Ewig - Wenn Liebe entflammt - Rhiannon Thomas - E-Book
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Ewig - Wenn Liebe entflammt E-Book

Rhiannon Thomas

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Beschreibung

Ein ganz neues Happy End für AuroraNach hundert Jahren Schlaf geweckt durch den Kuss eines Prinzen - Auroras Leben sollte eigentlich wie ein Märchen sein. Doch die Realität sieht anders aus: ein tyrannischer Herrscher hat sich des Thrones ihrer Familie bemächtigt und unterdrückt ihr Volk. Das darf nicht sein, beschließt Aurora. Um ihre Untertanen zu befreien, macht sie sich auf den Weg in das weit entfernte Königreich von Prinz Finnegan - der sie liebt und den sie hasst. Und der weit mehr über die Magie, die in Aurora schlummert, zu wissen scheint als sie selbst. Und vor allem über ihre rätselhafte Verbindung zu den Drachen, die das Königkreich von Prinz Finnegan seit Jahren bedrohen.Während Aurora, vom König zur Verräterin erklärt und von seinen Soldaten verfolgt, um ihr Leben fürchten muss, wird ihre magische Gabe immer stärker - genauso wie ihre Gewissheit: Sie wird nicht nur ihr Volk retten, sondern eines Tages auch den Fluch brechen, mit dem sie vor hundert Jahren bei ihrer Geburt belegt wurde. Ein Fluch, der ihr für immer jedes Glück und die große Liebe versagt. Aurora kämpft um ihr Leben, ihre Liebe und ihr Königreich.Mit romantischer Rosé-Veredelung: Der fulminante Abschluss des Zweiteilers.

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Seitenzahl: 422

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Rhiannon Thomas

Ewig

Wenn Liebe entflammt

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Inhalt

WidmungEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigDanksagung

Für Alex, BFF und Schreibkomplizin

Gesucht wegen Hochverrats und Verbrechen gegen das Königreich.

Für tausend Goldmünzen hätte selbst Aurora geglaubt, dass das lächelnde Mädchen auf dem Plakat eine Mörderin war.

Sie riss das Papier vom Baumstamm und knüllte es zusammen. Eine Woche lang war sie jetzt auf der Flucht und offensichtlich immer noch nicht weit genug gelaufen. Sogar diese kleine Siedlung am Rande des Waldes schien auf ihr Kommen vorbereitet.

Sie war so naiv gewesen zu glauben, sie könnte es schaffen. Ihre Fingernägel starrten von Schmutz, ihr Haar hing in filzigen Strähnen um ihre Schultern, und die Blasen an ihren Füßen waren blutverkrustet. Sie wusste nicht, wohin. Sie wusste nicht, wie man einen Unterschlupf baute oder Nahrung fand. Sie wusste nicht einmal, welchen Dialekt die Leute außerhalb der Hauptstadt sprachen, und würde überall herausstechen. Und zu allem Überfluss war das Königreich nun auch noch mit Fahndungsplakaten zugepflastert, die für ihre Ergreifung eine saftige Belohnung versprachen.

Aber Aurora musste ins Dorf gehen. Sie war noch nie zuvor so hungrig gewesen. Nie zuvor hatte sie hoffen müssen, im Wald auf einen Bach zu stoßen, um Wasser trinken zu können. Nie hatte sie überlegen müssen, ob eine bestimmte Beerensorte giftig war, und sich nie Sorgen gemacht, ob sie im Laufe des Tages noch etwas zu essen bekäme. Sie hatte sich nie darum geschert, woher ihre Mahlzeiten kamen, oder daran gezweifelt, dass sie welche haben würde, und hatte ihren Teller allzu oft unangerührt stehen lassen. All die guten Dinge, die weggeworfen worden waren … Sie brauchte dringend Nahrung, sonst würde sie es nicht sehr viel weiter schaffen, und dann würden die Soldaten des Königs sie so oder so erwischen.

Und außerdem, wer würde bei ihrem jetzigen Anblick schon vermuten, dass sie eine Prinzessin war?

Das Dorf lag ruhig im Morgengrauen. Ein paar Leute kamen die Straße entlang, aber sie waren noch so verschlafen oder so sehr mit ihren Besorgungen beschäftigt, dass sie Aurora im Vorübergehen kaum wahrnahmen.

Aurora roch frisch gebackenes Brot und folgte dem Duft, bis sie zu einem Laden kam, auf dessen Türschild das Bild einer goldenen Ähre prangte. Aurora schloss die Augen, sog tief Luft ein, und es schien ihr, als könnte sie den Geruch des Brots sogar schmecken. Wie zur Antwort krampfte ihr Magen sich schmerzvoll zusammen.

Sie blickte sich um. Keine Wachen oder Soldaten in Sicht. Sie würde es wagen müssen.

Als sie die Tür aufdrückte, erklang eine Glocke. Eine Frau mittleren Alters stand hinter dem Tresen und verteilte dampfende Brotlaibe auf bereitstehende Tabletts. »Willkommen, tretet ein«, sagte sie, ohne den Blick zu heben. »Bitte entschuldigt meinen Aufzug, heute ist einfach einer dieser Tage. Was kann ich für Euch tun?«

»Äh …« Aurora trat näher.

Die Frau sah sie an und verharrte in der Bewegung, ihre Hand mit dem Brot schwebte über dem Tablett.

Auch Aurora erstarrte. Sie spähte zur Tür, innerlich gewappnet, blitzschnell losrennen zu müssen.

»Du lieber Himmel, Mädchen«, sagte die Bäckersfrau. »Du siehst ja furchtbar aus. Was ist denn mit dir passiert?«

»Ach«, sagte Aurora. »Ich bin bloß auf Reisen.« Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie ihren eigenen geschliffenen, altmodischen Akzent hörte.

Die Frau schnalzte mit der Zunge. »Ist schon ein Jammer, wie viele Leute heutzutage auf Wanderschaft sind. Nicht genug zu essen, nicht genug Arbeit, und jeder meint, er müsse sein Glück woanders suchen. Für solche jungen Dinger wie dich ist es da draußen doch viel zu gefährlich!«

Aurora rückte noch näher an den Tresen heran. Das frische Brot duftete einfach unwiderstehlich. »Ich wollte Brot kaufen.«

»Ach herrje, natürlich. Verzeihung. Wenn ich könnte, würde ich dir ja eins schenken. Ehrlich. Aber wir haben’s auch schwer. Ich kann’s mir nicht leisten, großzügig zu sein.«

»Ist schon in Ordnung, danke«, sagte Aurora. »Ich habe Geld.« Sie griff in ihre Tasche und holte die Börse hervor, die Finnegan ihr gegeben hatte. Als die Bäckersfrau das Klimpern der Münzen hörte, machte sie große Augen. Aurora öffnete den kleinen Beutel, zum Schutz vor neugierigen Blicken dicht vor ihre Brust gepresst, und kramte ein paar Kupfertaler heraus. Dann zog sie die Schnur der Börse wieder zu.

Die Frau empfahl ihr eine Spezialität der Region, und Aurora nahm zwei Laibe. »Wenn du einen Schlafplatz suchst«, fügte die Bäckerin hinzu, während sie die Brote in eine Papiertüte schob, »solltest du es beim Roten Löwen am Ende der Straße versuchen. Das sind anständige Leute. Diskret, verstehst du?«

Auroras Finger schlossen sich fest um die Papiertüte. »Ich habe nichts zu verbergen«, sagte sie. »Aber vielen Dank für den Tipp.«

Die Ladenglocke bimmelte, und ein kleines Mädchen kam mit fliegenden Zöpfen hereingestürmt. »Mama!«, rief sie. »Mama! Da sind Soldaten!«

Soldaten. Aurora wirbelte so schnell herum, dass sie mit dem Hüftknochen gegen den Tresen stieß. Waren die Wachen ihr gefolgt? Oder war sie in der kurzen Zeit, in der sie hier im Dorf war, bereits von jemandem erkannt worden?

Der Blick der Frau wanderte verstohlen zu Aurora. »Woher weißt du das, Suzie? Was hast du gesehen?«

»Sie kommen aus dem Wald. Ich habe das Brot bei Mistress Jones abgeliefert, genau, wie du’s gesagt hast, und da sind die Soldaten ins Dorf reinmarschiert. Sie sind gerade dabei, alle aus ihren Häusern zu scheuchen.«

Die Bäckerin hielt kurz inne. »Das ist aber kein Grund, dass du aufhörst, die Ware auszuliefern, Suzie. Die Leute brauchen doch ihr Brot, egal, was passiert. Hopp, hopp, bring den nächsten Schwung zu den Masons. Und mach dir wegen der Soldaten keine Sorgen.«

»Aber …«

»Tu, was ich sage!«

Das Mädchen starrte seine Mutter mit offenem Mund an. Sie warf Aurora einen neugierigen Blick zu, dann nickte sie.

»Gut«, sagte sie. »Bin schon auf dem Weg. Ich wollte dir eben nur kurz Bescheid geben.« Mit einem letzten Blick zu Aurora flitzte sie durch die Ladentür hinaus.

»Vielen Dank für das Brot«, sagte Aurora und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Und das Wirtshaus, das Ihr erwähnt habt, schaue ich mir mal an.«

»Unsinn, Kindchen.« Die Bäckersfrau huschte um den Tresen herum. »Du musst machen, dass du wegkommst, wenn sie dich suchen.«

»Mich suchen?« Aurora rang die aufsteigende Panik nieder und zog die Stirn demonstrativ in Falten. Ob ihre Miene halbwegs verwirrt aussah? Doch die Bäckersfrau ließ sich nicht täuschen. Sie packte Aurora am Handgelenk und schob sie hinter den Tresen.

»Ab durch den Hinterausgang mit dir! Du willst keine Bekanntschaft mit den Soldaten machen. Hier entlang kommst du auf eine ruhigere Straße und bist schnell am Ende des Dorfes.«

Sie drängte Aurora in eine kleine Kammer. Säcke mit Mehl lehnten an einer der Wände, und auf einem Tisch in der Mitte standen Bleche, die vollbeladen waren mit rohem Teig. Die niedrige Decke wurde von zwei Holzpfeilern gestützt, an denen die Frau sich flink vorbeiwand, um zur Tür zu gelangen.

»Los, los, komm«, sagte sie. »Dich zu verstecken wär sinnlos. Sie werden alle Häuser auf den Kopf stellen, und wie willst du dann noch fliehen? Schnell, da raus.«

Es klopfte laut an der Hintertür. »Aufmachen!«, brüllte eine Männerstimme. »Befehl des Königs. Wir müssen das Haus durchsuchen.«

Die Bäckerin prallte erschrocken zurück, wobei sie Auroras Hand fest umklammert hielt. Hastig zog sie das Mädchen wieder Richtung Vordereingang, doch da bimmelte bereits die Glocke. Zwei Soldaten polterten herein. Als sie Aurora erblickten, blieben sie wie angewurzelt stehen und rissen die Augen auf. Sie hatten sie in der Gegend vermutet, aber natürlich nicht gewusst, dass sie ausgerechnet hier Glück haben würden. Hätte sie sich doch bloß rechtzeitig versteckt!

Die Soldaten zogen ihre Schwerter, und der eine rief laut nach Verstärkung. Aurora riss sich von der Bäckersfrau los und rannte zurück zum Hinterausgang. In dem Moment trat ein Soldat die Tür mit dem Stiefel auf, und drei Männer stürzten mit gezückten Waffen in die Kammer. Aurora zog den Dolch aus ihrer Tasche.

Wie töricht von ihr, anzunehmen, sie könnte einen Laden betreten, ohne sich damit in Gefahr zu bringen. Jetzt würden sie sie kriegen und in die Hauptstadt zurückschleifen, zurück zu König John mit seinem dröhnenden Lachen und den eiskalten Augen. Zurück zu einem qualvollen Tod auf dem Scheiterhaufen.

Der Soldat, der ihr am nächsten stand, streckte sich nach ihr aus. Sie duckte sich weg, während Panik und Trotz in ihr hochwallten, und plötzlich schossen Flammen über den Kammerboden. Der Umhang des Soldaten fing Feuer, und er riss ihn sich brüllend vom Körper. Die Leinensäcke gerieten in Brand, genau wie die Holzpfeiler mitten im Raum. Die Schreie der Bäckerin gellten in Auroras Ohren. Sie hatte das Gefühl, ihr ganzer Körper würde in Flammen stehen. Mit eingezogenem Kopf stürmte sie durch den nun freien Hinterausgang hinaus auf die offene Straße.

Jetzt eilten aus allen Richtungen Soldaten herbei. Aurora wirbelte um die eigene Achse. Wo sollte sie nur hin?

»Halt!«, rief ein Soldat, den Bogen im Anschlag. »Stehen bleiben, oder ich schieße.«

Doch er konnte sie nicht töten. Der König wollte, dass man sie ihm lebendig brachte.

Rauch quoll aus den Fenstern und Türen der Bäckerei. Aurora schlug einen Haken und rannte seitlich am Gebäude entlang, wich geschickt einem heranschießenden Pfeil aus. Flammen züngelten aus den Fenstern, und die Bäckersfrau schrie immer noch.

Aurora bog in eine Straße ein, dann in eine andere, aber das Dorf war nicht sehr groß. Nirgends gab es ein Versteck. Sie lief in Richtung Wald, doch die Blasen an ihren Füßen schmerzten, und sie geriet ins Straucheln.

Ein Soldat packte sie am Arm. Sie stieß ihn weg, und neue Flammen schlugen hoch. Mit einem gellenden Schrei ließ der Mann sie los.

Die Luft war rauchgeschwängert. Die Soldaten waren immer noch dicht hinter ihr, brüllten und schrien. Ihr schwirrte der Kopf von all den Stimmen.

Sie würden sie kriegen. Die Soldaten würden sie schnappen, und der König würde sie foltern und verbrennen lassen, bis nichts mehr von ihr übrig wäre.

Das durfte sie nicht zulassen.

Sie schickte einen Schwall Flammen über den Boden, die, angefacht von ihrer Panik, wie eine wild lodernde Wand zwischen ihr und den Soldaten emporwuchsen, so hoch, dass sie alle umliegenden Gebäude überragten.

Ein Haus am Dorfrand fing Feuer. Noch mehr Leute schrien, und die Flammen leckten immer höher. Sie waren zu heiß, zu stark. Halt, dachte Aurora, aber das Feuer tobte weiter.

Sie floh in den Wald und rannte Richtung Fluss, wich im Laufen Ästen und Baumwurzeln aus. Mit einem Satz sprang sie über den schlammigen Uferstreifen und landete wasserspritzend auf der anderen Seite.

Vor ihr stand ein Baum mit tief hängenden Ästen. Aurora schwang sich daran hoch, schürfte sich an der rauen Rinde die Haut auf. Sie kletterte immer höher, bis die Äste unter ihrem Gewicht erzitterten.

In der Ferne stieg Rauch auf.

Das ganze Dorf stand in Flammen.

Die Bäckersfrau hatte versucht, sie zu beschützen, und zum Dank hatte sie ihren Laden bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Sie musste weiter. Immer dem Lauf des Flusses folgen, damit die Soldaten sie nicht erwischten. Doch sie war wie gelähmt. Sie starrte auf die wütenden Flammen, die inzwischen weithin über die Baumwipfel sichtbar waren. Sie konnte den Blick nicht losreißen.

Es war ihre Schuld. Sie hatte nicht absichtlich gezaubert. Sie hatte nichts in Brand setzen wollen. Aber die Panik hatte sie übermannt und jetzt …

Sie hatte das getan. Sie wusste nicht, wozu sie noch imstande wäre, wenn sie ihre Kräfte nicht kontrollieren lernte.

Sie beobachtete wie gebannt das Feuer, das allmählich ausbrannte, während die aufgehende Sonne in den Himmel stieg.

Sie musste zurückgehen. Sie musste. Soldaten hin oder her, sie hatte das angerichtet. Das Feuer war ihre Schuld. Sie musste helfen.

Doch es war bereits dunkel, bevor ihre Beine ihr endlich gehorchten und den Baum hinabkletterten. Sie machte sich stromabwärts auf den Rückweg, war bei jedem Schritt auf der Hut, aus Angst, jeden Augenblick von Soldaten entdeckt zu werden.

Aber sie sah niemanden.

Der Gestank nach Rauch und verbranntem Holz wurde immer stechender, je näher sie dem Dorf kam. Und dann war plötzlich der Waldrand in Sicht. Die Welt dahinter war dunkel, eingehüllt in dichte Rauchschwaden, die sich wie eine Decke über den Nachthimmel legten.

Sie versteckte sich zwischen den Bäumen. Nirgends Soldaten, die auf der Lauer lagen. Nirgends ein Mensch.

Das Dorf war nur noch Asche.

Rauch brannte in Auroras Augen, während sie auf die Überreste des Dorfes starrte. Ein paar wenige Häuser kämpften noch mit letzter Kraft um Haltung, mit halb eingestürzten Wänden und verkohltem Gebälk, aber alles sonst war zerstört. Alles war weg.

Das konnte nicht sie getan haben. Niemals! Bisher war ihre Magie immer so spärlich gewesen, ein Kerzenlicht, eine zuckende Flamme. Kurz vor ihrer Flucht aus dem Schloss hatte sie auf dem Platz den Brunnen explodieren lassen, aber unbewusst ein ganzes Dorf niederbrennen?

Sie hoffte, dass die Bäckersfrau entkommen war. Sie hoffte … viele Dinge.

Sie trat hinter den Bäumen hervor. Es war niemand zu sehen, aber bestimmt war irgendwer dageblieben, um zu retten, was noch zu retten war, und zu betrauern, was verloren war. Sie machte einen zögerlichen Schritt vorwärts. Ein Zweig knackte unter ihren Füßen.

»Wer da?«, rief ein Mann irgendwo aus den schwelenden Ruinen. Ein Überlebender oder ein Soldat? Falls es ein Überlebender war, musste sie ihm helfen. Womöglich war er verletzt. Aber wenn es ein Soldat war …

Eine Hand legte sich über ihren Mund. Aurora schnappte erschrocken nach Luft, wobei das Geräusch vom Handteller ihres Angreifers erstickt wurde. In Panik stieß sie mit dem Ellbogen nach hinten und versuchte, sich zappelnd loszuwinden oder das Feuer zurückzuholen.

»Scht, Aurora.« Ihr Angreifer, eine Frau, raunte in ihr Ohr. »Ich bin’s. Distel.«

Die Sängerin aus dem Tanzenden Einhorn. Was machte sie hier? Sie sollte doch kilometerweit weg in Petrichor sein und nicht durch den Wald schleichen und Aurora überfallen.

»Nicht bewegen!«, sagte sie so leise, dass nur ein schwacher Atemhauch Auroras Ohr streifte. »Auf der anderen Seite des Dorfes stehen zwei Soldaten.« Sie ließ von Aurora ab und bückte sich. Was Distel als Nächstes tat, konnte Aurora nicht sehen, aber sie registrierte eine schnelle Armbewegung sowie den leichten Luftzug, mit dem etwas unmittelbar an ihrem Kopf vorbeisauste. Es folgten ein dumpfer Knall sowie ein Ächzen von sprödem Holz, während eines der verkohlten Häuser erbebte.

Zwei Soldaten kamen in Sicht, Fackeln in den Händen. Das Licht der Flammen erhellte die Trümmer, Asche und Ruß rieselten von dem Balken herunter, der von Distels Wurfgeschoss getroffen worden war.

Das Gebälk knirschte. Der eine Soldat warf einen Blick darauf und ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen, der andere aber sah sich weiter aufmerksam um. »Ich habe etwas gehört. Ganz sicher.«

»Das waren nur die Balken«, erwiderte der andere.

»Wir müssen trotzdem nachsehen.«

Erneut legte sich Distels Hand über Auroras Mund, doch diese Vorsichtsmaßnahme war unnötig. Vor Angst wagte Aurora nicht mal, laut zu atmen.

Der zweite Soldat schaute genau in ihre Richtung. Zwar konnte er unmöglich erkennen, was eingehüllt in dichtem Rauch außerhalb des Fackelscheins lag, doch einen oder zwei Atemzüge lang blickte er angestrengt in das Waldstück hinein, in dem sie standen.

Ein Knacken zerschnitt die Stille. Der erste Soldat hatte dem Holzbalken einen Tritt verpasst. Er kickte ein weiteres Mal dagegen, worauf es erneut Holzsplitter regnete.

»Was tust du da?«

»Ich erbringe einen Beweis«, sagte der erste Soldat. Er trat zum dritten Mal gegen den Holzbalken, und ein Schwall Rußflocken wirbelte herab. »Sie knirschen. Sie knacken. Außer uns ist niemand hier.«

Wie zur Bekräftigung ächzte der Balken noch einmal.

»Wir sollten trotzdem alles kontrollieren.«

»Na schön«, sagte der erste Soldat. »Tu, was du tun musst. Ich für meinen Teil setze mich da drüben hin, genehmige mir einen Schluck Rum und lasse den lieben Gott einen guten Mann sein. Ich meine, wenn du dieses Mädchen wärst, würdest du dann im Ernst hierher zurückkehren? Nein.«

Er stiefelte davon. Der zweite Soldat warf noch einen letzten suchenden Blick zwischen die Bäume am Waldrand, dann ging er seinem Kameraden hinterher.

Distel nahm ihre Hand von Auroras Mund. »Schnell«, flüsterte sie. »Aber pass auf, wo du hintrittst!«

Aurora zögerte. Sie verstand nicht, wieso Distel hier war, doch die Sängerin hatte ihr geholfen, und Aurora musste schleunigst verschwinden. Und egal, wo Distel auch hinwollte, dort konnte es nicht gefährlicher sein als hier.

Sie schlichen durch den Wald. Distel ging voran und hielt Aurora an der Hand. Sie sprachen kein Wort. Anfangs zuckte Aurora noch jedes Mal zusammen, wenn unter ihren Füßen knackend ein Zweig zerbrach oder sie raschelnd Laub aufwirbelte, aber auch der Wald um sie herum war voller Geräusche. Allerlei Getier huschte durchs Unterholz, und in den Wipfeln riefen Eulen. Doch sie hörten keine menschlichen Stimme, sahen keine Fackellichter oder irgendwelche Verfolger.

»Wir müssen raus aus dem Wald«, sagte Distel, nachdem sie eine Stunde lang schweigend gewandert waren. »Querfeldein kann man uns schwerer verfolgen. Auf offenem Gelände gibt es weniger knackende Zweige, und man wird schneller von der Dunkelheit verschluckt.«

Vor ihnen hörten sie Wasser plätschern. Der Boden wurde leicht abschüssig, und ein kleiner Bach kam in Sicht, in dem sich glitzernd das Mondlicht spiegelte.

»Um unsere Fährte zu verwischen, falls sie Suchhunde einsetzen«, erklärte Distel, als sie ins Wasser trat. Aurora tat es ihr nach. Wasser schwappte in ihre Schuhe und kühlte ihre wundgelaufenen Füße.

Der Bach führte sie aus dem Wald hinaus, mitten in eine hügelige Landschaft. Schafe schliefen grüppchenweise auf den Wiesen, aber nirgends gab es Häuser oder irgendwelche Anzeichen menschlichen Lebens.

»Können wir jetzt wieder sprechen?«, fragte Aurora.

»Ja«, sagte Distel. »Aber leise. Du hast sicher viele Fragen.«

Aurora schwirrten so viele Dinge durch den Kopf, dass sie einen Moment lang kein Wort über die Lippen brachte. Distel hatte ihr geholfen, so viel stand fest, doch bislang hatte die Sängerin mit keiner Silbe erwähnt, was sie hier eigentlich wollte oder wo sie jetzt hingingen oder was genau in dem Dorf passiert war. Als Aurora endlich ihre Sprache wiederfand, fragte sie: »Wie hast du mich gefunden?«

»Das war nicht weiter schwer. Um ehrlich zu sein, war’s reines Glück, dass du den Soldaten so lange entkommen bist.«

»Bist du mir gefolgt? Seit ich Petrichor verlassen habe?«

»Du hattest ungefähr einen Tag Vorsprung. Als ich von weitem das Feuer sah, dachte ich mir schon, dass ich dich irgendwo in der Nähe finden würde. Ich bin froh, dass ich recht hatte.«

»Aber wieso?«, sagte Aurora. »Warum bist du mir gefolgt?«

»Prinz Finnegan hat mich darum gebeten.«

»Finnegan?« Aurora stockte. Finnegan, der Prinz von Vanhelm, der ihr bei ihrer Flucht aus dem Schloss geholfen hatte. Warum sollte er ausgerechnet Distel bitten, ihr zu folgen? Das Wasser umspielte ihre Knöchel. »Finnegan hat dich darum gebeten, mich zu beschatten?«

»Aurora, wir müssen jetzt weiter.«

»Du arbeitest für Finnegan?«

»Ja«, erwiderte Distel. »Das sagte ich doch bereits. Los, wir können uns im Gehen weiter unterhalten.«

Aurora bewegte sich nicht. Distel arbeitete für Finnegan. Natürlich. Sie hatte auf Finnegans Einwirken hin bei ihrem Verlobungsbankett gesungen, nachdem die eigentlich engagierten Musiker plötzlich erkrankt waren. Anschließend war sie »zufällig« beim Ball erschienen; sie hatte mit Aurora gesprochen, kurz bevor Isabelle vergiftet worden war. Und kurz danach war sie verschwunden …

Aurora wich so jäh zurück, dass Wasser um sie herum hochspritzte. »Finnegan«, sagte sie. »Hatte er etwas mit Isabelles Tod zu tun? Hast du sie getötet?«

»Nein!«, entgegnete Distel scharf. »Natürlich habe ich das kleine Mädchen nicht umgebracht. Und Finnegan genauso wenig. Er mag zuweilen schamlos sein, aber niemals würde er ein Kind in seine Pläne verwickeln. Und er würde dir niemals schaden wollen. Ich weiß nicht, wer sie getötet hat.«

Distel schien aufrichtig empört über diese Anschuldigung, doch Aurora blieb skeptisch. »Und das soll ich dir glauben?«

»Ja«, erwiderte Distel. »Denkst du allen Ernstes, ich bin eine Mörderin? Oder dass ich mit einem Mörder gemeinsame Sache machen würde? Ich war als Kundschafterin auf dem Bankett. Als ein zusätzliches Paar Augen und Ohren. Das ist alles.«

»Dann musst du doch wissen, wer’s getan hat«, sagte Aurora. Sie schrie jetzt beinahe. Sie biss sich auf die Zunge. Sie musste sich zusammenreißen. Nicht dass sie Distel und sich selbst am Ende noch vor lauter Wut an ihre Verfolger verriet. »Wenn du als Spionin da warst, hättest du es doch bemerken müssen und verhindern können.«

»Prinzessin.« Distel streckte die Hand nach Auroras Arm aus, aber Aurora ging einen Schritt rückwärts.

»Nein, lass mich«, sagte sie. »Hast du mich etwa schon die ganze Zeit ausspioniert? Warst du nur deshalb im Tanzenden Einhorn? Sollst du mich jetzt zu Finnegan bringen?«

»Nein, Prinzessin«, sagte Distel sanft. »Und ich habe ihm nichts von dem verraten, was du mir anvertraut hast. Ich war in Petrichor, um die Rebellen zu observieren, lange bevor du überhaupt erwacht bist. Finnegan wollte, dass ich dir helfe. Aber er hat nicht verlangt, dass ich dich nach Vanhelm verschleppe, und selbst wenn er es wollte, würde ich es nicht tun. Er hat sich um dein Wohl gesorgt. Genau wie ich.«

»Ich kann sehr gut allein auf mich aufpassen.« Distel betrachtete still Auroras Gesicht, während sie darauf wartete, dass sie weitersprach. »Wohin bringst du mich?«, fragte Aurora schließlich. Sie hätte mehr Fragen stellen sollen, bevor sie der Sängerin gefolgt war. Distel hatte sie fortgebracht, und das hatte Aurora genügt. Jetzt kam sie sich deswegen unglaublich naiv vor.

»So weit weg von diesem Dorf, wie wir es heute Nacht noch schaffen. Das ist keine Falle, Aurora. Aber wir dürfen nicht mehr draußen unterwegs sein, wenn es hell wird.«

»Wohin?«, hakte Aurora nach. »Ich werde keinen Fuß in ein weiteres Dorf setzen!« Nicht, solange sie ihre Zauberkräfte nicht bändigen konnte.

»Das sollst du auch nicht«, sagte Distel. »Ich kenne einen guten Schlupfwinkel. Eine Höhle. Allerdings müssen wir jetzt weiter, wenn wir sie noch heute erreichen wollen. Du musst mir nicht vertrauen. Du kannst weglaufen, wenn du willst. Ich werde dir nicht folgen. Doch ich bin um deine Sicherheit besorgt und glaube, dass es weniger gefährlich für dich ist, wenn du bei mir bleibst.«

»Natürlich glaubst du das«, sagte Aurora. Aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Distel hatte sie vor den Soldaten bewahrt. Und welche tieferen Gründe auch immer sie dazu bewogen hatten, zumindest schien sie Aurora nicht schaden zu wollen. Im Gegenteil. Aurora straffte die Schultern und setzte sich wieder in Bewegung. Distel marschierte neben ihr am Ufer entlang.

»Warst du dabei?«, fragte Aurora. »Hast du gesehen … was im Dorf passiert ist?«

»Als ich ankam, brannte es bereits lichterloh«, sagte Distel. »Aber die Soldaten haben keinen Finger gerührt, um das Feuer zu stoppen. Sie haben die Dorfbewohner zusammentrieben und sie sogar davon abgehalten, ihre Häuser zu retten. Sie haben sie alle weggebracht.«

»Ich war das«, sagte Aurora. »Das war meine Schuld.« Sie hatte ein ganzes Dorf zerstört, hatte die Bewohner ins Unheil gestürzt, allein durch ihre bloße Anwesenheit.

»Ist deine Magie außer Kontrolle geraten?«

»Du weißt davon?« Eigentlich sollte sie nicht überrascht sein. Wie lange hatte Distel sie schon beobachtet und sich jedes Detail gemerkt, um ihrem Auftraggeber davon zu berichten?

»Ich habe dich gesehen«, erklärte Distel. »Bei deiner offiziellen Vorstellung und bei deiner Hochzeit. Und dieses Feuer eben wurde nicht von Johns Männern gelegt. Das ist offensichtlich.«

»Ich habe das Dorf zerstört«, sagte Aurora. »Ich wollte das nicht. Es war ein Unfall, aber … Ich trage die Schuld.« Man hatte ihr in ihrer Kindheit stets eingeschärft, dass Magie etwas Böses war, und sie hatte den Fluch gefürchtet, wissend, dass er nichts als Verderben und Zerstörung verhieß. Und das hier war nun der Beweis: Ihre eigene Magie war keinen Deut besser.

»Du hast das Feuer zwar entfacht«, sagte Distel, »aber es waren die Soldaten, die dafür sorgten, dass es das ganze Dorf zerstört. Und sie werden diesen Vorfall gegen dich verwenden.«

Auroras Füße schmerzten bei jedem Schritt. Sie strauchelte immer wieder, weigerte sich aber, langsamer zu gehen. Der Bach wurde zu einem Rinnsal und versiegte schließlich ganz. Distel schlug eine neue Richtung ein und führte Aurora an den Rand eines weiteren Waldes.

Der Himmel hellte sich bereits auf, als Distel Aurora eine Hand auf den Arm legte und auf eine kleine Anhöhe deutete. »Da oben befindet sich eine Höhle«, sagte sie. »Wenn man nicht weiß wo, ist sie schwer zu finden. Dort sollten wir uns eine Weile ausruhen.«

»Eine Höhle?« Aurora konnte nirgends eine Öffnung erkennen. »Und angenommen, sie entdecken uns doch? Dann sitzen wir in der Falle und können nicht weg.«

»In einem Unterschlupf ist es auf jeden Fall sicherer als hier draußen im Freien. Aber du kannst natürlich woanders hingehen, wenn dir das lieber ist.«

Distel begann, die Böschung hochzuklettern, wobei sie jeden Schritt so setzte, dass sie möglichst wenig Spuren hinterließ. Aurora warf einen suchenden Blick über ihre Schulter, doch sie wusste nicht, wo sie hinsollte. Und so folgte sie der Sängerin hangaufwärts.

Am Höhleneingang blieb Aurora zögernd stehen. Vielleicht wollte Distel sie ja auch in eine Falle locken? Doch die Sängerin war bereits dabei, Decken auf dem Boden auszubreiten. Dann legte sie zwei mit Wasser gefüllte Bälge, einen Laib Brot und Nüsse daneben. »Du hast bestimmt Hunger«, sagte sie, als Aurora eintrat. »Iss. Aber langsam.«

Über die Gräuel des Tages hatte Aurora das nagende Gefühl in ihrem Magen ganz vergessen. Sie brach ein Stück Brot ab und biss hinein. Es war nicht mehr ganz frisch, und das Kauen bereitete ihr einige Mühe. Trotzdem war es das Köstlichste, was sie je gegessen hatte.

Sie lehnte sich zurück an die Höhlenwand und lockerte die brennenden Waden. Sie streifte ihre blutbesudelten Schuhe ab.

»Deine Füße«, sagte Distel. »Sie müssen versorgt werden.«

»Es ist nicht so schlimm«, sagte Aurora. »Ich bin es nur nicht gewohnt, so viel zu laufen.«

»Und schon gar nicht in Hochzeitsschuhen. Darf ich?« Distel nahm Auroras Fuß am Knöchel und untersuchte die Sohle. Aurora wollte nicht hinschauen. Aufgrund der Schmerzen und ihrer blutigen Schuhe wusste sie bereits, dass ihre Füße sehr gelitten hatten. Nicht nötig, das Elend mit eigenen Augen zu sehen.

Ob es wirklich so schlimm war, ließ Distels Mimik nicht erkennen. »Ich hole frisches Wasser, um das zu säubern«, sagte sie. »Hoffen wir mal, dass es sich nicht entzündet. Bitte sei vorsichtig, solange ich weg bin.«

Aurora sah ihr nach, als sie die Höhle verließ. Ihre Füße taten unbeschreiblich weh und waren mittlerweile so geschwollen, dass sie nicht mehr in ihre Schuhe passten. Hinter ihrer Stirn dröhnten entsetzliche Kopfschmerzen. Wenn nötig, würde sie kämpfen, aber rennen könnte sie nicht, es sei denn, es blieb ihr keine andere Wahl.

Als Distel zurück war, kniete sie neben Aurora nieder und kramte ein zerschlissenes Kleid aus ihrem Rucksack. Mit einem Ruck riss sie ein Stück Saum ab.

»Dein Kleid!«, rief Aurora.

»Ich habe noch andere«, erwiderte Distel mit gelassener Miene. Sie schüttelte sich resolut die Haare aus dem Gesicht und tränkte das Tuch mit Wasser. Aurora sog scharf Luft ein, als sie ihre Blasen berührte. Schweigend und behutsam tupfte Distel die Wunden sauber. Als sie fertig war, begutachtete sie mit schief gelegtem Kopf ihr Werk. »Wir sollten das in jedem Fall verbinden«, erklärte sie. »Damit kein Schmutz rankommt. Außerdem kannst du dann besser auftreten.« Sie trennte noch ein weiteres Stück Stoff vom Kleid ab und wickelte es um Auroras Fuß, unbeeindruckt von ihren Schmerzenslauten. Sobald der Verband fixiert war, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den anderen Fuß.

»Erzähl mal«, begann sie, während sie das Tuch neu anfeuchtete. »Was hast du als Nächstes vor?«

»Du willst vermutlich, dass ich nach Vanhelm mitkomme.«

»Das ist, was Finnegan möchte«, entgegnete Distel. »Mir ist das letztlich egal, solange du in Sicherheit bist.«

»Aber wieso kümmert es dich überhaupt?«

»Ich weiß, wie es sich anfühlt, hier draußen auf sich allein gestellt zu sein, Prinzessin. Finnegan kann seine Angelegenheiten selbst regeln. Die Frage ist vielmehr: Was willst du tun?«

Aurora legte den Kopf nach hinten an die Höhlenwand. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Es fiel ihr schwer zuzugeben, dass sie die Flucht ergriffen hatte, ohne vorher darüber nachzudenken, was auf der Flucht sein bedeuten würde. Sie hatte beide Hilfsangebote, sowohl das von Finnegan als auch das der Hexe Celestine, zurückgewiesen, und war in die Welt hinausgestürmt ohne Plan, ohne Ziel, ohne irgendetwas außer dem verzweifelten Wunsch, woanders sein zu wollen. »Ich weiß nur, dass ich nicht hierbleiben kann.«

»Nein«, sagte Distel. »Das kannst du nicht.«

Es gab Falreach, jenseits der Berge. Das Königreich ihrer Mutter. Dort hätte sie auf Hilfe hoffen können, wäre es nicht gleichzeitig auch das Heimatland von Prinzessin Iris gewesen. Und dann waren da noch die entlegeneren Königreiche Palir oder Eko, aber sie lagen beide mehrere tausend Kilometer entfernt. Zu weit weg, um sie zu Fuß zu erreichen, und außerdem war es fraglich, ob man sie dort unterstützen würde.

Und zum Schluss noch Vanhelm, das Drachenreich am anderen Ufer des Meeres. Prinz Finnegan hatte ihr Hilfe versprochen, aber konnte sie ihm wirklich trauen? Er war ihr gegenüber nie ganz ehrlich gewesen.

»Warum rätst du mir nicht, nach Vanhelm zu gehen, wenn du doch in Finnegans Dienst stehst?«

»Ich liefere ihm Informationen«, sagte Distel, »keine Menschen. Dich zu beobachten war ein eher ungewöhnlicher Auftrag für mich, auch wenn ich’s gern gemacht habe. Und selbstverständlich werde ich Finnegan darüber informieren, was du gedenkst, als Nächstes zu tun. Aber ich werde dich zu nichts zwingen.«

Distel machte sich daran, den zweiten Fuß zu verbinden. Aurora fühlte sich schon viel besser, die Anspannung fiel von ihr ab. Sie zog die Halskette mit dem Drachenamulett unter ihrem Kleid hervor. Der Drache hatte die Flügel gespreizt, und sein eines Bein war angehoben, als wollte er jeden Moment losfliegen. Ein blutroter Edelstein glitzerte in seinem Auge. »Glaubst du, ich kann ihm vertrauen?« Sie drehte den Anhänger zwischen den Fingern, als würde er die Antwort in sich tragen.

»Schwer zu sagen.« Distel befestigte den Verband. »Er wird seine eigenen Interessen immer voranstellen, egal, worum es geht. Du musst bei ihm vorsichtig sein. Andererseits ist er ein anständiger Mann. Er neigt weder zu Grausamkeit noch zu Willkür. Als Verbündeter ist er keine schlechte Wahl.« Sie nahm Auroras Hand. »Probier mal, aufzutreten«, sagte sie. »Das Laufen sollte dir jetzt wieder leichter fallen.«

Aurora verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse, als sie ihr Gewicht auf die bandagierten Füße verlagerte, aber obwohl sie noch immer weh taten, waren sie nicht mehr ganz so empfindlich. Sie machte einen zaghaften Schritt vorwärts. »Ja, gut«, sagte sie, »danke.« Sie durchquerte die Höhle, indem sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte und sich dabei an der Felswand abstützte.

Distel nickte und bückte sich, um ihre Sachen zusammenzupacken.

»Distel«, sagte Aurora leise. »Wenn du die Rebellen in Petrichor ausspioniert hast … weißt du dann auch, was mit ihnen passiert ist?«

Distel schüttelte den Kopf, während sie das zerrissene Kleid zusammenlegte. »Nein, seit ich aus Petrichor fort bin, habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Ihre Pläne waren nie sonderlich ausgeklügelt. Weswegen sie umso riskanter waren. Ihre Aktionen zogen Konsequenzen nach sich, die sie nicht vorausgesehen hatten. Falls du also überlegst, sie um Hilfe zu bitten …«

»Nein«, sagte Aurora. Sie setzte sich hin und stützte ihr Kinn auf die Knie. »Das tue ich nicht.« Selbst wenn es ihr gelänge, einen der Rebellen zu finden, könnte sie ihnen oder ihren Plänen nicht trauen. Nicht nach den Aktionen, die sie erlebt hatte. Einen Überfall auf das königliche Verlies, bei dem viele der Gefangenen zu Tode gekommen waren. Und eine törichte Aktion in aller Öffentlichkeit, die beinahe einen Aufstand ausgelöst und einen Wachmann das Leben gekostet hatte. Sie hatten keine Strategie, keine Moral, keine Disziplin. Mit ihnen könnte sie sich unmöglich zusammentun.

Aber es gab noch eine weitere Option, einen Gedanken, der sie immer öfter quälte, je mehr Tage ins Land zogen. Celestine. Ständig wurde sie von dem Gefühl begleitet, dass die Hexe sie beobachtete, so als würden ihre stechend blauen Augen sie durch die Dunkelheit ansehen. Celestine hatte Aurora bei ihrer letzten Begegnung kurz nach ihrer Flucht aus dem Schloss aufgefordert, sich ihr anzuschließen. Sie hatte angedeutet, dass Aurora es bereuen würde, wenn sie sie zurückwies, und dass sie sie am Ende noch anflehen würde, mit ihr gehen zu dürfen. Und dann hatte die Hexe erzählt, dass Auroras Mutter einen Handel mit ihr abgeschlossen habe. Einen Handel, den die damalige Königin nicht eingehalten habe. Einen Handel, der Auroras Verwünschung zur Folge gehabt habe.

War ihre Magie auch Teil des Fluchs? Die Zauberkräfte, die sich nicht bändigen ließen und die alles zu Asche verbrannten?

Celestine kannte die Antworten. Aber Aurora konnte sie nicht fragen. Alle, die sich auf einen Handel mit der Hexe eingelassen hatten, hatten für ihre Naivität bitter büßen müssen. Doch der Gedanke ließ Aurora nicht los. Celestine hatte sämtliche Antworten, die sie brauchte, wenn sie nur zu fragen bereit wäre.

»Du solltest dich jetzt ausruhen«, sagte Distel. »Du musst heute nicht entscheiden, was du tun wirst.«

»Aber ist es nicht gefährlich?«, fragte Aurora. »Zu schlafen?«

»Nicht so gefährlich, wie nicht zu schlafen. Keine Angst, ich werde dich nicht verraten.«

Seltsamerweise fand Aurora es beruhigend, Distel ihre Ängste so offen aussprechen zu hören. Sie wickelte sich in eine der Decken und drehte sich auf die Seite. Distel streckte sich an der gegenüberliegenden Wand aus und bettete ihre Wange auf den steinigen Boden. Und obwohl Aurora nach wie vor angespannt war und sich keinesfalls in Sicherheit wähnte, war sie einfach zu müde, um wach zu bleiben. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, war sie auch schon eingeschlafen.

Als sie wieder erwachte, war es draußen dunkel. Distel war weg, doch ihre Sachen lagen noch da. Aurora streckte ihre steifen Glieder. Sie hatte seit mindestens einer Woche nicht mehr so tief geschlafen, und mit dem ausgeruhten Zustand kehrte auch ihr klares Denken zurück.

Sie konnte nicht in Alyssinia bleiben, wenn dies bedeutete, sich nutzlos im Wald verstecken zu müssen. Aber sie konnte ihr Königreich auch nicht im Stich lassen. Es war ihre Pflicht, den Menschen zu helfen, die sich darauf verließen, dass sie sie vor dem Zorn des Königs rettete. Sie musste John aufhalten. Und sie musste diese unberechenbaren Zauberkräfte beherrschen lernen.

Finnegan war ihr einziger Ausweg. Sie traute ihm nicht, aber er schien viel zu wissen. Er hatte Anspielungen auf ihre magischen Fähigkeiten gemacht und sie »kleiner Drache« genannt. Und sie hatte das Dorf in Brand gesteckt. Genau so etwas taten Drachen doch, oder?

Er hatte ihr schon einmal geholfen, auch wenn es in einem Blutvergießen geendet hatte. Möglicherweise verfolgte er seine eigenen Ziele, doch wie es schien, standen diese zumindest im Moment mit Auroras im Einklang. Mit seiner Hilfe könnte sie sich neu sammeln, bevor König John sie wieder in die Enge trieb.

Und die Tatsache, dass Finnegan Distel beauftragt hatte, sie in Sicherheit zu bringen, und nun nichts unversucht ließ, sie davon zu überzeugen, zu ihm zu kommen, legte die Vermutung nahe, dass er sie ebenfalls brauchte. Er wollte etwas von ihr. Das gab ihr Hoffnung. Dadurch würde es leichter werden zu bekommen, was sie wollte.

»Distel«, sagte sie, als die Sängerin mit einer Handvoll Kräuter zurückkehrte. »Ich habe mich entschieden. Ich gehe nach Vanhelm.«

Sie reisten vor allem nachts und mieden die Straßen. Auroras Füße schmerzten noch immer, aber Distels Verbände machten das Gehen halbwegs erträglich. Sie borgte sich von der Sängerin ein paar Kleider, die sie kürzte, um sich nicht im Saum zu verheddern. Sie sprachen nur wenig, aber ab und zu summte Distel leise ein paar Takte irgendeiner Melodie vor sich hin, die Aurora nicht kannte.

Alle paar Tage machte Distel einen Abstecher in die nächstgelegene Stadt und kaufte ein, während Aurora sich in einem hohlen Baum oder einer Höhle versteckte. Jedes Mal kehrte die Sängerin mit frischen Vorräten und einer bemüht neutralen Miene zurück.

»Was gibt’s Neues?«, fragte Aurora stets. »Was ist passiert?«

Es waren nie schöne Geschichten. Soldaten, die auf der Suche nach ihr ganze Städte in Trümmer legten. Straßenhändler, die drangsaliert wurden und deren Waren im Dreck landeten. Gerüchte über anhaltende chaotische Zustände in der Hauptstadt, Rebellenkämpfe, Häuserverwüstungen und Hinrichtungen auf offener Straße. Sowie Berichte über erst ein, dann drei, dann sechs Dörfer, die angeblich von der Prinzessin in ihrem blinden Hass gegen den König niedergebrannt worden waren.

All dies schilderte Distel mit fester Stimme, ohne Zögern und Ausflüchte. Ganz sachlich, nur die Fakten, so als wäre das Königreich nicht im Begriff, wegen Aurora zusammenzubrechen.

»Ich habe endlich Nachricht von Finnegan erhalten«, sagte Distel, nachdem sie von einer dieser Stippvisiten zurückgekehrt war. »Er wird uns ein Boot schicken. Ich bin froh, dass er sich gemeldet hat. Wir nähern uns nämlich langsam dem von mir vorgeschlagenen Treffpunkt. Und es wäre zu gefährlich, wenn wir dort länger verweilen oder gar auf eigene Faust ein Boot suchen müssten.«

»Glaubst du, die Soldaten des Königs sind uns auf den Fersen?«

Distel schüttelte den Kopf. »So wie’s aussieht, haben sie die Suche nach dir eingestellt. Sie wissen nicht, wo du steckst. Und wir wollen nicht, dass sich daran etwas ändert.«

Es dauerte noch einige Tage, bis sie endlich die Küste erreichten, doch dann, eines Morgens, erklommen sie im frühen Dämmerlicht einen Hügel, und da war plötzlich das Meer. So weit das Auge reichte, breitete sich vor ihnen graues, kabbeliges Wasser aus. Ein Schiff schaukelte in etwa dreißig Meter Entfernung erstaunlich ruhig auf den schäumenden Wellen.

Aurora blieb auf dem Hügelkamm stehen. Der Ozean. Er war ungestümer, als sie ihn sich vorgestellt hatte, beinahe wütend, so als würde er jeden Beobachter herausfordern wollen. Ein kalter böiger Wind blies landeinwärts, und Aurora zog ihren Umhang fest um ihre Schultern.

Hier war das Ende des Königreichs. Das Ende der Welt, zumindest so, wie Aurora sie kannte. Sie atmete tief ein und genoss die Schärfe der frischen, salzigen Seeluft. Und dann stapfte sie los, den Hügel hinunter, dicht gefolgt von Distel.

Ein grimmig dreinblickender Mann wartete neben einem Ruderboot am Ufer. Er nickte Aurora und Distel zu, als sie näher kamen. Distel raunte ihm etwas ins Ohr, worauf er wieder nickte und wortlos aufs Boot zeigte. Aurora ließ ihren Blick über das aufgewühlte Wasser gleiten, dann schaute sie zurück auf den Wald und den Hügelkamm.

Sobald sie in das Boot einstieg, gab es kein Zurück mehr. Sie würde nicht fliehen können, falls die Seeleute sie verrieten. Aber sie musste ihnen vertrauen. Finnegan verfügte über Mittel und Möglichkeiten, und er wusste so viele Dinge, von denen sie nicht mal etwas ahnte. Es gab im Moment niemanden, der als Verbündeter besser geeignet war als er.

Sie stieg in das Boot ein. Es schwankte leicht, und sie landete strauchelnd auf der Sitzbank. Distel stieg neben ihr ein, wobei das Boot erneut ins Schaukeln geriet. Als schließlich beide auf ihren Plätzen saßen, ruderte der Mann los Richtung Segelschiff.

Aurora heftete ihren Blick auf das Ufer, das immer kleiner wurde und zusammenschrumpfte, während die Bäume zu einem grünblauen Streifen verschmolzen.

Sie seufzte tief. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie reisen wollen, um sich alles anzusehen. Und jetzt war sie umgeben von der wogenden See, das Land rückte immer weiter in die Ferne, und ein tiefer Schmerz überkam sie. So hatte sie nicht weggehen wollen.

Aber sie würde wiederkommen. Sie musste wiederkommen.

 

Das Schiff segelte aufs offene Meer hinaus, und als die Sonne unterging, konnte Aurora das Ufer von Alyssinia schon nicht mehr sehen. Sie stand an Deck an der Reling und schaute dorthin zurück, wo die Küste gewesen war. Ihr Königreich war im Nebel entschwunden, und ein anderes rückte näher. Vanhelm. Finnegans Heimat.

Bevor sie dort ankam, musste sie genau wissen, was sie wollte. Sie musste mit einer Reihe präziser Forderungen in sein Schloss marschieren und sie ihm in klaren Worten darlegen. Ansonsten würde der scharfzüngige Prinz all ihre Hoffnungen im Handumdrehen zerschlagen. Sie durfte es nicht auf gut Glück angehen, durfte nicht auf sein Entgegenkommen bauen.

Sie wollte in Erfahrung bringen, was er alles über den Fluch und ihre Magie wusste. Sie wollte wissen, wieso er sie kleiner Drache genannt hatte, und warum er so erpicht darauf war, sich mit ihr zu verbünden. Sie wollte, dass er ihr dabei half, ihre Kräfte zu verstehen und den König aufzuhalten. Doch ohne zu wissen, was Finnegan von ihr wollte, ließ sich ihre eigene Verhandlungsposition schwer einschätzen.

Ein kalter Wind fuhr in ihre Haare und ließ sie frösteln. Das Meer und der Himmel flossen nahtlos ineinander über, und die Sterne spiegelten sich schimmernd auf dem Wasser.

Sie lehnte sich nach vorn, um einen Blick auf das brodelnde Kielwasser zu erhaschen. Die Reling drückte sich fest in ihren Bauch.

Tristan hatte ihr mal eine wilde Geschichte über seine Zeit als Pirat erzählt. Dass er erst entführt und später sogar zum Captain des Schiffes gemacht worden sei. Alles frei erfunden, natürlich, und doch hatte sie angenommen, dass in seinen Flunkereien auch ein Funken Wahrheit steckte. Er stammte nicht aus Petrichor. Er war unbekümmert, ein Witzbold mit einer blühenden Phantasie. Und mehr hatte sie anscheinend nicht über diesen Jungen wissen müssen, um ihm ihr Vertrauen zu schenken. Um mit ihm in die Dunkelheit zu verschwinden, Händchen haltend auf den Dächern der Stadt zu sitzen, wo sie einander Geheimnisse zuflüsterten.

Sie war so dumm gewesen!

Distel kam, eingehüllt in eine Decke, von unten aufs Oberdeck. Ihr schwarzes Haar flatterte lose um ihr Gesicht. »Sei bloß vorsichtig!«, sagte sie. »Die See kann sehr rau sein.«

»Keine Sorge.«

Ein Schatten wanderte über den Horizont. Vielleicht ein anderes Schiff.

»Du misstraust mir«, sagte Distel. »Das verstehe ich.«

»Ich misstraue nicht dir«, erwiderte Aurora. Distel hatte ihr das Leben gerettet, ihre Wunden versorgt, war tagelang neben ihr hergewandert und hatte im selben Unterschlupf geschlafen. Das verband sie. Aurora empfand tiefen Respekt für die Sängerin. Sie schätzte ihre Gesellschaft. Vielleicht mochte sie sie sogar. Aber sie wusste einfach nicht, ob sie ihr trauen konnte. »Ich bin misstrauisch, was deine Beziehung zu Finnegan angeht.«

Distel schwieg eine Weile lang. »Ich bin nicht sein verlängerter Arm, Aurora«, sagte sie schließlich. »Ich handle nicht blindlings auf seinen Befehl hin. Wenn ich ihm helfe, dann nur, weil ich will. Und nur, wenn ich es für richtig halte.«

»Du hast mich auf seinen Befehl hin beschattet.«

»Auf seine Bitte hin. Und ich hab’s gern getan. Ich war selbst besorgt um dich.«

»Weil ich Hilfe brauchte.«

»Ja«, sagte Distel. »Und weil ich weiß, wie sich das anfühlt.«

Machte es einen Unterschied, ob Distel dazu gezwungen oder darum gebeten worden war, ihr zu folgen? So oder so hatte Finnegan dahintergesteckt. Aurora starrte aufs dunkel schimmernde Wasser. Alles, was sie zu Distel sagte, konnte bei Finnegan landen. Aber andererseits war die Sängerin im Augenblick Auroras wichtigste Informationsquelle.

»Was will Finnegan von mir?«, fragte Aurora. »Warum hat er dich geschickt?«

»Ich glaube, er ist fasziniert von deinen magischen Fähigkeiten.«

»Fasziniert? Was soll das heißen?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Distel. »Ich möchte ungern wild spekulieren. Vermutlich glaubt er, sie seien nützlich. Aber das liegt auf der Hand, oder? Magie in einer magiefreien Welt? Jeder wäre daran interessiert.«

Aurora nickte. Das klang einleuchtend und brachte sie endlich ein Stück weiter. Sie beherrschte ihre Magie noch nicht, aber Finnegan schien einiges darüber zu wissen, Details, die er ihr noch nicht erzählt hatte. Wenn er ihre Zauberkräfte für seine eigenen Zwecke benutzen wollte, musste er ihr helfen, sie zu bändigen. Und dass Celestine noch lebte, wusste er anscheinend nicht. Er würde also alles Mögliche anbieten, um im Gegenzug dafür Zugang zu der Magie zu bekommen, von der er annahm, dass sie die letzte auf der Welt sei.

»Denk jedoch nicht, das sei der einzige Grund«, fuhr Distel nach einer kurzen Pause fort. »Ich glaube, er ist um dich besorgt.«

»Besorgt?«

»Um dein Wohl. Er ist selbstsüchtig, Aurora, aber er hat auch eine sehr liebenswerte Seite.«

Das passte dazu, wie sie ihn vor ihrer Flucht aus Alyssinia erlebt hatte. Auch sie war von Finnegan fasziniert gewesen, und das, obwohl er sie schier zur Raserei getrieben hatte.

Doch etwas an Distels Äußerungen machte sie stutzig. »Du bist mir gegenüber sehr offen.«

»Wie meinst du das?«

»Du berichtest mir von Finnegans Plänen, erzählst mir von seinen möglichen Beweggründen … Du hast gesagt, du seist seine Spionin, und ich glaube nicht, dass Spione so etwas ausplaudern sollten. Das verstehe ich nicht.«

Distel lehnte sich ebenfalls nach vorn und richtete den Blick aufs Wasser. »Ich nehme meine Arbeit sehr ernst, Aurora«, sagte sie. »Aber ich finde, du hast Ehrlichkeit verdient. Ich weiß, wie es ist, wenn man sich vollkommen verloren fühlt. Ich will es für dich nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist.«

Aurora neigte den Kopf zur Seite und blickte sie an. »Warum arbeitest du ausgerechnet für Finnegan?«, fragte sie. »Wieso für ihn?«

Distel schwieg eine Weile und fixierte das Wasser. »Da, wo ich herkomme, kennt jeder jeden, und alle meinen, sie hätten das Recht, einem Vorschriften zu machen. Und das gefiel mir nicht. Ich konnte dort nicht ich sein. Ich wollte meine eigenen Erfahrungen machen. Als ich dann sechzehn wurde, bin ich von zu Hause fort. Mir war nicht klar, wie hart das Reisen sein würde. Denn egal, wohin ich auch kam, egal, welches Königreich, die Leute behandelten mich immer schlecht. Sie nutzten mich aus, bestahlen mich, und ich dachte: So sind also die Menschen. Und ich war mir sicher, dass Finnegan nicht anders sein würde als der Rest. Aber er erkannte mein Talent. Dass ich gelernt hatte, mich im Hintergrund zu halten, dass ich eine gute Beobachterin war, dass ich Menschen durchschauen konnte. Wir wurden Freunde. Und er bat mich, ihm zu helfen.«

»Und das hast du dann getan.«

»Ich kann nach wie vor durch die Welt reisen und Menschen beobachten. Aber ich leide keinen Hunger mehr. Im Gegenteil. Und ich habe so etwas wie einen Freund. Irgendwann wirst du merken, wie wertvoll solche Dinge sind, Aurora.«

»Ich weiß, wie wertvoll sie sind.«

»Wirklich? Bis vor kurzem bist du noch nie hungrig gewesen. Du warst noch nie wochenlang mutterseelenallein unterwegs, hast nie erlebt, dass Menschen dich geringschätzig behandeln, nur weil du aus einem anderen Land kommst. Du solltest mich nicht dafür verurteilen, dass ich mich mit ihm verbündet habe, oder glauben, dass ich deswegen gegen dich bin.«

Aurora beobachtete das Auf und Ab der Wellen. »Ich verurteile dich nicht«, sagte sie leise. »Es ist nur so, dass …« In Auroras Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. »Seit ich wach bin, haben sich alle Menschen verstellt, mit denen ich zu tun hatte. Alle wollen mich für ihre eigenen Zwecke benutzen. Tristan wollte mich für die Revolution gewinnen, der König und die Königin wollten mich als willenlose Marionette, und selbst Finnegan hatte bereits meine Flucht geplant, noch bevor ich überhaupt etwas davon erwähnt hatte. Und jetzt auch noch du. Du solltest nur eine Sängerin sein. Kein Rätsel, sondern einfach nur du. Und jetzt … jetzt weiß ich gar nichts mehr.«

»Vielleicht liegt genau da das Problem«, sagte Distel. »Niemand ist einfach nur so oder so. Menschen sind vielschichtig.«

»Vielschichtig zu sein bedeutet aber nicht, dass man Spion ist.«

»Ein Spion zu sein macht niemanden zwangsläufig zu einem schlechten Menschen. Es bedeutet nicht, dass die Person dich ausnutzen will.«

»Nein«, sagte Aurora. »Das weiß ich.« Und so war es auch. Sie konnte Distels Beweggründe verstehen, sah, dass sie ein gutes Herz hatte. Doch sie wusste nicht so recht, was sie noch weiter sagen sollte, und so drehte sie sich von Distel weg und blickte wieder zum Horizont.

 

Als Aurora am nächsten Tag erwachte, schmeckte die Luft nach Rauch. Distel war nicht in ihrer Kabine, und durch das Bullauge konnte Aurora nichts als Wasser erkennen. Also stieg sie die Stufen zum Hauptdeck hinauf. Distel lehnte an der Reling und schaute zur Küste hinüber.

Es war verödetes Land, schwarz und rot. Rauchsäulen stiegen vom Boden auf, und selbst der Himmel sah versengt und grimmig aus. Alles Leben war ausgelöscht worden, und zurück war eine verkohlte, leere Hülle geblieben. Es schien falsch, dass solch eine Kargheit in unmittelbarer Nähe des vor Lebenskraft strotzenden Wassers existierte.

Aurora hätte es nie für möglich gehalten, dass es so etwas überhaupt gab. Dass dies hier auf der anderen Seite des Meeres wartete, dass dies die Welt jenseits der Grenzen ihres Königreichs war.

Aurora ging zu Distel hinüber. Irgendwie kam es ihr angesichts der verwüsteten Landschaft vor ihnen falsch vor, sich schnell zu bewegen oder laut zu sprechen. »Welcher Ort ist das?«, flüsterte sie.

»Vanhelm«, sagte Distel. »Jedenfalls früher einmal.«

Vanhelm. In Auroras Vorstellung hatte Finnegans Königreich so ähnlich ausgesehen wie ihr eigenes, mit Wäldern und Schlössern und voller Leben. Nicht wie diese Ruinenlandschaft aus Asche und Rauch.

»Was ist passiert?«

Die Sängerin starrte unverwandt über das Wasser. »Drachen.«

Wie Distel es sagte, klang es wie eine Selbstverständlichkeit. Aber da war rein gar nichts mehr übrig. Nichts. Wie hätten Drachen so etwas anrichten sollen?

Das Schiff fuhr an den Ruinen eines Hauses vorüber, das nah am Ufer stand. Seine Mauern waren geschmolzen und eingesunken, so als würde es sich unter der gleißenden Sonne zusammenkauern.

»So wie Finnegan immer von Vanhelm gesprochen hat, und nach allem, was Iris erzählte, hätte ich nicht gedacht, dass es hier so aussieht.«

»Er meinte nicht das hier. Das, was du hier siehst, ist nicht das Königreich, nicht mehr. Wenn sie Vanhelm sagen, dann meinen sie die Insel, die Hauptstadt«, sagte sie. »Ein ganzes Land in nur einer Stadt.«

Aurora sah zum Heimatland ihrer Vorfahren hinüber, das jetzt in Schutt und Asche lag. »Nur eine Stadt hat überlebt?«, fragte sie. »Eine einzige?«

»Nur eine«, erwiderte Distel. »Es war der einzige Ort, der von Wasser umgeben war. Nur dort ist es sicher.« Der Wind fuhr in ihr Haar und blies ihr dunkle Strähnen ins Gesicht.

»Haben viele Menschen außerhalb der Stadt gelebt? Bevor … bevor es so wurde?«

»Sehr viele Menschen«, entgegnete Distel. »Und nur wenige sind entkommen.«

Wie viele hatten allein in diesem Teil von Vanhelm gelebt? Es mussten Tausende von Menschen gestorben sein. Zehntausende. Mehr, als sie sich je würde vorstellen können.

Aurora griff nach der Drachenkette an ihrem Hals. Der vom Wind verwehte Rauch kratzte in ihrer Kehle.

Finnegan hatte sie mit den Drachen verglichen, die nach ihrem Erwachen sein ganzes Königreich dem Erdboden gleichgemacht hatten. Was erwartete er da von ihr?

Am Horizont kam langsam die Stadt Vanhelm in Sicht. Zuerst war sie nur ein unscharfer Schatten, ein grauer Fremdkörper im morgendlichen Nebel, doch je näher das Schiff heranglitt, desto klarer wurden ihre Formen zu Häusern, Türmen und Zinnen, alle unterschiedlich hoch in den Himmel aufragend. Aurora hatte bereits Petrichor beeindruckend gefunden, mit seinem Gewirr aus verwinkelten Straßen, die sich vom Schloss aus in alle Richtungen wanden, aber Vanhelm war atemberaubend. Genauso respekteinflößend wie das Ödland, aber zugleich auch strahlend wie eine Stadt voller Geheimnisse.