fehlenden Integration und zugleich ein Hindernis fürIntegration. Alle Führer des organisierten Islam sprechen vom Dialog, handeln aber im Sinne der Islamisierung als Alternative zur Europäisierung. Die Ergebnisse dieses Stanford-Projekts sind 2010 bei Stanford University Press als Buch unter dem TitelEthnic Europe(hrsg. vonRoland Hsu) erschienen. Das Buch enthält ein Kapitel von mir mit dieser Frage im Titel:The Return of Ethnicity to Europevia Islamic Migration?Darauf folgt die wissenschaftlich fundierte Feststellung im Untertitel des Kapitels:The Ethnicization of Islamic Diaspora.Die Forschungsergebnisse aller drei oben angeführten US-Projekte strafen die Rhetorik von der gelungenen Integration Lügen. Sowohl Politiker als auch Schönwetter-Journalisten sowie eine Schar von Gutmenschen verbreiten Lügen und Falschinformationen über den Islam und über seine Diaspora in Europa. Es mag manchen beruhigen, dass Europa in absehbarer Zeit nicht islamisiert wird. Doch behindert die Islamisierungspolitik des organisierten Islam jede Integration der islamischen Zuwanderer zu Citoyens Europas. Die Politik des organisierten Islam zersetzt auch das Gemeinwesen europäischer Gesellschaften und ist somit eine Herausforderung geworden, die zur Bedrohung werden kann. Deshalb sind die Funktionäre des organisierten Islam keine Verbündeten im Projekt einer Europäisierung des Islam. Der Missstand, dass islamfeindliche Gruppierungen jeder Couleur den Begriff Islamisierung in ihrer Propaganda zur Panikmache verwenden, darf nicht als Anlass und erst recht nicht als Begründung dafür dienen, den Platz derDa’wa-Islamisierung im islamischen Glauben zu verschweigen oder gar zu verleugnen. Aufklärer dürfen die bestehende große islamische Herausforderung an Europa nicht tabuisieren.

Ichbeobachte in Europaeinen Trend zurIslamisierung; ich kann meine Augen vor diesem»fait social«(Durkheim) nicht verschließen, nur weil dies nicht als politisch korrekt gilt. Also trägt dieses Buch den Untertitel»Islamisierung oder Europäisierung«, um die Alternativen der Zukunft Europas deutlich aufzuzeigen. Kurz und knapp formuliert: Europäische Identität und die säkularen Ideen, auf denen sie basiert, sind also die Alternative zur Islamisierung Europas. Europa benötigt Schutz nicht nur vor dem Islamismus, sondern auch gleichermaßen vor einem missionarischen Islam und den europäischen Selbsthassern, deren»kulturrelativistische Selbstverleugnung«in der Einleitung zur Ausgabe von1998näher beleuchtet wird.

Nach diesen Ausführungen stelle ich mich der berechtigten Frage:»Wie kommen Sie dazu,als arabischer Muslim aus Damaskus Europa gegen das Potenzial einer Islamisierung zu verteidigen?«

Eine Antwort auf diese Frage gab ich im Gespräch mit dem Schweizer PublizistenFrank A. Meyerin der FernsehsendungVis-à-vis(ausgestrahlt am 26. Juni 2016 von 3sat), die meinem Leben und Werk gewidmet war. Hierbei erzählte ich, wie ich in Damaskus unter der orientalischen Despotie litt. Ich kenne diese Tyrannei nicht nur durch die autoritäre Hausherrschaft des Vaters, sondern auch als solche des politischen Systems und der despotischen Hausordnung der dortigen Gesellschaft. Nach dem Abitur wollte ich nach Europa, um dieser orientalischen Despotie zu entfliehen. Die westliche Wortpolizei ordnet den Begriff orientalische Despotie in den Katalog der Vorurteile; sie verharmlost somit die Ordnung, in der ich familiär, politisch und gesellschaftlich als Rahmen der Unterdrückung aufgewachsen bin. Somit gehört diese Wortpolizei zu den Feinden der offenen Gesellschaft. Diese unsympathischen europäischen Selbsthasser können den Orientalismus-Begriff nicht auf mich anwenden, weil ich selbst als arabischer Muslim einer der ältesten Ashraf-Familien (seit dem 13. Jahrhundert) von Damaskus entstamme. Um mich einzuschüchtern, zu delegitimieren und mundtot zu machen, haben sie die Formel»Selbst-Orientalisierung«erfunden. Im US-Englisch reagiert man auf solche Dümmlichkeiten mit:»I couldn’t care less.«Polemisch könnte man vom Neo-Kolonialismus europäischer Meinungstyrannei sprechen. Mein Hauptmotiv, an einer europäischen Universität zu studieren, war 1962, der orientalischen Despotie zu entfliehen. In der obenerwähntenSendung erzähle ich auch, dass es gleichermaßen ein Zufall und mein größtes Glück war, in einer europäischen Stadt studieren zu dürfen, an deren Universität geistige Titanen wieTheodor W. Adorno,Max Horkheimer,Iring Fetscher,Alexander MitscherlichundJürgen Habermaslehrten. VonAdornoundHorkheimerlernte ich nicht nur die Kritische Theorie und somit kritisch zu denken, sondernsie führten michauchanKantund seine Kritikenheran; vonHabermaslernte ich den philosophischen Diskurs der Moderne; beiFetscherhabe ich die politische Philosophie Europas vonLocke,RousseauundMillbis hin zuHegelundMarxsowie den Marxismus an Originaltexten studiert; vonMitscherlichlernte ich die Psychoanalyse und durfte sogar in der Zeitschrift seines Sigmund-Freud-Instituts»Psyche«