Europalauf - Ronald Prokein - E-Book

Europalauf E-Book

Ronald Prokein

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Beschreibung

Nach der Weltumradlung, der Kajaktour auf der Lena und der Kamtschatka-durchquerung unternahm Ronald Prokein seine vierte sportliche Tortour. Als erster Mensch überhaupt durchquerte er im Hochsommer im Laufschritt Europa - von Istanbul bis zum Nordkap. Nie zuvor einen Marathon gelaufen, ohne Wettkampfzeiten, lief der Rostocker 5.004 km in 93 Tagen, ausgerechnet in einem der heißesten Sommer der Wettergeschichte, begleitet vom Schäferhund und einem Fotografen, der ihn im Wartburg und später im Ford begleitete. Die Reise führte durch elf Länder: Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich, Tschechien, Deutschland, Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen. Ronald Prokein legte pro Tag an die 60 bis 80 km zurück, schlief nachts am Wegrand, nie im Zelt und verlor auf dem Trip sechs Zehennägel. In Schweden rettete sich der Rostocker mit einem Satz zur Seite, als ein Auto ihn fast überfuhr. In Serbien drohte der Lauf durch eine Schienbeinentzündung zu scheitern. Zwischen den wilden Höhen des Balkan und den Weiten Lapplands traf der Abenteurer Sinti und Roma, Donaufischer und Ureinwohner Skandinaviens. Er begegnete Armut und Wohlstand, lief durch beschauliche Dörfer und pulsierende Metropolen, über Autobahnen und verlassene Pfade. Ausgemergelt, geplagt von Hitze, Schwäche und Atemproblemen, erreichte Ronald Prokein Ende August schließlich das norwegische Nordkap.

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Vorwort von Marita Meier-Koch

Der Europalauf

Aufbruch

Tschechien

Slowakei

Ungarn

Serbien

Rumänien

Bulgarien

Baden im Schwarzen Meer

Türkei

Istanbul

Abendstimmung

Starttag

Die erste Laufübernachtung

Erinnerungen an die Armeezeit

Das Europa-Laufteam

Gastfreundliche Türken

Begegnung mit der Polizei

Wieder in Bulgarien

Die tote Schildkröte

Der erste Ruhetag

Ein Discobesuch

Eine Einladung

Glühwürmchen

Die ersten Blasen

Festgefahren

Nahe der Rhodopen

Sofia

Wieder in Serbien

Rückblick in die Jugendzeit

Die Verletzung

Im Krankenhaus von Nis

Es geht weiter

Zu Hause bei Einheimischen

Die kleine Schildkröte an der Hauptstraße

Belgrad

Treffen mit einem Fernradler

Gefährliche Begegnung mit einem Hirtenhund

Wieder in Ungarn

Zu Gast bei einem Klassentreffen

Durst

Die Bieretappe

Österreich

Daheim bei einer Kampfsportlerin

Tschechien

Deutschland

Matthias Freundin Inga

Hilfe, wir verhungern

Halbzeit in Rostock

Dänemark

Ankunft in Schweden

Begegnung mit Heidi

Ungewohnte Monotonie

Wieder eine Zwangspause

Das sonderbare Trio

Es geht weiter

Trauer um meine Uhr

Vorboten des Herbstes

Beziehungsende

Der rettende See

Der angetrunkene Willy

Gewitter

Partystimmung mit Einheimischen

Kurzes Intermezzo mit Anke

Endlich August

Angst vor einer Allergie-Attacke

In Lebensgefahr

Arthus ist verschwunden

Der Polarkreis

Ein berauschtes Rentier

Finnland

Das selbstbewusste Ren

Norwegen

Ein Pärchen aus der Heimat

Mitten in der Bergwelt

Wohlhabende Reisende

Die Steinmännchen

Der längste Tunnel

Der Finaltag

Statistik des Europa-Laufs

Die Balkan-Tour

Tschechien

Slowakei

Serbien

Mazedonien

Griechenland

Albanien

Montenegro

Wieder in Serbien

Rumänien

Abermals in Ungarn

Deutschland

Königssee

Berchtesgadener Nationalpark

Tourende

Danksagung

Weitere Bücher von Ronald Prokein

Vorwort von Marita Meier-Koch

Anfang der Neunzigerjahre kamen zwei junge Männer zu mir ins Sportgeschäft und erzählten mir euphorisch von ihrem Plan, per Fahrrad um die Welt zu reisen. Sie fragten höflich und bescheiden nach ein wenig materieller Unterstützung beziehungsweise Ausrüstung für ihr Abenteuer. Gespannt hörte ich Ronald Prokein und seinem Reisepartner Markus zu, als sie mir ihre Reiseroute vorstellten. Ihr Vorhaben erschien mir gründlich durchdacht und sie selbst wirkten physisch und mental stark und gut vorbereitet. So kurz nach der Wende wollten sie die Chance ergreifen und die Welt auf eine naturverbundene, sportliche und unkonventionelle Art und Weise entdecken - auch, um darin ihren eigenen Platz zu finden.

Ich war beeindruckt von ihrem Mut und ihrer Neugier auf andere Länder, Kulturen und Menschen. Ich konnte die beiden gut verstehen, denn etwa 15 Jahre vor ihnen ging es mir ähnlich: Auch ich wollte durch den Sport meine Grenzen ausloten und verschieben und dabei, wann immer es mir auch nur ein kleines bisschen möglich war, die Welt erkunden.

Während meiner Sportkarriere durfte ich zwar auch einige Länder bereisen, allerdings oft nur für Wettkämpfe oder zeit- und kraftaufwendige Trainingslager. Nur einmal konnte ich bei einem dreimonatigen Trainingslager auf Kuba tatsächlich das Land und einige unglaublich liebenswerte Menschen intensiver kennenlernen, wofür ich bis heute sehr dankbar bin. Ich entschied mich also dafür, Ronald und Markus mit etwas Sportequipment auszustatten, wünschte ihnen viel Erfolg und durfte später von ihren lebensverändernden Abenteuern lesen.

Ronald hat sich auf dieser Reise und auf den vielen, die noch folgen sollten, immer wieder großen Herausforderungen gestellt und sie gemeistert; er hat sehr viele Länder kennengelernt und noch mehr Menschen und er hat seine Visionen stets wahr gemacht.

Wundervoll finde ich, dass er sich seine Neugier bis heute erhalten hat und die Welt noch immer Stück für Stück auf seine ganz eigene Art erobert, um seinen Horizont zu erweitern und seine Erfahrungen und sein Wissen mit anderen zu teilen.

In seinen Büchern und Vorträgen erzählt er von vielen schönen und spannenden Erlebnissen, von Rückschlägen, von Gefahren und vom Überschreiten der eigenen körperlichen und psychischen Grenzen. Er zeigt auf, wie man seine Wünsche und Ziele umsetzen kann, wenn man nur beharrlich daran arbeitet und an sich glaubt. Diesmal war Ronald zu Fuß unterwegs: vom Bosporus bis zum Nordkap, in nur drei Monaten, in einem der heißesten Sommer der letzten Jahrzehnte. Unglaublich. Das macht ihm wohl keiner so schnell nach.

Ich wünsche ihm für die Zukunft beste körperliche und mentale Fitness und dass ihm die verrückten Ideen für seine Reisen nie ausgehen mögen – denn auch im Zeitalter der Smartphones und sozialen Medien braucht es noch Weltentdecker wie Ronald Prokein.

Matthias und Arthus am Wahrzeichen des Nordkaps

Der Europalauf

So schwer hatte ich mir es dann doch nicht vorgestellt. Nicht nur ein Mal war ich kurz davor, aufzugeben zu müssen. Dabei glaubte ich, genug Erfahrung zu haben. Schließlich hatten wir den Kältepol in Jutschjugei entdeckt, hatte ich in der Mongolei einen Tag im Knast verbracht und den heißesten Ort Australiens kennengelernt. Auch die Kajaktour auf der Lena und die Weltumrundung auf dem Fahrrad, auf die ich mich als ›Weltumradlung‹ immer wieder beziehe, stellten sich jedes Mal als gesundheitliche Herausforderungen dar. Einzig die Tatsache, dass Sie mein Buch zum Europalauf 2006 in den Händen halten, deutet darauf hin, dass ich mein Ziel doch erreicht habe. (Es hätte also durchaus passieren können, dass Sie hier sitzen, und jetzt rein gar nichts in Ihren Händen halten … Nein, das war natürlich nur ein Spaß!)

Einen großen Anteil daran, dass Sie nicht mit leeren Händen dastehen, hatte mein Schäferhund Arthus und vor allem Matthias …

Werfen wir gleich als Einstimmung das Licht auf ein einschneidendes Ereignis der Tour:

Wie schon seit Tagen scheint auch heute die Sonne. Es ist angenehm warm. Ich habe einen sechs Kilometer langen Anstieg hinter mir. Mein Schäferhund Arthus hat mich währenddessen an der Leine begleitet und sogar etwas hinaufgezogen. Jetzt laufe ich allein bergab. Arthus ist wieder zu Matthias ins Auto gesprungen. Es ist ein Wartburg, mit Stufenheck und VW-Motor.

Matthias ist mein Begleiter auf der Tour. Er ist Kameramann, Fotograf, Kartenleser, Gassigänger, Auskundschafter unserer Übernachtungsplätze, die möglichst an einem Gewässer, See, Fluss oder Bach liegen sollten. Zudem ist er auch verantwortlich für den Nachschub an Essen und Trinken. Im Grunde hat Matthias die Funktion, des sogenannten »Mädchens-füralles«.

Markus Möller, mein ehemaliger Reisepartner, kontaktierte Matthias einige Monate vor meinem Aufbruch in Rostock per Internet. Wir trafen uns eine Weile danach, zu dritt, in einem Café in Lübeck. Von Anfang an war Matthias sehr locker, bescheiden und einfach, was uns betraf.

Wir haben schnell gemerkt: Der neue Mann möchte die Tour begleiten! Dass er seine Freundin erst zwei Wochen zuvor kennengelernt hat, störte ihn nicht.

»Es wird sich zeigen, ob sie auch nach der Reise zu mir hält«, meinte der dunkelhaarige Typ, mit Bubifrisur, schmunzelnd.

Seine blitzenden Augen waren nicht zu euphorisch, aber sehr interessiert. Für ein gewisses Entgelt, freie Kost und Logis, jedoch auch Abenteuerwillen, gab uns der 40-jährige grünes Licht.

Matthias kommt aus Oesterwurth, einer Kleinstadt, bei Heide, in Schleswig-Holstein. Er hatte Bauingenieur studiert, und später in dem Beruf in Frankreich gearbeitet. In der Schweiz verkaufte er Trapezbleche, sprich Dachplatten. Er spricht fließend englisch, recht gut französisch und etwas spanisch.

Erneut verlangsamen vorbeifahrende Autos ihr Tempo, um mich nach dem Weg zu einem Motor-Cross-Rennen zu fragen. Ich, der Ausländer, kann ihnen Auskunft geben. Ein paar Hinweisschilder bezüglich des Sportereignisses säumten meine Strecke.

Plötzlich spüre ich einen heftigen Schmerz im linken Fuß. Beim Auftreten auf den Asphalt habe ich das Gefühl, als durchschieße mich ein Stromstoß. Mein Bein zuckt in die Höhe. Humpelnd laufe ich weiter.

›Das geht wieder vorbei‹, denke ich noch und beginne zu torkeln, will es nicht wahrhaben, dass ich lädiert bin.

Kurz darauf geht nichts mehr. Ich verharre am Straßenrand, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Hände auf die Knie gestützt. Ich richte mich langsam auf, spreche in mein Walkie-Talkie. Keine Antwort von Matthias. Wir haben uns die simplen Funkgeräte, mit einer Reichweite von circa fünf Kilometern, in Bulgarien besorgt. Ich schreibe Markus, meinem damaligen Touren-Partner, eine SMS nach Rostock, damit er Matthias kontaktieren kann, der schon ein Stück vorausgefahren ist. Matthias und ich, können uns nicht per Handy im serbischen Netz verständigen.

Später höre ich ein Geräusch. Ein Auto naht von vorne. Es ist Matthias. Er hält an. Mein Begleiter hat meine Worte per Funkgerät vernommen, ich jedoch seine Antwort nicht. Ich bin froh, auf dem Beifahrersitz zu kauern, die Füße aufs Armaturenbrett gelegt. Ich trinke Wasser, schließe erschöpft die Augen. Von hinten an meinem Kopf spüre ich Arthus feuchte Nase.

»Was ist los?«, fragt Matthias besorgt. Meine Augen halb geöffnet und nach vorne blickend, schildere ihm murmelnd die Lage. Eine halbe Stunde ist vergangen. Habe eine Banane gegessen, steige aus dem Auto.

Vorsichtig tippele ich weiter. Es scheint zu gehen. Doch nach einigen Metern wieder dieser Schmerz, der sich bis zum Schienbein hochzieht. Mir ist, als liefe ich über einen elektrisch geladenen Boden und halte inne, bin gleichzeitig erschrocken. Mir wird bewusst, dass ich mich verletzt habe. Vielleicht eine Zerrung? Ich mache mir Mut, sitze wieder im Auto.

»Wir müssen zu einem Arzt«, entfährt es mir. Ich drehe den Kopf zu Matthias. Er hebt die Augenbrauen, guckt mich schweigend an.

Kurze Zeit später fahren wir nach Niš. Es ist früh am Nachmittag, etwa 25 Kilometer stecken in meinen Beinen. Ich nehme die Natur nur wie durch einen Schleier wahr. Die vorbeiziehende Gegend ist bergig. Kleine Gruppen von Bäumen und ausladende Büsche sind an den Hängen zu sehen. Sandsteinfarbene und graue Felsgebilde prägen oberhalb des Ortes die Umgebung. Zerfetzte Federwolken ziehen langsam drüber hinweg. Genauso kreisen meine Gedanken um die Verletzung! Wie schlimm ist es? Ist die Tour hier schon zu Ende?

Viele Leute haben mich auf den Vorträgen gefragt, ob ich bei meinen vorherigen Reisen jemals daran gedacht hätte, aufzuhören. Diesen Gedanken hatte ich nie! Trotz all der Strapazen. Ich hatte vielmehr Angst, an Unfällen oder Verletzungen zu scheitern, die ich nicht beeinflussen konnte.

Auf die Durchquerung des Kontinents habe ich mich zehn Monate lang vorbereitet. Pro Woche trainierte ich drei bis viermal. Ich lief nie nach Kilometern, sondern stets nach Zeit, meistens zwischen 45 Minuten und einer Stunde. Von meiner Wohnung aus, durch den Barnstorfer Wald, am Zoo vorbei, und noch ein Stück weiter. Auch im Fitnessstudio trainierte ich auf dem Laufband.

Zudem machte ich noch für den Oberkörper ein paar Kraftübungen. Das Laufband ließ sich auch so einstellen, als liefe ich bergan. Nur den Berg hinab joggen konnte ich dort nicht trainieren. Wo, und wie auch?

Ich habe Angst, dass sich das jetzt rächt! Die Schienbeine sind dann besonders gefordert. Sie müssen den Schub des körperlichen Gewichts dämpfen, da wirken enorme Kräfte!

Nach zehn Kilometern erreichen wir Niš. Matthias und ich sprachen auf der zurückliegenden Strecke kaum. Es ist, als habe ich einen Kloß im Hals. Die Stadt Niš ist mit beinahe 200.000 Einwohner fast so groß wie Rostock.

Heute ist Sonntag, der 4. Juni. Der Verkehr, auf den rissigen, teils löchrigen Straßen, ist ruhig. Menschen auf den Bürgersteigen schlendern herum. Wir müssen eine Klinik finden. Aus einem Mix aus Englisch und Russisch, erkundigen wir uns bei Passanten danach. Nach einigen Straßen und Abbiegungen werden wir fündig. Das Krankenhaus erscheint nicht gerade wie ein Neubau. Der graue Putz des großen Gebäudes bröckelt. Die Stufen der breiten Treppe zum Haupteingang sind an den Kanten abgeplatzt. Der Mann am Empfang, mit rosafarbenem Hemd und hellbrauner Anzughose spricht englisch. Schnell ist ihm klar, was wir möchten.

Wir gehen ein paar Gänge entlang, fragen wieder und lassen einige Ecken und Treppen hinter uns.

Auf einer schmalen, braunen Holzbank, ohne Lehne, warten wir in einem langen Flur. Die Wände sind weiß, das Linoleum hellgrün, mit einem dunkleren Bogenmuster verziert. Es herrscht kaum Betrieb.

Neben uns verweilt ein junger Fußballer, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln gestützt. Er stöhnt leise vor sich hin. Der etwa 20-Jährige hat einen offenen Bruch. Das Ende von Elle oder Speiche ist zu sehen.

Nachdem Fuß und Bein geröntgt worden sind, bittet uns der Arzt, der um die vierzig zu sein schien, aber schon mit Halbglatze, in das Behandlungszimmer. Er teilt uns im sachlichen Englisch mit, dass ich eine Entzündung am Schienbein habe, jedoch sei der Knochen noch nicht betroffen. Ich solle meinen Lauf für mindestens 10 Tage unterbrechen. Die Diagnose trifft mich wie ein Keulenschlag. Der Doktor, der einen leicht ergrauten Schnauzer trägt, verschreibt mir entzündungshemmende Tabletten. Er hat sie aus einem Schrank geholt. Wir bezahlen 592 Dinar.

Wieder draußen, dreht sich Arthus freudig im Kreis, als er uns sieht. Matthias nimmt ihn an die Leine, und geht mit dem Vierbeiner eine größere Runde. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz plumpsen, Beine hochgelegt. Meine Gedanken krüseln. Was soll nun werden? Ich kann unmöglich zwei Wochen pausieren, der ganze Lauf wäre zerrissen. Ist die Tour schon jetzt zum Scheitern verurteilt? Was ist, wenn die Entzündung nicht mindert, oder sich gar ausbreitet ...?

Aufbruch

Es ist der 15. Mai um 6 Uhr. Der Wecker hat soeben gepiept. Die Realität ist da. Verschlafen gucke ich nach links. Cora, meine Freundin, scheint noch zu schlummern. Wir wohnen nicht zusammen. Ich möchte das Aufstehen nicht hinauszögern, umso schwerer wird es anschließend. Schnell bin ich unter der Dusche. Cora ist einige Jahre älter und hält nichts von meinen Reisen.

Seit ich den Lauf geplant habe, ist ihre Bezeichnung für mich nur noch ›der Abhauer‹ Sie hat ein Fachschulstudium in Hort-Erziehung absolviert. Für die langhaarige, gutaussehende Blondine, mit ihren großen, ausdrucksstarken Augen, zählen nur bodenständige Berufe, mit einer geregelten Arbeitszeit. Auch meine Bücher hat sie nie richtig akzeptiert, obwohl sie selbst gerne liest. Wie oft haben wir schon darüber diskutiert bis gestritten, ob es sinnvoll ist, oder nicht. Cora ist zum Beispiel Fan von Roland Kaiser und guckt am liebsten spannende Filme. Die Sänger und Schauspieler sind doch auch Individualisten, die keiner geregelten Arbeit nachgehen. Sie haben eben einen anderen Rhythmus oder einen sich ständig veränderten Zeitplan im Alltag.

Entscheidend war und ist für mich, dass jeder seine Fähigkeiten fördert, und versucht, etwas daraus zu machen. Und wenn die Nachfrage der Leute, oder anderweitig da ist, kann ich dankbar dafür sein.

Entspannt packe ich die restlichen Sachen für die Tour zusammen, repariere noch etwas am Schloss meiner Wohnungstür. Ich habe es immer wieder hinausgeschoben …

Mit dem Wartburg, dem Begleitfahrzeug des Laufes, fahren Cora und ich zum Rostocker Rathaus.

Davor warten schon Markus Möller und Matthias Volkmann. Wir sind um 10 Uhr mit unserem Oberbürgermeister Roland Methling verabredet.

Matthias hat einen sportlichen Kurzhaarschnitt, mit hochgezogenem Pony. Er trägt einen Dreitagebart, sein Gesicht ist etwas vernarbt. Mein Mitstreiter und ich haben das gleiche weiße T-Shirt an, bedruckt mit den Markenzeichen unserer Sponsoren.

Der dritte Oberbürgermeister, der mich offiziell verabschiedet.

Markus, die gute Seele des bevorstehenden Abenteuers, fungiert sozusagen als Manager und Schaltzentrale des Projekts. Er hat mit viel Arbeit und Geduld ein paar Firmen gefunden und akquiriert, die die Tour auf die eine oder andere Art unterstützen. Den Wartburg hat uns Peter Töllner geliehen, ein Bekannter, der einen Einmannbetrieb namens »Autoschnäppchen«, bei Rostock, sein eigen nennt.

Einige Schaulustige haben sich versammelt. Dann kommt der Oberbürgermeister aus dem Rathaus, etwas verspätet, aber Hauptsache, er ist jetzt da. Journalisten von Presse, Fernsehen und Radio sind um uns herum. Kameras klicken, surren schwenken. Wir versuchen, ein bedeutungsvolles Gesicht zu machen. Das Stadtoberhaupt ist über 50 Jahre alt, auf dem Kopf schon etwas kahl. Er hat eine helle Brille mit dunklen Bügeln.

Roland Methling trägt einen schwarzen Anzug zu einem hellblauen Hemd, versehen mit einem fast gleichfarbigen Schlips, nur etwas dunkler.

Lachend schüttelt er uns die Hände, dabei nickt er immer wieder den Medienleuten zu.

Anders als auf der Weltumradlung 1994 spüre ich keine Anspannung. Vielleicht auch deshalb, weil wir zuerst entspannt nach Istanbul zum Startort fahren. Ich habe, wie schon auf den Reisen zuvor, ein offizielles Schreiben des Oberbürgermeisters im Gepäck, das zusätzlich ins Englische übersetzt worden ist. Die Chefsekretärin des Oberbürgermeisters hatte daran immer großen Anteil. Wie auch in der Vergangenheit, hat sie uns einige kleine Souvenirs von Rostock mitgegeben.

Darunter sind Kugelschreiber, Ansichtskarten, Wappen der Stadt in Taschenbuchgröße, Schnitzereien, aus Bronze gefertigte Bildchen oder winzige Skulpturen bekannter Gebäude.

Zu meinen wichtigsten Utensilien gehören natürlich die Laufschuhe. Ich habe vier Paar mitgenommen. Der ehemalige Junioren-Europameister und DDR-Vizemeister in der Halle über 800 Meter, Erwin Gohlke, der ein Sportgeschäft in der Innenstadt betreibt, hat sie mir gesponsert. Etwa jede Woche werde ich die Schuhe, während des Mammutlaufes wechseln. Vielleicht auch etwas früher oder später – das wird sich zeigen.

Meine Eltern konnten mich diesmal nicht verabschieden. Mein Vater ist zu seinem elterlichen Grundstück gefahren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er hat drei Brüder, und jeder von ihnen, fährt immer abwechselnd für eine Woche dorthin. Meine Großeltern sind schon seit Jahren verstorben, und ihre Söhne konnten bisher keinen potenziellen Käufer für das hinterlassende Anwesen, mit Zugang zu einem kleinen See, finden. Meine Mutter konnte auch nicht kommen, sie verrichtet gerade ihren Pflegedienst für ältere, hilfebedürftige Menschen. Doch immerhin ist stellvertretend die Cousine meiner Mutter da. Ich nenne sie Tante.

Eine Stunde später fahren wir los, winkende Hände hinter uns. Matthias lenkt den Wagen Richtung Süden. Ich mustere ihn von der Seite und kann mein Gefühl kaum beschreiben; bin nur gespannt, wie wir miteinander auskommen werden und wie jeder von uns die Tour auf seine Art und Weise verkraftet. Auf meinen zurückliegenden fünf großen Reisen hatte ich immer Partner, die mir schon lange zuvor bekannt waren. Aber ich bin froh, überhaupt jemanden gefunden zu haben, der gewillt ist, die Unternehmung zu begleiten. Kurz vor der Autobahn tanken wir bei Esso. Ein Mann spricht mich an. Er hat mich aus der Zeitung erkannt und wünscht mir viel Erfolg.

Danach befinden wir auf der A19, Richtung Berlin. Der Himmel ist leicht bewölkt, es ist lau und trocken. Wie schon auf meinen vergangenen Touren, weiß ich: Jetzt gibt es kein Zurück mehr!

Arthus sitzt auf der Rückbank, blickt nach hinten. Es wird seine erste große Reise sein. Er ist mittlerweile mein fünfter Hund und reinrassig. Ich habe ihn im Dezember 2004 aus Grimmen, unweit von Rostock, geholt. Da war er vier Monate alt. Der damals mittelgroße Vierbeiner war der letzte seines Wurfes. Er ist in seinem Hundepass als »Wasko von Oldtimes« eingetragen. Natürlich ist es besser, sich einen Welpen unter den anwesenden Geschwistern aussuchen zu können. Als ich bei meiner Ankunft den kleinen Hof betrat, und mich näherte, hat sich Arthus hinter seinem Frauchen versteckt. Kein so optimales Zeichen … Ich hockte mich hin. Es dauerte eine ganze Weile, bis er ein bisschen Vertrauen zu mir fasste. Trotzdem nahm ich ihn mit. Die Scheu vor mir hatte er schnell abgelegt. Doch mit fremden Menschen hat er noch bis heute seine Problemchen. Er weicht ihnen aus, flüchtet mitunter sogar. Ich bin gespannt, wie Arthus unsere künftige Tour annimmt.

Tschechien

Über Berlin, Dresden, Pirna und Bad Schandau erreichen wir in der Nacht um 1 Uhr den deutsch-tschechischen Grenzpunkt. Es ist niemand zu sehen. Wir rollen durch.

Gegen 3 Uhr lassen wir uns auf einem einsamen Feld, irgendwo kurz vor Prag, nieder. Unsere erste Übernachtung auf der Reise. Wir kriechen neben dem Wartburg, in die Schlafsäcke. Meiner ist aus Kunststoff. Er hält bei nacktem Körper bis -15 Grad Celsius warm. Matthias Schlaftüte ist ähnlich. Die aus Kunststoff haben den Vorteil, dass sie schneller trocknen als jene aus Daunen. Arthus habe ich, nachdem er noch ordentlich herumgetollt war, an die Anhängerkupplung gebunden. Er würde sicher nicht weglaufen, doch er muss sich zunächst einmal an die neuen Umstände gewöhnen. Wie schon die Hunde auf den vergangenen Touren, hat auch Arthus keinen Hunger. Meine Vierbeiner begannen zu Beginn einer Reise, immer erst am dritten Tag normal zu fressen. Zu viele Neuheiten umgaben sie plötzlich. Ich bin gespannt auf die heutige Etappe.

Drei Stunden später beginnt es zu tröpfeln. Es ist hell. Wir sind sofort wach, schnellen hoch und klauben die Sachen zusammen. Nach einigen Minuten ist der Spuk wieder vorbei. Matthias und ich müssen lachen. Jetzt, wo wir schon stehen, beschließen wir, weiterzufahren. Womöglich war das ein Wink, keine Zeit zu verlieren. Der Beifahrer kann ja etwas schlummern – und sich anschließend hinters Lenkrad setzen.

Auf der Autobahn tangieren wir Prag, die Goldene Stadt, deren zahlreiche Sandsteintürme, bei Sonnenschein in Goldtönen schimmern, sagt man. Andere meinen, dass es sei wegen Kaiser Karls IV. der anwies, die Türme der Prager Burg zu vergolden – oder weil sie zur Zeit Rudolfs II. im 17. Jahrhundert ein Anziehungspunkt für Alchemisten, welche aus unreinen Materialien Gold zu gewinnen, und ihrer Versuche waren. Wieder andere bezeichneten Prag als »Stadt der 100 Türme« aufgrund der zahlreichen Türme im historischen Stadtbild – oder als »Steinernes Prag« nach dem Kaufmann Ibrahim ibn Yaqub.

Prags Geschichte ist randvoll mit bedeutenden Ereignissen. Mit der Karls-Universität wurde hier 1348 die erste Universität in Mitteleuropa gegründet. Am 23. Mai 1618 löste der zweite Prager Fenstersturz den Dreißigjährigen Krieg aus. Nach dem Ersten Weltkrieg gründete sich die Tschechoslowakei, Prag wurde ihre Hauptstadt.

Wir rollen weiter, Richtung Brno. Der Verkehr ist ziemlich dicht. Ich sitze am Steuer, fahre oft im Windschatten der LKWs, um etwas Benzin zu sparen. Matthias amüsiert sich darüber und meint, dass das nichts bringe. Ich lasse mich nicht beirren. Habe das schon in der Vergangenheit oft praktiziert. Es hat sich wirklich gelohnt! Wir halten an einer Raststätte, vertreten uns die Beine, kreisen die Arme, laufen mit Arthus ein wenig umher. Die viel zu kleine Mütze Schlaf von heute früh, macht sich bemerkbar …

Danach übernimmt Matthias das Steuer. Mein Begleiter erzählt mir von seinen bisherigen Unternehmungen. Er hat schon einige 4.000er Gipfel allein in der Schweiz bestiegen. Insgesamt 50 Berg-Touren hat er hinter sich. Mit dem Fahrrad war er auch unterwegs gewesen. Im Jahre 2004 von Namibia nach Südafrika, und 2005 von Kenia erneut zum südlichsten Land Afrikas – und das alles ohne Reisepartner.

Ich hatte auf meinen Touren beinahe stets einen Mitstreiter. Es gab aber auch Zeiten, an denen wir mal getrennt waren. Zum Beispiel 1996 in Sri Lanka, als ich elf Tage, fast mittellos mit meiner einstigen Hündin Gina auf der Straße gelebt hatte, und zwischen Ratten und Abfällen schlief. Ich wartete zu der Zeit auf Markus, der den Sultan von Brunei, den damals reichsten Mann der Welt treffen wollte, um für die deutsche Kinder-Aidshilfe Spendengeld zu bekommen. Hunde durften nicht nach Brunei. Deshalb haben wir uns in Japan trennen müssen.

Ungefähr das Gleiche widerfuhr mir nochmal im Jahre 2008 in Singapur. Dort war ich mit Andy Winter, einem anderen Gefährten, unterwegs.

Ich verpasste am Morgen, unseres eigentlichen Abfluges die Maschine, weil ich in der vorherigen Nacht, zu tief in die Flaschen und Gläser geschaut hatte … Ich übernachtete in dem Stadtstaat mehrere Tage auf der Feuerleiter eines Wohnhauses. Ich kauerte dort auf einem metallenen Absatz vor einer Fenstertür. Diese wurde eines Morgens geöffnet. Eine ältere Frau stieß einen grellen, erschreckten Schrei aus. Ich murmelte ein »Good morning«, und beruhigte sie sogleich.

Slowakei

Dann passieren wir die tschechisch-slowakische Grenze und sind wieder die Einzigen vor Ort. Zwei Beamte stehen am Straßenrand der Überdachung. An einem kleinen verglasten Holzhäuschen müssen wir halten. Ich reiche unsere Pässe und Arthus Hundeausweis, mit Beglaubigung vom Amtstierarzt, durch die Luke. Der blasse, schmalgesichtige Uniformierte mit einer knöchernen Adlernase, mustert uns abwechselnd. Dann sagt er verschmitzt zum Abschied: »Good Bye«.

Nur noch 50 Kilometer bis zur ungarischen Grenze. Im Osten ist eine bergige Gegend zu sehen. Das ist die Niedere Tatra, deren höchster Gipfel, der Dunbier (2043m) ist. Bisher dachte ich immer, nur die Hohe Tatra, das kleinste Hochgebirge der Erde, hätte 2000er Berge.

Ungarn

Ich möchte in Richtung der Puszta, die Grassteppe Ungarns. Bis vor einigen Jahren und Jahrzehnten nahm man an, dass sie durch Baumrodung entstanden sei. Doch dieses Bild wurde durch ungarische Landschaftsarchäologen widerlegt. Nach jüngeren Erkenntnissen entstand die Puszta als Waldsteppe vor über 35tausend Jahren, verwandelte sich vor mehr als 8.000 Jahren allmählich in eine Grassteppe und breitete sich in den letzten 3.000 Jahren durch menschliche Einwirkung als Kultursteppe bzw. Sekundärsteppe schrittweise aus, wobei die Zeit zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert Bedeutung hatte. In der folgenden Zeit, besonders im Laufe des 20. Jahrhunderts, wurde die Puszta für intensive Landschaft kultiviert.

Mein Handy ertönt. Cora ist dran, möchte wissen, wie es uns geht und wo wir sind. Ich vertiefe mich in das Gespräch, achte kaum noch auf Schilder. Als die Unterhaltung zu Ende ist, bemerke ich, das wir nicht in Richtung Steppe unterwegs sind, etwa 35 Kilometer westlich von Debrecen, sondern auf dem Weg nach Serbien. Ich habe nicht aufgepasst, hätte schon lange nach links abbiegen müssen. Ich ärgere mich. Matthias ist das egal.

Obwohl ich mich auf meiner sechsten abenteuerlichen Tour befinde, schenkt man uns allgemein keine Beachtung. Wir sind normale Verkehrsteilnehmer wie andere auch. Bisher fielen meine vorherigen Reisepartner und ich immer, durch unsere Gefährte und der Route nach Osten im Alltag auf. Da wir uns jetzt in Mitteleuropa befinden und wir einen normalen Wagen fahren, ist es auch mal ganz angenehm, ungestört zu reisen.

Serbien

Abends gelangen wir an die Grenze zu Serbien. Das erste Mal müssen wir warten. Es dauert aber nur zehn Minuten. Wir werden genötigt, den Kofferraum zu öffnen. Arthus muss aus dem Wagen. Ein Uniformierter filzt kontrolliert uns intensiv. Bei anderen Autos wird das ebenso gemacht.

Die serbische Fernverkehrsstraße ist breit und geradlinig. Man kann zu beiden Seiten, des zuweilen geflickten Asphalts, weit in die ebene, schier baumlose Gegend blicken. Es ist eine Weide- und Wiesen- Landschaft. Ab und zu mischen sich Rehe in sie hinein. Ein friedliches Bild. Wir fühlen uns plötzlich so frei, als wären wir gleich am Bosporus. Autos und Dörfer gibt es selten. Seit Deutschland sahen wir bisher nur zwei Wartburgs und nicht einen Trabant, die sogenannte »Rennpappe«.

Genauso wie an den Grenzen zwischen Tschechien und der Slowakei sowie an der Grenze zwischen Slowakei und Serbien, spricht man auch an der hiesigen Tankstelle deutsch. Das wundert uns. Wir bezahlen in Euro, wie in den drei Ländern zuvor. Ich führe Arthus in die wilde Natur. Es scheint, als habe sich der Vierbeiner schon ganz gut an den Rhythmus der Reise gewöhnt.

Später durchqueren wir in der Dunkelheit Belgrad, befahren breite Hauptstraßen. Langgezogene Hochhäuser säumen den Weg. Hinter der Hauptstadt des Landes verlassen wir die Autobahn. Wir haben auf einer recht kurzen Strecke zweimal je sechs Euro Maut zahlen müssen. Mir wurde das zu teuer.

Das Gebiet wird bergiger mit vereinzelnden Dörfern. Wir fühlen uns, wie um Jahrzehnte zurückversetzt. Es leuchtet kaum Licht am Rande der engen, holprigen Straße, und auch nicht aus den Häusern. Irgendwie eine unheimliche Stimmung. Wir sehnen uns nach der ›zivilisierten‹ Autobahn zurück.

Wir fahren von der Fahrbahn runter, halten auf erdigem Boden, der mit Pfützen übersät ist, an.

Auf die Karte starrend, möchten wir genau sehen, wo wir uns befinden. Mit einem Mal stoppt ein Auto links neben uns. Zwei Männer sitzen darin. Sie fragen nach dem Woher. Matthias antwortet auf Englisch, sagt auch, das wir weiter nach Rumänien wollen. Mir ist nicht wohl zumute. Man sollte keinen fremden Gestalten des Nachts, zudem in dem unbekannten, einsamen Areal, berichten, wohin man möchte. Matthias nimmt das nicht so ernst. In der Beziehung haben wir unterschiedliche Ansichten.

Kurz darauf versperren gleich zwei Erdrutsche, jeweils die Gegenfahrbahn. Geröll und sandige Erde haben sich breitgemacht. Langsam umfahre ich die Hindernisse. Die Gegend ist bewaldet, scheint uns unheimlich, fast gespenstisch. Es gibt scheinbar nur uns hier, in dieser menschenverlassenen Sphäre.

Die bucklige Straße wird kurvenreicher. Ich, der wieder lenkt, muss mich konzentrieren. Matthias döst. Später kommt noch Müdigkeit hinzu. Ich trinke Cola. Das Getränk hatte mir schon oft geholfen, gerade, wenn ich manchmal von Vorträgen aus dem Süden kam, und die halbe Nacht bis nach Hause fuhr. Ich erinnere mich an Dutzende Nachtfahrten mit Markus und Andy durch Osteuropa, Sibirien, der Mongolei und Australien. Obwohl wir häufig hinterm Lenkrad ermüdeten, und uns auch manchmal der Sekundenschlaf heimsuchte, ist nie etwas passiert. Immer noch zur rechten Zeit, wurden dann die Plätze im Auto getauscht.

Matthias und ich haben uns verfahren, irren umher. Natürlich gibt es keinen, der Auskunft geben kann. Wie durch ein Wunder erblicken wir in einer Straßen-Ausbuchtung einer kleinen Siedlung, einen Polizeiwagen. Die Uniformierten erklären uns die Strecke. Noch etwa 100 Kilometer bis zur rumänischen Grenze. Wir bedanken uns ein paar Mal und fahren aufatmend weiter.

Rumänien

Am Morgen, um 3:15 Uhr erreichen wir Rumänien.

Wir kampieren, samt Auto, am Ufer der Donau. Nach der Wolga ist sie mit mehr als 2800 Kilometer der zweitlängste Strom Europas.

Nicht weit von uns befindet sich ein Staudamm, deshalb ist der Fluss an unserem Lager wasserreich. Wir sind in unsere Schlaftüten geschlüpft, haben keinen Hunger. Der Untergrund ist vorwiegend sandig, vereinzelnd bedecken kleine und Steine von mittlerer Größe den Boden. Hinter uns befindet sich ein Dickicht aus teils wild verzweigten, mittelgroßen Bäumen und Sträuchern.

An einem Gewässer zu sein, hat stets Vorteile. Man hat zu trinken und kann sich waschen. Arthus, den ich wieder an die Kupplung angebunden habe, tollte vorhin einige Male knietief durchs Wasser. Der Mond, in seiner dreiviertel Phase spiegelt sich verschwommen im leicht dahingleitenden Wasser. Es ist windstill, die Luft ist trocken. Seit dem Aufbruch, gestern früh, kurz vor Prag, haben wir 1250 Kilometer hinter uns gelassen. Matthias und ich sind zufrieden.

Mit geschlossenen Augen schweifen meine Sinne zurück. Ich denke an den Igel in Tschechien, den wir ›überfuhren‹, ohne ihn zu berühren. Durch die Rückspiegel sahen wir, wie das kleine Stacheltier weiter über den Asphalt tippelte. Ich erinnerte mich nach der Begebenheit, wie ich mit meinem damaligen Van, ein »GMC Vandura«, in der Finsternis Brandenburgs, einen Dachs, an einer unbewaldeten Gegend überrollte. In den Folgejahren erblickte ich noch je zwei Dachse. Einen auf dem Darß und den anderen am verschneiten Straßenrand, in meine Fahrtrichtung weiterlaufend, auf Rügen. Diese selbstbewussten, nicht ungefährlichen Tiere, sind sehr scheu und zumeist nachtaktiv. Man bekommt sie äußerst selten zu sehen. Selbst viele langjährig, erfahrene Jäger, haben noch nie in der Natur einen Dachs zu Gesicht bekommen. Mir schießen die serbischen Autofahrer in den Kopf, die sehr rasant bis verrückt fuhren. Für uns das beschwerlichste Straßengeschehen bisher überhaupt!

Erst gegen 10 Uhr schälen wir uns aus den Schlafsäcken. Unsere Körper brauchten den Schlaf, der ihnen entzogen wurde.

Ich binde Arthus los. Sofort stürmt er ins Wasser. Wir setzen uns in das Auto, beißen in ein paar Stullen von Schwarzbrot. Sie sind belegt mit Salami und Käse. Wir pellen Eier und öffnen eine Dose Thunfisch. Wir haben eine Kühltasche bei uns. Noch reichen die Essensvorräte von zu Hause. Müsliriegel, Bananen, Äpfel, Tomaten und Zwiebeln sind auch dabei. Wenn auch das Obst zu schimmeln beginnen sollte, Zwiebeln halten sich immer. Das habe ich während der Weltumradlung in Russland gelernt. Für den Hund haben wir einen 15-Kilogramm-Sack Trocken- und vier Dosen Nassfutter an Bord des Autos. Letzteres mische ich Arthus zuweilen unter die harten Brocken.

Sonnenstrahlen wärmen später unsere Gesichter. Zarte Federwolken verharren verteilt am Himmel. Der Wartburg rollt ostwärts, Richtung Craiova.

Rumänien unterscheidet sich etwas von den zurückliegenden Ländern.

Viele Schafherden ohne Umzäunung, mit Hirten und wachsamen Hunden sind zu beobachten. Menschen, die zur Gruppe der Sinti und Roma gehören könnten, zuckeln auf Pferdewagen, oder Gefährte (Karren), vor die Esel gespannt sind, dicht am rechten Rand der Straße dahin. Manche Leute gehen auf der Landstraße zu Fuß, andere radeln mit dem Fahrrad. Man hat das Gefühl, als ob die Zeit hier etwas langsamer vergeht. Die Häuser in den Dörfern bestehen zum Teil aus Stein oder Holz. Die stellenweise rissigen, abgeplatzten Fassaden erscheinen gräulich, rosarot und beigefarben. Hölzerne, mitunter windschiefen Zäune, denen auch mal einige Latten fehlen, begrenzen die Höfe. Das Leben im rustikalen Alltag, erinnert mich stark ans ländliche Russland, nur dass wir dort kaum Radfahrer sahen. Die Umgebung ähnelt der aus Serbien manchmal sehr. Weit einsehbare, hügelige Landschaft, bewachsen mit Gräsern, Sträuchern und einzeln stehenden Bäumen oder Baumgruppen.

Wir lassen Craiova, die größte Stadt in der historischen Region »Kleine Walachei« hinter uns. Das Fahren im Windschatten großer »Brummis« oder Bussen behalte ich bei. Auch hier können wir an einem Tank-Stopp den Sprit mit Euro begleichen. Die Tankstellen sind oft leer, manchmal mit zwei, drei Fahrzeugen belebt. Die Regale im Inneren der Häuschen sind halbleer. Es gibt Kekse, Salzstangen, Schokolade, Wasser, Bier und Flaschen mit hochprozentigem Alkohol.

In den Abendstunden gelangen wir nach Bukarest. Anders als in Serbien und den Staaten zuvor, sahen wir noch keine Deutschen auf rumänischem Gebiet. Der allgemeine Verkehr in der Hauptstadt ist dicht. Wir müssen aufpassen, auf die Autos, Passanten, Ampeln und Schilder. Es herrscht wirres Treiben. Die ausgedehnten Häuserblocks ragen zumeist zehn Etagen in die Höhe und sind grau und trist. Wir halten nicht an, wollen schnellstmöglich aus dem Moloch wieder raus.

Nur kurz unterbrechen wir einmal die Fahrt, um uns bei einem Taxifahrer, der aus Russland stammt, nach der richtigen Route zu erkundigen.

Nachdem wir Bukarest verlassen haben, hänge ich mich erneut in den Schatten eines Lasters. Er fährt mit bis zu 115 Stundenkilometer, ungewöhnlich schnell. Dann vor uns ein Knall. Leichter Qualm kommt uns entgegen. Durch den Rauch hindurch, leuchten vor uns plötzlich rote Bremslichter auf. Erschrocken trample ich auf das Bremspedal. Das war knapp! Beinahe wäre ich aufgefahren. Der vor uns fahrende LKW rollt zur Seite und stoppt. Wir sind froh, dass nichts passiert ist. Aus der Erfahrung meiner vergangenen Touren ist mir bewusst, das laute, verfrühte Freude ein Ziel zu erreichen, mitunter nicht ratsam ist. Ich könnte darüber fast ein kleines Buch schreiben.

Später gelangen wir an die Grenze zu Bulgarien, nicht weit vom Schwarzen Meer entfernt. Die rumänischen Beamten wollen von uns eine Straßenplakette ihres Landes sehen. Wir haben keine dabei. Ich spreche mit ihnen russisch. Der Schalter an der serbisch-rumänischen Grenze war bei unserem Übertritt in der Nacht geschlossen.

Die Grenzposten fordern von uns 58 Euro. Wir sind perplex. Der Betrag gilt für das ganze Jahr. Der junge, dunkle Typ mit Käppi auf dem Kopf, ist beharrlich. Im ruhigen, dennoch konsequenten Ton, fordert er die Summe, auch wenn wir nur kurz in Rumänien waren.

Nach einer kleinen Diskussion müssen wir bezahlen. Doch dabei bleibt es nicht. Zu der Straßengebühr gesellen sich noch 15 Euro Taxgebühr. Zudem weitere zwei Euro für eine kurze Fahrt durch eine Wasserschleuse, wegen der Vogelgrippe. Und für den Chef der Grenzstelle nochmal 30 Euro! Wir verstehen das nicht, versuchen, uns zu sträuben – keine Chance!

Endlich geht es weiter. Wir haben deutlich bemerkt: Rumänien ist nicht in der EU.

Bulgarien

Die Straße nach Warna, der Stadt am Schwarzen Meer, ist in Ordnung. So ein unbeschwertes Fahren haben wir lange nicht mehr erlebt. Zu beiden Seiten begleitet uns hügeliges Land, überzogen von dichtem Wald.

Die Küstenstadt ist hell erleuchtet. Es ist Mitternacht. Kurz hinter der Stadt, lassen wir uns irgendwo zwischen Bäumen und Sträuchern nieder. Wir finden eine winzige Lichtung. Arthus springt aus dem Auto, stöbert in der nahen Umgebung herum. Seit der Abfahrt in Rostock scheint er mir etwas selbstbewusster geworden zu sein. Ich rufe ihn, übermütig rennt er auf mich zu. Stolz streichele ich meinen Vierbeiner. Er sieht aus, wie ein klassischer Schäferhund. Sein Fell ist oben schwarz, unten braun. Er hat eine sportliche Statur, wiegt etwa 40 Kilogramm. Manchmal zeigten Leute auf der Herfahrt auf den Hund und sagten: »Kommissar Rex?« Selbst die Grenzer mancherorts waren beeindruckt von Arthus.

Als wir die Schlafsäcke ausbreiten, entdecken wir einige Kondome. Beim Vergrößern unseres Radius’ fallen uns noch mehr dieser Lümmeltüten ins Blickfeld.

Matthias und ich lächeln uns zu, scheinbar haben wir einen Platz für gewisse Schäferstündchen gefunden. Die Nacht ist idyllisch. Es wehte kein Lüftchen. Das Firmament sternenklar. Vor allem gibt es hier keine Mücken! Warum das so ist, bleibt offen. Der Boden ist teils sandig, Waldkiefern umgeben uns. Diese Baumart ist anspruchslos, wächst sogar auf nährstoffarmen Böden. Wir sind nicht weit vom Meer entfernt. Arthus hat in den zurückliegenden Nächten nicht einmal gebellt. Eigentlich untypisch für das nächtigen in fremder Gegend. Während meiner letzten Touren verging kaum eine Nacht, in der die Hunde sich nicht mucksten. Nur bei Dauerregen lagen sie unter ihrer Plane und waren still.

Baden im Schwarzen Meer

Am nächsten Tag, es ist mittags, baden wir, zwischen Warna und Burgas, im Schwarzen Meer. Der Strand ist beinahe menschenleer. Arthus tapst brusttief ins Wasser und schaut uns zu. Es ist erfrischend und angenehm im nassen Element. Wir schätzen die Wassertemperatur auf knapp 20 Grad Celsius und vergessen kurz die Reise, schwimmen und tauchen, wie uns zumute ist.

Als kleiner Junge hatte ich stets Respekt bis Angst vorm Wasser. Währen meiner Bundeswehrzeit nahm ich an der Minentaucherausbildung teil. Dort habe ich gelernt, mit der Angst umzugehen. Nach vielem Laufund Schwimmtraining schaffte ich bald 60 Meter Streckentauchen und über zwei Minuten Zeittauchen.

Ich werfe einen Stock für Arthus ins Wasser. Er stürzt in die seichten Wellen. Ich hinterher. Zusammen schwimmen wir zurück. Nach einer Ruhepause laufe ich noch eine Stunde am Strand entlang. Vereinzelnd schauen mir Badegäste von ihren Stühlen oder Decken aus, hinterher.

Wieder im Auto, müssen wir an die Prostituierten von heute Morgen denken. Sie standen, als wir aufbrachen, ganz nahe unseres Schlafplatzes an einer Straße. Mit Miniröcken oder engen kurzen Höschen, die die Pobacken kaum verdeckten, warben sie um Freier.

Uns fällt in den Küstenorten auf, dass hier viele neue Hotels entstehen. Manchmal blicken Bauarbeiter mit ihren gebräunten Oberkörpern zu uns hinab.

Dehnungsübung vor einem Trainingslauf zwischen Burgas und Warna am Schwarzen Meer

Das letzte Stück bis zur Türkei ist bergig und mit einem Meer von grünen Bäumen überdeckt.

Rund 40 Kilometer vor der Grenze müssen wir an einem Schlagbaum halten. Ein Uniformierter tritt aus einem hölzernen Wachhäuschen heraus, kontrolliert kurz unsere Pässe und lässt uns durch.

Plötzlich bemerke ich etwas später, auf der Gegenfahrbahn vor uns eine große Vertiefung. Eine riesige, rechteckige Fläche von drei mal fünf Metern des Asphalts fehlen. Die etwa 20 Zentimeter Vertiefung besteht aus kieshaltigem Boden. Eine Absperrung oder Warnschild ist nicht zu sehen…

Wir sind fast allein auf der Straße, haben kaum noch Sprit. Angespannt fahren wir weiter. Dann endlich eine Tankstelle. Sie steht mitten im Wald, fernab von jeglicher Zivilisation.

Matthias möchte wie immer, mit Euros bezahlen, doch der Kassierer im kleinen Häuschen schüttelt den Kopf. Er will nur die einheimische Währung Lew. Aber die haben wir nicht, und der Tank ist schon gefüllt. Der füllige Mann, im blauen Trägerhemd und üppiger Behaarung am Körper, runzelt die Stirn. Eine endlose Weile vergeht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als unsere Scheine anzunehmen. Den Rest gibt er uns in der Staatswährung wieder. Ähnlich wie in vielen Ländern können die Einheimischen Euromünzen nicht in ihrem Land verwenden.

Draußen löscht Arthus seinen Durst in einem sprudelnden Becken. Er muss viel trinken.

Türkei

Etwas später, am Grenzpunkt zur Türkei, will der dortige Polizeibeamte, eine Vollmacht von mir sehen, die mir erlaubt, den Wagen fahren zu dürfen. Zugelassen ist der Wartburg nämlich auf Markus Möller. Er guckt mich eindringlich an, sagt, wie die Russen auch: »Straf!« Er will Geld. Ich denke an die letzte Grenze, habe keine Lust, erneut tief in den Geldbeutel zu greifen. Ich bleibe beharrlich. In Russland wollten die Behörden auch oft unsinnige Dollars von uns haben. Wir blieben damals oft geduldig, spielten auf Zeit. Wir erzählten dann spontan von unseren vergangenen Reisen, lobten die russische Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Dadurch tauten die scheinbar gefühllosen Polizisten oft auf. Es hatte den Anschein, als wäre es ihnen mit einem Mal peinlich, noch eben zusätzliches Geld von uns gefordert zu haben. Damit haben wir einige Finanzen gespart. In diesem Augenblick kommt mir das Begleitschreiben vom Oberbürgermeister aus Rostock in den Sinn, das wir im Gepäck haben. Ich krame es aus dem Kofferraum, zeige die Blätter dem sportlichen Polizisten, der etwa meine Größe hat.

Auf dem Dokument ist oben das Logo der Stadt zu sehen, mit dem Rostocker gelbfarbenen »Greif«, dem Wappentier. Dahinter zwei geschwungene Symbole, in jeweils roter sowie blauer Farbe. Sie haben die Form von ausgebreiteten Pionierhalstüchern aus DDR-Zeiten. Darunter befindet sich der Text, der uns vorstellt und unser Vorhaben beinhaltet. Unten dann ein großer runder Stempel, mit der Unterschrift des Stadtoberhaupts. Die Botschaft wurde uns auch jeweils ins Russische und Englische übersetzt. Der Beamte nickt. Dann kontrollieren zwei seiner Kollegen unser Gepäck. Sie wühlen drin herum, machen Stichproben. Matthias und ich sind angespannt. Mein Herz klopft immer schneller. Die Tasche, die hinter dem Fahrersitz stand, ist auch draußen. In ihr liegt, eingewickelt in Tüchern, mein Revolver, der mit Leuchtmunition funktioniert, um im Notfall auf uns aufmerksam zu machen. Die Waffe hatte ich zuvor bei zwei vergangenen Reisen nach Russland dabei.

Einmal, am Ufer der Lena, hatte ich von ihr Gebrauch gemacht. Damals näherte sich unserem Lager in der Dunkelheit ein mittelgroßer Bär. Markus und ich lagen schon im Zelt, als unsere beiden Schäferhunde plötzlich aufgebracht bellten.

Rasch war ich draußen und erschrak. Der Petz schien keine Angst vor den erregten Vierbeinern zu haben. Prüfend tapste er näher. Im Nu holte ich den Revolver aus dem Zelt, schoss sofort über den Kopf des Bären hinweg. Der rote Schweif der Munition flog krachend in Nacht.

Das sonst so selbstbewusste Taigatier flüchtete. Danach stellten wir fest, das noch ein paar Essensreste an der Glut des Lagerfeuers standen. Durch die Hitze hat sich vermutlich ein verführerischer Duft verbreitet. Zudem haben Bären die sensibelste Nase der Tierwelt. Ein Eisbär kann den Geruch einer läufigen Eisbärin bis in 20 Kilometer Entfernung wittern.

Wir haben Glück! Die Tasche mit dem Schießeisen lassen die Beamten in Ruhe.

Bald sehen wir einige helle Minarette von Edirne, der westlichsten Großstadt der Türkei. Die breite Straße, in einem ordentlichen Zustand, führt direkt nach Istanbul, etwa 100 Kilometer entfernt.

Da der Abend schon vorangeschritten ist, biegen wir bei Silveri, einem kleinen Ort, in eine Nebenstraße ein. Schließlich landen wir auf einem Feldweg, der mit tiefen, ausgetrockneten Landmaschinenspuren durchzogen ist. Fast parallel dazu fließt ein Bach entlang. Die Gegend ist leicht hügelig.

Seit dem Grenzübertritt haben wir die Uhren zur M.E.Z. um eine Stunde vorgestellt. Heute hat es auf unserer Tour zum ersten Mal etwas geregnet. Nach einer halben Stunde war es aber wieder vorbei.

Nachts im Schlafsack liegend, rutsche ich immer wieder in die stark eingedrückten Fahrzeugspuren hinein. Leise fluche ich vor mir hin. Matthias amüsiert sich. Er steckt mich mit seiner Belustigung an. Schließlich lachen wir beide. Das Gelächter wird immer lauter, lärmt durch die Nacht. Wir steigern uns aus unerklärlichen Gründen in die Situationskomik hinein und halten uns die Bäuche.

Istanbul

Tags darauf erreichen wir Istanbul. Die Stadt ist riesig! Über 10 Millionen Menschen wohnen hier, im Ballungsraum sogar 15 Millionen!

Bereits vor mehr als 2.600 Jahren wurde die Stadt als Byzantion gegründet, im Jahre 324 u.Z. zu Konstantinopel umbenannt. Später, 1876, ging die riesige Metropole offiziell als Istanbul in die Verfassung ein. Sie misst von Ost nach West allein 100 Kilometer, die Nord-Südausdehnung beträgt 50 Kilometer.

Beinahe 1.600 Jahre lang diente sie nacheinander dem römischen, dem Byzantinischen und dem Osmanischen Reich als Hauptstadt. Das Stadtbild ist von Bauten der griechisch-römischen Antike des mittelalterlichen Byzanz sowie der neuzeitlichen und modernen Türkei geprägt. Paläste gehören ebenso dazu, wie zahlreiche Moscheen, Cemevleri, Kirchen Synagogen. Aufgrund ihrer Einzigartigkeit wurden Teile der historischen Altstadt von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Im Jahre 2010 wurde Istanbul Kulturhauptstadt Europas. Drei Jahre später wurde der Eisenbahntunnel unter dem Bosporus eröffnet. Der ganze Stolz der Stadt. Auf 1,4 Kilometer Länge führt das Bauwerk unter der Meerenge zum Schwarzen Meer hindurch. Der Verkehrsweg verläuft bis zu 56 Meter unter dem Meeresboden. Somit ist die Metro die am tiefsten gebaute Tunnelröhre der Welt.

Uns ist, als führen wir schon ewig über die gut ausgebaute Stadtautobahn. Seit wir in die Türkei hineingefahren sind, bemerkten wir bald, dass der Verkehr hier anders pulsiert, als in den vorherigen Ländern. Man hupt hier schneller und länger. Johlende und pfeifende Typen, auf den Ladepritschen mancher Lastwagen, Pick-ups oder Pkws mit heruntergekurbelten Scheiben sind zu sehen. Wir fallen mit unserem beklebten Wartburg und dem hinaus schauenden Arthus ziemlich krass auf. Aus dem zähflüssig dahinrollenden Autostrom winken uns Einheimische zu.

Ankunft in Istanbul. Der Bosporus, eine der bekanntesten Meerengen der Welt.

Die größte türkische Stadt ist eine Mischung aus vielen Minaretten, Moscheen, hellen mediterran angehauchten Häusern, mit bogenförmigen Fenstern und ein paar Palmen davor. Moderne gläserne Hochhäuser stehen zuweilen dazwischen, in denen Banken und Firmen ihren Geschäften nachgehen.

Wir müssen uns in dichtem Verkehr konzentrieren, aber bis zum Bosporus geht es ohnehin nur geradeaus. Die Meerenge zwischen Europa und Asien entdecken wir vorerst nicht. Istanbul ist die einzige Stadt der Welt, die zwei Kontinente verbindet. Mir wird bewusst, dass ich die lange ›Stadtstrecke‹, die wir jetzt zurücklegen, übermorgen laufen werde.

Endlich erscheint eine der großen Hängebrücken, die über eine der meist befahrenen Wasserstraßen der Erde hinüberführt. Wir bezahlen fünf Euro Maut für die Überquerung. Auf dem asiatischen Terrain angekommen, bleiben wir nicht lange dort, kehren gleich um. Es ist für Fußgänger nicht erlaubt, die kilometerweite Brücke zu begehen.

Abendstimmung

Am Abend lassen wir uns am Westufer des Bosporus nieder. Am Wasser herrscht reges Treiben. Dutzende Angler versuchen am Kai ihr Petri Heil Glück. Mondän gekleidete Frauen mit modischen Sonnenbrillen, hellen Blusen, farbig gemusterte T-Shirts und engen Jeans flanieren an uns vorbei. Nur selten erblicken wir teils verschleierte Frauen. In einer Burka verhüllt, schon gar nicht. Man hat das Gefühl, zum Beispiel irgendwo in London oder Paris zu sein. Es ist kein richtiger muslimischer Alltag, den wir hier erleben, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt. Natürlich sind auch einige Touristen darunter.

In einem Café, unweit vom Bosporus, lädt uns eine Frau, die einen Kangal, einen türkischen Hirtenhund bei sich sitzen hat, auf Fladenbrote und Cola ein. Die Einheimische hat uns vom Nebentisch sofort bemerkt. Die aus Pflastersteinen errichteten Gassen, Richtung Stadtautobahn hinauf, haben Steigungen bis 20 Prozent.

Wir sitzen draußen vor einem grauen, leicht rissigen dreistöckigen Haus. Die Frau mit den dunklen, schulterlang gewellten Haaren, hat ein weißes Trägerhemd, auf dem ein buntes Blumenmuster zu sehen ist, an. Zudem trägt sie eine eng anliegende, hellblaue Jeans.

Ayla, so der Name der Gönnerin, spricht gutes Englisch. Sie fragt, ob wir hier Urlaub machen. Als sie von unserem Vorhaben hört, runzelt sie die Stirn, hält sich damenhaft die Hand vor dem Mund und schüttelt seicht den Kopf. Sie ist Mitte dreißig, arbeitet als Bürokraft für eine Firma. Ihr Mann und die beiden kleinen Kinder sind gerade zu Hause. Matthias und ich staunen. Sonst sitzen die Männer stets in Cafés und die weibliche Hälfte hat im Haus zu sein. Ich frage Ayla nach ihrem Hund. Mesut, so heißt ihr einheimischer Hirtenhund, liegt unterm Tisch und schenkt uns kaum Beachtung. Der Rüde ist großgewachsen, sogar etwas größer als ein Schäferhund. Er hat kurzes, beigefarbenes Fell, eine dunkle Schnauze, gleichfarbige Schlappohren und wiegt fast 60 Kilogramm. Der Ursprung der Rasse liegt in Anatolien und ragt mehrere tausend Jahre v. Chr. zurück. Plötzlich klingelt Aylas Handy. Ihre Stirn legt sich in Falten, sie steht auf. Mit freundlich gequälter Miene nickt sie uns zu und verschwindet mit dem ruhig anmutenden Kangal.