Eva schläft - Francesca Melandri - E-Book

Eva schläft E-Book

Francesca Melandri

5,0

Beschreibung

"Nur einmal in ihrem Leben konnte sich meine Mutter Gerda der Liebe eines Mannes gewiss sein, und ich der eines Vaters. All die anderen kamen und gingen wie ein Wolkenbruch im Sommer." Eva ist Anfang vierzig, als sie einen Anruf von dem Mann erhält, der in ihrer Kindheit eine Zeitlang die Rolle des Vaters einnahm, bevor er scheinbar für immer verschwand: Vito Anania. Er liegt im Sterben und möchte Eva noch einmal sehen. Sie reist mit dem Zug von Südtirol quer durch Italien in den äußersten Süden. In ihrer Vorstellung entfaltet sich ihre ganze Kindheit in Südtirol: Sie wuchs im Schatten der politischen Verwerfungen einer Region auf, die drei Jahrzehnte lang der Spielball bedrohlicher Allianzen war und dann endlich den Aufbruch in die Autonomie wagte. Doch noch stärker wurde Evas Kindheit geprägt von der Liebe ihrer Mutter, der im Leben nichts geschenkt wurde. Der Roman einer Provinz ohne Vaterland und eines Mädchens ohne Vater.

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Aus dem Italienischen von Bruno Genzler

Die italienische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Eva dorme bei Mondadori in Mailand, die deutsche Erstausgabe 2010 im Karl Blessing Verlag in München.

Eva schläft ist der erste Band der Trilogie der Väter.

E-Book-Ausgabe 2018

© 2010 by Francesca Melandri. Published by arrangement with The Italian Literary Agency

© für die Übersetzung von Bruno Genzler: Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Denise Sterr unter Verwendung einer Fotografie von Sebastian Maiwind, Berlin. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142436

Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803128058

www.wagenbach.de

Meinen lustigen gemischtsprachigen Kindern

und zwei sehr liebevollen Vätern,

ihrem und meinem.

Der vorliegende Roman ist der Fantasie entsprungen.

In der erzählerischen Perspektive haben sich die darin vorkommenden historischen Ereignisse und Persönlichkeiten verändert. Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit nicht fiktiven Personen oder Fakten als rein zufällig zu betrachten.

Eines Abends, als die Bauern in der Stube wieder einmal die alten Verratsgeschichten wiederkäuten, machte der alte Sonner dem Gemurre ein Ende, indem er sagte: »Alles papperlapapp. Dass wir den Krieg gewonnen haben, weiß jedes Kind. Aber dass wir gleich ganz Italien bekommen würden, das hätte ich mir nicht gedacht.«

CLAUS GATTERER, Schöne Welt, böse Leut. Kindheit in Südtirol.

»Na so was, die da oben sind ja alle Deutsche!«

MARIANO RUMOR, nachdem ihm 1968 ein Ferienaufenthalt im Pustertal die Existenz einer anderssprachigen Minderheit auf dem Territorium jenes Landes vor Augen geführt hatte, dessen Ministerpräsident er war.

»Ihr seid Italiener, die von Deutschen regiert werden? Ihr Glücklichen!«

INDRO MONTANELLI

Nennt die Welt, wenn ihr wollt, »das Tal der Seelenbildung«, dann werdet ihr auch den Sinn der Welt erkennen …

JOHN KEATS, in einem Brief an George und Georgiana Keats, April 1819

Lass Eva (im Schlummer ließ ich ihr die Augen schließen) Hier unten ruh’n, indessen Du hier wachst.

JOHN MILTON, Das verlorene Paradies, 11. Gesang

Prolog

Das Päckchen war in braunes Packpapier eingeschlagen und mit einer dünnen Kordel verschnürt. Empfänger und Absender waren in einer ordentlichen Handschrift geschrieben, die Gerda auf Anhieb wiedererkannte.

»I nimms net«, sagte sie an Udo, den Postboten, gewandt. Das nehme ich nicht an.

»Aber es ist doch für Eva …«

»Ich bin ihre Mutter und weiß, dass sie es nicht haben will.«

Ob sie sich da wirklich sicher sei, wollte der Postbote sie fragen. Doch sie richtete den Blick ihrer hellblauen, länglichen Augen auf ihn und schaute ihn reglos an. Da schwieg er. Stattdessen zog er einen Stift aus der Brusttasche und holte ein Formular aus seiner Ledertasche hervor. Ohne sie anzusehen, reichte er ihr beides.

»Dann unterschreib hier.«

Gerda tat es und fragte dann, mit einem Mal fast zärtlich besorgt:

»Was geschieht denn jetzt mit diesem Päckchen?«

»Ich nehme es wieder mit zum Postamt und gebe an, dass du es nicht haben wolltest …«

»Dass Eva es nicht haben wollte.«

»… und dann schicken sie es zurück.«

Udo verstaute das Päckchen wieder in der Ledertasche, faltete das Formular zusammen und sortierte es zwischen anderen Blättern ein. Dann steckte er den Stift in die Brusttasche zurück, prüfte, ob sie auch richtig zu war, und machte Anstalten zu gehen. Sein Oberkörper begann bereits, sich Richtung Straße zu wenden, und seine Füße würden ihm im nächsten Augenblick folgen, als ihm noch einmal Bedenken kamen.

»Wo ist Eva eigentlich?«, fragte er.

»Eva schläft.«

Und so reiste das braune Päckchen den ganzen weiten Weg, den es bis zu ihnen genommen hatte, wieder zurück: zweitausendsiebenhundertvierundneunzig Kilometer insgesamt, einmal her und einmal hin.

1919

Hätte man Gerdas Vater Hermann gefragt, ob er je erfahren habe, was Liebe ist (aber niemand tat das, am allerwenigsten seine Frau Johanna), wäre ihm das Bild seiner Mutter in den Sinn gekommen, wie sie in der Stalltür stand und ihm den Eimer mit der lauwarmen Milch vom ersten Melken am Morgen reichte. Mit dem halben Gesicht war er in die süße Flüssigkeit eingetaucht, aus der er mit einem Schnurrbart aus Schaum wieder hervorkam, und hatte sich dann auf den Weg zur Schule gemacht, ein einstündiger Marsch, den er täglich auf sich nehmen musste. Erst nachdem er schon ein ganzes Stück gelaufen war, wischte er sich mit dem Handrücken die Oberlippe sauber, etwa dann, wenn sein Klassenkamerad Sepp Schwingshackl zu ihm stieß, oder sogar noch weiter unten, wenn Paul Staggl sich dazugesellte, der ärmste Junge der ganzen Schule, von einem Hof, der nicht nur am Steilhang lag, sondern auch noch nach Norden ausgerichtet war und im Winter keinen Sonnenstrahl sah.

Oder wenn er länger darüber nachgedacht hätte (aber das tat er nie, sein ganzes Leben lang nicht, bis auf ein einziges Mal, kurz bevor er starb), wäre ihm die Hand seiner Mutter eingefallen, jugendlich frisch und doch schon rau wie altes Holz, in einer Geste bedingungsloser Zuwendung um seine kindliche Wange gekrümmt. Später, als seine Tochter Gerda zur Welt kam, hatte Hermann die Liebe schon seit einer ganzen Weile verloren. Womöglich unterwegs, so wie das Heu in seinem Traum.

Zum ersten Mal hatte er diesen Traum als Kind, doch er träumte ihn immer wieder, sein Leben lang: Seine Mutter breitete ein großes weißes Tuch auf der Wiese aus, häufte frisch gemähtes Heu darauf und band es zu, indem sie die vier Ecken zusammenführte und miteinander verknotete. Dann lud sie ihm das Bündel auf die Schultern, damit er es zum Heuschober trug. Es war eine gewaltige Last, aber das machte ihm nichts aus, seine Mutter hatte sie ihm aufgeladen, also war es eine gute Last. Schwankend richtete er sich auf und schritt, einer monströsen Blume ähnlich, über die gemähte Wiese. Seine Mutter sah ihm nach mit ihren hellblauen, länglich geschnittenen Augen – Augen, wie sie Hermann und später seine Tochter Gerda hatten, und schließlich auch deren Tochter Eva, Augen, die sanft waren und gleichzeitig streng wie auf gotischen Heiligenbildern. Doch ein anderer Hermann, unsichtbar und alterslos, der den jungen Hermann beobachtete, wurde bestürzt gewahr, dass die Zipfel des Tuches schlecht verknotet waren und dass das Heu hinter ihm zu Boden fiel: Zunächst flogen nur einzelne Halme davon, dann ganze Büschel, mehr und mehr. Nun konnte der Hermann, der das alles mitansah und das Malheur erkannte, den Hermann im Traum aber nicht warnen, und als dieser beim Heuboden anlangte, war das Tuch leer.

In der Nacht, da er dies zum ersten Mal träumte, wurde in Saint-Germain-en-Laye ein Friedensvertrag unterzeichnet, in dem die Siegermächte des Großen Krieges, allen voran Frankreich, um das untergegangene österreichisch-ungarische Kaiserreich zu bestrafen, Südtirol dem Königreich Italien zuschlugen. Zum großen Erstaunen dieses Landes, denn Trento und Triest zu befreien, ja, davon war immer die Rede gewesen, nicht aber Bolzano – und erst recht nicht Bozen. Und das war nicht verwunderlich: Die Südtiroler waren deutschsprachig und fühlten sich so vollkommen heimisch in der österreichischen Donaumonarchie, dass sie nicht danach verlangten, von irgendjemandem befreit zu werden. Dennoch wurde Italien, nach einem gewiss nicht auf dem Felde errungenen Sieg, mit diesem Zipfel der Alpen als unerwarteter Kriegsbeute belohnt.

Und in derselben Nacht starben auch seine Eltern. Beide wurden sie im Abstand von drei Stunden von der Spanischen Grippe hinweggerafft. Am Morgen darauf fand Hermann sich als Waisenkind wieder, ganz ähnlich wie seine Heimat Südtirol, das sein Mutterland Österreich verlor.

Nach dem Tod der Eltern erbte der Erstgeborene, Hans, den alten Hof. Der Besitz bestand aus einem Haus mit einer vom Rauch eingeschwärzten Stube, einem von Holzwürmern zernagten Stall mit Heuboden, einer Wiese am Steilhang, auf der man beim Mähen das Gewicht jeweils nur auf einen Fuß verlagern konnte, und einem Acker, der derart steil abfiel, dass man nach längerem Regen die Erde, die das Wasser zu Tal gespült hatte, in großen Tragekörben aus geflochtenem Bast wieder hinauftransportieren musste. Und Hans konnte sich noch glücklich schätzen, ein solches Erbe antreten zu dürfen.

Die drei älteren Schwestern sahen zu, dass sie rasch einen Bräutigam fanden, um wenigstens unter einem Dach zu schlafen, das sie ihr eigenes nennen konnten. Und Hermann, dem Jüngsten, blieb nichts anderes übrig, als sich als Knecht zu verdingen, auf den reicheren Höfen mit den flacheren Hängen, auf denen man beim Mähen beide Beine belasten konnte und die Erde auf den Feldern auch nach einem mächtigen Wolkenbruch blieb, wo sie war, und nicht zu Tal rutschte. Da war er elf Jahre alt.

Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr passierte es ihm jede Nacht, dass er, der nie länger als einen halben Tag von seiner Mutter getrennt gewesen war, aus Angst und Einsamkeit sein Bett einnässte. Im Winter war sein Urin in den Laken gefroren, wenn er auf irgendeinem zugigen Speicher erwachte, wo die Bauern Knechte wie ihn übernachten ließen. Wenn er sich von seinem Strohlager erhob, zerbarst dieses dünne Futteral mit einem leisen Knistern.

Es war der Klang seiner Einsamkeit und seiner Scham, des Verlustes und des Heimwehs.

Km 0

Wenn man in östliche Richtung fliegt, soll der Jetlag noch schlimmer sein, sagen alle. Wer sich gegen die Sonne wendet, den bestraft sie, indem sie ihn um den Schlaf bringt. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, so meinen Schlaf zu vergeuden.

In München hat mich Carlo am Flughafen abgeholt, was ich meiner Mutter niemals erzählen würde, denn ich weiß, dass sie ihn nicht mag, ihn nie gemocht hat. Vielleicht weil er sie damals, als ich ihn ihr vorstellte, nicht hofiert hat, nicht die Spur, nur höflich war er. Allerdings ist er Ingenieur, das darf man nicht vergessen, ein Mann, zu dessen Beruf es gehört, die Dinge wörtlich zu nehmen, sonst würden die Brücken und Viadukte, die er baut, nicht lange stehen. Meiner Mutter schönzutun wäre ihm wie eine Respektlosigkeit mir gegenüber vorgekommen. Wie wenig er doch verstanden hat. Von mir – und von ihr ganz zu schweigen.

Es liegt nun zehn Jahre zurück, dass ich Carlo meiner Mutter vorstellte. Wir wollten sie das lange Wochenende über Allerheiligen besuchen, und sie empfing uns auf dem Hof meiner Patin Ruthi. Wie im Prospekt eines Einrichtungshauses saß sie da in der mit Tannenholz getäfelten Stube. In ihrer Spitzenbluse und der Baumwolljacke mit Hornknöpfen sah sie so durch und durch tirolerisch aus, dass es nur noch von einem Dirndl zu übertreffen gewesen wäre. Vielleicht war es ihr wichtig, sich Carlo in dieser bäuerlich pittoresken Atmosphäre zu präsentieren, fast so, als wolle sie ihre Identität inszenieren. Obwohl sie in Wahrheit nie eine Bäuerin war.

Carlo plauderte mit ihr, erkundigte sich nach ihrem Gesundheitszustand, hielt ihr die Tür auf, als wir auf den Hof traten, um uns zu verabschieden. Aber kein einziges Mal hat er ihr lachend in die Augen geschaut, kein einziges Mal gesagt, dass ihm bei ihrem Anblick nun endlich klar werde, woher meine Schönheit stamme. Aber vor allen Dingen hatte er keine Lust, mit ihr Watten zu spielen. Und das hat meine Mutter ihm wohl nie verziehen. Carlo entschuldigte sich damit, dass er die Regeln dieses Kartenspiels nicht kenne. Die Regeln! Nein, er hatte wirklich gar nichts verstanden.

Deshalb nehme ich ihn nun nicht mehr mit, wenn ich sie besuche: Sie mag Carlo eben nicht, und das hat nichts damit zu tun, dass er verheiratet ist und drei Kinder hat, die ich nie kennengelernt habe; und auch nicht damit, dass er in den elf Jahren, die wir jetzt zusammen sind, nie die Möglichkeit erwähnt hat, sich von seiner Frau scheiden zu lassen.

Das sind nicht die Dinge, auf die es meiner Mutter ankommt.

Ich trat durch die Glastür der Ankunftshalle für internationale Flüge, an meiner Seite ein vielleicht fünfzigjähriger Mann, der meinen Gepäckwagen schob: Jack Radcliffe aus Bridgeport, Connecticut, Manager in einem Unternehmen für landwirtschaftliche Maschinen, zu Gast in München anlässlich einer Fachmesse seiner Branche. Großgewachsen, graumeliertes Haar, tadelloser blauer Anzug. Ich selbst war nach den neun Stunden Flug immer noch so gekleidet und geschminkt, wie ich mich für die Vernissage in New York, von der ich zurückkam, zurechtgemacht hatte: Donna-Karan-Kostüm aus pistaziengrünem Jersey, Tropfenohrringe und Ballerinas an den Füßen. Wir bildeten sicherlich kein unansehnliches Paar. Getrübt wurde dieses Bild nur durch den glasigen Blick des Amerikaners und seine veilchenblaue Nase: Der Getränkeservice im Flugzeug hatte ganz seinen Vorstellungen entsprochen. Als Carlo ihn an meiner Seite erblickte, hob er seine schönen dunklen Augen zum Himmel, als rufe er ihn zum Zeugen an für die Geduld, die von einem Mann verlangt wird, der mit einer Frau wie mir zusammen ist.

Bei dem Amerikaner dauerte es dagegen eine ganze Weile, bis er begriffen hatte, dass dieser Fremde mich abholen wollte. Vielleicht hätte ich vorher doch etwas davon erwähnen sollen. Jedenfalls war sein Lächeln urplötzlich verflogen. Es war ihm anzusehen, wie die Illusionen, die er sich hinsichtlich meiner Person gemacht hatte, dahinschmolzen wie Eis in einem zu lange in der Hand gehaltenen Whiskyglas. Sein Blick wurde noch glasiger, fast tränenfeucht, während er Carlo anstarrte, der ihm seinerseits jetzt ohne eine Spur von Überraschung oder Verlegenheit die Hand schüttelte, sich für die Umstände mit meinen Koffern bedankte und mich dann von ihm wegfegte, mit einer schwungvollen Drehung seiner breiten Schultern, die mir immer noch so gut gefallen.

Während ich in seinem Arm davonging, drehte ich mich noch einmal zu dem Amerikaner um, schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, wedelte mit den Fingern einer Hand und zwitscherte:

»See you later, Jack!«

Völlig verdattert stand Jack Radcliffe aus Bridgeport, Connecticut, mit seinem Kofferkuli im Foyer der Ankunftshalle, aus dem Tritt gebracht mehr noch durch die Fassungslosigkeit als durch die Enttäuschung.

»Der Ärmste …«, brummte Carlo, während er mir einen Kuss auf die Haare gab. Kein Vorwurf, nur eine Feststellung.

»Nein, wieso, ein netter Herr …«

»Evas nette Herren«, seufzte Carlo. »Eine ganz spezielle Kategorie …«

»Er war wirklich nett. Ich durfte mich den ganzen Flug über an seiner Schulter ausruhen.«

»Und wie hat er sich beschäftigt die neun Stunden über, mit deiner süßen Last am Leib?«

»Er hat mir die Decke aufgehoben, wenn sie runtergefallen war, und mir bei ein paar hochprozentigen Drinks von seiner unglücklichen Ehe erzählt.«

»Ach, stimmt, die genaue Bezeichnung der Kategorie lautet: ›Die netten Herren, die Eva von ihren unglücklichen Ehen berichten.‹«

Carlo nahm mich fest in die Arme, liebevoll, männlich, von dem unschönen Gedanken, selbst auch zu dieser niederen Kategorie zu zählen, noch nicht einmal gestreift. Und natürlich gehört er auch nicht dazu, ganz und gar nicht. Von seiner Ehe erzählt mir Carlo gar nichts und gibt mir so auch nie die Gelegenheit zu beurteilen, wie glücklich oder unglücklich sie ist. Nicht dass mich das interessieren würde, nebenbei bemerkt.

Er schob den Gepäckwagen zu seinem Auto und lud meine Sachen ein, ein dreiteiliges Kofferset, dunkelblau, frisch in New York gekauft: Trolley, Reisetasche und Beautycase, schon beeindruckend, wie durchdacht die Fächer aufgeteilt sind. Meiner Mutter würde das Set gefallen. Tatsächlich habe ich beim Kauf auch gedacht: Das ist eine Farbe, die ihr besser steht als mir, vielleicht bringe ich ihr die Teile übermorgen zum Osterfestessen mit. So stand ich also da, mit der Notebooktasche über der Schulter – die gebe ich nie aus der Hand, an niemanden –, und sah Carlo zu.

Ich mag es, wenn ein Mann für mich körperliche Arbeit verrichtet, die Muskelkraft erfordert. Koffer anheben und in den Wagen wuchten zum Beispiel. Ich genoss den Moment und wandte schließlich den Blick von Carlo ab, damit er nicht dachte, ich wolle ihm Beine machen. Auf dem Gehweg kam mir ein Mann entgegen, der auf ein Taxi zuhielt, ein wenig jünger als ich, in einem neuen stahlgrauen Nadelstreifenanzug, dem Handkoffer nach ein Geschäftsmann, der zu einem Termin flog. Ein Deutscher, aber nicht aus Bayern, eher aus Norddeutschland, Hamburg vielleicht oder Hannover. Als sich unsere Blicke kreuzten, weiteten sich seine Pupillen, und sein Gesicht verzog sich zu der Miene, die ich lange schon von Männern kenne, denen ich in die Augen schaue, jener unverwechselbaren Mischung aus Gier und Sehnsucht. Das Verlangen lässt sie kühn werden, aber auch verwundbar, und es gibt mir Macht. Jedenfalls wird ihre Mutter diesen Blick noch nie bei ihnen gesehen haben – das ist zumindest zu hoffen.

Mit einem dumpfen Schlag knallte Carlo den Kofferraum zu und setzte sich dann ans Steuer. Ich öffnete die Beifahrertür, und während ich Platz nahm und die Beine übereinanderschlug, hob ich wieder den Blick zu dem Geschäftsmann aus Hamburg oder Hannover, der nun gerade an mir vorüberging. Angelächelt habe ich ihn nicht, aber ein klein wenig mit den Augen gezwinkert, wie man es von dreizehnjährigen Models kennt, wenn sie ihren Blick eindringlicher wirken lassen wollen. Dann zog ich die Tür zu, und Carlo ließ den Motor an.

Ich bin nicht schön. Attraktiv schon, aber nichts Besonderes, und blonde Frauen, die ein wenig größer sind als der Durchschnitt, gibt es zuhauf.

Und jung bin ich auch nicht mehr. Wenn ich mich so umschaue, sehe ich sehr viele junge, attraktive Mädchen, deren Mutter ich sein könnte, mit knackigeren Körpern, glatteren Gesichtern und einer Ausstrahlung von Unschuld, die Wünsche weckt. Und doch schauen mir die Männer immer noch nach. Meine Mutter hat mir ihre Gesichtszüge vermacht, aber nur in einer oberflächlichen Version. Ihre hohen Wangenknochen, wie die einer russischen Adligen, sehen bei mir etwas gröber aus. Ihre vollen Lippen wirken bei ihr elegant, bei mir haben sie etwas Bäuerisches, etwas von frisch gemolkener Milch, Butter aus dem Fass. Ich habe ebenso schlanke Beine und volle Brüste wie sie, ihre Figur einer Nordeuropäerin, aber die Haltung – kein Vergleich. Gerda Huber hat ihr ganzes Leben an Herd und Schneidbrettern zugebracht, während ich Armani trage und mondäne Events organisiere. Und dennoch: Sie ist diejenige von uns beiden, die wie eine Königin wirkt.

Zwischen dem Münchner Flughafen und meinem Zuhause liegen drei Stunden Autofahrt und zwei Grenzen. Als junges Mädchen fand ich sie aufregend, diese doppelte Grenze gleich hinter der Haustür, denn so fühlte ich mich der weiten Welt, dem Neuen und Unbekannten nahe. Das war noch zu einer Zeit, als Schengen nicht mehr als ein Städtchen in Luxemburg war, von dem kaum jemand gehört hatte, und die europäischen Grenzen noch von Schlagbäumen und uniformierten Beamten mit strengen Mienen gesichert wurden, von Leuten, die keinen Spaß verstanden und einen zurückschicken oder gar festnehmen konnten. Der Brennerpass als Grenzstation fügte sich gut ins Bild: düster, bedrückend, mit einem höhlenartigen Bahnhof wie aus einem Agententhriller. Heute sind die Gefühle jener Zeit längst vergessen. Wenn man jetzt das enge Tor passiert, das Nordeuropa von Italien trennt, werden noch nicht einmal die Wagenpapiere kontrolliert.

Na ja, fast vergessen … Nach Sterzing/Vipiteno, kurz vor Franzensfeste/Fortezza fuhr Carlo an der Autobahnraststätte/Autogrill raus, und wir haben ein belegtes Brötchen/ panino gegessen. Als wir dann später die Autobahn/autostrada verließen, mussten wir an der Mautstelle/casello bezahlen. Das Ganze in seinem Volvo, der aus Schweden kommt, sodass hier zum Glück nichts zu übersetzen ist, weder ins Italienische noch ins Deutsche. Herzlich willkommen in Südtirol/Alto Adige, dem Reich der Zweisprachigkeit.

Hinter der Autobahn öffnete sich uns ein weites, helles Tal, das sogar jetzt noch freundlich wirkt, obwohl das erste Tauwetter die der Sonne zugewandten Bergrücken hat schlammig werden lassen und die noch verschneiten Almen bereits braune Flecken aufweisen. Auf den Hängen ringsum bilden Lärchen, Tannen und Birken dichte Wälder. Diese undurchdringliche Natur rahmt die von Arbeit geprägte Zivilisation gleichsam ein – die Höfe inmitten der weiten Wiesen und Weiden, die Brücken über den noch reißenden Fluss, die Kirchen mit den Zwiebeltürmen. Dies ist das Tal, in dem ich zur Welt gekommen bin.

Carlo fuhr mich nach Hause. Wir schliefen miteinander, auf die übliche Weise, mit den üblichen Abläufen. Elf Jahre Geheimniskrämerei haben den Vorteil, dass sich die Sexualität zwar wie in einer Ehe in eingespielten, vertrauten Bahnen bewegt, aber nicht zu einem selbstverständlichen Anspruch oder einer Pflicht entwickelt hat. Eben diese Mischung aus Gewohnheit und Unberechenbarkeit ist es, die mir entgegenkommt. Danach glätten sich die beiden waagerechten Linien zwischen Carlos Augenbrauen, nehmen weniger Schatten auf. Zum ersten Mal aufgefallen ist mir das schon vor elf Jahren, auf eben diesem Bett, und seitdem sehe ich es jedes Mal. Das ist genau die Macht, die ich über ihn habe, denke ich dann: Ich bin die Frau, die seine Stirn glättet, seine persönliche Faltencreme. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke, denn je älter er wird, desto mehr wird er mich brauchen.

Umschlungen lagen wir unter den Leintüchern. Weiß sind sie: Ich könnte es nicht ertragen, dass Farben meinen Schlaf stören, der ohnehin schon viel zu selten kommt. Carlo hatte sich auf die Seite gedreht, mich von hinten mit seinem ganzen Leib umfasst und an meinen Haaren geschnuppert.

»Weißt du was?«, sagte er. »Du bist zu viel unterwegs.«

Ich lächelte. Wenn er damit anfängt, weiß ich wieder, wie viel ihm an uns liegt. Als das Telefon klingelte, umfasste er mich noch enger. Geh nicht ran, sagten seine Arme. Ich ging nicht ran, und der Anrufbeantworter der Telekom schaltete sich ein.

»Risponde la segreteria telefonica …«, verkündete das Gerät auf Italienisch.

Eine junge, aufgeregte Stimme mit starkem römischem Akzent war zu hören.

»Jetzt, gleich geht sie ran, pass auf …«

Doch ungerührt fuhr der Anrufbeantworter, nun auf Deutsch fort:

»Hier spricht der Anrufbeantworter der Nummer null vier sieben vier …«

»Was ist das denn? Deutsch?«, hörte man eine zweite Stimme, ein wenig heiser, zwischen hohen und tiefen Tönen schwankend: vierzehn, fünfzehn Jahre, allerhöchstens. Wenn nicht noch jünger.

»Mann, wie lange dauert das denn?«

»… Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Signal.«

Nun begannen die beiden Burschen zu kichern, und die erste Stimme brüllte in den Hörer:

»Crucchi, crucchi …«

»Actùn, cartoffen, capùt …!«, stimmte nun auch der andere ein, bevor er plötzlich abbrach, weil er vor Lachen nicht mehr konnte. Mein Rücken eng an Carlos Bauch, seine Arme um meine Brust geschlungen, lagen wir da und hörten reglos zu.

»Haut doch ab nach Deutschland!«, rief der Erste, dann legten sie auf.

»Immer noch!«, stöhnte ich. »Hört das denn nie auf?«

Es gibt eine Szene in den Fernsehserien, die sich meine Mutter täglich nach dem Mittagessen anschaut. Man sieht sie immer wieder. Ein offenkundig verheirateter Mann steht vor dem Bett, in dem seine Geliebte halbnackt liegt, und bindet sich die Krawatte, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und verlässt das Zimmer, während sie auf dem zerwühlten Lager zurückbleibt und traurig auf die Tür starrt, die sich hinter ihm geschlossen hat. Häufig umklammert sie dabei ihre Beine und legt das Kinn auf die Knie, wobei das Leintuch aber immer sittsam ihre Blöße bedeckt. Kein einziges Mal in den elf Jahren ist es mir mit Carlo so ergangen. Auch wenn er in Eile ist, nimmt er sich, bevor er geht, immer die Zeit, vom Bett aufs Sofa zu wechseln oder auch in die Küche oder auf den Balkon, an einen Ort also, der nicht jener unserer Lust ist, um auch mir Gelegenheit zu geben, mich anzukleiden oder mir zumindest einen Morgenmantel überzuwerfen. Um noch gemeinsam einen Kaffee zu trinken, ein wenig zu plaudern, miteinander zu lachen.

Dieses Mal hat er mir beim Auspacken geholfen. Und die Kataloge der Ausstellungen, die ich in New York besuchte, haben wir auch noch gemeinsam durchgeschaut. Von Gerhard Richter im MoMA. Von einem jungen koreanischen Künstler in einer Galerie in Chelsea, der mit zweiundzwanzig seine Gemälde bereits an die Milliardäre der East Side verkauft. Von einer Ausstellung zur Holzschnitzkunst des Volkes der Dogon. Afrikanische Statuen sehe ich häufig in den Häusern meiner Kunden, nicht selten restaurierte Schlösser im Familienbesitz mit geschickten Ergänzungen aus Glas und Stahl: Die reichen Südtiroler haben viel übrig für Ethnokunst, sie gibt ihnen das Gefühl, Weltbürger zu sein.

Bevor er geht, sagt Carlo zu mir: »Wenn es dir recht ist, könnte ich nach Ostermontag noch mal drinnen kommen.«

»Ja, das wäre schön«, antworte ich.

Nein, keine Sorge: Wir haben nicht plötzlich beschlossen, gemeinsam ein Kind zu zeugen. Er hat nur gesagt, dass er von Bozen, wo er wohnt, nach den Feiertagen noch mal bei mir, in meinem Tal, vorbeikommen wird. Wer in Alto Adige lebt, übernimmt, selbst wenn venetisch-kalabresisches Blut in seinen Adern fließt, viele Ausdrücke aus dem Südtiroler Dialekt in seine Sprache. Man kommt nach drinnen, inni, wenn man in die Täler fährt, die nach aussi, draußen, abfallen, der Ebene zu und hinaus in die weite Welt.

Als ich im letzten Sommer zum Beispiel in Positano Urlaub machte, rief Carlo an und erzählte, dass seine Frau und seine Kinder auch in die Ferien gefahren seien und dass er Gelegenheit habe, von Bozen zu mir zu fliegen.

»Ich komme heute Abend dann draußen«, sagte er und meinte damit nur, dass er mich besuchen würde, und nicht etwa, dass er vorhabe, eine von der katholischen Kirche gebilligte Verhütungsmethode anzuwenden.

Und nun gibt mir Carlo zum Abschied einen Kuss (nicht auf die Stirn!), um dann nach Hause zu fahren. In sein Zuhause.

Natürlich kommt es vor, dass ich darauf angesprochen werde. Meistens ist es eine Sie, die glaubt, mir mitteilen zu müssen, dass ich ihr leidtue. »Wie hältst du das nur aus, so lange schon mit einem verheirateten Mann zusammen zu sein?«, werde ich gefragt. Und viele, fast alle, setzen hinzu: »Also, ich könnte das nicht, nie im Leben.«

Und jedes Mal brauche ich wieder einen Moment, um mich daran zu erinnern, dass manche Leute meine Situation unmöglich finden. Traurig, wenn nicht hoffnungslos. Ulli aber hätte mich das nie gefragt. Er wusste es: Es gibt nur einen einzigen Menschen, an den ich mich gebunden fühle, zu dem ich ganz gehören kann, ohne deshalb das Gefühl zu haben, in glitschigem Morast zu versinken, in Sümpfen, die ich nicht kenne. Er ist auch der einzige Mensch, den ich, falls es notwendig sein sollte, umsorgen und pflegen könnte, ohne mich deswegen wie eine Gefangene zu fühlen. Und dieser Mensch ist kein Mann.

Gegen sieben schaut noch Zhou vorbei, um mir Hallo zu sagen. Zehn Jahre, zwei Zöpfchen mit kleinen Plastikerdbeeren daran, ein wackelnder Backenzahn. Und Mandelaugen wie eine Chinesin, was sie ja auch ist. Und sie ist sehr gut in der Schule. Ihr Lieblingsfach: Geometrie.

»Ich hab Licht gesehen und mir gedacht, dass du wieder da bist«, begrüßt sie mich in ihrem venetischen Dialekt.

Nur ein paar Wochen habe ich sie nicht gesehen, aber sie anzuschauen, während sie redet, stürzt mich wieder in die gleiche Verwirrung wie ganz zu Anfang. Es ist, als sehe man einen Bruce-Lee-Film, der von einem Chor italienischer Gebirgsjäger synchronisiert wird.

Signor Song, ihr Vater, war Eigentümer einer Schuhfabrik in Shandong in Südchina, die er Ende der achtziger Jahre an einen Parteifunktionär verkaufte. Gesamterlös aus dem Verkauf der ganzen Anlage, also des Fabrikgebäudes, der Maschinen sowie der bereits lieferfertigen Waren: zwei gültige Reisepässe für die Ausreise, einen auf ihn selbst ausgestellt, den zweiten auf seine Frau. Als Andenken an China sowie seine dort einst sehr angesehene Familie konnte er nur eine hübsch verzierte Holzkiste mitbringen, die alles Notwendige für die Aufzucht von Kampfgrillen enthält, eine Art Volkssport in der Provinz Shandong, den sein Vater mit Leidenschaft betrieb.

Über Umwege gelangten die Songs nach Italien, zunächst nach Triest, dann nach Padua, wo ihre drei Kinder zur Welt kamen, und schließlich nach Südtirol. Hier wohnte Signor Song, als man ihn anlässlich der Volkszählung im Jahr 2001 aufforderte, eines der drei Felder auf dem Fragebogen anzukreuzen: Italienisch, Deutsch oder Ladinisch. Eine andere Möglichkeit war nicht vorgesehen, nur diese drei Volksgruppen werden in Südtirol anerkannt. Auch um in den Genuss der Vergünstigungen dieser italienischen Region mit dem Sonderstatus zu kommen, hatte er ein Formular auszufüllen und zu unterschreiben, in dem nach seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgruppe gefragt wurde. Überschrieben war das Formblatt auf Deutsch mit dem Wortungetüm: Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung.

Signor Song, so hat er es mir selbst erzählt, betrachtete lange dieses Wort. Sechsunddreißig Buchstaben. Elf Silben.

Obwohl in vielen Sprachen zu Hause (Italienisch, Englisch, Mandarin und mittlerweile auch ein wenig Deutsch), ist seine Muttersprache der Dialekt von Shandong: eine tonale, vor allem aber einsilbige Sprache. Zum ersten und vielleicht auch einzigen Mal in seinem Leben ließ er die pragmatischen Aspekte dieses Problems außer Acht und reagierte aus dem Bauch heraus: Niemals würde er sich zum Sprecher einer Sprache erklären, die es schafft, aus sechsunddreißig Buchstaben und elf Silben nur ein einziges Wort zu bilden. Kurz erwog er dagegen die Möglichkeit, »Ladiner« anzukreuzen: Von diesem abgeschieden lebenden Völkchen wusste er wenig, doch flößte es ihm eine vage Sympathie ein. Allerdings hatte er nicht vor, ins Grödnertal oder ins Gardertal zu ziehen, den einzigen Gebieten, wo dieses Sprachbekenntnis ihm deutliche Vorteile gebracht hätte.

Und so ist Zhou heute, ebenso wie ihre Eltern und ihre größeren Geschwister, in jeder Hinsicht eine Angehörige der italienischen Volksgruppe. Plappernd, mit ihrem Akzent wie aus einer Osteria in Padua oder Triest, leistet sie mir Gesellschaft, während ich noch den Rest aus meinen Koffern auspacke. Als es Zeit fürs Abendessen wird, verschwindet sie wieder.

Auf meinem Bücherschrank stehen, in hellen Holzrahmen, zwei Fotos. Das eine zeigt einen Jungen mit auffallend langen Wimpern wie ein Reh und einem Lächeln, das um Verzeihung zu bitten scheint: Das ist Ulli. Das andere ist schwarz-weiß und ein wenig vergilbt. Ein zehnjähriges Mädchen sieht man da zwischen zwei nur wenig älteren Buben – Vettern oder noch entfernteren Verwandten, ich weiß es nicht genau. Es zeigt sie, ein wenig im Gegenlicht, auf einer sonnenbeschienenen Alm, wo sie die Kühe hüten, die hinter ihnen zu sehen sind. Das Mädchen trägt ein Kleidchen, das sicher schon mehrmals weitergegeben wurde, und darunter schauen ihre ein wenig verdreckten nackten Beine hervor. Zwischen ihren Zehen sprießen einige Grashalme sowie eine Margerite. Sie blickt dem Fotografen direkt in die Augen. Die anderen nicht: Die beiden Buben starren sie an, verstohlen, mit offenem Mund, im Blick die Ehrfurcht und Fassungslosigkeit derer, die ein Naturwunder bestaunen.

Meine Mutter, als kleines Mädchen.

Sinnlos, einschlafen zu wollen, nach einem Zeitsprung von sechs Stunden, dazu noch in die falsche Richtung. Ich bin gar nicht ins Bett gegangen und habe stattdessen aufgeräumt. Jetzt öffne ich das Fenster und schaue in die tiefe Nacht hinaus.

Obwohl es April ist, riecht die Luft noch nach Schnee. Doch die Lärchen erwachen bereits, das Harz steigt schon aus den finsteren Tiefen der Stämme und beginnt seine öligen Essenzen in der Luft zu verteilen. Ich atme tief ein und aus. In schlaflosen Nächten wird mir immer wieder klar, wie schön es ist, an einem Ort zu Hause zu sein, wo es gut riecht. Eingebettet in bläuliches Licht, blinken die Sterne und versprechen für morgen einen schönen, wenngleich kühlen Tag.

Am Berghang vor meinem Balkon bewegen sich die Lichter der Schneeraupen die ganze Nacht über auf und ab wie kleine Raumschiffe, brav in einer Reihe. Mit dem Fortschreiten des Frühjahrs wird ihre Aufgabe, den Skifahrern bis zum Ende der Saison verschneite Pisten bereitzustellen, undankbarer. Immer schneller schmilzt der Schnee, und er fällt kaum noch nach. An wie viele Dinge könnte ich denken, wenn ich den am Hang hoch- und runterkletternden Lichtern zusehe: an das warme Führerhaus von Marlene, der Schneeraupe mit dem Frauennamen, in dem man es auch in eisigen Winternächten gut aushalten konnte; an unsere leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um die bessere Musik, Ullis Simply Red gegen meine Eurythmics, über eine Stereoanlage ausgetragen, die er selbst im Führerhaus installiert hatte; an den seltsamen, schwarz-weiß gestreiften Stoff, mit dem die Sitze verkleidet waren, als wäre Marlene ein texanischer Truck und diese Skipiste eine endlose Asphaltgerade im Monument Valley. An all das könnte ich denken. Aber ich tue es nicht. Zumindest nicht jede Nacht.

Oben auf dem Gipfel, in der klaren Luft über zweitausend Metern, genau unter dem Gürtel von Orion, strahlen die stets eingeschalteten Scheinwerfer der sogenannten Fabrik unerbittlich wie die einer Strafanstalt. Lange betrachte ich sie. Und wieder ein Gedanke, der mich selten streift: Eines Tages hätte sie mir gehören können, diese »Fabrik«, aber das wird nie geschehen.

Noch einmal hole ich tief Luft, bevor ich das Fenster schließe.

Als ich die erste Tasse Kaffee trinke, ist vom Morgengrauen noch nichts zu sehen. Müde bin ich nicht, aber was soll man morgens um sechs schon anderes zu sich nehmen? Diese Nacht kann ich vergessen, sage ich mir, es wird besser sein, wenn ich gar nicht mehr einzuschlafen versuche. Ich werde am Abend früh zu Bett gehen und dann morgen ausgeschlafen bei meiner Mutter erscheinen. Hoffe ich zumindest. Seit drei Tagen ist sie, wie ich weiß, mit Ruthi und weiteren Verwandten dabei, das Osterfestessen vorzubereiten. Schlutza, Tirtlan, Strauchln. Und dann Topfentaschen, Rollade und natürlich Grappa mit Preiselbeeren vom letzten Sommer. Natürlich will ich diese Köstlichkeiten angemessen würdigen, aber wenn ich keinen Schlaf finde, werde ich auch keinen Appetit mehr haben.

Immer noch schwarz zeichnet sich der Berg gegen den jetzt von einem fahlen Licht erhellten Himmel ab, während im Osten eine einzelne leuchtende, rosa-, fast orangefarbene Wolke hervorsticht. Die Schneeraupen ruhen mittlerweile in ihrem aus dem Fels geschlagenen Hangar. Die Fabrik strahlt immer noch, aber nicht mehr für lange. In zwei Stunden werden die zwischen den Stützpfeilern gespannten Drahtseile damit beginnen, sie den Berg hinaufzuziehen, die vielen Tausend Skifahrer pro Sekunde, die unser Tal braucht, um weiter so opulent leben zu können wie bisher. Ich an erster Stelle: ohne Fabrik keine Touristen, ohne Touristen keine Hotels, ohne Hotels kein Wohlstand, ohne Wohlstand keine Events, die zu organisieren wären. Und das hieße für mich: keine Reisen mehr, keine Prada-Schuhe, keine Vernissagen von jungen asiatischen Künstlern in Chelsea, keine Reisen nach Indonesien oder Yucatán. Selbst auf Männer wie Jack Radcliffe aus Bridgeport, Connecticut, müsste ich verzichten, mit ihren entgeisterten, glasigen Blicken und geplatzten erotischen Fantasien.

Gelobt sei die sogenannte Fabrik, die zufriedene Skifahrer zu unser aller Wohl produziert.

In die Decke gehüllt, die mir meine Mutter geschenkt hat, nippe ich an meinem Kaffee. Es ist eine Patchworkdecke, hergestellt aus Quadraten, die sie aus meinen alten Kinderpullovern zusammengenäht hat. Biedere Farben, die schlecht zueinander passen. Zeugnisse einer Zeit, in der man schon froh war, überhaupt etwas zum Anziehen zu haben, und kein Mensch an Ästhetik dachte: lodenblau, apfelrot, mausgrau, tannengrün. Ein orangefarbenes Quadrat (von welchem Pullover stammt das denn noch?) hebt sich besonders unschön von den anderen ab. Die Decke ist ein Fremdkörper in meinem elegant eingerichteten Haus, in dem alles auf pistaziengrüne und aquamarinfarbene Töne abgestimmt ist, und sie kratzt, als sei die Wolle noch nicht einmal gekämmt worden. Ich erinnere mich noch gut, wie diese Pullover an den Armen kratzten. Wie habe ich das nur ausgehalten? Kein Zufall, dass ich heute nur noch Mohair- und Kaschmirpullover trage.

Das Telefon klingelt.

In der Stille des Tagesanbruchs lässt mich der schrille Ton zusammenzucken, und fast hätte ich meinen Kaffee verschüttet. Im ersten Moment will ich rangehen, doch dann halte ich inne. Wer soll mich um diese Zeit denn anrufen? Da wird sich jemand verwählt haben. Ich lasse den Anrufbeantworter anspringen.

»Risponde il numero …/Hier spricht der Anrufbeantworter …«

Endlich ist Signorina Telecom/Fräulein Telekom mit ihrer fehlerlosen Hommage an die Zweisprachigkeit fertig, und ich warte auf eine Nachricht.

Ein langes Schweigen. Aber am anderen Ende der Leitung ist noch jemand dran, das meine ich wahrzunehmen. Dann, etwas deutlicher, das schwache Geräusch eines Atemzugs. Das darf doch nicht wahr sein, jetzt geht das schon so früh am Morgen mit diesen Belästigungen los. Vor der Schule noch. Entweder liegt es an der schlaflosen Nacht oder am Jetlag, jedenfalls packt mich die Wut. Mit einem Ruck nehme ich den Hörer ab.

»Jetzt reicht’s aber! Lasst mich endlich in Ruhe.«

»Eva …, bist du das?«

Eine Männerstimme. Nicht mehr jung. Erschöpft oder krank. Vielleicht beides. Ich bin verwirrt.

»Wer ist da?«

Eine Pause.

»Sisiduzza … Darf ich dich noch so nennen?«

Ich starre auf das orangefarbene, herausstechende Quadrat der Decke. Ich muss meine Mutter wirklich mal fragen, woher die Wolle stammt. Vielleicht gar nicht von einem meiner Pullover, sondern von Ruthi.

»Das kann nicht wahr sein …«, murmele ich.

»Doch, ich bin es wirklich, Vito.«

Ich hebe den Blick. Die Sonne ist aufgegangen und taucht meinen Kelim in ein goldenes Licht.

Wehe den Töchtern liebloser Väter: Ihr Schicksal ist es, ungeliebt zu bleiben. Nur einmal in ihrem Leben konnte sich meine Mutter Gerda der Liebe eines Mannes gewiss sein – und ich der eines Vaters. All die anderen kamen und gingen wie Wolkenbrüche im Sommer: Wir haben uns schlammige Schuhe geholt, aber die Wiesen sind trocken geblieben. Mit Vito hingegen war es etwas anderes. Das war echt. Für sie und für mich war seine Gegenwart wie ein langer Regen im Juni, der das Gras wachsen lässt und die Quellen speist. Und doch hat uns, danach und für immer, die Trockenheit nicht verschont.

Ihm bleibe nicht mehr viel Zeit zu leben, sagte Vito mit angestrengter Stimme.

Und fügte hinzu: »Ich möchte dich gern noch einmal sehen.«

Wenige Stunden später bin ich schon auf dem Weg, Richtung Süden. Ich fahre zu ihm.

1925–1961

»Vofluicht no amol!«, machte sich Hermann mit lauter Stimme Luft. »Vofluichtes Scheisszoig!«

Ihm war der Korb umgefallen, den er für einen Bauern zum Markt transportieren sollte, und Graukäse-Laibe in den verschiedensten Formen waren über den Boden gerollt.

Weder ›Maledizione!‹ noch ›Caspita!‹ hatte er geflucht, wie es die nun geltenden faschistischen Gesetze, nach denen in der Öffentlichkeit nur noch die italienische Sprache verwendet werden sollte, eigentlich vorschrieben. Und erst recht nicht ›Ostia!‹ (Hostie), was zwar nicht illegal, weil italischer Herkunft, aber Gotteslästerung gewesen wäre. Nein, auf Deutsch hatte er geflucht. Oder genauer, im Dialekt. Nun kam aber gerade ein Beamter des Katasteramtes vorüber, hörte Hermann und fühlte sich aufgefordert, die römische Kultur Südtirols oder besser des Alto Adige zu verteidigen, schlug ihm mit der tintenbefleckten flachen Hand mitten ins Gesicht und riss ihm die blaue Arbeitsschürze, den Tiroler Bauernschurz, vom Leib.

Kein Deutsch in der Öffentlichkeit, keine Tiroler Trachten, keine Dirndl oder Lederhosen: Alles, was daran hätte zweifeln lassen können, dass der heilige italische Boden bis zum Brenner, der neuen Staatsgrenze, reichte, musste verschwinden. So bestimmten es die Gesetze des faschistischen Italien. Und keiner der Bauern und Knechte auf dem Markt hob den Blick oder sprang Hermann gar bei.

Doch trotz der Ohrfeige und der Demütigung, oder vielleicht auch gerade deswegen, sah man nicht lange darauf an Hermanns Hemdkragen das cimice, Wanze, genannte faschistische Parteiabzeichen mit dem Rutenbündel blitzen, was man im örtlichen Parteibüro mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Er bekam eine Arbeit, lernte Lastwagenfahren und war nun für den Holztransport zwischen den Tälern zuständig. Und dabei drückte man auch ein Auge zu, wenn er sich mit den Waldarbeitern auf Deutsch unterhielt. Denn so weit oben, zwischen den gottverlassenen Felswänden und Steilhängen, würde sie noch nicht einmal der Duce hören können.

Einige Jahre waren vergangen, als Hermann eines Tages auf der Hauptstraße der Provinzstadt eine Schar Goldfasane erblickte: So nannte man die von der SA. Ihre Blicke waren scharf wie Klingen, darauf ausgerichtet, alles, was ihnen beim Aufbau des glorreichen Tausendjährigen Reiches im Weg war, niederzustrecken. Wie sie da entlangmarschierten in ihren tadellosen Uniformen, aufrecht, arisch, grenzenlos deutsch, fand Hermann sie so schön wie Halbgötter.

Und er beschloss, einer von ihnen zu werden.

Vielleicht verlor Hermann den Rest von Liebe eben in dem Moment, da er sich vormachte, sie gefunden zu haben, genauer, als er Johanna sah, ein achtzehnjähriges Mädchen mit schwarzen Haaren, blass und dünn, das nie den Mund aufmachte und mit gesenkten Kopf herumlief, so als wünsche sie nur, dass die Welt keine Notiz von ihr nahm. Mit einer Frau zu leben, die sich mit jeder Geste für ihr bloßes Dasein zu entschuldigen schien, würde ihn vielleicht die Scham und Ohnmacht seiner Jugend, seine Wut und Einsamkeit vergessen lassen: Das spürte Hermann, auch wenn er es natürlich so nicht hätte sagen können. Obwohl er dieses Mädchen nicht liebte, hielt er um ihre Hand an. Johanna ihrerseits erkannte sogleich die Kälte in seinen hellen Augen. Allerdings glaubte sie auch, dort die Spuren einer verschütteten Zärtlichkeit zu entdecken, und machte sich vor, dass in diesem großgewachsenen Mann mit dem hölzernen Gang eine nur ihr zugedachte tiefere Leidenschaft steckte. Das stimmte jedoch nicht, vielleicht hätte es so sein können, aber so war es nicht. Jedenfalls heiratete sie ihn.

Ihr erstes Kind, Peter, kam mit dem verschlossenen Charakter seines Vaters und den dunklen Augen seiner Mutter zur Welt. Er war drei Jahre alt, als Hermann ihn auf seine knöchernen Schultern setzte und sich mit ihm unter die Menschenmenge mischte, die sich an einer Kreuzung der Staatsstraße zusammendrängte. Dort oben kam sich der Junge groß und bedeutend vor, fast so wichtig wie der Kronprinz Umberto, der als Ehrengast zur Denkmaleinweihung gekommen war. Dieses Monument zu Ehren der italienischen Gebirgsjäger, der Alpini, war vom Bürgermeister vehement gefordert worden. Noch war die Statue mit einem weißen Tuch umhüllt, das der Sommerwind hob und senkte: Peter erschien sie wie ein riesengroßes Gespenst, nicht menschlich, aber doch lebendig, pulsierend. Nach den offiziellen Ansprachen und musikalischen Darbietungen der Kapelle glitt das Tuch mit einem lauten Rascheln zu Boden. Und was nun zum Vorschein kam, hatte gar nichts Verschwommenes mehr, war härtestes, fast stumpf wirkendes Material.

Ein Granit-Alpino mit gedrungenem Hals und italisch stämmigen Beinen blickte trotzig gen Norden, auf die vergletscherten Berge, wo seit nun schon zwanzig Jahren die neue Grenze verlief. Sein nicht eben feinsinnig wirkender Gesichtsausdruck symbolisierte die blinde, unerbittliche Gewalt, die das faschistische Italien gegen jeden entfesseln würde, der immer noch glaubte, dass Alto Adige nicht zu Rom gehöre. Diese Klarstellung war durchaus nicht überflüssig. Und zwar nicht nur, weil viele, gar zu viele Südtiroler immer noch nicht bereit waren, ihre römische Abstammung anzuerkennen. Nein, es gab auch noch einen aktuelleren Grund: Nur drei Monate zuvor war Hitler in Wien eingezogen und hatte den Anschluss Österreichs an sein Drittes Reich proklamiert. Und Österreich, das verlorene Mutterland, lag ja gleich dort drüben, jenseits der Gletscher.

Doch hier, so tat es dieser steinerne Alpino auf seinem Sockel kund, und so verkündeten es auch alle hohen Herren, die sich zu dem Anlass eingefunden hatten, hier war man in Italien.

Mussolini hatte eine feinmaschige Italianisierung Südtirols begonnen, wobei ihm aber bald schon klar geworden war, dass es, um diese Gegend »urrömisch, südländisch, imperial« werden zu lassen, nicht genügte, den Bauern zu verbieten, Deutsch zu sprechen oder ihre landestypischen Trachten zu tragen. Und es genügte auch nicht, die Schüler in der Schule statt ihrer Muttersprache das Gedicht vom pio bove, dem ›frommen Ochsen‹, lernen zu lassen. Die armen jungen Lehrerinnen aus Caserta, Agrigento oder Rovigo, die man in den hohen Norden geschickt hatte, verzweifelten immer wieder an ihrer undankbaren Aufgabe, diese jungen Bauerntölpel die musikalischen Klänge der italienischen Sprache hervorbringen zu lassen. Außerdem gab es in ganz Südtirol mutige Lehrkräfte, die in den sogenannten »Katakombenschulen« trotz des Verbots heimlich weiter Deutsch unterrichteten. Es hatte auch nicht viel genutzt, alle Ortsnamen zu italianisieren. Jetzt schauten die Menschen eben auf die Kirchtürme und sahen so, wo sie waren: War es ein Zwiebelturm, wussten sie, dass Völs vor ihnen lag, war der Turm spitz, befanden sie sich in Blumau. Und Fiè, Prato Isarco und all die anderen Namen, die sich Ettore Tolomei in Mussolinis Auftrag hatte einfallen lassen, wurden außer von den Ämtern von niemandem verwendet.

Nein, wollte man dieses wunderschöne Land mit den hohen Bergen tatsächlich romanisieren, gab es nur eine Lösung: Allein Italiener durften dort noch leben. Und dazu reichte es nicht aus, wie bisher den Zustrom von Einwanderern aus anderen italienischen Regionen anzukurbeln und zu fördern, in der Hoffnung, dass die deutschsprachigen Südtiroler auf diese Weise mit der Zeit immer mehr zur Minderheit in ihrem eigenen Land würden. Nein, sie mussten wirklich fortziehen.

Hitler griff die Idee begeistert auf. Schließlich zählte es zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, Völker zu »säubern«, indem er große Menschenmengen auf der Landkarte hin und her schob (oder vernichten ließ). Und so versprach er Mussolini, alle Südtiroler, die weiterhin deutsch bleiben wollten, würden in Großdeutschland als Brüder reinster arischer Abstammung mit offenen Armen empfangen. Jeder würde einen neuen Hof von der Größe des südlich des Brenners zurückgelassenen erhalten, Wiesen und Weiden von der gleichen Ausdehnung sowie Kühe nicht nur in der gleichen Anzahl, sondern, so behauptete die Propaganda, auch mit einem Fell in den gleichen Farben wie die Tiere, die in den Ställen ihrer Vorfahren zurückbleiben würden. Sudetenland, Galizien, Steiermark und sogar Burgund, weiter noch die endlosen Gebiete, die man den dort ansässigen slawischen Völkern abnehmen würde: die Tatra in Polen, die weite Puszta in Ungarn, bald schon auch die fruchtbare Krim. Wer Südtirol verlasse, werde fette Böden vorfinden, die nur darauf warteten, von männlich-deutscher Arbeitskraft kultiviert und so zu einem Paradies auf Erden zu werden.

Mussolini seinerseits drohte den »Dableibern«, wie sie genannt wurden, mit gewaltsamer Italianisierung: dem absoluten Verbot, Deutsch zu sprechen, selbst in den eigenen vier Wänden. Er kündigte Massendeportationen aller Südtiroler an, die sich weigerten, die italienischen, oder genauer »Römischen« (wie es großgeschrieben in den Flugblättern hieß), Sitten und Gebräuche anzunehmen – Deportationen etwa nach Sizilien, um Kaktusfeigen anzubauen, von denen kein Mensch wusste, was das für Früchte sein sollten. Die Alternative, vor die sie gestellt wurden, lautete nicht, zu gehen oder zu bleiben, sondern sich entweder zum Walschen oder zum Daitschen zu erklären, zum Italiener oder zum Deutschen. Auf italienischem Territorium deutsch zu bleiben war nicht möglich.

Fortziehen oder Dableiben wurde als freie Wahl hingestellt. Die Entscheidung zum Aufbruch aber, so verkündeten es die Flugblätter der Nationalsozialisten, würde belohnt werden als eindeutiger Beweis der Hingabe an die gewaltige Aufgabe, Großdeutschland zu schaffen. Wer seine Heimat liebe, müsse bereit sein, sie zu verlassen, um sie anderswo im Tausendjährigen Reich identisch wieder aufzubauen. Zu bleiben aber sei ein untrügliches Zeichen von Verrat, von Feigheit, von Ungehorsam gegenüber der nationalsozialistischen Idee.

So sah die Wahl aus oder genauer, die »Option«.

Kein Bauer ließ seinen Hof gern zurück, doch da sie sich als Daitsche fühlten, beschloss die große Mehrheit, sich auf den Weg zu machen. Sie »optierten«, wie es genannt wurde. Doch immer noch gab es zu viele Bauern, die sich Fragen stellten, flüsternd, abends im Schlafzimmer mit der Ehefrau: Würden sie die Weiden, die ihr Urgroßvater hundert Jahre zuvor mit Säge und Axt gerodet hatte, jemals wiedersehen? Und diese Gebiete, wo sie Kühe von der gleichen Farbe wie hier erwarteten, Höfe von der gleicher Ausdehnung, Bäume in derselben Anzahl, waren die eigentlich unbewohnt? Und wenn nicht, wohin würden dann die Bauern ziehen, die jetzt noch dort lebten?

Der Druck auf die »Dableiber« wurde zu organisierter Verfolgung, an der Hermann mit Feuereifer teilnahm. Mit dem Segen der faschistischen Parteileitung verkrüppelte er Zugpferde, tötete Wachhunde. Beschmierte mit seinen Exkrementen die Türpfosten jener Hofbesitzer, die nicht fortzuziehen gewillt waren. Wenn er sich danach in einem Bach die Hände wusch, fühlte er sich erfüllt von einer Kraft, wie er sie noch nie erlebt hatte. In diesen Momenten waren die Scham und Verlassenheit des jungen Knechtes, der sich in der Eiseskälte vollgepinkelt hatte, fast vergessen.

Es gab da einen alten Bauern, der seit vielen Jahren Witwer und kinderlos geblieben war. Er hatte sich niemals weiter als ein paar Kilometer von der Stube entfernt, in der er geboren worden war und in der er auch jetzt noch lebte. Nicht einmal damals, während des Großen Krieges, denn er war auf einem Auge blind zur Welt gekommen und hatte nicht Soldat werden können. Zwei Kühe besaß er, Lissi und Lotte, die er nicht in andere Hände geben wollte: denn sie waren sozusagen seine Familie. Kurzum, der alte Mann konnte sich nicht dazu durchringen, das Optionsformular zu unterzeichnen. Da trat Hermann in Aktion. Mit zwei Kameraden steckte er seinen Stall in Brand. Die ganze Nacht lief der alte Mann mit einem kleinen Wassereimer hin und her und versuchte, während ihm aus dem gesunden Auge die Tränen liefen, das Feuer zu löschen. Als würden zwei riesige Säuglinge schreien, so klang das Muhen von Lissi und Lotte, die in den Flammen gefangen waren. Sie verstummten erst, als das lodernde Stalldach auf sie hinabstürzte und sich in der Luft neben Rauch und Asche der Geruch von gegrilltem Steak ausbreitete. Da sank der Alte zu Boden und stand nie wieder auf.

Auch an der Aktion gegen Sepp Schwingshackl nahm Hermann teil. Sein früherer Schulkamerad war der gottlosen Faszination, die der Führer auf so viele seiner Landsleute ausübte, nie erlegen, und die ruhige Entschlossenheit, mit der er erklärt hatte, dass er seinen Hof nicht verlassen würde, machte ihn zu einem sehr gefährlichen »Dableiber«. Jedenfalls befahl der Gauleiter Hermann und noch zwei anderen, ihm einen Denkzettel zu verpassen – wie gesalzen er sein sollte, könnten sie selbst entscheiden. Und obwohl sie beide, Sepp und er, als Kinder jeden Morgen den Weg zur Schule gemeinsam zurückgelegt hatten und Sepp ihm jedes Mal, wenn ihm der Laster voll Holz liegengeblieben war, geholfen hatte, machte Hermann sich jetzt auf den Weg zu ihm.

Sepp überlebte den Überfall. Zurück blieben aber ein Zittern in den Händen, eine leichte Taubheit und eine weißliche Narbe auf der Stirn, die seine Augenbraue etwas hob zu einem Ausdruck des Erstaunens, als habe sich die Fassungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass der alte Freund aus Kindertagen sein Gesicht mit Tritten bearbeitete, dort für immer eingegraben.

Eine jubelnde Menge begleitete den Aufbruch der ersten »Optanten«, jener Pioniere einer neuen Heimat. Hellblonde Kinder (ihrer Haarfarbe wegen ausgewählt) bekränzten die Köpfe der Aufbrechenden mit Margeritenkronen. Das Rot, Schwarz und Weiß der Hakenkreuzfahnen stach ab von dem tiefen Blau des Himmels, dem Schneeweiß der Gletscher und dem herbstlichen Goldgelb der Lärchen: ein fantastisches Bild, wie alle betonten. Als Hermann Huber mit seiner Familie den Zug bestieg, war sein Sohn Peter vier Jahre alt, und seine Frau Johanna war mit der Tochter Annemarie schwanger. Wie es sich für einen wahren Nationalsozialisten geziemte, wollte Hermann ein Beispiel geben und gehörte zu den Ersten, die sich auf den Weg machten.

Und er war auch einer der Letzten. Einige Monate später trat Italien in den Krieg ein, und die Umsiedlung der Optanten wurde eingestellt, obwohl sich die meisten Südtiroler dafür entschieden hatten. Wer nun aufbrach, waren die jungen Männer, die man einberufen hatte, um an der Front zu kämpfen. Ein Paradies auf deutschem Boden, einen daitschn Himml, zu schaffen, daran dachte jetzt niemand mehr.

Als der Krieg aus war, kehrte die Familie Huber ins Tal zurück. Niemand, noch nicht einmal die »Dableiber«, waren neugierig zu erfahren, wo sie gewesen waren. An welcher Front Hermann gekämpft hatte, in welcher Division der Wehrmacht, ob er in die SS eingetreten war, ob er auch viele Zivilisten ermordet oder nur bewaffnete Gleichaltrige in Uniform getötet hatte, feindliche Soldaten, die umzubringen ja moralisch sauber war: Niemand fragte ihn danach. Und vor allen Dingen wollte niemand wissen, wie das denn nun mit dem Himmel auf Erden im Gelobten Land des Führers ausgesehen habe.

Auf dem Soldatenfriedhof in der Hauptstadt des Tales standen nun einfache Holzkreuze inmitten turmhoher Lärchen: ein kleiner Wald für die Toten, umgeben von einem größeren Wald mit echten Bäumen. Auf den Kreuzen das Datum und der Ort, wo sie gefallen waren. Genaue Angaben: Woroschilowgrad, Aletschenka, Jesowjetowska, Triest, Cassino, Pojablie, Vermuiza. Oder allgemeiner: Kaukasus, Finnland, Normandie, Montenegro. Hin und wieder war auch nur der Kontinent angegeben: Afrika. Oder die Himmelsrichtung: im Osten.

Viele Kreuze wurden mit Fotos versehen: untadelige junge Männer in gebügelten Uniformen, mit künstlichen Posen, der Blick bei fast keinem direkt geradeaus gerichtet, sondern eher in die Höhe oder zur Seite. Unmöglich zu sagen, ob der hier verewigte Ausdruck ihrer Augen zu ihrer Rolle bei dem erdumspannenden Gemetzel passte. Vielleicht hatte dieser verträumt dreinblickende achtzehnjährige Bursche eine schwangere Frau mit einer MG-Garbe niedergemäht. Vielleicht hatte dieser SS-Unterscharführer mit den eiskalten Augen sich einem Gefangenen gegenüber barmherzig gezeigt. Viele waren wohl beides gewesen: brutal und menschlich. Aber das wollte niemand mehr wissen. Es waren die Söhne, die Väter und Brüder derer, die jetzt die zerstörten Häuser wiederaufbauten. Niemand fragte danach, ob sie als bescheidene Helden, als Feiglinge oder als Peiniger gestorben waren.

»Optanten« und »Dableiber«, die Feinde von einst, fanden sich in dem Wunsch vereint, das, was vorgefallen war, nicht allzu genau zu benennen. Nazi, Kollaborateur, Denunziant, Kriegsverbrecher, Konzentrationslagerführer: Dies waren keine Bezeichnungen, sondern Blindgänger, um die herum man sich nur auf Zehenspitzen bewegen durfte, damit es nicht zur fürchterlichsten Explosion kam, der der Wahrheit. Zu hoch waren die Trümmerberge, die noch fortzuräumen waren, zu groß der Hunger, zu zahlreich die Toten, um die getrauert wurde. Selbst den granitenen Alpino mit seiner Miene dümmlicher Entschlossenheit hatten die Bomben der Alliierten vom Sockel geholt. Nein, es war sinnlos, zurückzuschauen und von irgendjemandem Rechenschaft zu verlangen. Auch von Hermann nicht.

Dies war die Abmachung, sie wurde nicht ausgesprochen, aber alle hielten sich daran.

In dem Haus, in dem die Familie Huber vor dem Krieg gelebt hatte, wohnte nun Alberto Ruotolo, ein Eisenbahner. Wie Tausende andere Einwanderer war auch er Mussolinis Aufforderung gefolgt und hatte sein Viertel Vomero in Neapel verlassen, um Südtirol zu italianisieren. Und auch der neue Staat, die Republik Italien, brauchte ihn sowie das gesamte faschistische Beamtentum weiterhin, um die Infrastruktur des Landes aufrechtzuerhalten. So kam es, dass aus den Fenstern des Hauses, in dem Hermann seinen ersten Sohn gezeugt hatte, nun nicht nur die Gerüche von Tomatensoße drangen, sondern auch eigenartige Laute, wenn Ruotolos beleibte Frau die Kinder zum Essen herbeirief und aus voller Kehle Salven endbetonter Worte abfeuerte: ›Pepè! Ueuè! Totò!‹, so klang ihr neapolitanischer Dialekt in den Ohren der Südtiroler.

Die Ruotolos blieben also in diesem Haus wohnen, und die Hubers hatten keine andere Wahl, als nach Schanghai zu ziehen. So nannte man, durchaus nicht wohlwollend gemeint, jene Ansammlung von Häusern an einem Hang im Schatten der mittelalterlichen Burg, die man jenen Familien zugewiesen hatte, welche nach dem Krieg zurückgekehrt waren, um wieder hier zu leben: »Rücksiedler«, dies war nun das schlimmste Schimpfwort, für die Hubers und die anderen heimgekehrten »Optanten«. Denn plötzlich schienen die Südtiroler vergessen zu haben, dass sie zur Zeit der Option fast alle bereit gewesen waren, nach Deutschland zu ziehen, und nur deshalb hier ausgeharrt hatten, weil der Krieg ausgebrochen war, und dass für die eigentlichen »Dableiber«, die sich gewehrt hatten, damals niemand eine Hand gerührt hatte. Aber die vielen, die auf dem orangefarbenen Formular das ›Ja‹ angekreuzt hatten, nannten nun die wenigen, die tatsächlich fortgezogen waren, »Heimatverräter«. Und für dieselben Leute, die bei der Verabschiedung von Hermanns Familie Hakenkreuzfahnen geschwenkt hatten, war er nun ein elender Schurke. Hermann nahm es hin, aber der dumpfe Druck, der ihm die Brust einschnürte, seit er sich damals als elfjähriges Waisenkind vollgepinkelt hatte, wurde nun noch stärker.

Schanghai lag über einen Kilometer vom nächsten Laden entfernt und fast zwei vom Zentrum der Kleinstadt, deren Einwohner darauf bedacht waren, die »Rücksiedler« auf Abstand zu halten. Es war eine Ansammlung niedriger Häuser, die mit einem grauen Gemisch aus Zement und Kies verputzt waren. Hinter dem Berg, der sie überragte, verschwand im September die Sonne; sie tauchte erst im Mai wieder auf. Bei Gewittern ergossen sich die Wassermassen von der Provinzstraße bis in die Häuser hinein, und selbst im Sommer wollte die Wäsche einfach nicht trocken werden. Wer in Schanghai wohnte, galt als arbeitsscheu, unzuverlässig und kommunistisch.

Ein anderer Name für Schanghai war »Hungerburg« oder auch »Revolverviertel«, weil Polizisten, Gebirgsjäger und Carabinieri kamen und gingen. Als man Gerda Jahre später häufig in Begleitung eines Italieners in Uniform sah, sagte so mancher:

»Kein Wunder, wenn man in Schanghai aufgewachsen ist …«

Peter war elf Jahre alt und hatte keinen Freund. Seine Kindheit hatte er anderswo verbracht und sprach deshalb mit einem seltsamen bayerischen Akzent, denn so weit fort waren die Hubers gar nicht gewesen. Nun aber erlaubte es keine Mutter ihrem Sohn, zum Spielen zu ihm zu gehen – nach Schanghai. Die Klassenkameraden quälten ihn, und wenn er sich beklagte, meinten sie nur: »Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja wieder gehen. Keiner hat euch gebeten zurückzukommen.« Seine Schwester Annemarie war schon alt genug, um bei der Hausarbeit zu helfen, Gerda war noch ein Säugling. Während der letzten Bombenangriffe in München war ihrer Mutter Johanna die Milch weggeblieben. Doch Gerda lernte früh, mit nicht einmal vier Monaten, Knödel zu verdauen, und überlebte. Schon da war klar zu erkennen, dass sie ihrer Mutter nicht ähnelte.

Johanna war noch nicht alt: so um die dreißig, denn sie hatte schon mit achtzehn geheiratet. Hässlich war sie nun auch nicht, aber sie schien sich zu schämen, überhaupt auf der Welt zu sein. Vielleicht war der Krieg daran schuld, vielleicht auch die Tatsache, dass ihr Mann seit ihrer Rückkehr nicht mehr mit ihr sprach.

»Ostfront«, knurrte Hermann nur, wenn er doch einmal gefragt wurde, wo er gekämpft habe, und fügte kein Wort mehr hinzu.

Gerda wuchs heran; Peter und Annemarie hatten die dunklen Augen ihrer Mutter geerbt, während die ihren hellblau und länglich wie die ihres Vaters waren, und sie hatte hohe, majestätisch wirkende Wangenknochen. Johanna hingegen wurde von Tag zu Tag krummer und sah doppelt so alt aus, als sie tatsächlich war. Als stünde diesem Haus nur eine begrenzte Menge Lebenssaft zur Verfügung, und der sei nicht mehr der Mutter zugedacht, sondern allein noch der jüngsten Tochter. Und zu Gerda strömte er mit aller Macht.

Peter begann, immer mehr Zeit allein im Wald zu verbringen. Jeder seiner Schritte auf dem dicken Humusboden, den Milliarden von Lärchennadeln in Jahrtausenden aufgeschichtet hatten, hallte von den metertief abfallenden kahlen Felsen wie von einer Trommel wider. Diese sanften Schläge, während er mit geschärften Sinnen und mit der Steinschleuder in der Hand durch den Wald lief, waren für ihn der schönste Klang auf Erden. Hier fühlte er sich zu Hause, und Eichhörnchen und Füchse, Marder, Auerhähne und Elstern sah er als seine Gefährten. Natürlich lernte er, sie zu töten, aber zunächst lernte er, sie geduldig zu beobachten, stundenlang darauf zu lauern, dass sie sich zeigten. Er war ein hervorragender Schütze, und bald schon konnte er sich mit dem Geld, das ihm der Hutmacher für Felle und Federn zahlte, sein erstes Gewehr kaufen.

Obwohl sie damals noch sehr klein war, erinnerte sich Gerda ihr Leben lang an den Tag, als Peter seinen ersten Hirsch nach Hause brachte. Er hatte ihn sich auf die Schultern geladen und trug ihn um den Hals, indem er mit den Händen fast zärtlich seine Hufe hielt. Der Kopf des Hirsches aber baumelte an Peters Rücken hin und her, das Maul geöffnet, aus dem die Zunge heraushing: eine blutige Version des Guten Hirten. Gerda war fasziniert von dem Kontrast zwischen der bereits leblosen Materie der trüben Augen und dem sich noch so weich anfühlenden Fell. Lange Zeit wurde sie den süßlichen Geruch des Blutes nicht mehr los, der ihr in die Nase gestiegen war, als Peter den Hirsch häutete, und auch nicht den von Tierfett und -sehnen aus dem größten Topf, den Johanna besaß, über dessen Rand das lange elegante Geweih hervorschaute. Hätte Gerda nicht zuvor mit eigenen Augen gesehen, wie Peter mit einem sauberen Schnitt den Kopf des Tieres vom Rumpf trennte, hätte sie fast glauben können, der ganze Hirsch spiele noch Verstecken in einem Topf, dessen Fassungsvermögen irgendein Zauber erweitert hatte.

Jedenfalls wurde der Schädel gekocht und sorgfältig entfleischt, denn Peter war sicher, einen ordentlichen Preis zu erzielen, wenn er ihn als Trophäe verkaufte.

Bevor die Optanten aufgebrochen waren, hatten sie auf die italienische Staatsbürgerschaft verzichtet, und nun fanden sich die »Rücksiedler« als Staatenlose wieder. Ohne Papiere, ohne Arbeit, ohne Respekt war die erste Zeit für die Familie Huber wie für die anderen Bewohner Schanghais besonders hart. Die Mutter des Zahnarztes im Städtchen, eine Baronin, bot Johanna eine Stelle als Bedienstete in ihrem Haus an, aber davon wollte Hermann nichts wissen: Solange er lebte, würde seine Frau nicht arbeiten gehen. Damit war es an Peter, die Familienkasse aufzubessern und mit zwölf Jahren eine Stelle im Sägewerk anzutreten. Als Annemarie damit anfing, die Treppe in der Schule zu putzen, war sie gerade mal zehn und damit jünger als die Schüler der letzten Klassen. Doch die Mühen waren nicht umsonst: Nachdem Hermann einige Jahre lang für andere Lastwagen gefahren war, hatte er genug zur Seite gelegt, um einen eigenen anzahlen zu können.

Drei Jahre waren seit dem Kriegsende vergangen, als die italienische Regierung mit einem gnädigen Federstrich alle Folgen der Option tilgte und die Rücksiedler, die es wünschten, wieder ihre italienische Staatsbürgerschaft erhielten. Der Hermann früherer Zeiten hätte sich niemals die Erleichterung vorstellen können, die er an jenem Tag empfand, als man ihm die Papiere aushändigte, die ihn und seine Familie erneut zu italienischen Staatsbürgern machten.

Nun gehörte auch Schanghai zum mittlerweile republikanischen Staat Italien.