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Vermisst, wahrscheinlich ertrunken: J.K. Maierling, durch rücksichtsloses Geschäftsgebaren erfolgreicher Unternehmer, ist unauffindbar. Zuletzt wurde er in der Nähe eines reißenden Gebirgsbaches gesehen. Ist Maierling einem Unfall zum Opfer gefallen - oder einem Mord? Personen mit möglichen Motiven sind im Hotel Tobelweiler genug versammelt. Angefangen von seinen Angestellten, über seine erwachsenen Kinder, bis hin zu seiner jungen Geliebten. Allerdings fehlt die Leiche. Der Hotelbesitzer Til Bullreitner kennt Maierling und seine Methoden von früher. Til startet eigene Nachforschungen und macht dabei interessante Entdeckungen. Ein neuer Allgäu-Krimi von Alexandra Scherer.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
Vergangenheit
1. Tag 6: Freitagabend, nach dem Vorfall – Til
2. Tag 1: Sonntag gegen 10:00 Uhr – Til
3. Tag 1: Sonntag, gegen 15:00 Uhr – Til
4. Tag 1: Sonntag, gegen 15:00 Uhr – Til
5. Tag 1: Sonntag Abends – Til
6. Tag 2: Montag in der Früh – Til
7. Montag, Vormittag, gegen 8:00 Uhr – Til
8. Tag 2: Montagvormittag – Til
9. Tag 6: Freitag Abend – Anja
10. Tag 2: Montag Abend – Til
11. Tag 2: Montag Nacht – Til
12. Tag 2: Montag Nachts – Anja
13. Tag 3: Dienstag, gegen 09:00 Uhr– Til
14. Tag 3: Dienstag, später Vormittag – Anja
15. Tag 3: Dienstag, Mittag – Til
16. Tag 3: Dienstag, Mittag – Anja
17. Tag 3: Dienstag, gegen 18:00 Uhr – Til
18. Tag 3: Dienstag, 21:30 Uhr – Til
19. Tag 4: Mittwoch, morgens – Til
20. Tag 4 Vormittag – Til
21. Tag 4: Mittwoch, Nachmittag – Anja
22. Tag 4: Mittwoch, Nachmittag 2 – Anja
23. Tag 4: Mittwoch, gegen Abend – Til
24. Tag 4: Mittwoch, Abends – Anja
25. Tag 4: Mittwoch, 21:00 Uhr – Anja
26. Tag 5: Donnerstag, morgens gegen 9 Uhr – Anja
27. Tag 5: Donnerstag, Mittag– Til
28. Tag 5: Donnerstag, Mittag– Anja
29. Tag 5: Donnerstag Nachmittag – Anja
30. Tag 5: Donnerstag, Abends– Til
31. Tag 6: Freitag, 8 bis 12 Uhr – Til
32. Tag 7: Samstag morgens – Til
33. Tag 7 Samstag morgens – Anja
34. Tag 7: Samstag morgens, etwas später – Til
35. Tag 7: Samstag gegen 10 Uhr – Til
36. Tag 7: Samstag gegen 10:30 Uhr – Til
37. Tag 7 Samstag 11:00 Uhr – Til
38. Tag 7: Samstag 13:00 Uhr – Anja
39. Tag 7: Samstag 13:00 Uhr – Til
40. Tag 7: Samstag 14:00 Uhr – Anja
41. Tag 7: Samstag 15:00 Uhr - Til
42. Tag 7: Samstag 15:30 Uhr – Anja
43. Tag 7: Samstag gegen 18:00 Uhr – Til
44. Tag 8: Sonntag vor 6:00 Uhr – Til
45. Tag 8: Sonntag vor 7:30 Uhr – Anja
46. Tag 8: Sonntag 11:00 Uhr – Til
47. (Rückblick)Tag 6 Freitag gegen 6 Uhr - Til
48. Tag 8: Sonntagnachmittag – Til
49. Tag 9: Montag – Til
50. Tag 9: Nachmittags- Anja
51. Tag 9: Montag, später Nachmittag- Til
52. Tag 10: Dienstag, – Til
53. Tag 14: Freitag Vormittag – Til
54. Hochzeitsfest von. Moni und Franz – Til
55. November: Samstag: Hochzeitsfest – Anja
Zukunft: Til
Personen
Das Leniversum
Zum Dialekt
Danke
Weitere Veröffentlichungen
Impressum
Nachlese
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Executive
Ein Allgäu-Krimi
Alexandra Scherer
Seit einigen Tagen trieben Dauerregen und Hagel die Temperaturen und die Stimmung konsequent nach unten. Feuchtigkeit legte sich als spiegelglatte Haut auf die Straßen. Wer nicht unbedingt nach draußen musste, blieb zu Hause. Wer es nicht vermeiden konnte, fuhr langsam und vorsichtig, fast schon im Schritttempo.
Auf einer engen, kurvenreichen Landstraße war dies nicht beherzigt worden.
Gerade eben hatte die Feuerwehr Glut und Flammen gelöscht. Die Rettungskräfte standen in wütender Hilflosigkeit neben dem bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Bündel Mensch. Eine goldene Rettungsdecke verbarg das Grauen.
Der Geruch von verbranntem Fleisch drang in die Nasen und blieb lange in den Haaren und Kleidern, aber noch länger in der Erinnerung haften.
Vom Tal näherte sich ein Auto.
Nun da die Flammen erloschen waren, konnte man von der Unfallstelle aus beobachten, wie sich das Licht der Scheinwerfer durch die Dunkelheit fraß und schnell näher kam. Wenn der Fahrer nicht aufpasste, würden die Rettungskräfte vor Ort gleich ihren nächsten Einsatz haben.
Der Wagen kam vor der Absperrung zum Stehen. Ein junger Mann stieg aus. Ein kurzes Gerangel, als versucht wurde, ihn zurückzuhalten. Die Helfer waren zu langsam. Bevor jemand reagieren konnte, hatte er die gnädig verhüllende Decke zurückgezogen.
Ungläubig erstarrte er. Seine Haut nahm die Farbe der Nebelschwaden an, ein Zittern durchlief seinen Körper. Laut schrie er seinen Schmerz und Kummer in die gleichgültige Landschaft hinaus.
Die letzte Woche war nicht leicht gewesen. Aber dieser Freitag übertraf alles, was ich erleben durfte, seitdem Biggi Zirkowski und ihre Seminarteilnehmer bei mir in der Tobelmühle eincheckten.
Ich hatte die Nase gestrichen voll von den Angestellten der Maierling International Inc. Mich interessierte nur noch das Feierabendbier im Ochsen.
Meine Kräfte gingen dem Ende zu – körperlich wie seelisch. Solche Tage sind dafür verantwortlich, dass man vorzeitig altert. Die Schreckgespenster von Herzinfarkt, Schlaganfall und Impotenz hoben ihre Köpfe. Ich würde sie noch ein paar Jahre ignorieren.
Jetzt gegen Ende September wurde es früh dunkel. Am Tag zuvor tobte über Heimkirch und die umgebenden Berge ein heftiges Gewitter. Das Radio berichtete von abgehenden Muren im Bregenzerwald. Der Regen hatte zwar nachgelassen, die Straße von der Tobelmühle runter ins Dorf war aber noch rutschig. Auch in meinem geländegängigen Toyota forderte das Fahren mir Konzentration und Energie ab.
Vor dem Ochsen angekommen, zog ich meine Lieblingsjacke an. Weiches Wildleder außen, innen Lammfell. Während eines Spontanurlaubs in Italien stieß ich auf diesen Laden in Rom. Der Kürschner hatte mir das Teil auf den Leib geschneidert. Damen meiner Bekanntschaft versuchten immer wieder, mir die Jacke abspenstig zu machen. Vor die Wahl gestellt, ob ich meine Jacke hergebe oder das Mädel, war die Entscheidung bis jetzt einfach gewesen.
Der Parkplatz am Ochsen stand voller Autos. Klar, heute am Freitag. Hoffentlich hatte Horst, der Ochsenwirt, was Leckeres gekocht, denn mein Magen knurrte gewaltig. Ich wusste, wenn ich auf mein Essen warten müsste, könnte es zu unfreundlichen Zwischenfällen kommen. Ich öffnete die Tür zur Wirtschaft und sofort umhüllte mich der Lärmpegel. Die Luft war zum Schneiden. Wenn mein Magen mich nicht knurrend wie ein wilder hungriger Bär vorangetrieben hätte, wäre ich sofort rückwärts wieder hinaus.
Die Ochsenwirtin bewegte sich zusammen mit ihren zwei Bedienungen hurtig zwischen den Tischen. Auf dem Rückweg zur Theke bemerkte sie mich.
„Griaß di, Til! Die warten alle auf dich. Du kannst gleich durchgehen. Ich hab euch heute im Nebenzimmer untergebracht. Die Martha Huber, die dreht hohl. Sie hat Angst, der Todesfall könnte negative Auswirkungen auf den Tourismus nach sich ziehen. Kennst sie ja, unsere Dorfvorsteherin.“
Martha Huber, die Bürgermeisterin, immer in Sorge, dass der Fremdenverkehr nicht genügend einbringt.
Persönlich konnte es mir egal sein. Ich besitze private Einnahmequellen. Die Tobelmühle betreibe ich als Hobby. Nur durfte ich das nicht so offen sagen, denn hier im Allgäu werden die wenigsten Höfe noch als Vollzeitbetriebe geführt. Fast jeder Hof braucht die zusätzlichen Einkünfte, die die Bäuerinnen über ‚Ferien auf dem Bauernhof‘ erwirtschaften.
Martha mutierte über die Jahre zu einer ewig sich sorgenden Übermutter, mit der Gemeinde Heimkirch als spezielles Sorgenkind. Wenn es drei Tage regnete, bekam sie Angstvisionen: frühzeitige Abfahrt von Besuchern, kein Einkommen über die Kurtaxe, somit drohender Bankrott der Kommune.
Seit vor ein paar Jahren die Stadt Aulendorf im Nachbarkreis Konkurs angemeldet hatte, hielt man es mit Martha manchmal nicht mehr aus.
Diesmal hatte sie Grund zum Jammern. Schließlich war Josef Konrad Maierling heute im Tobel vermisst gegangen und die Bergwacht suchte nach ihm.
Mir entfuhr ein Seufzer.
Maierlings einziger Daseinsgrund schien darin zu bestehen, mein Leben zu verkomplizieren. Denn Fritz, mein Koch, war Mitglied der Bergwacht und zur Zeit im Einsatz. Wenn ich nicht verhungern wollte, blieb mir nur der Ochsen und seine Küche oder Spiegelei. Mein Magen protestierte. Spiegelei war definitiv nicht, was er wollte.
„I schick dir des Übliche oder willst was Stärkeres?“, brach Maria in meine Gedankengänge.
Ich blickte der Wirtin bewundernd in die braunen Augen und grinste. „Du kannst Gedanken lesen. Bring mir an Weiza und was zum Essa.“
Mir stand der Sinn nach Wildgulasch. Der Ochsenwirt machte hervorragendes Rehgulasch und seine Semmelknödel: Genauso lecker wie die vom Fritz. Ich durfte das nur nicht laut sagen. Leider kultivierte mein Koch ein volatiles Temperament. Ich hege den Verdacht, er versucht sich da ein Image zusammenzubasteln, angelehnt an fiktive französische Chefköche.
„Was magsch denn? A Brotzeit?“, schlug die Ochsenwirtin vor.
Ich schüttelte den Kopf. „Was Gscheites. Ich hab den ganzen Tag nichts gegessen. Erst die Gäste von der Tobelmühle, dann des Theater mit dem Depp und die Bergwacht und die Polizei und alles. Mein Magen hängt in den Kniekehlen. Hat dein Mann noch was von dem Reh und den Semmelknödeln?“
Maria nickte.
„Gut. Bitte gleich doppelt. Den Salat kannst behalten.“ Ich schlängelte mich durch die voll besetzte Schankstube und erwiderte die mir zugerufenen Grüße. Da hinten bei der Tür zum Nebenzimmer saßen die Leute von der Bergwacht. Mist. Fritz saß auch dabei. Wenn ich jetzt nicht schnell reagierte, würde er mir morgen mein kulinarisches Fremdgehen mit temperamentvollem Töpfeklappern und Geschirrzerdeppern kommentieren.
Eine von Marias Kellnerinnen flitze an mir vorbei.
Kurzentschlossen stoppte ich sie. „Eine Lokalrunde für alle und den Leuten von der Bergwacht sagsch, was sie heut’ verzehren und trinken, geht auf meine Rechnung.“
Schließlich war es ja einer von meinen Gästen, der das ganze Theater heute ausgelöst hatte. Mit etwas Glück hätte Fritz morgen einen Kater, der sich gewaschen hatte. Schon aus Eigenschutz würde er folglich nicht mit den Töpfen klappern.
Ich betrat das Nebenzimmer. Wie erwartet saßen da die Dorfhonoratioren und die, die sich dafür hielten.
„Griaß eich Gott!“
„Griaß di Til, mir hont scho auf di gwartat. Des war heit scho so a Sach. Setz di her. So ein Unglück“, jammerte Martha Huber.
Ich setze mich, dankte der Bedienung, die mir mein Kristallweizen hinstellte und gleich Besteck und Serviette auflegte.
„Der Til gibt eine Lokalrunde aus. Was darf i eich bringa?“ Das Mädchen war geschäftstüchtig.
Ich nahm einen tiefen Zug aus meinem Glas und bestellte ein zweites Bier.
„Jetzt spann uns nicht auf die Folter, erzähl endlich. Was ist passiert?“, nahm Wilfried Wunder das Gespräch auf.
Wilfried war unser rasender Reporter: Immer auf der Suche nach einer Sensation, die er in dem Käseblatt unterbringen konnte.
„Wir haben alle mitgekriegt, wie der Widerling sich hier im Dorf aufgeführt hat“, bohrte der Reporter nach. „Erinnert ihr euch an den Tag, an dem seine Frau mit der Tochter hier war?“ Er schüttelte angewidert den Kopf, während er weiter sprach. „So ein Ekel. Es würde mich nicht wundern, wenn jemand nachgeholfen hätte.“
Ich sah, wie Martha das Gesicht verzog. Der Gedanke, Heimkirch und Umgebung mit schlechten Nachrichten in der Zeitung wiederzufinden, verursachte ihr körperliche Schmerzen.
Willi ging zum Frontalangriff über: „Da müssen Sie durch oder möchten Sie, werte Frau Bürgermeisterin, die Freiheit der Presse beschneiden? Es wäre nicht im Interesse der Öffentlichkeit, wenn ich meine Artikel auf reinen Gerüchten und Vermutungen basierend schreiben müsste. Es gibt Anfragen über die Lokalzeitung hinaus. Wenn wir das richtig anfangen, steigen die Besucherzahlen.“
Wilfried war im Gegensatz zu Martha der Meinung, schlechte Nachrichten waren die besten Nachrichten.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ihr seid genauso schlau wie ich. Heute Nachmittag standen plötzlich Bergwacht und Polizei bei mir vor der Tür. Jemand sei im Tobel in die Ach gestürzt.“ Ich nickte Petra Weber zu, ihres Zeichens Schwester des Ochsenwirtes und Leiterin der Bergwacht. „Da müsstest doch du oder der Sepp mehr drüber wissen.“
Sepp Weiher, der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr schüttelte den Kopf. „Anonymer Anruf. Die Polizei hat die Leit von der Gesellschaft befragt, um herauszufinden, ob einer von ihnen mit dem Anruf zu tun hatte. Koina will’s gweasa sei.“
Petra bekräftigte: „Wir haben die ganze Schlucht abgesucht. Der Mann war seit nach dem Frühstück von niemandem mehr gesehen worden. Er ging auch nicht an sein Handy.“
Petra fuhr fort. „Wir haben das Handy kurz vor Einbruch der Nacht in der Tobelschlucht gefunden. Es war kaputt. Der Notruf ist davon abgesetzt worden. Von Maierling keine Spur.“
Die Bedienung kam mit meinem zweiten Bier und den anderen Getränken.
Willi hatte fleißig mitgeschrieben und blickte von seinen Notizen auf. „Und wie haben deine Gäste so reagiert?“
Der Kerl nervte.
„Was glaubst du denn?“, fragte ich zurück. „Die Leut‘ waren fertig. Die Freundin nur noch am Heulen, die Tochter ganz bleich. Der Sohn vom Maierling ließ den Higher Executive raus hängen. Die Ehefrau vom Maierling war unauffindbar. Wir dachten schon, die sei auch abgestürzt oben im Tobel und im Fluss gelandet.“ Ich nickte dem Sepp zu. „Der Sepp kam auf die Idee, dass sie nach Hause gefahren sein könnte. Also wurde eine Streife bei ihr vorbeigeschickt. Die Frau ist nach dem Streit mit ihrem Mann weggefahren, nur hatte das keiner mitgekriegt. Ich kann euch sagen, so a Theater brauch i ’net noch mal.“
„Wenn der Maierling in die Ach gestürzt ist, wird’s noch ne Weile dauern, bis die ihn hergibt“, warf Petra ein. „Vor allem nach dem Regen und dem Gewitter gestern. Erinnert ihr euch noch an den Studenten vor fünf Jahren? Der kam erst sechs Wochen später wieder zum Vorschein.“
„Jetzt wo es dunkel ist, sucht ihr nicht weiter“, warf ich ein.
„Wir haben den Tobel gründlich durchkämmt. Es war sogar die Hundestaffel aus Kempten da.“ Petra klang, als wollte sie sich rechtfertigen. „Wenn der Mann dort noch wo wäre, hätten wir ihn gefunden. Morgen wollen wir noch mal schauen. Wenn er in einen der Kessel im Flussbett geraten ist, dann …“ Sie musste sich nicht weiter ausführen. Wir alle kannten die speziellen geologischen Begebenheiten. Wer dort im Tobel in einen Strudel kam, der blieb lange unter Wasser.
Die Bedienung setzte meine doppelte Portion Semmelknödel mit Rehragout vor mir ab. Maria hatte den Salat nicht mitgeschickt, dafür extra Soße, Preiselbeeren und ihr gutes Blaukraut. Gierig schob ich mir die erste Gabel Fleisch und Knödel in den Mund. Mein Magen knurrte noch einmal hungrig auf und gab endlich Frieden, als die erste Portion bei ihm ankam. Ich zwang mich, bewusst langsam zu essen. Erst ein Stück des Knödels getunkt in Soße. Ein Stück Reh mit Preiselbeeren. Etwas Blaukraut. Kauen. Schlucken. Etwas Bier. Perfekt.
Ich konzentrierte mich auf den wunderbaren Geschmack und die Konsistenz des Fleisches. Die anderen am Tisch hechelten frühere Unglücksfälle durch. Ich hörte mit halbem Ohr zu.
„Wisst ihr noch als das Ehepaar und der Hund ertrunken sind?“, jammerte die Bürgermeisterin. „Oifach schrecklich. Domols hom ma so gut wie keine Besucher ghabt. Des Jahr war des mit den geringsten Einnahmen aus ’em Tourismus, das mir in über dreißig Jahre ghabt hont.“
„Der verregnete Sommer. Drei Monat nur Reaga“, nickte der Weiher Sepp.
„Die Frau hot versucht, den Hund aus der Ach zum ziah, als dees bleede Vieh nei gsprunga isch und der Ma hot sei Frau retta wolla.“
Wilfried Wunder runzelte die Stirn „Waren das die, wo der Mann unten im Bodensee trieb, acht Wochen später?“
Ich erinnerte mich. Die Besucher waren ausgeblieben, wie Martha richtig wusste. Aber das lag eher an dem drei Monate langen Dauerregen mit sommerlichen Temperaturen um die 10° Celsius, nicht an dem verunglückten Ehepaar.
Wilfrieds Artikel hatte es in die bundesweite rot umrandete Tageszeitung geschafft. Mit dem Foto des armen ertrunkenen Hundes.
Eigentlich hatte das Ganze vielversprechend angefangen.
Letzten Sonntagmorgen saß ich in meinem kleinen Büro und kämpfte mit der Buchhaltung. Natürlich beschäftige ich einen Steuerberater und eine Buchhalterin. Aber ich behalte gerne den Überblick. Deshalb zwinge ich mich einmal im Monat dazu, die Buchhaltung querzulesen.
Damit ich über den Zahlen nicht einnickte, hatte ich gerade meine dritte Tasse Kaffee durch die Maschine gejagt, da hörte ich einen Wagen vor dem Haus auf dem Kiesbelag halten. Dankbar für die Ablenkung blickte ich durch das offene Fenster und mein Männerherz schlug höher.
Draußen stand das Dorftaxi vom Müller Franz. Aus dem Wagen stieg eine junge Frau, die unsicher auf High Heels über den Kiesweg zur Eingangstür trippelte. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Fünfzehn Zentimeter Stöckelschuhe, ein Minirock, der sein Dasein wohl als breiterer Hüftgürtel begonnen hatte und ein üppiges Dekolleté, – mindestens DD – das von dem leichten Hemdchen mühsam im Zaum gehalten wurde. Während sie sich vorwärtsbewegte, erklang sanftes Gebimmel. Verwirrt suchte ich nach der Ziegenherde. Dann dämmerte es mir: Diverse Ketten, Kettchen und andere hochkarätige Schmuckstücke untermalten ihre Bewegungen musikalisch.
Füllige, overdressed Blondinen fallen nicht in mein Beuteschema, aber von der Bettkante hätte ich sie jetzt auch nicht gestoßen.
Hinter ihr kämpfte Franz mit dem Gepäck. Während ich durch das Fenster beobachtete, wie er vergeblich versuchte, alle ihre verschiedenen bunten Gepäckstücke auf einmal zum Eingangsbereich zu tragen, dachte ich: Die hat für eine Weltreise gepackt.
Es wurde Zeit, den ersten Teilnehmer der Zirkowski Event and Motivational Week zu begrüßen.
Die schnuckelige Blondine wirkte überrascht, als ich die Haustüre in dem Moment öffnete, während sie am altmodischen Klingelzug zog.
Ich blickte in, dick mit schwarzer Schminke umrahmte, babyblaue Augen, was mich an einen Pandabären denken ließ. Ihre perfekt zu einem knallroten Schmollmund geschminkten Lippen hoben sich zu einem erstaunlich natürlichen Lächeln. Sie streckte mir ihre sorgfältig manikürte Rechte hin. Zögerlich ergriff ich diese. Ich wollte mich nicht an den langen mit bunten Bildchen verzierten Fingernägeln verletzen.
„Hallo, ich bin Birgit Zirkowski, Executive Consulting Manager der Zirkowski Erlebniskultur. Herr Bulleitner? Wir haben, denke ich, miteinander telefoniert.“
Ich nickte und berichtigte freundlich: „Der Name ist Bullreitner, bitte treten Sie doch ein.“
Neugierig blickte sie sich im Foyer um, während sie weiter plapperte: „Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich leite die Event and Motivational Week hier. Mein Freund und Auftraggeber, Herr Maierling, wird etwas später eintreffen. Veranlassen Sie bitte, dass mein Gepäck auf unsere Suite gebracht wird. Wir könnten dann noch gemeinsam das Programm durchgehen und ein paar Feinabstimmungen vornehmen.“
Mir wurde übel. Das Ohrensausen nahm zu. Der Name Maierling ließ unangenehme Erinnerungen aufkommen. Ich hoffte, es war nicht DER Maierling. „Maierling? - Wie von Maierling International Inc?“, hakte ich nach.
„Ja, Josef Konrad Maierling, mein Verlobter.“ Mir blieb die Luft weg, während sie mir lächelnd ihre linke Hand präsentierte. Aber nicht wegen des protzigen Klunkers. „Seine Firma ist in der IT-Branche. Sie haben sicher von ihr gehört.“
Hatte ich. Das Rauschen in den Ohren wurde so laut, dass es das Geplapper der Pandabärin übertönte. Als ich jünger und unbedarfter war, hatte Josef Konrad M. Mein Leben ruiniert. Meines und das meiner Schwester. Vor langer Zeit.
Jetzt war ich finanziell unabhängig und betrieb meine Tobelmühle mehr aus Liebhaberei, denn aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Die J.K. Maierlings dieser Welt konnten mir nichts mehr anhaben und Anita auch nicht.
Franz‘ keuchende und schwitzende Ankunft im Foyer stoppte meinen beginnenden Privatalbtraum. Er stellte das Gepäck polternd ab.
Das Weib redete immer noch wie ein Wasserfall. Ihr war entgangen, dass ich nicht zugehört hatte. Ich brauchte Abstand, um mich zu sammeln und die Geräusche in den Griff zu bekommen. Laut, um das innere Störkonzert zu übertönen, unterbrach ich ihren Redefluss mit Banalitäten.
„Frau Zirkowski …“
„… Nennen Sie mich doch Biggi.“
Da würde sie lange warten.
„Frau Zirkowski, die Zimmer sind alle vorbereitet. Monika und Karin, die Mädchen, kommen bald. Der Herr Müller ist sicherlich bereit, Ihnen zu helfen, Ihre Koffer nach oben zu schaffen. Es ist hier üblich, dass sich jeder selber um sein Gepäck kümmert.“
Wenn Birgit Zirkowski die Manieren ihres Liebhabers übernommen hatte, würde die Woche extrem nervig werden. Also gleich Grenzen setzen und von Anfang an klarstellen, dass ich mir von Maierling und Co. Nicht auf der Nase herumtanzen ließ. Schließlich war die Tobelmühle nicht das Ritz und ich auf die Kundschaft nicht angewiesen.
„Wenn Sie die übrigen Taschen tragen, ist alles gleich in Ihrem Zimmer. Das Zimmer Ihres Freundes ist das angrenzende. Es gibt eine Verbindungstür.“
Birgit nickte. „Ja klar, das geht auch. Zeigen Sie mir, wo die Räume sind. Ich suche mir gleich mal den Schöneren aus.“ Sie schnappte sich die zwei kleinsten Taschen und folgte mir die Treppe hinauf. Franz bildete den Schluss der Karawane.
Oben angekommen kramte sie in ihrer Handtasche und gab Franz, dem menschlichen Packesel, ein saftiges Trinkgeld. Der strahlte. Sein Blick blieb an ihrem Dekolleté hängen. Franz sollte aufpassen, dass seine Moni das nicht mitbekam.
„Til, man sieht sich. I find selber raus.“ Er nickte mir grüßend zu und verschwand.
Biggi Z. sah sich in den Zimmern gründlich um und lächelte mich an.
„Herrlich, ich freue mich schon total.“ Sie klatschte doch tatsächlich in die Hände. „Mein Schatzi setzt großes Vertrauen in mich. Ich bin seit kurzem Coach für Management Motivation and Team Training. Es war gar nicht so einfach, die ganzen Kurse und Seminare zu machen und daneben noch meinen Schatzi nicht zu vernachlässigen.“ Sie kicherte. „Mein dicker Bär, ich hab manchmal echt gedacht, er ist eifersüchtig auf die Zeit, die ich mit den Leuten im Seminar verbringe. Er ist schon nicht zu kurz gekommen. Jetzt habe ich meine eigene kleine Firma gegründet und gleich dieser Auftrag. Ist das nicht geil?“ Sie fing an, in ihrer bunten Handtasche zu kramen, und hielt mir einen Flyer hin. „Hier, den habe ich entworfen. Sehen Sie: Designed by B.Z.“ – Sie sprach es Be-Punkt-Zet-Punkt aus – „Mein allererster Auftrag: Die Werbebroschüre anlässlich des 20-jährigen Firmenjubiläums.“
Obwohl ich aufgewühlt war, konnte ich nur mühsam den Impuls unterdrücken, ihr freundlich den Kopf zu tätscheln. Sie wirkte auf mich wie ein kleines Mädchen, das stolz sein Gebasteltes den Erwachsenen präsentiert und Lob erwartet. Automatisch griff ich nach dem Flyer und hörte mich unverbindliche Konversation machen: „Interessant, ich werde ihn mir später genauer anschauen.“
Sie strahlte mich an und witterte gleich eine Gelegenheit, ihren Stöckelschuh in die Türe zu stellen, wie ein tüchtiger Handelsvertreter. „Super! Sicher benötigen Sie für Ihr Haus auch Flyer. Ich kann Ihnen da etwas Tolles zaubern. Wenn das hier gut läuft, veranstalte ich meine Events öfters bei Ihnen. Wo haben Sie meine Kartons? Bevor J.K. ankommt, habe ich Zeit, die Sachen auszupacken und alles noch mal kurz durchzuschauen.“
Was für Kartons meinte sie?
„Es sind keine Kartons angekommen.“ „Sind Sie sicher? Ich habe die Sekretärin von J.K. explizit angewiesen. Das sind Materialien, die ich für das Event brauche. Das Ganze habe ich vor einer Woche verpackt. Die Paketdienste benötigen normalerweise nur ein oder maximal zwei Tage. Das ist ärgerlich. Frau Western hat zwar einen miserablen Kleidergeschmack, ist aber zuverlässig. Sieht der effizienten Chefsekretärin gar nicht ähnlich.“ Ihr perfekt geschminkter Mund verzog sich kurz zu einer Schnute. „J.K. wird lästern, von wegen planlos und blond. Entschuldigen Sie, ich muss kurz telefonieren. Ich komme nachher runter zu Ihnen und wir besprechen alles Weitere.“ Sie zückte ihr iPhone, ignorierte mich und fing an, heftig auf den Gesprächspartner am anderen Ende einzureden.
Irgendwie schaffte ich es die Treppe hinunter in die Vorhalle. Dort standen Monika und Karin und unterhielten sich. Noch ganz in Gedanken über Maierling und die Vergangenheit brütend, erwiderte ich den Gruß meiner zwei Angestellten kurz angebunden. Dies trug mir von beiden schräge Blicke ein. Über kurz oder lang würden sie mir mein stoffeliges Verhalten aufs Butterbrot schmieren. Egal. Ich musste Abstand gewinnen und raus. Angriff war immer die beste Verteidigung. Ich gab ihnen Anweisungen.
„Die Frau Zirkowski ist vorhin angekommen. Geht nachher zu ihr und besprecht alles Nötige. Sind der Fridolin und der Xaver schon da? Die andren Gäste werden auch bald eintreffen. Ihr schaut nach den Leuten. Ich muss weg.“
Ohne mich weiter um die zwei Frauen zu kümmern, stürmte ich von meinen inneren Dämonen getrieben nach draußen. Ich nahm den Pfad von der Tobelmühle hinauf zur Schlucht, wie immer, wenn es mir nicht gut geht, zieht es mich zum Achtobel.
Der Kauf der Tobelmühle war ein Gottesgeschenk. Vor fünf Jahren hatte das Pfeifen in meinem Ohr so stark zugenommen, dass ich teilweise wie taub war. Die Ärzte hatten mir klipp und klar gesagt, dass alle meine Beschwerden, – und das waren einige – auf Stress zurückzuführen waren. Ich sollte drastisch etwas in meinem Leben ändern, sonst könnte es sein, dass dieses Leben bald ein Ende fände.
Mein Umdenken fing an, als ich in einer Privatklinik in Bad Waldsee von einem Therapeuten gefragt wurde: „Für wen buckeln Sie denn so? Sie haben keine Familie, keine Freunde, wofür häufen Sie das ganze Geld an?“
Recht hatte er. Ich hatte Geld ohne Ende, aber niemand profitierte davon. Nicht einmal ich selbst. Nach dem Klinikaufenthalt begann ich zu reisen. Ich suchte nach einem Ort, an dem ich mich niederlassen wollte. Ich dachte an die Toskana oder Schottland.
Meine alte Heimat spielte bei diesen Überlegungen nie eine Rolle.
Ich hatte hier in der Gegend noch ein paar Dinge abzuwickeln. Dabei stieß ich während eines ausgedehnten Spazierganges eher zufällig auf den Achtobel. Damals wie heute verspürte ich eine tiefe innere Ruhe im Tobel.
Der unscheinbare Pfad zwängt sich etwas unvermittelt zwischen zwei Felswänden hindurch in eine Schlucht. Ein schmaler steiler Trampelpfad läuft den ganzen Tobel neben der Ach her.
Obwohl ich aufgewühlt war, bewegte ich mich vorsichtig. Als ich vorhin so spontan geflohen war, hatte ich nicht auf mein Schuhwerk geachtet. Einfache Sneaker sind für einen Spaziergang auf diesen Wegen ungeeignet. Zum Glück war der Boden in dem engen Tal nach längerer regenfreier Zeit verhältnismäßig trocken. Bei Regenwetter wäre ich gnadenlos abgerutscht und von dem reißenden Wildwasserfluss mitgerissen worden.
Egal was war: Hier im Achtobel fand ich immer meinen inneren Frieden. Der Fluss toste über mehrere Wasserfälle ins Tal Richtung Heimkirch. Dieses Rauschen übertönte jedes Geräusch in meinem Kopf. Das Wasserrauschen gab mir mein Gleichgewicht zurück.
Auch jetzt, als ich leicht keuchend dem höchsten Punkt über der Schlucht zustrebte, dort wo die große Kaskade aus dem kleinen stillen Bergsee am oberen Tobeleingang gespeist wurde, fiel die innere Anspannung von mir ab und der Lärm in meinem Kopf trat in den Hintergrund. Meine Schritte wurden langsamer, der Weg immer steiler und rutschiger, ich wurde ausgeglichener. Endlich stand ich auf dem kleinen Holzsteg, der über ein Wehr führte. Langsam beruhigte sich mein Atem.
Ich sah mich um und genoss wie immer die Aussicht: Am oberen Ende des Tales entsprang die Ach aus einem kleinen Bergsee. Geschickte Ingenieure brachten vor fast hundert Jahren dort, wo der See sich über einen Wasserfall in die Tiefe des Achtobels stürzte, ein Wehr an, um die Kraft des Wassers zur Stromerzeugung zu nutzen. Wenn man den Steg überquerte und dem Pfad weiter folgte, verließ man den Tobel und fand sich oberhalb der tiefen versteckten Schlucht im Wald wieder.
Mein Kraftort befand sich genau hier. Ich nahm mitten auf dem Steg Platz und ließ meine langen Beine über den Abgrund baumeln. Unter mir schoss das Wasser über das Wehr hinunter in den Tobel und nahm alle aufgewühlten Gefühle mit sich. Genau wie vor fünf Jahren saß ich hier, eingehüllt in das Rauschen des fallenden Wassers, taub für jedes andere Geräusch. Die warme Mittagssonne in meinem Rücken wie eine stützende Schulter, an die ich mich anlehnen konnte. Meine verkrampften Hände öffneten sich. Den Flyer hatte ich die ganze Zeit gehalten. Abwesend glättete ich das zerknüllte Hochglanzpapier und nahm die dort stehenden Informationen in mich auf.
Der Flyer stellte solide Arbeit dar: Ansprechendes Design, die Fotos professionell. Der Text entsprach dem üblichen nichtssagenden optimistischen ‚Wir sind eine super Firma und uns gibt es schon sehr viele Jahre‘-Einerlei, das man oft in solchen Informationsbroschüren fand.
Es geht ja nicht um Information, spottete ein Teil von mir, sondern darum, möglichst gut dazustehen. Was für ein Scheißtyp der Maierling in Wirklichkeit ist, das geht aus so einer Firmenbroschüre nicht hervor. Das Mädel ist gut. Sie verkauft ihn als freundlichen Onkel, der eine große glückliche Firmenfamilie streng aber gerecht führt. Ob sie den Scheiß selber glaubt? Kann man wirklich so blond sein?
Hasserfüllt betrachtete ich das freundlich lächelnde Bild des Josef Konrad Maierling, aufgenommen anlässlich der Zwanzig-Jahr-Feier seines Betriebs. Man sah ihn umgeben von wichtigen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. Im Werbetext war die Rede von über 2500 Mitarbeitern weltweit. Ein weiteres Bild zeigte ein Modell des neuen Firmengebäudes, laut Text innovativ, kreativ und umweltfreundlich.
„An Schmarrn! Kreativ ist der Kerl doch nur, wenn es drum geht, andren ihre Ideen zu klauen“, knurrte ich und zerriss das Bild des edlen Firmengründers. Der leichte Wind über dem Wasserfall erfasste die Papierschnipsel. Für einen kurzen Augenblick wünschte ich mir, dass die in den Wasserstrudeln versinkenden Schnipsel den Körper von Josef Konrad Maierling darstellten. Wir hatten uns nie persönlich kennengelernt. Ich war mir sicher, dass Maierling die feindliche Übernahme der Bull IT mit dem Namen Bullreitner nie in Verbindung bringen würde, vorausgesetzt, dass sich dieser halbseidene Kriminelle überhaupt noch daran erinnerte, dass er damals stark jenseits der Legalität gehandelt hatte. Der Schmerz bohrte wie Dauerzahnweh. Es war ja nicht einmal gesagt, dass er sich an Anita erinnerte. Meine Schwester und ihr ungeborenes Kind.
Nach und nach wurde ich ruhiger. Das wilde Achwasser, das unter mir gischtete, schien den wiederaufgeflammten Schmerz mit sich zu nehmen und von meiner Seele zu waschen. Die wärmende Sonne in meinem Rücken wanderte weiter, als wollte sie mir bedeuten, dass ich nun genug Kraft besaß, um weiterzumachen.
Es wurde Zeit, sich meinen Gästen zu stellen. Langsam wanderte ich den Tobel hinunter zurück zur Mühle. Die eine Woche würde ich überstehen. Mein Personal ist kompetent und ich kann mich jederzeit auf meine Leute verlassen. Wenn ich nicht wollte, würde ich nichts mit den Gästen zu tun haben.
Birgit Zirkowski hatte nur die Räumlichkeiten gemietet. Die Events würde sie selber gestalten. Ich könnte morgen wegfahren und einen Kurzurlaub nehmen. Vielleicht München oder Rom.
Ja, das war eindeutig die Lösung. Ich ignorierte die leise Stimme, die mir Feigheit vorwarf. Dieser innere Wächter meines Charakters war ein unbequemer und langweiliger Typ. Sarkastisch erwiderte die nun etwas lauter werdende Stimme in mir, dass diese Einstellung nicht wirklich von reifem Verhalten geprägt sei. Ein dritter Teil meiner Persönlichkeit wollte es sich gerade mit einer Tüte Popcorn in einem Sessel bequem machen, um den Schlagabtausch zu genießen, da brachte mich eine Stimme aus dem Konzept, die nicht zu meinem inneren Dialog gehörte.
„Nein, Schatz. Ich versuche, hier so schnell wie möglich wegzukommen. … Ich weiß … Dieses Zusammenkommen für seine Führungsriege ist reine Schikane. Er will seinem Betthäschen eine Freude machen. Das Ganze ist für die Tonne. Aber wenn ich gehe, dann bin ich den Job los. … Ja, er kann mir nicht kündigen, aber er kann mir das Leben zur Hölle machen. Er findet garantiert Möglichkeiten.“
Ich war inzwischen aus dem Tobel heraus und hatte den kleinen, sich windenden Trampelpfad durch den Wald zurück zur Tobelmühle erreicht. Ich blieb stehen. Hier schien jemand ein privates Gespräch zu führen, das definitiv nicht für fremde Ohren gedacht war. Nur was sollte ich tun? Einfach um die nächste Ecke biegen und in das Gespräch platzen? So tun, als ob ich nichts bemerkt hätte? Stehenbleiben und warten? Was, wenn mir jemand entgegenkam? Das sah auch nicht gerade gut aus, wenn er mich hier als offensichtlichen Lauscher ertappte. Bevor ich das Ganze sorgfältig abwägen konnte, stellte ich mich vorsichtshalber einen Schritt vom Weg entfernt hinter einen Baum. So ganz wohl fühlte ich mich als Mithörer zwar nicht, aber andererseits …
„Ja, ich würde auch am liebsten hinschmeißen. Was ist, wenn sie länger krank ist? Dann brauchen wir jeden Pfennig. Ich kann nicht einfach gehen, ohne eine andere Stelle in Aussicht … Wein doch nicht … Du musst jetzt tapfer sein. Liebling, ich muss jetzt Schluss machen. Ich ruf dich nachher noch mal an. Sag ihr, ich hab sie lieb und ich bin so bald wie möglich wieder bei euch … Ja, ich dich auch.“
Gut. Das Gespräch schien beendet. Ich würde noch fünf Minuten hier hinter meinem Baum verharren.
Aber so einfach war es dann doch nicht.
Als ich fünf Minuten später aus dem Wäldchen trat, sah ich einen Mann auf dem Bänkchen am Waldrand sitzen und auf die Tobelmühle starren. Es gab keine Möglichkeit, ungesehen an ihm vorbeizukommen. Die Frage war nur: grüßen und weitergehen oder ein Gespräch beginnen?
Ich beschloss, offensiv vorzugehen.
„Grüß Gott. Sind Sie unterwegs zum Achtobel? Hoffentlich haben Sie gutes Schuhwerk, der Weg dort ist tückisch.“
Der Angesprochene zuckte erschrocken zusammen.
„Habe ich Sie erschreckt? Das wollte ich nicht. Entschuldigung.