Ewig Zweiter - David Nicholls - E-Book

Ewig Zweiter E-Book

David Nicholls

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Beschreibung

Stephen McQueen war schon sechsmal eine Leiche. Im Klartext: Er ist ein erfolgloser Schauspieler. Das Blatt scheint sich zu wenden, als er den attraktiven Darsteller Josh Harper bei Krankheit vertreten soll. Schade nur, dass sich Josh bester Gesundheit erfreut. Und warum muss sich Stephen ausgerechnet in Joshs Frau Nora vergucken? "David Nicholls ist ein Meister des britischen Humors. Ewig Zweiter ist ein Glanzstück: selten so gelacht." Frank Goosen "Ein humorvoller und berührender Roman." Sunday Mirror "Treffend und witzig, klug und sehr gut erzählt." The Independent

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Ewig Zweiter

Der Autor

DAVID NICHOLLS, Jahrgang 1966, ist ausgebildeter Schauspieler, hat sich dann aber für das Schreiben entschieden. Mit seinem Roman »Zwei an einem Tag« gelang ihm der Durchbruch, seine Romane wurden in vierzig Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit über acht Millionen mal. 2014 wurde sein Roman »Drei auf Reisen« für den Man Booker Prize nominiert. Auch als Drehbuchautor ist David Nicholls überaus erfolgreich und mehrfach preisgekrönt, zuletzt erhielt er den BAFTA und eine Emmy-Nominierung für »Patrick Melrose«, seine Adaption der Romane von Edward St Aubyn, die als HBO-Serie Furore machte.Von David Nicholls sind in unserem Hause bereits erschienen: Keine weiteren Fragen · Ewig Zweiter · Zwei an einem Tag · Sweet Sorrow

David Nicholls

Ewig Zweiter

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2021© 2005 by David NichollsCopyright der deutschen Übersetzung © 2006 Kein und Aber AG Zürich – BerlinCopyright der deutschen Ausgabe © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Titel der englischen Originalausgabe: The Understudy (Hodder & Stoughton, London)Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenTitelabbildung: © James Coates 2020Autorenfoto: joSon / Gallery StockE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2469-2

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Erster Akt

VOR DEM AUFTRITT

SUNSET BOULEVARD

GESTATTEN, NUMMER ZWÖLF

DER BEINAHE-LEBENSLAUF

DER MANN IM SCHWARZEN WOLL-LYCRA-TRIKOT

ALLTAGSDRAMEN

CARY GRANT

»BITTE ANSCHNALLEN. ES WIRD EINE UNRUHIGE NACHT«

ZWEI ZIGARETTEN AUF EINMAL

ERROL FLYNN AUF ANTIBIOTIKA

Zweiter Akt

DIE TITELROLLE

DER KÖNIG DER WELT

HARRISON FORD UND DAS FRÜHSTÜCKSZIMMER DES VERDERBENS

EINE UNBEZÄHMBARE LEBENSKRAFT

WENN ICH NUR DEN MUT HÄTTE

LAMPENFIEBER

DAS OBJEKT DER BEGIERDE

Dritter Akt

DIE UNGLAUBLICHEN ABENTEUER DER NORA SCHULZ

NEW YORK, NEW YORK

DER MANN DES JAHRES

COFFEE AND CIGARETTES

ROMANTISCHES-KOMÖDIEN-VERHALTEN

DIE HOHE KUNST DES STUTZENS

DAS PHANTOM DER OPER

BODYGUARD WIDER WILLEN

DIE SEI-BRAV-STIMME

EIN ANGEBOT, DAS MAN NICHT ABLEHNEN KANN

Vierter Akt

DER GROSSE DURCHBRUCH

THERE’S NO BUSINESS LIKE SHOW BUSINESS

DER PROMI

NACHHILFE IN CHARISMA

MEIN ESSEN MIT SOPHIE

LAUREN BACALL

DAS GROSSE WEISSE BETT

SUPERMAN VS. SAMMY DAS EICHHÖRNCHEN

KRYPTONIT

DER KOSTÜMJOB

DIE GRAUSAME WAHRHEIT

FLÜCHTIGE BEGEGNUNG

DER UNSICHTBARE

VALIUM

DER LETZTE ZEUGE

UNGELÖSTE SEXUELLE SPANNUNG

DIE GROSSE REDE

SHOWDOWN BEIM IDAHO FRIED CHICKEN

Fünfter Akt

AUF DIE BÜHNE, BITTE

A STAR IS BORN

GESPRENGTE KETTEN

WEISSE WEIHNACHTEN

THE LONG GOODBYE

DAS ERSTE GLÜCK

Anhang

DANK

Nachweis der Zitate

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

Erster Akt VOR DEM AUFTRITT

Widmung

Für Roanna Benn, Matthew Warchusund Hannah Weaver, für die Pausen.

Motto

Nein! Ich bin kein Prinz Hamlet, nicht dazu bestimmt;Bin Haushofmeister, treib die Handlung an,Beginne ein, zwei Szenen, rate dannDem Prinzen; ein willfähriges Werkzeug, starrVor Ehrfurcht, hocherfreut, wenn oft benutzt,Sehr höflich, vorsichtig und schächerlich;Voll großer Worte, doch auch dumm-verdutzt;Zuzeiten, in der Tat, fast lächerlich –Zuzeiten fast der Narr.T.S. Eliot, J. Alfred Prufrocks Liebesgesang

 

Lern den Text, und stoß nicht an Möbel.

Spencer Tracy

Erster Akt VOR DEM AUFTRITT

– Das ist nicht das wirkliche Leben, Jungchen. Das ist nur gespielt.– Aber darum gehts doch im »wirklichen Leben«: Wie gut wir spielen. Sie. Ich. Jeder auf der Welt …Jack Rosenthal, Ready when you are, Mr McGill

SUNSET BOULEVARD

Summers and Snow, Folge drei, vierte Fassung

CHIEF INSPECTOR GARRETT … oder Sie regeln schneller wieder den Verkehr, als Sie »Strafversetzung« sagen können.INSPECTOR SUMMERSAber Sir, er spielt doch nur mit uns, wie die Katze mit der …CHIEF INSPECTOR GARRETTIch sags noch einmal: Bleiben. Sie. Sachlich. Ich will Ergebnisse sehen, und zwar gestern, oder Sie sind raus aus dem Fall, Summers.(SNOW will etwas sagen)Das ist mein Ernst. Und jetzt raus hier – alle beide!

INNEN. GERICHTSMEDIZIN. TAG.

BOB »BONES« THOMPSON, der Gerichtsmediziner, kränklicher Teint, makabrer Sinn für Humor, beugt sich über die halbnackte Leiche eines JUNGEN MANNES Anfang 30, dessen aufgedunsener Körper kalt und tot auf dem Seziertisch liegt und erste Anzeichen von Verwesung aufweist – CONSTABLE SNOW presst sich ein Taschentuch vors Gesicht.

INSPECTOR SUMMERSAlso, Thompson, setzen Sie mich ins Bild. Wie lange ist er Ihrer Meinung nach schon tot?THOMPSONSchwer zu sagen. So, wie er stinkt, würde ich ihn nicht gerade als Frischfleisch bezeichnen …INSPECTOR SUMMERS(verzieht keine Miene)Die Zeit drängt, Bones …THOMPSONNa gut, also, dem Verwesungsgrad, dem aufgequollenen Zustand und den Hautverfärbungen nach zu urteilen, hat er ungefähr … eine Woche im Wasser gelegen, plusminus einen Tag. Vorläufiges Untersuchungsergebnis: Tod durch Strangulation. Die Male am Hals lassen darauf schließen, dass der Mörder ein dickes, grobes Seil oder eine Kette benutzt hat …INSPECTOR SUMMERSEine Kette? Jesses, das arme Schwein …POLICE CONSTABLE SNOWWer hat die Leiche entdeckt?(SUMMERS wirft ihr einen Blick zu: »Ich stelle hier die Fragen …«)THOMPSONIrgendein Muttchen, beim Gassigehen mit dem Hund. Reizende Dame, 82 Jahre alt. Ich schätze, euren Serienkiller müsst ihr schon woanders such …

»Moment mal … Nein – nein, tut mir Leid, Leute, wir müssen abbrechen.«

»Was ist los?«, schnauzte Detective Inspector Summers.

»Da stört was im Bild.«

»Auf dem Objektiv?«

»Die Nasenflügel der Leiche. Man sieht ihn atmen. Wir müssens wiederholen.«

»Ach, Herrgott noch mal …«

»Sorry! Tut mir wirklich Leid, Leute«, sagte der TOTE JUNGE MANN, setzte sich auf und verschränkte verlegen die Arme vor der blau geschminkten Brust.

Das Team bereitete alles wieder vor, und der Regisseur, ein bekümmert wirkender Mann mit langem Gesicht, dessen nicht sehr überzeugende, weit nach hinten geschobene Baseballkappe eine Denkerstirn enthüllte, fuhr sich mit beiden Händen langsam übers Gesicht und seufzte. Er hievte sich aus dem Regiestuhl, schritt zum TOTEN JUNGEN MANN hinüber und kniete sich kumpelhaft neben den Seziertisch.

»Na schön, Lazarus – gibt es irgendein Problem?«

»Nein, nein, Tony, alles bestens …«

»Denn, tja, wie soll ich sagen – im Moment machen Sie ein bisschen zu viel.«

»Ja, tut mir Leid.«

Der Regisseur sah auf die Uhr, schob die Baseballkappe zurück und rieb sich die roten Druckstellen. »Es ist schließlich fast halb drei und … wie war noch gleich der Name?«

»Stephen, Stephen McQueen. Mit P-H.«

»Nicht verwandt?«

»Nicht verwandt.«

»Nun, Stephen mit P-H, es ist fast halb drei, und wir haben noch nicht mal mit der Autopsie angefangen …«

»Ja, natürlich. Es ist nur, das grelle Licht, das Lampenfieber und so …«

»Sie müssen ja gar nicht schauspielern, Sie sollen verdammt noch mal einfach nur daliegen.«

»Ich weiß, Chris, es ist nur schwierig, die ganze Zeit so zu tun, als würde man nicht atmen, wissen Sie …«

»Niemand verlangt, dass Sie die Luft anhalten …«

»Nein, ist mir klar«, sagte Stephen und rang sich ein kumpelhaftes Lachen ab.

»… aber liegen Sie bitte nicht da und hecheln wie nach einem gottverdammten 200-Meter-Lauf, okay?«

»Okay.«

»Und keine Grimassen. Geben Sie mir etwas … Neutrales.«

»Neutral. Okay. Und sonst …?«

»Ansonsten leisten Sie wirklich fantastische Arbeit.«

»Und glauben Sie, wir sind bis sechs fertig? Ich müsste nämlich noch …«

»Tja, das liegt an Ihnen, oder, Steve?«, sagte der Regisseur, rückte die Kappe zurecht und schritt zu seinem Klappstuhl zurück. »Ach, und Steve?«, rief er über den Set. »Bitte ziehen Sie den Bauch nicht ein – Sie sollen schließlich aufgedunsen sein.«

»Aufgedunsen. Okay, aufgedunsen.«

»Na schön, alle auf Position«, rief der erste Regieassistent, und Stephen legte sich wieder auf den Marmortisch, zupfte die feuchte Unterwäsche zurecht, schloss die Augen und versuchte, so tot wie möglich auszusehen.

Das Geheimnis wirklich großer Schauspielkunst vor der Kamera liegt darin, so wenig wie möglich zu tun, was natürlich besonders für die Darstellung unbelebter Objekte gilt.

In den elf Jahren seiner professionellen Karriere hatte Stephen C. McQueen bis jetzt sechs Leichen verkörpert, alle waren sorgfältig durchdacht und subtil dargestellt, und alle vermittelten eindringlich das Pathos des Nicht-Lebendigen. Um nicht auf eine Rolle festgelegt zu werden, hatte er diese Tatsache in seinem Lebenslauf heruntergespielt, indem er den verschiedenen Toten faszinierende, charismatische Hauptrollennamen wie MAX oder OLIVER gab anstelle der exakteren, aber weniger sinnträchtigen Bezeichnungen LEICHE oder OPFER. Aber anscheinend hatte es sich in der Branche herumgesprochen: Niemand tat so gekonnt nichts wie Stephen C. McQueen. Brauchte man jemanden, der im Morgengrauen aus dem Grand-Union-Kanal gefischt wurde oder ohne Murren schlaff und gebrochen auf einer Motorhaube lag oder mit dem Gesicht voran in einen matschigen Schützengraben des Ersten Weltkriegs fiel, dann war er der richtige Mann. Seine erste Rolle nach der Schauspielschule war STRICHER 2 in Vice City gewesen, einem harten, nicht jugendfreien Krimi. Er hatte einen Satz zu sagen …

STRICHER 2(Tyneside-Akzent)Na, wie wärs mit ’n bisschen Spaß, Mista?

 … und verbrachte dann einen langen, heißen Nachmittag in einem schwarzen Müllsack, aus dem nur sein Arm heraushing. Jetzt, mit 32, lagen seine Strichertage natürlich hinter ihm, aber alle anderen sterblichen Überreste konnte Stephen C. McQueen normalerweise immer noch verkörpern.

Aber aus irgendeinem Grund ließ seine Technik ihn heute im Stich. Das war schade, denn Summers and Snow war eine TV-Institution, und in ein paar Monaten würden es sich über neun Millionen Menschen an einem Sonntagabend vor der Glotze gemütlich machen und zusehen, wie er erst schnell erdrosselt wurde und dann in fremder Unterwäsche leblos hier herumlag. Das konnte man zwar schwerlich einen Durchbruch nennen, aber wenn dem Regisseur gefiel, was er tat beziehungsweise nicht tat, und er mit seinen Co-Stars gut auskam, gab man ihm vielleicht eine Rolle, in der er herumlaufen, das Gesicht bewegen und sprechen durfte. Erste Showbiz-Regel: Es zählt nicht, was du kannst, sondern wen du kennst. Bleib professionell. Denk positiv. Sei engagiert. Hab immer eine Motivation. Der Trick ist, Eindruck zu machen. Sorg dafür, dass die Leute dich mögen, wenigstens bis du so berühmt bist, dass es egal ist.

In der Drehpause setzte sich Stephen kerzengerade auf den kalten Seziertisch und dehnte die Arme hinter dem Rücken, bis er es in den Schultern knacken fühlte – es war wichtig, sich nicht zu verkrampfen und geschmeidig zu bleiben. Er sah sich auf dem Set um und hoffte, mit seinen Schauspielkollegen ins Gespräch zu kommen. Der Raubeinige, Harte, Eigenbrötlerische Ex-Alkoholiker Detective Inspector Tony Summers und seine Forsche, Eigenwillige Kollegin Police Constable Sally Snow standen ein Stück weiter in einem dichten Grüppchen, tranken Tee aus Plastikbechern und aßen selbstbewusst die besten Kekse. Stephen war schon immer ein bisschen in Abigail Edwards, die Darstellerin der Police Constable Snow, verknallt gewesen und hatte sich sogar einen kleinen Scherz über seinen Part ausgedacht, den er beiläufig in die Unterhaltung einfließen lassen konnte. »Von irgendwas muss man ja leben, Abi«, würde er in der Drehpause selbstironisch aus dem Mundwinkel witzeln und eine angemoderte Augenbraue hochziehen, und sie würde mit blitzenden Augen lachen, und vielleicht würden sie nach Drehschluss Telefonnummern austauschen und was trinken gehen oder so. Aber es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben. In den Pausen hatte sie ihn kaum beachtet, und was Abigail Edwards anging, hätte er, nun ja, genauso gut tot sein können.

Eine gut gelaunte Visagistin tauchte an Stephens Seite auf, besprühte ihn mit Wasser und betupfte ihm die Lippen mit Vaseline. Hieß sie Deborah? Noch eine Showbiz-Regel: Sprich immer alle mit Namen an …

»Na, Deborah, wie seh ich aus?«, fragte er.

»Ich bin Janet. Sie sehen klasse aus! Ist schon ein komischer Job, hm?«

»Tja – von irgendwas muss man ja leben!«, witzelte er, aber Janet saß schon wieder auf ihrem Klappstuhl.

»Jetzt bitte ein bisschen Beeilung, Leute!«, blaffte der erste Regieassistent, und Stephen legte sich wieder wie ein großer nasser Fisch auf den Seziertisch.

Lieg still.

Man darf dich nicht atmen sehen.

Vergiss nicht – du bist tot.

Meine Motivation ist, nicht lebendig zu sein.

Agieren heißt nicht re-agieren.

Sein Agent hatte übrigens auf dem C. in Stephen C. McQueen bestanden, um Verwechslungen mit dem international bekannten Filmstar zu vermeiden.

Diesen Fehler hatte allerdings bisher noch niemand gemacht.

GESTATTEN, NUMMER ZWÖLF

Der neue Romantiker

Glückspilz Lucy Chatterton macht dem Angesagten Jungen Schauspieler schöne Augen, der derzeit das glamouröse Londoner West End – und Hollywood – in Aufruhr versetzt.

Blanker, unverhohlener Neid war die einhellige Reaktion meiner Freundinnen, wenn ich von dem geplanten Interview mit Josh Harper erzählte. »Hast du ein Schwein«, seufzten sie, »glaubst du, du kriegst seine Telefonnummer?« Als ich ihm in einem exklusiven Members’ Club im West End gegenübersitze, wird mir schnell klar, warum.

Der gerade mal 28-jährige Josh Harper gilt als Großbritanniens angesagtester und attraktivster Jungschauspieler und wurde erst kürzlich von den Leserinnen einer bekannten Frauenzeitschrift zum zwölftsexiesten Mann der Welt gekürt. Vor vier Jahren wurde er mit einem Schlag berühmt, als er für seine herzzerreißende Darstellung des Clarence, eines geistig behinderten jungen Mannes im Kampf gegen eine tödliche Krankheit, in dem hochgelobten TV-Drama Nutze den Tag als jüngster Schauspieler aller Zeiten einen British Academy Film and Television Award (BAFTA) bekam. Seitdem hatte er Riesenerfolg, ob auf der Bühne als Herzensbrecher Romeo oder auf der Leinwand als psychotischer Gangster in Frauenkleidern in dem ultrabrutalen britischen Gangsterfilm Stiletto, und fand nebenbei noch Zeit, in dem futuristischen Thriller TomorrowCrime die Welt zu retten. Zu Weihnachten kommt sein bisher größter Film in die Kinos, das Sci-Fi-Abenteuer Mercury Rain, eine aufwendige Hollywoodproduktion, aber im Moment widersteht er Hollywoods Lockruf, um einen weiteren charmanten Draufgänger zu spielen: Lord Byron im von der Kritik gefeierten West-End-Stück Verrückt, verworfen und gefährlich.

»Es schildert Byrons Leben mit seinen eigenen Worten – aus seinen Briefen, Gedichten und Tagebüchern«, sagt er, nippt an einem doppelten Espresso und sieht mich mit seinen beunruhigend strahlend blauen Augen an. »Eine tolle Geschichte. Byron war gewissermaßen der erste Rockstar – internationaler Ruhm, die Frauen warfen sich ihm an den Hals –, aber er war auch sehr radikal und politisch engagiert, genau wie ich. Außerdem war er bisexuell, hatte eine inzestuöse Beziehung mit seiner Schwester und einen Klumpfuß. Ein wilder, abgedrehter Typ!«

Kann er sich mit der Figur identifizieren?, will ich wissen.

»Was, abgesehen von dem Klumpfuß?«, lacht er. »Na ja, wir sind wohl beide sehr leidenschaftlich. Und ich interessiere mich außerordentlich für Politik, besonders Umweltpolitik. Natürlich bin ich glücklich verheiratet. Und ich liebe meine Schwester, aber, wissen Sie – es gibt Grenzen!« Josh Harper wirft den Kopf zurück und lacht wieder, schallend und warmherzig. Zwei Frauen am Nebentisch beobachten uns. Sehe ich da Neid in ihren Augen?

Dann erzählt mir Josh, dass er gerne Theater und kommerziellere Big-Budget-Produktionen mischt. Hollywood hat immer noch eine gewisse Faszination für ihn, obwohl er noch nicht vorhat, ganz dorthin zu ziehen. »Ich hatte Riesenspaß bei Mercury Rain – man darf in Raumanzügen rumrennen und mit Waffen fuchteln – aber in diesen Sci-Fi-Spektakeln spielt man meist nur vor dem Bluescreen, damit sie später die Special Effects einbauen können. Aber ich hoffe, der Film ist ein bisschen anspruchsvoller und intelligenter als die meisten von der Sorte. Er basiert auf dem altenglischen Gedicht Beowulf, spielt aber im Weltraum. Das Tolle an solchen Event-Movies ist, dass ich mir finanziell erlauben kann, die Dinge zu tun, die mir wirklich am Herzen liegen – wie Theater, beispielsweise Verrückt, verworfen … oder kleine Independent-Filme. Popularität und Ruhm sind klasse, wenn man einen Restauranttisch kriegen will, aber deshalb mache ich den Job nicht. Ich liebe den Schweißgeruch echter Schauspielerei.«

Will er noch mehr große Hollywoodfilme machen?

»Na klar! Was soll ich sagen – ich finds geil, Dinge in die Luft zu jagen!!! Und ja, es gibt da ein paar Angebote, aber die sind noch nicht spruchreif. Ich könnte nie für immer nach L.A. ziehen – dafür mag ich Bier, Fluppen und Fußball einfach zu gerne.«

Und was ist dran an den James-Bond-Gerüchten? Josh sieht verlegen aus.

»Leider nur ein Gerücht. Meine Leute haben mit ihren Leuten geredet, aber bisher ist es nur ein Luftschloss. Schließlich bin ich noch zu jung. Vielleicht später. Natürlich würde ich gern den Bond spielen – welcher Schauspieler will das nicht?«

Die Presseagentin tippt auf die Uhr, und die Zeit reicht nur noch für ein paar Schnellfeuerfragen. »Wer oder was ist die große Liebe Ihres Lebens?«, frage ich.

»Meine Frau natürlich«, antwortet er wie aus der Pistole geschossen mit leuchtenden Augen. Josh ist seit zwei Jahren mit Nora Harper verheiratet, einer ehemaligen Sängerin. Sorry, Ladys!

»Und wie oft schlafen Sie miteinander?«, frage ich dreist. Zum Glück lacht Josh nur.

»Wenn die Frage nicht zu persönlich ist?!? So oft wie möglich.«

»Wie entspannen Sie sich?«

»Siehe oben!«

»Und wann waren Sie am glücklichsten?«

»Siehe oben!!«

»Lieblingsgeruch?«

Er überlegt kurz. »Entweder frisch gemähtes Gras oder der Kopf eines neugeborenen Babys …«

»Lieblingsfilm?«

»Das Imperium schlägt zurück.«

»Und ihr Lieblingswort?«

Er denkt kurz nach. »Coup de foudre – das hab ich von meiner Frau gelernt.«

 … und an dieser Stelle entschied Stephen C. McQueen, mit dem Lesen lieber aufzuhören. Er warf die Zeitung auf den gegenüberliegenden Sitz des Zugabteils zurück. Was sollte der Quatsch mit dem Kopf eines neugeborenen Babys? Josh hatte keine Kinder. An wessen Kopf wollte er gerochen haben? Vom Sitz gegenüber grinste ihn das Foto von Josh an, der sich, perfekt unrasiert und das Hemd bis zur Taille aufgeknöpft, mit den Händen durchs Haar fuhr. Stephen drehte die Zeitung um und sah aus dem Zugfenster, an dem die Hoch- und Reihenhäuser von Stockwell und Vauxhall vorbeiglitten.

Sein Blick fiel auf sein Spiegelbild im Fenster, und er überlegte, wie er James Bond interpretieren würde. Die Rolle war ihm zwar noch nicht angeboten worden, aber als Privat-Casting zog er eine Augenbraue hoch, schenkte sich ein smartes kleines James-Bond-Lächeln und versuchte angestrengt, sich vorzustellen, er stehe im weißen Smoking, umringt von schönen, gefährlichen Frauen, an einem Roulettetisch.

In einer flüchtigen Vision stürzte er als KONTROLLRAUM-TECHNIKER 4 mit brennendem Laborkittel rückwärts durch eine Zuckerglasscheibe auf ein U-Boot-Dock hinunter.

DER BEINAHE-LEBENSLAUF

Stephen C. McQueen hatte zwei Lebensläufe.

Neben der wahrheitsgemäßen Auflistung der Dinge, die er tatsächlich erreicht hatte, gab es den Beinahe-Lebenslauf. Das war die glückliche Version seines Lebens, in der es keine haarscharf verpassten Chancen, kein »Knapp daneben ist auch vorbei« und keine zweite Wahl gab; die Version, in der er nicht auf dem Weg zum Vorsprechen vom Fahrrad gestoßen wurde, in der ersten Probenwoche Herpes bekam oder der Depp vom Fernsehen die Rolle ergatterte.

Diese erstaunliche Phantom-Karriere begann damit, dass Stephen um ein Haar enthusiastisches Lob für seine herausragende Darstellung des Malcolm in Macbeth geerntet hätte und dann fast als herzzerreißender Biff in Tod eines Handlungsreisenden auf landesweite Tournee gegangen wäre. Die potenziellen Kritiken, die er bald darauf wohl für seinen hypothetischen König Richard II. erhalten hätte, waren zu schön, um wahr zu sein. Er weitete sein Betätigungsfeld aufs Fernsehen aus und war nahe dran, als frecher, unkonventioneller Anwalt Todd Francis in der Erfolgsserie Gerechtigkeit für alle die Herzen der TV-Nation zu erobern, und es war gut möglich, dass dem eine ganze Reihe erfolgreicher Filmrollen dies- und jenseits des Atlantiks gefolgt wäre.

Dummerweise hatten all diese Triumphe in anderen, imaginären Welten stattgefunden, und es gab strenge Branchenvorschriften, was das Einreichen von Lebensläufen aus Paralleluniversen betraf. Die mangelnde Bereitschaft, auch Ereignisse aus anderen raumzeitlichen Dimensionen zu berücksichtigen, war schuld daran, dass Stephen nur sein richtiger Lebenslauf blieb. Diese echte Vita spiegelte sowohl die Unfähigkeit seines Agenten, nein zu sagen, als auch Stephens erstaunlichen Hang, ja, sein Talent zum Pech; und sie war es, die ihn hierher verschlagen hatte, ins glitzernde West End von London.

Als Stephen im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern zum ersten Mal London besucht hatte, war ihm der Piccadilly Circus vorgekommen wie der Nabel der Welt, eine unglaublich glamouröse, fremdartige Landschaft, ein Ort, wo in alten britischen Musicals aus den Sechzigern jederzeit eine Tanzeinlage losgehen konnte. Das war jetzt 24 Jahre her. Heute war der Piccadilly Circus Stephens Arbeitsplatz, und als er aus der heißen, stickigen Luft des U-Bahnhofs in den feuchten Oktoberabend hinaustrat, sah er nichts als einen ziemlich protzigen und tückischen Kreisverkehr. In der Nähe arbeitete sich ein näselnder Straßenmusikant verbissen durch das Songbook von Radiohead – die Chance, dass eine Tanzeinlage einsetzte, war mehr als gering. Stephen bemerkte die Eros-Statue kaum noch, das sicher unterwältigendste Wahrzeichen der Welt. Wenn er aufsah, dann nur, um auf der Digitaluhr unter der Coca-Cola-Reklame nachzuschauen, ob er spät dran war.

19:01 Uhr.

Er war spät dran. Er legte einen Zahn zu.

Das Hyperion Theatre steht an der Shaftesbury Avenue zwischen einem Küchengroßhandel und einem jener typisch amerikanischen Steakhäuser, die man in Amerika nirgendwo findet und in denen immer mindestens eine weinende Frau sitzt. Stephen, der sich drängelnd und schubsend einen Weg durch die Menge bahnte, war noch immer leicht blaugrau von seiner Autopsie und fiel gar nicht auf unter den desorientierten Reisebus-Gruppen, den blassen, benommenen Verkäufern, die sich nach Hause kämpften, und den traurigen, heimwehkranken spanischen Studenten, die ihm Reklamezettel für Englischunterricht anboten. Er hastete vorbei an den unzähligen Wechselstuben und berüchtigten Schnellimbiss-Ständen, die Berge von klebrigem, orange schillerndem süßsaurem Schweinefleisch und »Pizza« verkauften – dicke, graue Teigecken, beschmiert mit Tomatenpüree und wachsartigem Käse. Vielleicht sollte er etwas essen. Vielleicht ein Stück Salamipizza. Er warf einen Blick auf die Stücke, die unter Hochleistungsglühbirnen vor sich hintranspirierten: Ölige rote Schweißperlen glitzerten auf der Salami. Vielleicht lieber nicht. Vielleicht sollte er bis nach der Arbeit warten. Es war jetzt 19:03 Uhr, das hieß, er kam streng genommen zu spät zum ersten Zeichen. Das Theater war jetzt in Sicht, und wenn er nach Osten die Shaftesbury Avenue hinunterschaute, konnte er die riesige, drei Stockwerke hohe Reklametafel von Josh Harper sehen, die drohend über die Menschenmenge aufragte.

Auf der Reklametafel trug der zwölftsexieste Mann der Welt ein bis zur Taille aufgeknöpftes weißes Rüschenhemd und eine enge schwarze Lederhose von zweifelhafter historischer Authentizität. Er hatte einen Degen in der rechten Hand und machte einen Ausfallschritt auf die Passanten zu, mit der linken hielt er ein Buch hoch über den Kopf, als wolle er sagen: »Ich bring noch schnell das Duell hinter mich und schreibe dann an Don Juan weiter.« Quer über sein Becken waren in extravaganter, schwungvoller Schrift die Worte Verrückt, verworfen und gefährlich gekritzelt, was literarische Qualität und historische Echtheit suggerieren sollte. »Eine Tour de Force! Josh Harper ist Lord Byron«, verkündete die Reklametafel, das kursive ist erstickte jeden Einwand im Keim. »Stark begrenzte Spielzeit!« Als er die Reklametafel vor drei Monaten im August zum ersten Mal sah, amüsierte ihn die Vorstellung, »stark begrenzt« beziehe sich auf Josh Harpers schauspielerische Fähigkeiten, aber er war nicht sicher, ob irgendjemand außer ihm diese Beobachtung lustig oder passend finden würde, und abgesehen davon gab es niemanden, dem er sie erzählen konnte.

Stephen sah wieder auf die Uhr: vier Minuten nach, neun Minuten zu spät, absolut unprofessionell, unverzeihlich für eine Zweitbesetzung. Aber noch konnte er damit durchkommen, vorausgesetzt, Donna stand nicht am Bühneneingang. Unbemerkt eilte er an einem Grüppchen von Autogrammjägern vorbei, die auf Josh warteten – heute waren es acht, kein schlechtes Ergebnis.

»Zehn Minuten zu spät, Mr McQueen«, sagte Donna am Bühneneingang. Donna war die Inspizientin, eine kleine, untersetzte Frau mit breitem, plumpem, an einen bemalten Schuhkarton erinnerndem Gesicht, dem spröden Haar eines Ex-Gruftis und dem mürrischen Benehmen einer verbitterten Sportlehrerin. Wie immer trug sie die obligatorische, verblichene schwarze Jeans und den obligatorischen riesigen Schlüsselbund, den sie jetzt um einen Finger wirbeln ließ wie einen Revolver.

»Puh!«, sagte Stephen. »Da draußen gehts zu wie am Piccadilly Circus!«

»Das wird nicht lustiger, Stephen.«

»Tut mir Leid, Donna, die U-Bahn ist schuld …«

»Das ist keine Entschuldigung«, knurrte Donna und tippte eine Nummer in ihr Handy.

»Du bist so gut drauf, was ist los?«

»Er ist noch nicht da«, bemerkte Kenny der Pförtner von seinem Schreibtisch aus.

»Er ist noch nicht da? Wer ist nicht da?«

»Er ist noch nicht da«, sagte Donna finster.

»Josh?«

»Ja, Josh.«

»Josh ist noch nicht da?«

»Josh ist noch nicht da.«

Plötzlich hörte Stephen das Blut in seinen Ohren rauschen.

»Aber die Vorstellung fängt gleich an, Donna!«

»Was du nicht sagst.«

»Tja. Und – hast du ihn schon angerufen?«

»Brillante Idee«, sagte Donna, nahm das Handy vom Ohr und schwenkte es. Sie leckte sich die Lippen, strich sich den struppigen Pony aus der Stirn, bereitete sich darauf vor, dem Mann höchstpersönlich eine Nachricht zu hinterlassen, und einen winzigen Moment lang sah sie aus wie eine Vierzehnjährige, die einen Jungen zum Eislaufen einladen will.

»Josh, mein Schatz, hier ist Tante Donna vom Theater. Du bist spät dran, junger Mann! Ich muss dich wohl übers Knie legen«, säuselte sie kess und spielte mit ihren Ohrsteckern. »Wir machen uns jedenfalls große Sorgen. Hoffentlich kommst du jeden Moment durch diese Tür, aber falls nicht, ruf bitte an. Sonst müssen wir den jungen Stephen hier auf die Bühne schicken …«

Stephen stand daneben, ohne etwas zu hören, wippte leicht auf den Fußballen und gab, wie immer unter Stress, ein hohes Summen von sich. Jetzt ist er da, dachte er. Endlich – der Große Durchbruch. So etwas war schließlich noch nie vorgekommen. Der zwölftsexieste Mann der Welt war immer pünktlich. Bisher hatte Stephen sich still damit abgefunden, dass er dazu verdammt war, im Schatten eines Mannes zu stehen, der nicht nur der erfolgreichste, beliebteste und wohl begabteste junge Schauspieler seiner Generation war, sondern auch der gesündeste mit dem größten Dusel. Egal an welchen glamourösen Orgien oder Premierenfeiern er am Vorabend teilgenommen hatte oder wie spät er aus irgendeiner Spelunke in Soho getorkelt war, immer stand Josh Punkt 18:50 Uhr auf der Matte, gab am Bühneneingang Autogramme, flirtete mit der Garderobiere, führte seine Grübchen vor und warf das Haar zurück. Josh Harper war unverwundbar. Falls, Gott behüte, jemand auf ihn schießen sollte, würde er wahrscheinlich nur lächeln und geziert die Kugel zeigen, die zwischen seinen großen, weißen Zähnen steckte.

Aber nicht heute. Während Donna auf Joshs Mailbox gurrte, malte Stephen sich diverse Schreckensszenarien aus:

Josh Harper, der in seinem luxuriösen Loft die tückische gusseiserne Wendeltreppe hinunterstürzt …

Josh Harper, der verzweifelt versucht, sein zerschmettertes Bein unter dem defekten Heim-Fitnessgerät hervorzuziehen, während das Telefon nur Zentimeter außer Reichweite steht …

Josh Harper, der sich den Bauch umklammert und unter den hellen Holztisch eines exklusiven Sushi-Restaurants rutscht, das attraktive Gesicht giftgrün verfärbt …

Josh Harper, der tapfer lächelt, während mutige Rettungssanitäter zu ihm laufen, um ihn unter den Rädern eines außer Kontrolle geratenen Nummer-19-Busses hervorzuziehen …

»Ich … ich spüre meine Zehen nicht …«

»Keine Sorge, Mr Harper, Sir, wir haben Sie in null Komma nichts da raus …«

»Sie verstehen nicht, ich muss in fünf Minuten vor ausverkauftem Saal spielen.«

»Tut mir Leid, aber der einzige Saal, den Sie heute noch von innen sehen, ist der Operationssaal …«

»Okay, Stephen«, seufzte Donna, sah auf die Uhr und dachte das Undenkbare, »dann stecken wir dich mal besser ins Kostüm. Vorsichtshalber.«

Stephen bekam kaum etwas mit vom Weg über den Flur zur Stargarderobe. Er hatte das vage Gefühl zu schweben, als würde Donna ihn auf einer Rollbahre schieben. So ist das also, dachte er, so fühlt es sich an, wenn man Glück hat. Obwohl Stephen nicht zu Bosheit neigte, hatte er in den letzten drei Monaten sechs Tage die Woche und sonntags und mittwochs zweimal von solch einer herrlichen Katastrophe geträumt. Wenn Stephen Josh Hals- und Beinbruch wünschte, meinte er genau das: eine zweifache, komplizierte Fraktur, bitte. So lautete nun mal die grausame Algebra einer Zweitbesetzung – damit Stephen Erfolg hatte, musste Josh leiden; eine Krankheit, die ihn außer Gefecht setzte, oder eine Fleischwunde, irgendwas zwischen einer Grippe und einer leichten Pfählung, irgendwas, das ihn 48 bis 72 Stunden ans Bett fesselte. Gerade lange genug, damit Stephen die heutige Vorstellung übernehmen, sein Spiel für den nächsten Tag vervollkommnen und Terence den Regisseur, die Leute vom Casting, die Filmproduzenten, den einen oder anderen Kritiker einladen und vielleicht sogar diskret andere, bessere Agenten anrufen konnte, die echten Zampanos. Das Reißen einer Achillessehne, das feuchte »Plop« eines platzenden Blinddarms oder einer Milz war alles, was Stephen davon trennte, sein Leben zum Guten zu wenden.

Sie waren in Joshs Garderobe angekommen, Stephen streifte Mantel und Schuhe ab, Debs die Garderobiere stand neben ihm mit dem makellos sauberen und gebügelten Kostüm in der Hand, und Stephen zog sich aus. Donna stand am Bühneneingang und telefonierte. »Immer noch keine Spur von ihm? … Okay, noch fünf Minuten, dann machen wir eine Ankündigung … Er ist hier, macht sich fertig … Ja, ich weiß … Alles klar, halt mich auf dem Laufenden …«

Gott sei Dank, dachte Stephen, er ist nicht okay.

Debs die Garderobiere hielt ihm Byrons Lederhose hin, Stephen nahm sie feierlich entgegen und zog sie an. Er hatte noch nie professionell geboxt und würde es auch nie tun, aber so fühlte man sich wohl vor einem großen Kampf: die Ehrfurcht, das Zeremoniell. Er versuchte, einen klaren Kopf zu kriegen, einen Ort der Ruhe, der Konzentration zu finden, aber vor seinem geistigen Auge sah er schon den Schlussvorhang vor sich …

Am Ende der Vorstellung verlöschen die Lichter, und Stille breitet sich im Saal aus. Augenblicke verstreichen. Dann bricht tosender Applaus aus, in riesigen, donnernden Wellen. Donna und der Rest des Teams stehen in den Kulissen, große, bullige Bühnenarbeiter mit Tränen in den Augen applaudieren und schieben einen bescheidenen, widerstrebenden Stephen C. McQueen zurück auf die Bühne. Dann der ohrenbetäubende Jubel, als das Publikum geschlossen aufsteht, Blumensträuße schlittern ihm vor die Füße. Riesige Wogen der Liebe, Achtung und Anerkennung erfassen ihn und lassen ihn taumeln. Mit der Hand schützt er die Augen vor dem Scheinwerferlicht, blinzelt ins Publikum und erspäht die Gesichter der Menschen, die er liebt – Alison, seine Ex-Frau; Sophie, seine Tochter; seine Eltern; seine Freunde –, alle grinsen und lachen, schreien und brüllen. Er erwidert den Blick seiner Ex-Frau, in dem Bewunderung und neu gewonnene Achtung liegen – »Du hattest die ganze Zeit Recht«, scheint sie sagen zu wollen. »Es war richtig durchzuhalten, es war richtig, nicht aufzugeben. Du bist ein Schauspieler von außergewöhnlicher, unvergleichlicher Begabung und Tiefe, und wenn man nur fest genug daran glaubt, können Träume wirklich in Erf …

»Scheiße, Kacke, Dreck, hi Leute, sorrysorrysorry wegen der Verspätung …«

 … keuchend und das Haar zurückwerfend, stolperte der zwölftsexieste Mann der Welt in die Garderobe, wie immer, als hätte man ihm gerade ein Stöckchen geworfen.

Stephen blieb mit halb angezogener Lederhose stehen.

»Josh! Deinetwegen hätte Tante Donna fast eine Herzattacke gekriegt!«, strahlte Donna, sprang zur Tür und zerzauste ihm das unglaublich dichte Haar. »Mr McQueen wollte gerade in dein Kostüm schlüpfen.«

»Tut mir Leid, Steve, alter Kumpel«, sagte Josh entschuldigend mit schief gelegtem Kopf und Schmollmund. »Du hast wohl schon gedacht, dein Großer Durchbruch wär da, was?«

»Na ja, weißt du …«

Kumpelhaft und tröstend strich Josh ihm über den Arm. »Tja, ich fürchte, nicht heute, Steve, alter Freund. Nicht heute …«

Stephen brachte eine Art Lächeln zustande und zog die Lederhose aus. Es war, als fragte man ihn bei der Mondlandung, ob er was dagegen hätte, zurückzubleiben und der Raumkapsel nachzusehen.

»Und, was ist deine Ausrede, du ungezogener Junge?«, schalt Donna Josh nachsichtig.

»Keine Ausrede, nur ein kleines persönliches Problem an der Heimatfront, ums mal so zu sagen.«

Debs lächelte mitfühlend, als Stephen ihr die Lederhose gab, und hängte das Kostüm zurück auf die Kleiderstange, bereit für den rechtmäßigen Besitzer. Stephen merkte, dass Donna auf seiner Hose saß.

»Entschuldige, Donna …«, sagte er, der ein Stück hinter ihr stand.

»Josh, du böser, böser Junge«, säuselte Donna verzückt.

»Ich weiß, ich weiß, ich weiß!«, erwiderte Josh, nahm Donnas große Hände in seine und küsste ihr galant die Knöchel. »Ich sag dir was, komm doch nach der Vorstellung vorbei und leg mich übers Knie.«

»Könnte ich kurz meine Hos …«, sagte Stephen.

»Ich nehm dich beim Wort.«

»Nur zu.«

»Du sitzt auf meiner …«

»Also gut.«

»Komm in meine Garderobe.«

»… wenn du kurz …«

»Ich freu mich drauf.«

»… darf ich mal eben …«

»… nicht so sehr wie ich. Bring Wein mit! Und eine Freundin!«

»Oooh, du schlimmer Junge …«

»Könnte ich jetzt bitte meine Hose haben, Leute?«, sagte Stephen, griff danach und zog. Donna stand auf und funkelte ihn an, weil er den Bann gebrochen hatte. Eine Pause entstand.

»Tja, höchste Zeit fürs Make-up!«, sagte Josh und warf seine Locken zurück. »Ich darf die Leute nicht warten lassen.« Er nahm Donnas Kopf wie einen Basketball in beide Hände, küsste sie mit einem lauten »mmmmmmoi« und setzte sich vor den Spiegel.

»EssprachderAalimFutteralderSaalistkahlzumletztenMalgrüßichdenPfahlausStahl …«

Auf dem Flur sah Donna Stephen finster an. »Du siehst übrigens furchtbar aus«, bemerkte sie. »Dein Gesicht ist ganz grau.«

Stephen fuhr sich über den Haaransatz und untersuchte seine Fingerspitzen auf Make-up-Reste: kleine, makrelenblaue und -graue Flecken. Er konnte Donna nicht erzählen, dass er schwarz gearbeitet hatte. »Bloß eine kleine … Drüsengeschichte, nichts weiter«, sagte er und rieb sich zum Beweis mit den Fingerspitzen den Kiefer.

»Ehrlich, Stephen, ständig bist du krank. Wenns nicht die Drüsen sind, ist es ’ne Rippenfellentzündung, ’ne Magen-Darm-Grippe oder ’n gottverdammtes verrenktes Steißbein«, sagte sie und stapfte davon, um sich auf die Vorstellung vorzubereiten; ihr Gefängniswärter-Schlüsselbund klirrte beim Gehen an der Hüfte.

Stephen stand einen Moment lang da und sah ihr nach. Wieder einmal beschlich ihn der leise Verdacht, dass man als Josh Harpers Zweitbesetzung das Los einer Rettungsweste im Flugzeug teilte: Alle sind froh, dass sie da ist, aber Gott behüte, dass man sie benutzen muss.

DER MANN IM SCHWARZEN WOLL-LYCRA-TRIKOT

Stephen C. McQueen liebte die Schauspielerei. Die Leute begeistern sich für Fußball, dreiminütige Popsongs, Mode, Essen oder alte Dampflokomotiven, aber Stephen sah liebend gern Schauspielern zu. All die Jahre, in denen er Filme angeschaut hatte, an Sommernachmittagen bei zugezogenen Vorhängen vor dem Fernseher oder in der ersten Reihe des örtlichen Flohkinos, hatten ihre Spuren hinterlassen; und während andere Teenager Poster von Fußballern oder Popstars aufhängten, hatte Stephen Poster von Leuten, die so taten, als ob.

Im Laufe der Zeit hatten William Shatner, Doug McClure, Peter Cushing und Jon Pertwee ihren Platz im Pantheon an Al Pacino, Dustin Hoffman, Paul Newman und Laurence Olivier abtreten müssen. Jahre vergingen, und er nahm die ersten Mädchen wahr – in seinem Fall Julie Christie, Jean Seberg und Eva Marie Saint, die er gelegentlich mit einer Reihe von Bond-Girls hinterging.

Und jetzt verdiente Stephen selbst sein Geld damit, dass er so tat, als ob, und wenn er spielen konnte, tat er nichts lieber als das. Er wusste natürlich, dass Schauspieler allerlei negative Berufseigenschaften hatten, die fast alle mit der Vorsilbe »ego-« anfingen, und es gab Zeiten, wo er sich geradezu dafür schämte, einer derart albernen, oberflächlichen und unwirklichen Welt anzugehören. Aber er fand auch, dass in wirklich großen schauspielerischen Leistungen eine Art Integrität lag, dass es eine Gabe, sogar eine Kunst war. Ja, vielleicht waren Schauspieler eitel und eingebildet, affektiert und arrogant, anmaßend und sentimental, oberflächlich, faul und blasiert, aber das musste ja nicht so sein, oder? Er dachte an Alec Guinness, dessen Silhouette sich in Ladykillers in der Tür abzeichnet, an das wunderschöne, strahlende Lächeln, das sich am Ende von Das Appartement langsam auf Shirley MacLaines Gesicht ausbreitet, an Brando und Steiger auf dem Autorücksitz in Die Faust im Nacken, an Peter Sellers in Dr. Seltsam oder Walter Matthau in fast allem, und das inspirierte ihn immer wieder neu. Wenn man wildfremde Leute dazu bringen konnte, sich vor Lachen zu biegen, vor Angst zu winden, vor Empörung die Fäuste zu ballen oder zu schreien, zu weinen, zusammenzuzucken und zu seufzen, nur indem man so tat, als ob – also wenn man diese Fähigkeit besaß und auch noch dafür bezahlt wurde, dann musste das der beste Job der Welt sein.

Was Ruhm anging, wollte er gar nicht prominent sein, oder zumindest nicht so weltberühmt wie Josh Harper. Er musste sein Bild nicht auf Kühlschrankmagneten oder Happy Meals entdecken. Auch hatte er nicht das Verlangen, seine alten Kippen bei eBay versteigert zu sehen, oder das dringende Bedürfnis, in Restaurants den besten Tisch zu ergattern, oder den geheimen Wunsch, im Urlaub auf der Privatinsel eines Freundes per Teleobjektiv schmerbäuchig in Badehosen abgelichtet zu werden. Ruhm interessierte Stephen nur als unvermeidlicher, wenn auch nicht unangenehmer Nebeneffekt guter Arbeit. Alles, was er wollte, war Vollbeschäftigungsruhm. Anerkennungsruhm.

Was es umso frustrierender machte, in einem Schauspieljob festzustecken, der praktisch keine Schauspielerei erforderte.

Stephen ließ Joshs Garderobe hinter sich und ging den Flur entlang, der irgendwann in den Fünzigern in zwei glänzenden Dunkelgrüntönen gestrichen worden war, was ihm die altmodische, krankenhausähnliche Atmosphäre eines noblen Lungensanatoriums verlieh. Debs die Garderobiere, Chrissy die Assistentin der Inspizientin und Sam der Beleuchter bedachten ihn mit einem mitfühlenden Nicken und einem »Mach dir nichts draus«.

»Fast, Kumpel, fast«, tröstete ihn Michael der stellvertretende Inspizient. »Vielleicht beim nächsten Mal, hm?«

»Ja, vielleicht.«

Er stieß eine schwere Brandschutztür auf und stieg die Treppe hinauf. Auf halbem Weg den schlecht beleuchteten Schacht hinauf kam er an Maxine Coles Garderobe vorbei, die näher an der Bühne lag und deshalb besser war als seine. Maxine, die frisch vom College weg für die kleine, aber denkwürdige Rolle der »venezianischen Hure« engagiert worden war, trug einen weißen Bademantel und eine kunstvolle Perücke im Stil des frühen 19. Jahrhunderts. Ihre fein geschnittenen, harten, hübschen Züge lagen genau in der Mitte eines breiten, dauergebräunten Gesichts unter puppenhaft gewölbten Augenbrauen. Sie saß vor dem Schminktisch, hatte die Beine, die in hohen schwarzen Schnürstiefeln steckten, hochgelegt, hörte auf einem Discman den Ultimativen Special Edition Frauenfilm Hit-Sampler und las mit fast religiöser Hingabe in einem Heat-Heft.

»Hey, Maxine!«, rief Stephen munter. »Schon das Neueste gehört?«

»Ich bin ganz Ohr!«, murmelte Maxine.

»Nummer Zwölf ist gerade erst aufgetaucht. Noch ein paar Minuten, und ich hätte gespielt.«

»Ach, wirklich?«, sagte Maxine, die in einen Artikel darüber vertieft war, welche Schauspielerinnen Strings trugen und welche große Unterhosen bevorzugten. »Warum ist er denn zu spät gekommen?«

»Weiß ich nicht – anscheinend gabs Ärger im Paradies.«

»Echt?«, sagte Maxine und riss sich von der Zeitschrift los. Nichts erhellte ihr Leben mehr als eine Ehekrise, besonders, wenn es um einen Star oder Bekannten oder idealerweise beides ging. »Was hat er gesagt?«

»Nicht viel, aber er ist erst vor fünf Minuten gekommen. Laut Gewerkschaftsvorschriften hätte ich trotzdem spielen dürfen.«

»Ja, klar, Steve, ich hätte zu gern gesehen, wie du ihm das beibringst: ›Tut mir Leid, Josh, machts dir was aus, heute Abend mal auszusetzen?‹«

»Trotzdem – eines Tages, was, Maxy? Eines Tages sind wir auch mal dran.«

Maxine schniefte und blätterte um. Sie konnte es nicht ab, wenn er sie beide über einen Kamm schor. Immerhin war sie jeden Abend wirklich auf der Bühne zu sehen, sprach, ging herum und spielte in einigen kleinen, aber wichtigen Rollen richtig mit Josh zusammen. Sie erschien als Silhouette von Byrons geliebter Halbschwester Augusta Leigh im Türrahmen im Bühnenhintergrund, und wenn Byron »In ihrer Schönheit wandelt sie/wie wolkenlose Sternennacht« rezitierte, dann war es Maxines Job, tatsächlich in ihrer Schönheit zu wandeln wie wolkenlose Sternennacht. Die Rolle der »venezianischen Hure« bestand natürlich hauptsächlich darin, halb nackt auf einem Himmelbett zu liegen, während Lord Byron ihren Hintern als Schreibunterlage für Don Juan benutzte, aber wenigstens bemerkten die Leute sie; man konnte hören, wie die Männer hin und her rutschten und sich aufrecht hinsetzten. Sie hatte auch ein bisschen Text, italienisches Geplapper, hauptsächlich wegen des komischen Effekts, aber Sprechrolle war Sprechrolle. Auf der Reklametafel draußen wurde ihr Name mit dem Zusatz »und in ihrer ersten Rolle« erwähnt. Ja, Maxine Cole war ein Gesicht, Das Man Sich Merken Musste, ein Aufregendes Neues Talent, sie war Das Mädchen Aus Der Peperoni-Käse-Tortilla-Chips-Werbung (»Dippen oder nicht dippen – das ist hier die Frage«). Stephen dagegen war ein Gutes Ensemblemitglied – was an sich nicht schlecht war, aber eben nichts Aufregenderes als ein Grundsolides Arbeitstier, ein Zuverlässiges Mädchen Für Alles, ein Bequemes Paar Schuhe.

Der Lautsprecher knisterte und summte. »Meine Damen und Herren, dies ist das dritte Zeichen. Noch fünf Minuten.« Maxine cremte sich mit teurer Hautlotion die langen, tiefbraunen Beine ein. Sie sah ein bisschen aus wie jemand, der liebevoll eine Waffe ölt, und Stephen zog sich diskret zurück und stapfte ganz nach oben in seine Garderobe.