5,99 €
"So a bleede Kuh! Ich würde mich nicht wundern, wenn der jemand in dunkler Nacht einen Prügel über den Kopf zieht und sie anschließend ertränkt." In dem kleinen Allgäuer Dorf Wassersried stört die allseits unbeliebte Wilhelmine Geyer den Frieden. Magdalena Sonnbichler und ihre Freundin Karin Bergner wollen herausfinden, warum Wilhelmine die sympathische Kindergärtnerin Emma aus dem Dorf vergraulen will. Ein erschütternder Fund wirft neues Licht auf das vermeintlich idyllische Dorf. Karin und Leni machen sich daran, das Geheimnis um Wassersried aufzudecken. Nach Hexenwasser und Eiskalter Tod ist Friedhofstod der vierte Band der Allgäuer Mysterycrimereihe »Magdalena Sonnbichler ermittelt«. Band drei wird zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht. Friedhofstod erscheint bei Tolino mit Bonusmaterial.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Friedhofstod
Impressum
Alexandra Scherer
Ein Fall für Magdalena Sonnbichler
Allgäu – Krimi
enthält Bonusmaterial
Impressum
Copyright © 2022 Alexandra Scherer
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 9783754650912
Alexandra Scherer
Armin-Winkle-Str. 17
89281 Altenstadt
alexandrascherer [a] gmx.net
Coverdesign: @ Kerstin Jedwill (JedwillPhotoart)
Silhouette Stadt Wangen ©Stadt Wangen mit frdl. Genehmigung des Gästeamt Wangen
Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
WIDMUNG
Für meine Heimatstadt und mein Allgäu. Egal wo ich bin. Meine Wurzeln bleiben dort.
Auch wenn die Handlung in und um Wangen angelegt ist, sind die Ortsnamen teilweise fiktiv.
1
Es klingelte Sturm.
Zwischen den einzelnen lauten Klingeltönen hörte Georg Ansbach Hundegebell. Auf dem Weg vom Schlafzimmer zur Haustür stolperte er über seinen Rollkoffer, den er am Abend zuvor, nach seiner Heimkehr, im Gang hatte stehen lassen. Fluchend und sich den angeschlagenen Zeh haltend, hüpfte er zur Tür und riss sie auf.
»Was zum Teufel …?« Weitere Worte blieben ihm im Hals stecken. Vor ihm stand die Frau, die er das letzte Mal sechs Monate zuvor am Flughafen gesehen hatte. Neben ihr saß, wohlerzogen, ein großer dunkler Hund, der ihn aus braunen Augen betrachtete und dessen rosafarbene Zunge teilweise aus dem mit Reißzähnen bewehrten Maul heraushing. Ein weniger wohlerzogener Mops versuchte währenddessen, Georgs Aufmerksamkeit zu erregen, indem er, kläffend und laut keuchend, hochsprang.
»Leni … woher?«
»Von Esme. Sie hat wie üblich ihren Mops bei mir abgeladen und dann so nebenbei erzählt, du würdest heute zurückkommen.«
Stabile Einmeterzweiundsechzig drängten sich an ihm vorbei und drückten ihm die zwei Hundeleinen in die Hand.
»Ich muss nach Italien. Karin ist in Schwierigkeiten. Sie braucht mich.«
Immer noch im Halbschlaf und von dem frühmorgendlichen Überfall verwirrt, folgte Georg Ansbach seiner Jugendliebe ins Wohnzimmer, wo Magdalena Sonnbichler eine Einkaufstasche absetzte.
»Karin? Seit wann wohnt die in Italien? Die ist doch in Spanien. Und wieso willst du ihr helfen? Du kannst sie doch nicht ausstehen.«
Schorsch bezog sich auf die Tatsache, dass seine Ex-Frau, Karin de la Guerra, eine ehemalige Schulkameradin von ihm und Leni, gemeint war.
Leni schnaubte durch die Nase. »Die doch nicht – Karin Bergner. Eine Freundin von mir. Kennst du nicht. Ist Krankenpflegerin in Italien. Ich hab wenig Zeit. Da ist was passiert und sie braucht mich.«
Langsam wurde Schorsch wach und Unwillen stellte sich bei ihm ein. »Leni. Jetzt setz dich mal. Platz!«, blaffte er den japsenden Mops an.
»Musst nicht gleich grob werden«, lautete die beleidigt klingende Antwort. Immerhin setzte sich die Frau, die er liebte. »Ich hab wenig Zeit. Ich will schauen, dass ich überm Brenner bin, bevor der Berufsverkehr einsetzt.«
»Und deshalb klingelst du bei mir nachts um …«, er schielte auf die Wanduhr, »… halb drei Sturm?«
»Glaub mir, ich hatte mir unser Wiedersehen nach all der Zeit auch irgendwie anders ausgemalt. Aber …«, Leni zuckte mit den Schultern.
Schorsch beschloss, Prioritäten zu setzen: »Ich brauch ´nen Kaffee. Trink einen mit und erklär mir, was los ist. Sonst kann ich nicht helfen.«
»Wenn es denn sein muss. - Willy! Himmelherrgottsakrament! Hör endlich auf!« Nach Lenis Ausbruch ließ der Mops von seinen Kapriolen ab. Es herrschte wohltuende Stille. Wenig später saßen die zwei Menschen an Schorschs kleinem Küchentisch, während die Hunde es sich im Flur bequem machten und durch die offene Tür jede ihrer Bewegungen beobachteten.
»So. Jetzt erzähl«, forderte Schorsch sein Gegenüber auf, »aber in kurzen Sätzen. Ich bin noch nicht aufnahmefähig für mehr. Kam erst so gegen Mitternacht hier an.«
»Tut mir auch leid. Eigentlich wollte ich heute Vormittag mal anrufen und fragen, wie es dir geht und dann ein Treffen ausmachen. Ich wollte dich sogar zum Essen einladen. Aber dann kam das mit Karin dazwischen.«
»Was genau ist los?« Schorsch lehnte sich zurück und wartete.
Leni drehte ihren Kaffeebecher hin und her. Sie blickte in die dunkle Flüssigkeit. »Ich hab eine Bekannte, Karin Bergner. Sie macht private Krankenpflege. Ich hab sie kennengelernt, als ich oben im Stuttgarter Raum wohnte. Sie betreute damals eine meiner Patientinnen. Sie ist eine ganz liebe, aber wir haben uns ein bisschen aus den Augen verloren. Sie mochte Theo nicht sonderlich.«
Schorsch wunderte sich nicht. Schließlich hatte er Lenis schmierigen Ex-Freund in Aktion erlebt, als es einen Leichenfund im Hexenwasserwald hinter Lenis Bauernhof gab. Das einzig Verwunderliche war, dass seine sonst vernünftige Leni auf den Knilch hereingefallen war und so lange gebraucht hatte, ihn wieder loszuwerden.
Leni nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und verzog das Gesicht. »Hast du keine Milch?« Schorsch schüttelte den Kopf. »Egal. Jedenfalls hat sie vor circa drei Jahren eine Stelle angenommen in der Toskana. Anfang des Jahres bekam ich von ihr ´ne E-Mail, weil sie einen Rat wollte in Bezug auf naturheilkundliche Behandlungen und ich konnte ihr da ein paar Namen nennen. Im Sommer hab ich sie dann besucht und war Gast in der Villa ihres Klienten. Mario Castagnetti ist schon lange krank, aber die neue Behandlungsstrategie scheint anzuschlagen. Ein echt netter Typ.«
»Und wo ist das Problem?«
»Etwas ist passiert. Ich muss dringend zu Karin.« Leni vermied Augenkontakt.
Schorsch hatte eine Idee, was kommen würde. Lenis unbestreitbarer siebter Sinn brachte ihn manchmal ins Schwitzen. Zugegeben: In ihrem Beruf als Heilpraktikerin waren ihre intuitiven Fähigkeiten hilfreich, aber im normalen Leben waren diese »Spezialtalente« nervig. Er unterdrückte einen Seufzer.
»Hat sie angerufen?«
»Nein.«
»Aha.«
»Ja.«
Er verkniff es sich, deutlicher zu werden. »Hast du sie angerufen?«
»Hab ich natürlich versucht. Aber sie geht nicht ran.«
»Hm … und wie?«
»Traum - ziemlich mieser.«
»Und du kannst nicht einfach warten bis morgen früh, dann anrufen und nachfragen? Schließlich kann es durchaus sein, dass die Frau lediglich einen tiefen Schlaf hat und deshalb ihr Handy nicht hört.«
Leni schüttelte den Kopf. Sie stand auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich melde mich.«
2
Wassersried, Ostern 1938 - Tagebucheintrag
Sie kamen nach der Sperrstunde.
Am Ostersamstag.
Zuerst haben sie vor unserem Haus gesungen. Das Horst-Wessel-Lied und irgendetwas von Brüdern in Gruben. Sie sind immer lauter geworden. Am Schluss haben sie die Fenster vorne zur Straße eingeworfen. Irgendwann sind sie dann weg.
Am nächsten Morgen, als Mutter die Scherben aufkehrte, da sind die Nachbarn stumm vorbeigelaufen, auf dem Weg in die Kirche. Alle haben weggesehen. Keiner hat geholfen. Die alte Frau Metzger, die hat laut gemurmelt, dass es eine Schande sei. Ihr Sohn hat sie weitergezogen.
Ich hab Angst.
Die Menschen sind so komisch.
Der Vater ist jetzt viel mehr daheim wie früher. Er sagt, es wird immer schwerer, seinen Handel zu machen. Deshalb hat es heuer keinen Ausflug gegeben. Es ist ein Glück, meint die Mutter, dass die Brüder und Schwestern schon lange aus dem Haus sind. Mutter mag gar nicht mehr selber einkaufen gehen. Beim Bäcker und beim Metzger lässt man sie immer ganz lange warten. Die Mutter von der Trude kauft oft für uns mit ein. Das soll aber niemand wissen. Die Trude bringt uns das Essen immer heimlich, wenn sie zum Spielen kommt.
3
Karin
Karin saß auf einer Bank vor der Kirche des kleinen toskanischen Dorfes und blickte ins Leere.
Mario litt an einer schweren Krankheit. Sie wusste das. Schließlich war sie nach Italien gekommen, um diese Stelle bei ihm anzutreten.
Er würde sterben. Aber so plötzlich? Die neue Behandlung, die Dottore Vincenza im Frühling begonnen hatte, schien anzuschlagen. Mario wirkte fitter. Er konnte sogar wieder Zeit im Rollstuhl verbringen. Die Ärzte äußerten sich zuversichtlich, dass Mario mit der neuen Medikation noch einige Jahre vor sich haben würde, relativ symptomfrei.
Nun saß Karin auf besagter Bank, ihr Gepäck vor sich aufgestapelt. Padre Giuseppe war nicht da. Dottore Vincenza verbrachte seinen jährlichen Urlaub auf Ibiza. Es gab niemanden, an wen sie sich sonst wenden konnte.
Die Mittagssonne brannte auf sie herunter, aber sie merkte nichts von dem beginnenden Sonnenbrand. Karin fror.
Mario war tot und sie war nicht bei ihm gewesen.
Wie durch Nebel nahm die Krankenpflegerin wahr, dass ein Wagen vor ihr hielt. Das würde Ärger geben, dachte der Teil von ihr, der alles beobachtete. Schließlich herrschte auf der Piazza Fahrverbot. Eine Frau stieg aus und sprach mit ihr. Karin verstand nicht, was sie sagte. Es war auch egal.
»Er ist tot und ich war nicht da, um mich zu verabschieden.«
»Ich weiß.« Die Frau setzte sich neben Karin und nahm die kalten Hände in ihre warmen.
Die Wärme bildete einen Fixpunkt im stürmischen Meer von Karins Gefühlen. Wie ein Leuchtturm in der Nacht. Ihr Bewusstsein konzentrierte sich auf die Empfindung in den Handflächen. Langsam und stetig zog sich die Kälte aus ihrem Inneren zurück. Karins Körper zitterte und wand sich. Ihrer Kehle entrang ein Schluchzen, dem ein zweites folgte, dann ein drittes - wieder und wieder - immer lauter. Tränen flossen. Karin schrie ihre Totenklage um Mario aus sich heraus, während Leni sie in ihren Armen hielt.
Später lag Karin, eingewickelt in eine Wolldecke, auf einem Sofa im Wohnzimmer des Dorfpfarrers und schlief.
Der Padre war von seinem Küster via Handy verständigt worden, dass sich vor der Pfarrkirche eine Tragödie abspielte mit einer Tedesca, die sich aufführte wie eine Verrückte. Die Frauen im Dorf hätten sich anstecken lassen. Sie würden alle draußen rund um die Tedesca sitzen, laut jammernd und heulend.
Er war kurz nach Leni eingetroffen. Mit dem Küster und Leni hatte er Karin ins Pfarrhaus geschafft und die Frauen seiner Pfarrgemeinde nach Hause geschickt.
Während Karin schlief, berieten sich Padre Giuseppe Niije und Leni im angrenzenden Speisezimmer, von wo aus sie, durch die offene Tür, Karin im Blick behielten.
In tadellosem Deutsch meldete der Padre Leni gegenüber seine Bedenken an. »Es scheint mir schon seltsam, dass ich vom Tod meines guten Freundes noch nicht unterrichtet worden bin. Schließlich bin ich der Seelsorger der hiesigen Kirche und wenn eines meiner Pfarrkinder das Zeitliche segnet …«
Leni setzte sich kerzengerade auf. »Wollen Sie meiner Freundin unterstellen, dass sie die Unwahrheit sagt?«
Der Pfarrer strich sich mit einer Hand durch sein schwarzes Kraushaar. »Nein. Ich habe Signora Bergner als sehr zuverlässige Person kennengelernt. Aber …«
»Vielleicht einfach mal anrufen?«, schlug Leni vor.
Der Pfarrer nickte und wählte eine Nummer, die er auswendig zu wissen schien. Leni hörte das Besetztzeichen.
Don Giuseppe legte auf. »Ich fahre hin und werde mich persönlich erkundigen.«
Leni stand auf. »Ich komme mit. Obwohl …« Sie blickte besorgt in Richtung Wohnzimmer.
»Lassen Sie mich kurz meinen Küster anrufen. Seine Frau kann sich eine Weile zu Signora Bergner setzen«, schlug der Padre vor. Er legte die Hand wieder an den Hörer, da klingelte das Telefon. Es entspann sich eine längere Unterhaltung auf Italienisch, in deren Verlauf die Mimik des Priesters immer ernster wurde. »Das war Signora Silvia Castagnetti. Sie bittet mich, vorbeizukommen, weil ihr Gemahl verstorben sei.«
4
»Hallo, Schorsch, ich bin’s. … Ja. Kann noch ein bisschen dauern, bis wir hier fertig sind. … Tja, dann kann deine Tochter sich doch endlich mal dafür revanchieren, dass sie ihren Mops dauernd bei mir parkt. Wenigstens ist Sally Garden mit Trockenfutter zufrieden. – Wenn ich zurückkomme, bringe ich Karin mit nach Wangen. Kannst du die Frau Makaschek bitten, das Gästezimmer zu richten? Gut, ich melde mich wieder.« Leni beendete ihren Anruf, kurz bevor Padre Niije seinen Wagen auf die Straße lenkte, die zum Anwesen der Castagnettis führte.
Sie stiegen aus und erklommen die Treppe zur Eingangstür. Es dauerte eine Weile bis ein Mann in T-Shirt und Jeans auf ihr Klingeln hin die Haustür öffnete. Er blickte den Priester und Leni eine Weile schweigend an, bevor er eine Frage stellte.
Es folgte eine Konversation auf Italienisch, die für Leni unverständlich blieb. Dann schloss der Mann die Tür und verschwand.
»Normalerweise öffnet Rosaria die Tür. Irgendetwas ist komisch«, erklärte der Priester.
»Ach wirklich? Fällt Ihnen das erst jetzt auf?« Leni konnte sich ihren Sarkasmus nicht verkneifen.
Geraume Zeit später folgten sie dem wieder aufgetauchten Fremden in den Salon. Dort empfing sie Signora Castagnetti.
— Dafür, dass die Frau ihren Mann gerade verloren hat, ist die aber stylish gekleidet —, meldete sich Lenis innere Stimme spöttisch. — Die hat wohl die Trauerkleidung schon eine Weile im Voraus bestellt. —
Leni unternahm den Versuch, objektiv zu bleiben. Sie verteidigte die Signora in Gedanken. Vielleicht trägt sie gern Schwarz. Schließlich kommt ihr aschblondes Haar dadurch gut zur Geltung.
Ihre Überlegung wurde unterbrochen, als die Dame des Hauses sich erhob, dem Pfarrer die rechte Hand entgegenstreckte und ihn auf Italienisch begrüßte.
»Mein tief empfundenes Beileid für Ihren schmerzlichen Verlust, Signora. Darf ich Ihnen zunächst Signora Sonnbichler vorstellen, meine Begleitung. Sie versteht leider kein Italienisch«, sprach Padre Giuseppe die Hausherrin auf Deutsch an.
Diese deutete durch Nicken eine Begrüßung in Richtung Leni an, ohne ein Zeichen des Erinnerns, und fuhr dann auf Deutsch fort: »Padre, es ist so tragisch. Mein armer Mario.«
— Bist ihr wohl nicht wichtig genug, dass sie sich nicht an dich erinnert. —, moserte Leni innerlich.
»Mein Beileid.« Leni hatte Silvia Castagnetti im Vorjahr kurz kennengelernt und nicht sonderlich gemocht. Ihr Mitleid für die trauernde Witwe hielt sich folglich in Grenzen.
Die Signora zog die dünn gezupften Augenbrauen hoch. »Und Sie sind?«
Leni grinste. »Wir sind uns letztes Jahr kurz begegnet. Ich war Gast in Ihrem Hause. Ihr Gemahl war damals so freundlich, meiner Freundin Karin zu erlauben, mich einzuladen. Ich wollte sie heute besuchen und der Padre war so nett, mich mitzunehmen, weil mein Auto stehen geblieben ist.« Spontan hatte Leni sich für diese Unwahrheit entschieden und hoffte, Don Giuseppe würde sie nicht verraten.
Im Gesicht der Hausherrin zuckte ein Muskel. »Sie werden sie hier nicht finden. Gehen Sie!«
»Signora«, versuchte der Dorfpfarrer zu vermitteln. »Was hat Ihnen Frau Sonnbichler denn getan?«
»Sie? Nichts! Aber diese Bergner …«
— Die geifert ja richtig. —
»Sie ist schuld, dass mein geliebter Mario tot ist.«
»Wie denn das?«, fragte Don Giuseppe.
— Lass mich raten — , knurrte Lenis innere Stimme.
»Diese sogenannte Krankenschwester hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Sie hatte ihren freien Tag und kam nicht zurück. Mario war ohne seine Medikamente.«
Leni schnaubte durch die Nase. »Und das Personal? Er war doch nicht allein im Haus.«
»Ich musste Rosaria und Pietro entlassen.« Signora Castagnetti stand auf und ging zu einem Tischchen, auf dem diverse Getränke und Gläser standen. Sie schenkte sich einen Whisky ein.
»Wieso das denn?«, fragte der Pfarrer. »Rosaria und Pietro sind Ihrem Mann immer absolut treu ergeben gewesen.«
»Was versteht schon ein Neger wie Sie davon? Ich habe Sie nicht hierher bestellt, um über meine Personalpolitik zu diskutieren, sondern um Ihnen Anweisungen zu geben, wegen des Begräbnisses. Und Sie …« Silvia Castagnetti wandte sich Leni zu und schwenkte ihr Glas. »Hinaus!«
— Jedenfalls könnte die Frau sich gut als Schmierenkomödiantin verdingen. —
Leni nickte dem Pfarrer zu. »Ich warte im Auto.« Danach ließ sie sich von dem jungen Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, nach draußen eskortieren.
Eine Viertelstunde später tauchte Padre Giuseppe auf. Er wischte sich mit einem großen Taschentuch über das ebenholzfarbene Gesicht und setzte sich hinter das Lenkrad.
Schweigend fuhren die zwei zurück zum Pfarrhaus.
5
Wassersried, Winter 1938 – Tagebucheintrag
Wir haben ein neues Fräulein Lehrerin. Die ist sehr streng mit mir. Sie meint, ich könne ja nichts dafür, dass ich dumm bin. Das liege an der Vermischung der Rassen. Ich solle mich schämen. Ich weiß nicht wofür. Meine Schulnoten sind viel schlechter geworden. Ich kann nichts richtig machen. Ich mag nicht mehr in die Schule gehen.
Keines der Kinder aus dem Dorf spielt mehr mit mir. Ich darf sie auch nicht besuchen. Nur die Trude kommt noch und auch sie achtet darauf, dass man sie nicht sieht. Sie kommt immer von hinten her durch den Wald über den Garten an die Hintertür. Damit die Leute aus dem Dorf nicht mitkriegen, dass sie bei uns zu Besuch ist. Ein paar von den Leuten im Dorf tragen jetzt Uniformen. Die mögen mich nicht. Immer, wenn die mich sehen, schimpfen sie. Damit die Trude nicht auch verschumpfen wird, sagt ihre Mutter dann ganz laut, sodass alle es hören: »Trude, du darfst nicht mehr mit dem Schnitzlermädle spielen!« Aber sie gibt ihr heimlich was für uns mit. Einen Laib Brot, Schinken, Kartoffeln, damit wir was zu essen haben. Das Geschäft vom Vater geht immer schlechter. Der Vater von der Trude, der schaut, dass wir Holz und Kohle haben, weil der Holzhändler in Karsee, der verkauft nichts mehr an uns.
6
»Bin ich froh, dass ich mit der ganzen Mischpoke hier bald nichts mehr zu tun hab.«
»Ich hab mich eh gewundert, dass du es so lange in der Provinz ausgehalten hast«, hielt Kriminalkommissarin Christine Grabherr ihrem Kollegen Jürgen Wagner entgegen. »Seitdem wir uns kennen, bist du nur am Rummosern.«
»Ist doch aber auch wahr.« Jürgen deutete auf den Bildschirm seines Computers. »Wo sonst, als in diesem Nest kann es passieren, dass so eine Landpomeranze sich permanent einmischt?«
»Ohje, ohje, der arme Jürgen«, machte sich Christine über ihren Kollegen lustig. »Was hat die böse Frau Sonnbichler jetzt schon wieder angestellt?«
»Verschone mich. Ich bin echt froh, dass die Bekannte vom Chef gerade mal nicht wieder mit ihren Esoterikallüren durch die Gänge kreuzt. Aber diese Schrulle aus Wassersried ist noch lästiger.«
»Was für eine Schrulle?«
»Ach so eine rübergemachte Ossibraut. Fräulein Geyer.« Jürgen verzog sein Gesicht zu einer gehässigen Maske und imitierte den Akzent. »Fräulein, junger Mann, nicht Frau. So viel Zeit muss sein! - Etwas mehr Respekt kann ich schon erwarten. Schließlich war ich viele Jahre Gemeindebotin und bin immer noch in sehr vielen Ehrenämtern tätig.«
»Ohje«, stöhnte Christine. »Die hatte ich auch schon. Irgendjemand hatte Glaubersalz in eine Backmischung gekippt, die von ihr verwendet wurde bei einem Backkurs der Landfrauen.«
»Das Zeug ist doch bitter.« Jürgen verzog das Gesicht. »Meine Ex hat mich mal dazu überredet, so eine Fastenwanderung mitzumachen. Als Einstieg musste man das Zeugs trinken. Frag nicht.«
Christine nickte. »Die Teilnehmer nahmen einen Bissen und haben das Zeugs weggeschmissen. Aber Frau Geyer hat einen Großteil der gebackenen Kekse mit nach Hause genommen und selber gegessen.«
»Die Frau muss aus Stahl sein.« Jürgen schüttelte sich.
»Nicht wirklich. Sie kann anscheinend nichts Bitteres schmecken. Jedenfalls bekam sie massiven Dünnschiss und bei mir landete eine Anzeige wegen versuchtem Mord.«
Christines Kollege setzte sich aufrecht hin. »Interessant. Warum war ich in die Ermittlungen nicht einbezogen?«
Christine winkte ab. »Du warst im Urlaub und es hat sich herausgestellt, dass es ein Dummejungenstreich war. Frau Geyer ist einer dieser Menschen, die dauernd anecken. In dem Fall haben wohl ein paar Jungs Glaubersalz in das Mehl gemischt. Sie dachten, wenn Frau Geyer das probiert, spuckt sie es eh gleich aus. Ich glaube nicht, dass so was nochmal vorkommt. Was für eine Beschwerde ist es denn diesmal?«
»Ich hab eine ganze Liste: Vorwürfe von Hygieneverstößen bei einer Bäckerei Metzger.«
Christine kicherte.
»… und eines dieser Wohnzimmercafés, die jetzt überall in den Käffern aus dem Boden sprießen. Dann eine Anzeige gegen Unbekannt, wegen nächtlicher Ruhestörung. Noch eine Anzeige gegen Unbekannt, weil jemand Papier auf der Straße verteilt hat und wegen der Störung der Totenruhe.« Jürgen raufte sich Haare.
Christine setzte sich aufrecht hin. »Störung der Totenruhe? Das klingt spannend.«
Jürgen winkte ab. »Da hat anscheinend jemand, ohne zu fragen, Blumen auf ein Grab gelegt, für das diese Frau Geyer zuständig ist.«
»Anonym?«
»Nein. Der Name ist bekannt. Jetzt will diese Frau Geyer, dass die Polizei einer Frau Elsa Schnitzler offiziell verbietet, Blumen auf dieses Grab zu legen. - Ich bitte dich!«
»Geht das überhaupt?«
»Keine Ahnung. Aber ehrlich. Ist mir auch so was von wurscht. Ich hab wirklich Wichtigeres zu tun.«
»Was zum Beispiel?«, fragte seine Kollegin.
»Weiß nicht. Aber ich finde sicher was … Oh, Hallo Chef, wie lange stehen Sie da schon?« Jürgens Stimme klang leicht verunsichert, denn Kriminalhauptkommissar Johannes Maier war, unbemerkt von seinen Assistenten, im Türrahmen aufgetaucht.
Hannes blickte Jürgen streng an. »Dees willsch gar it wissa. Aber du hast Glück. Es kam gerade ein Ersuchen von den italienischen Kollegen.«
Jürgen setzte sich aufrecht hin. »Mafia?«
Hannes schüttelte den Kopf. »Was du wieder denkst. Eine Zeugenbefragung.« Er streckte seinem Kollegen ein Blatt Papier entgegen. »Hier, du kannst das mit Christine übernehmen.«
Christine war schneller. Sie schnappte sich die Notiz, las sie durch und kicherte, während sie den Zettel an Jürgen weitergab. »Chef, du bist fies.«
»Entweder das, oder Jürgen geht den Beschwerden dieser Person in Wassersried nach.«
7
»… Jedenfalls bleibt die Karin erst mal bei mir auf dem Hof, bis es ihr besser geht und ich hab dem italienischen Kommissar die Kontaktdaten vom Hannes gegeben, falls es noch was zu klären gibt -, bis zur Gerichtsverhandlung.« Leni beendete ihren Bericht, während sie mit Schorsch und den Hunden einen Waldspaziergang machte. »Ich bin echt froh, wieder daheim zu sein. Diese Castagnetti und ihr Liebhaber haben doch tatsächlich gedacht, sie kämen damit durch.«
Schorsch setzte sich auf eine Bank und deutete seiner Freundin an, sich neben ihn zu setzen. »Soweit hab ich das kapiert, aber warum ist die Frau Bergner so durch den Wind? Die schaut ja aus, als wär sie selber gestorben.«
»Ich denke, die Karin hat den Mario Castagnetti sehr gern gehabt. Er sie auch. Sie macht sich Vorwürfe. Wenn sie an dem Tag nicht Besorgungen gemacht hätte, dann wäre er noch am Leben. Das Dumme ist: Sie hat wohl recht.«
»Was meinst?« Schorsch hätte Leni gerne geküsst, aber ihre Beziehung war nicht mehr die Gleiche. Vor einem dreiviertel Jahr hatte er Leni eröffnet, er würde für eine unbestimmte Zeit in die Staaten gehen. Darauf ergriff sie die Gelegenheit und spielte die Wir-wollen-Freunde-bleiben-Karte aus. Jetzt, wo es so aussah, als würde Karin Bergner bei Leni als Dauergast einziehen, sah er seine Felle davonschwimmen. Mit einem solchen Dauergast auf dem Sonnbichlerhof waren seine Chancen, Leni zurückzuerobern, nicht sonderlich groß.
»Wie es aussieht, war Mario Castagnetti an dem Abend noch am Leben. Silvia Castagnetti passte den Zeitpunkt gut ab. Karin hatte einen freien Tag, der Hausarzt war auf Urlaub und so musste sie nur noch die Dienstleute loswerden. Die hat sie, unter dem Vorwand von Diebstahl, fristlos entlassen.« Leni seufzte. »Als Karin am Abend zurückkam, wurde sie nicht mehr zu Mario vorgelassen. Silvia behauptete, er sei tot und setzte Karin vor die Tür. Karin war emotional aufgewühlt und fuhr zu Padre Giuseppe Niije, einem engen Freund von Mario. Dummerweise befand sich der gerade auf Klausur in einem Kloster.« Leni seufzte und schüttelte langsam den Kopf. »In der Nacht haben Silvia und ihr Geliebter den hilflosen Mann mit Insulin in den Unterzucker gespritzt. Für den am nächsten Tag herbeigerufenen Arzt, der aus der Nachbarstadt kam, gab es keinen Zweifel, dass Mario, der ja schon lange krank war, sozusagen seiner Krankheit erlegen war.«
»Wieso?«
Leni zuckte mit den Achseln. »Wieso machen Leute Dinge? Gier?«
Schorsch schüttelte den Kopf. »Wieso bist du nach Italien gefahren?«
»Hab ich dir doch gesagt. Ich hab schlecht geträumt.«
Schorsch wusste, mehr würde Leni zu dem Thema nicht sagen. »Und wie geht es weiter? Mit der Frau Bergner?«
»Nenn sie doch Karin«, forderte Leni ihn auf. »Sie hat keine Wurzeln. Ich denke, sie wird sich eine Auszeit nehmen und dann überlegen, wie sie weiter machen will. Ich hab da schon eine Idee. Da sie keine Familie hat und auch keinen festen Wohnsitz, wohnt sie, wie gesagt, erst mal bei mir.«
8
Karin
»Ich kann mich doch nicht ewig bei dir verstecken. Eigentlich sollte ich mir einen neuen Job suchen.« Karin klang bedrückt. Sie saß Leni gegenüber, die ihren Frühstückskaffee trank. Die Zeit nach Marios Tod und der damit verbundene Aufruhr, seelischer und anderer Art, lagen größtenteils hinter ihr, gut verborgen in einer dicken undurchdringlichen Nebelwand.
Sie wusste noch, dass Leni sie in deren Fiat Panda verfrachtet hatte und auf den Sonnbichlerhof brachte. Dort fand sie sich in Lenis Gästezimmer wieder. Ihre Freundin kümmerte sich um alles. Die ersten Tage hatte Karin nur dagelegen und Denken und Fühlen verweigert.
Leni fütterte sie wie ein kleines Kind, schob sie regelmäßig auf die Toilette und wusch sie. Die Heilpraktikerin kontaktierte eine befreundete Ärztin, die Karin Medikamente verschrieb und dafür sorgte, dass sie, sobald sie so weit war, einen Platz in einer guten Reha-Klinik bekam.
Leni besuchte Karin dort regelmäßig. Vor einigen Wochen waren die Therapeuten der Meinung gewesen, Karin könnte ambulant weiter behandelt werden. Leider stand Leni dann sofort bereit und quartierte ihre Freundin, gegen deren Willen, wieder auf dem Hof im Gästezimmer ein.
Dies war nicht Karins erster Versuch, sich abzunabeln. Es war Zeit, ihren Plan durchzuführen. In den vergangenen Wochen hatte Karin die verordneten Medikamente spärlich eingesetzt und einen Vorrat angelegt. Sie nahm nur so viel, wie unbedingt nötig. Schließlich kannte sie die Nebenwirkungen. Wenn es so weit war, den nächsten Schritt zu tun, sollte dies nicht auf Leni zurückfallen.
Deshalb nahm Karin an diesem Tag ihren ganzen Mut zusammen und startete einen neuen Anlauf. »Ich kann nicht ewig bei dir wohnen bleiben. Ich bin dir echt dankbar, dass du mir durch die dunkle Zeit beigestanden hast, aber jetzt sollte ich mich auf eigene Füße stellen.«
Die Krankenpflegerin bemühte sich schon eine ganze Weile, Lenis Gastfreundschaft zu entkommen.
Schließlich hatte Leni einen Freund und Karin konnte sich denken, dass dieser nicht sonderlich begeistert war, dass sie als Störfaktor bei seinen Besuchen fungierte. Nicht, dass er jemals etwas sagte, aber …
Zum Glück hatte Karin vor vielen Jahren dementsprechende Versicherungen abgeschlossen, die im Falle von Krankheit dafür sorgten, dass sie eine Weile finanzielle Sicherheit genoss. Trotzdem …
Karin machte sich auf Lenis Widerstand gefasst, aber der blieb aus. »Vielleicht hast du recht. Was stellst du dir vor?«
›Ein Zimmer mieten‹, wollte Karin sagen. ›Die Versicherung würde auch für die Bestattungskosten aufkommen.‹
Ihre Antwort für Leni war ein ausweichendes Schulterzucken. »So genau weiß ich das nicht. Ich werde die Agentur kontaktieren, mit der ich zusammengearbeitet habe. Mal sehen, was die so haben. Vielleicht mach ich auch Urlaub.« Das Zimmer sollte weit weg vom Sonnbichlerhof liegen. Karin musste durchhalten, bis zum Prozess. Silvia würde nicht ungeschoren davonkommen … so oder so.
Leni stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und stand auf. »Das hat ja noch ein bisschen Zeit, denke ich. Hast du Lust auf einen Ausflug? Ich hab der alten Huberbäuerin versprochen, im Nachbardorf etwas für sie zu erledigen.«
Erleichtert atmete Karin auf. Die erste Hürde war geschafft.
Wieder einmal saß sie in Lenis Fiat und wurde von einem Ort zum andern gefahren. Diesmal landete sie auf dem Parkplatz eines fremden Dorfes.
»Der Ort heißt Wassersried«, erklärte Leni. »Ich bin hier zur Schule gegangen. Früher gab es auch noch einige Läden. Heute hat sich alles verlagert.« Sie verzog das Gesicht. »Solange man noch mobil ist, geht es. Aber wehe du bist alt und hast kein Auto. – Ich muss hier nur schnell was erledigen, dann fahren wir weiter.«
»Dann bleib ich hier sitzen und warte.«
»Ich brauch schon ´ne Weile. Komm mit, ich möchte dir meine alten Jagdgründe zeigen.«
Es war wichtig, Leni in Sicherheit zu wiegen, deshalb ließ Karin sich überreden und folgte Leni über den Dorfplatz.
Karin hörte Wasser fließen. Der Brunnen auf der Piazza. Die Erinnerung traf sie wie ein Blitz. Sie schluckte. Ihr Herz schlug schneller. Karin blickte sich um und blinzelte. »Komisch.«
»Was denn?«, fragte Leni.
Karin zeigte nach vorne. »Der Brunnen da vorne. Lauter Ostereier.«
»Das ist hier in der Gegend Brauch«, erklärte ihre Freundin in Fremdenführermanier. »Ungefähr drei oder vier Wochen vor Ostern schmücken die Leute in den Gemeinden ihre Brunnen. Wir können ja später nach Wangen fahren. Da ist es besonders schön. Die haben so viele Brunnen und jeder wird da von einer anderen Schule geschmückt.«
»Gerne«, heuchelte Karin Interesse, indem sie ihr Smartphone zückte. »Aber jetzt stell dich mal da hin. Ich mach ein Bild.« Am besten sie mimte die interessierte Touristin. Leni schien den Köder zu schlucken. Die Freundinnen knipsten sich gegenseitig, wie sie vor dem österlich geschmückten Brunnen posierten. Kurz fühlte Karin sich ganz unbeschwert.
Plötzlich stand eine ältere Frau neben den Kameradinnen.
Lenis automatisches »Grüß Gott« fasste sie wohl als Einladung auf, ein Gespräch zu beginnen. »Guten Tag, die jungen Damen. Ach, sie bewundern unseren Dorfbrunnen. Ist es nicht schön, wenn die Tradition aufrechterhalten wird?«
Wie hypnotisiert nickten beide gleichzeitig.
»Es isch scho schee, vor allem wenn wie heut die Sonne scheint«, antwortete Leni in breitem Allgäuer Dialekt. Karin war schon früher aufgefallen, dass ihre Freundin bei Fremden oft in Dialekt verfiel. Interessanterweise wurde sie immer allgäuerischer, je deutlicher das Gegenüber hochdeutsch sprach.
»Ach, ja sie geben sich schon Mühe, die Landfrauen, aber er hätte schon noch besser werden können.« Die Fremde schüttelte den Kopf. »Leider haben sie nicht auf mich gehört. Ich hatte ja vorgeschlagen, dass sie echte Eier nehmen und bemalen. Anstatt dieser Thuja würde Buchs sich viel besser machen.« Die Stimme der Dame tönte unangenehm hoch in Karins Ohren. Tonfall und Aussprache ließen pommersche Landschaften erahnen. Das freundliche Lächeln auf ihrem Gesicht bildete einen seltsamen Widerspruch zu dem leicht nörgelnden und unzufriedenen Grundtenor ihrer Stimme. Karin fielen weitere Diskrepanzen auf: Ein altmodisch angehauchtes Tweedkostüm, am Revers der Jacke eine hübsche kleine Brosche aus Silber, elegante, farblich passende Pumps, erstaunlich wohlgeformte Beine in blickdichten braunen Nylonstrümpfen, akkurates kurzes, schwarz glänzendes Haar, das ein hageres blasses Gesicht umrahmte, ein dünner, etwas verkniffener Mund, leicht mit hellem Lippenstift geschminkt, eine gerade, scharf geschnittene Nase und zwei dunkle Augen, die seltsam groß wirkten unter fast farblosen Augenbrauen und Wimpern, die Falten im Gesicht leicht überdeckt mit Puder.
Alles in allem erschien sie unecht, wie eine zum Leben erwachte Puppe. Karin fröstelte.
Die Frau kramte in ihrer übergroßen Handtasche und holte eine kleine Metalldose hervor, öffnete sie, nahm ein mit Puderzucker bestäubtes blaues Bonbon heraus und stopfte es sich in den Mund, während sie weitersprach: »Diese bunten Plastikeier wirken einfach nur ordinär. Damit wird der ganze Effekt verdorben, und jedes Jahr schmücken sie inzwischen immer gleich. Es ist wirklich schade. Sind Sie zu Besuch hier?« Die Frau inspizierte die zwei Freundinnen mit scharfem Blick.
Karin empfand die Frage als aufdringlich, wollte aber nicht zu grob sein, deshalb umging sie eine direkte Antwort. »Wassersried ist ein wirklich schöner Ort.«
»Wir sind auch sehr stolz auf unser Dorf. Wir tun sehr viel für unsere Gemeinde.« Hier nickte die Frau mehrmals und fixierte ihr Gegenüber dann mit ihren dunklen Knopfaugen. »Wenn Sie etwas wissen wollen oder benötigen, bin ich genau die richtige Ansprechpartnerin. Mein Name ist Wilhelmine Geyer. Ich wohne hier schon sehr lange und kann mit Recht von mir behaupten, dass ich jeden hier kenne und auch alle kleinen Geheimnisse.« Sie lachte leicht, wohl um dieser Aussage die implizierte Drohung zu nehmen. Auf Karin wirkte sie, vielleicht gerade deswegen, fast noch bedrohlicher. Karin tauschte mit Leni Blicke und antwortete gleichzeitig höflich: »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau Geyer.«
»Fräulein Geyer!«, wurde sie sofort berichtigt.
Die so Zurechtgewiesene schluckte und fuhr fort: »Fräulein Geyer, es ist sehr freundlich, von Ihnen, uns Ihre Hilfe anzubieten. Sie entschuldigen uns, wir müssen jetzt leider weiter, denn wir haben noch einen Termin.«
»Ja, wie die Zeit fliegt. Ich muss mich auch sputen. Wissen Sie, ich bin sehr stark sozial engagiert. Ich besuche die lieben alten Menschen im hiesigen Altersheim. Die freuen sich immer so, wenn jemand kommt. Leider werden viele Alte von ihren Familien sträflich vernachlässigt. Ich könnte da Geschichten erzählen …«
Karin wollte keine Geschichten hören. Ihre eigene war ihr Abschreckung genug.
Leni rettete die Freundin. »Also, Frau Geyer, wir müssen nun weiter. Sie entschuldigen bitte.« Sie nickte der Dame noch einmal zu, nahm Karin am Arm und zog sie zielstrebig die Straße entlang, weg von der verblüfft hinter ihnen her starrenden Wilhelmine Geyer.
»Tut mir leid, Karin«, sagte Leni, sobald die Kameradinnen außer Hörweite waren. »Aber ich hätte es keine Minute länger ausgehalten. Der alten Hex geht man besser aus dem Weg. Da ist was gewaltig faul.«
»Leni, ich werde die Frau nie wieder sehen. Die ist doch harmlos. Einfach ´ne alte Ratsche. Mir tut sie leid. Sie scheint selber keine Familie zu haben und ich bin mir sicher, sie meint es nicht böse.«
Leni schnaubte. »Die wois genau, was se will. Dia isch a Brunnavergifterin! Und von wegen nie wieder sehen. Ich zeig dir was.« Sie hielt vor einem kleinen Häuschen an und zog einen altmodisch wirkenden Hausschlüssel aus ihrer Jackentasche.
Das Haus war winzig und alt. Drei Stufen führten direkt vom Gehsteig hoch zur Eingangstür, die aus silbrigem Holz bestand. Leni schloss auf und trat ein. »Komm. Ich hab der alten Huberbäuerin versprochen, die Blumen zu gießen. Das Haus gehört einer Bekannten von ihr, die vor Kurzem ins Altersheim gezogen ist.«
Staunend folgte Karin ihrer Freundin in dieses Minihaus. Es war, als wäre sie in einem früheren Jahrhundert angekommen. Eine Wohnküche nahm den ganzen unteren Stock ein. In einer Ecke führte eine steile Treppe nach oben. Ehrfürchtig berührte Karin die Holzmöbel. »Das ist ja bezaubernd. Ein richtiges Hexenhäuschen. Als Kind wollte ich immer in so etwas wohnen.«
»Wennst magst, kannst du das jetzt nachholen. Die Elsa Schnitzler wäre froh, wenn ihr Häusle nicht lange einsam bleiben müsste. Über die Miete werdet ihr euch schon einig. Du kannst sofort einziehen.«
9
Wassersried, Mai 1939 – Tagebucheintrag
Der Vater sagt, morgen fahren wir weg. Alles muss heimlich passieren. Der Franz Eckert, der Vater von der Trude, hat unser Haus gekauft. Er wird uns morgen ganz in der Frühe wegbringen. Ich freu mich schon auf den Ausflug. Der Herr Eckert, der will sich einen Stier kaufen, drüben bei Konstanz und er nimmt uns mit bis dahin. Von dort machen wir eine Wanderung und wollen meine Schwestern besuchen. Der Vater und die Mutter haben große Rucksäcke gepackt. Ich darf nur meine Puppe mitnehmen. Ich bin traurig. Denn der Vater hat gemeint, er weiß nicht, ob wir wieder heimkommen, und ich darf niemandem etwas erzählen, auch meiner Trude nicht.
10
Karin
Besser hätte sie es nicht treffen können. Das kleine Haus gab Karin die Freiheit, ihre Pläne langsam reifen zu lassen und alles vorzubereiten, ohne Angst, Leni könnte ihr dazwischenfunken. Wobei in Karin ein leiser Verdacht aufkam, dass die Freundin sie nicht ohne Hintergedanken zu dieser Behausung geführt hatte. Karin war es recht. Sie, die nie Wurzeln geschlagen hatte, fühlte sich hier geborgen.
Schnell entwickelte sich ein Tagesablauf. Morgens ging sie zum Bäcker, erledigte dort ihre kleineren Einkäufe. Wie im Dorf üblich, grüßte sie höflich die Menschen, die ihr begegneten, auch Wilhelmine Geyer, die man überall anzutreffen schien.
Die Rekonvaleszentin wollte keine engen Kontakte knüpfen. Wozu? Bald wäre das nicht mehr nötig. So bewegte Karin sich in ihrem kleinen eigenen Kokon, begegnete allen freundlich, hielt ansonsten Distanz zu den Menschen.
Sie hatte den Eindruck, dass die Wassersrieder das gut fanden. – Natürlich nicht alle.
»Diese hochnäsigen Zugezogenen. Denken doch, sie sind was Besseres und scheinen es nicht nötig zu haben, sich mit unseren Belangen zu beschäftigen«, hörte sie Wilhelmine Geyer grollen, als Karin auf ihrem täglichen Weg zum Bäcker freundlich grüßte, aber keine Anstalten machte, auf einen Plausch anzuhalten.
Eine Ausnahme gab es, mit der Karin mehr Kontakt pflegte.
Leni hatte ihre Freundin am Tag, als sie ihr deren neues Heim zeigte, ins ›S’Stüble‹ eingeladen, eine Art Wohnzimmercafé, das in einem ehemaligen Laden am Dorfplatz untergebracht war. Als die zwei Frauen durch die altmodische Ladentür eintraten und sich umsahen, strahlte Lenis Gesicht mit einem Mal und sie ging zielsicher auf eine alte Dame zu. Diese saß in einem gemütlich wirkenden Ohrensessel. Vor ihr, auf einem runden Tisch, stand eine Tasse, aus der es heiß dampfte.
»Grüß Gott, Frau Schnitzler, das trifft sich ja gut. Darf ich Ihnen Karin Bergner vorstellen, Ihre neue Mieterin? Wir hatten ja schon darüber geredet. - Karin, das ist Frau Elsa Schnitzler.«
Schwarze Augen musterten sie und strahlten. Zahllose Krähenfüße vertieften sich. »Griaß Gott. Setzet Sie sich doch.« Elsa Schnitzler wandte sich nach hinten in den Laden und rief: »Sofie, Mitzi, kommat her und lernt die Frau Bergner kenna. Ich hoff, Sie werdat so glicklich, wia mir do warat.« »Danke. Ihr Haus ist wirklich schön, ich kann gar nicht verstehen, dass Sie ausgezogen sind.
»Jo mei. Ich habe damals, als das Fridolin geplant wurde, meine Ersparnisse dazu benutzt, eine Wohnung dort zu kaufen. Die war dann auch lange vermietet. Vor einem Jahr wurde sie frei und ich hon denkt, es sei so langsam an der Zeit, die Wohnung selber zu nutza. Das Geld aus der Miete hatte ich damals angelegt, und das zahlt jetzt eventuelle zusätzliche Kosten. Mit meiner kleinen Rente komm ich so ziemlich gut über die Runden und jetzt, wo Sie das Hexenhäusle miatat, da wird sogar noch ein bisschen extra über bleiba. Es ist ja a bissle oifach, aber ich hoffe, es gefällt Ihnen.«
»Es ist genau das, was ich gesucht habe. Sehr gemütlich und von der Größe her genau passend. Vor allem eben auch möbliert. Ich selber hatte noch nie einen Hausstand.« Wenn Karins Plan Früchte trug, würde es auch nicht mehr dazu kommen. Es galt nur noch den Prozess gegen Silvia abzuwarten.
»Isch it ganz leicht, wenn ma nix hat. Ging uns auch mal so«, meinte Frau Schnitzler.
Inzwischen waren zwei Damen an den Tisch getreten, um Leni und ihre Begleitung zu begrüßen, die Besitzerinnen des S`Stüble. Leni erzählte später, dass Mitzi und Sofie Brunner Zwillinge waren, aber man sah ihnen das nicht an. Vor Karin standen zwei Frauen, die rein äußerlich nicht unterschiedlicher sein konnten. Bei Mitzi Brunner fiel einem sofort das Wort Wuchtbrumme ein. Sie erinnerte Karin an Joy Fleming, vor allem mit dem knallrot gefärbten Haar und ihrer dunklen tragenden Stimme. Sofie Brunner hingegen war sehr zierlich und Karin musste an Edith Piaf denken oder an eine ältere Ausgabe von Leslie Caron, wegen des Kurzhaarschnittes.
Die Brunnerschwestern stürzten sich sofort mit allen möglichen Fragen auf Karin. Es war, als würden sie versuchen, innerhalb von wenigen Minuten deren gesamten Lebenslauf zu erfahren, während sie den zwei Freundinnen gleichzeitig Kuchen und Kaffee anboten.
»Gefällt es Ihnen bei uns?«, begann Sofie, um sogleich von Mitzi unterbrochen zu werden. »Klar, sonst wär sie doch net hier. Aber echt! - Was hättet Ihr denn gern? Der Apfelkucha ist heut echt lecker.«
»Noi, Mitzi«, mischte sich Sofie wieder ein. »Mir hont doch den Rüblikucha. Extra so vor Ostern. Haben Sie Urlaub? Oder suchat Se a Stell? Vielleicht wissat mir jo jemand, der jemand braucht.«
»Ich bin Krankenpflegerin. Ich mache normalerweise Privatpflege und habe zurzeit gerade keinen Auftrag. Ich will mich erst mal erholen.« Karin fand, das klang schön neutral und normal.
Leni übernahm die Bestellung. »Wir nehmen einen Apfelkuchen und einen Rüblikuchen. Dann kann jeder mal probieren. Habt ihr noch den leckeren heißen Apfelsaft?«
»Hoiße Liebe? Noi. Nur im Winter. Jetzat Homa no scheene hoiße Schokolade oder mir hent no a bissle hoißa Holundersaft«, schlug Sofie vor.
»Ach komm. Zum Kuchen passt doch koin Holdundersaft. Nehmt an Schock oder an Tee«, riet Mitzi.
Leni drängte Karin zu einem Schock und die zwei Schwestern eilten davon, die Bestellungen vorzubereiten.
Elsa Schnitzler kicherte. »Die zwoi sind scho a bissle wie Naturgewalten. Ich kannte noch ihre Mutter. Die alte Frau Brunner hatte hier bis vor zwanzig Jahren einen Tante-Emma-Laden. Dann stand das hier lange leer bis die Schwestern nach ihrer Pensionierung beschlossen haben, wieder nach Wassersried zu kommen. Sie sind sehr neugierig, aber sie haben das Herz am rechten Fleck. Genau wie ihre Mutter. Die Frau Brunner hat meiner Familie damals beigestanden in der schweren Zeit.« Frau Schnitzler nickte, schenkte sich aus ihrem Kännchen Kaffee ein und rührte eine Weile heftig in der Tasse. »Scho lustig. I war lange Bezirkskrankenschwester. Und Sie sind ja au a Krankenschwester.«
»Moinat Se, die Tradition wird fortgesetzt?«, fragte Leni.
»So in der Art«, stimmte Elsa Schnitzler zu. Sie sah Karin verschmitzt an.
»Ich habe den Eindruck, hier wird noch viel Tradition gepflegt«, versuchte diese ein neutrales Gesprächsthema. »Wir haben vorhin den Brunnen bewundert.«
»Scheinen aber nicht alle begeistert zu sein«, bemerkte Leni. »Eine Dame fand, dass das früher alles besser war.«
Elsa Schnitzlers Gesichtsausdruck wurde grimmig. »Last mich raten: Wilhelmine.«
»Oh Jessas. Die heilige Geyere!« Mitzi stellte die zwei heißen Schokoladen mit dicker Schlagsahnehaube ab. »Was hot se jetzt scho wieder zum maula?«
»Eigentlich war sie ganz freundlich«, berichtete Karin.
Mitzis Schnauben klang nach einem entrüsteten Nilpferd.
»So isch se, unsere Wilhelmine. Die war früher amol Gemeindedienerin und hot so ziemlich elles gwisst.« Inzwischen war Sofie mit den Kuchenstückchen dazu gestoßen und gab Auskunft über den Werdegang von Wilhelmine Geyer. »Dafir, dass se nimmer schaffat, wois se immer no über alles ihren Senf dazuzumgeaba. Aber koi Wunder, se isch jo au sehr aktiv. Gell, Leni, die hot euch sicher au erzählt, wia se karitativ unterwegs isch.«
Leni blieb einsilbig. »Sowas in der Art.«
»Frog mol die Elsa. Die ka au a Lied davo singa. Schließlich ist die Geyere fast täglich im Altenheim und steckt ihre spitze Näs do au in Sacha, die se nix agangat.«
»Jetzt hör aber auf«, befahl Mitzi. »Es bringt nichts, sich auf dieses Niveau zu begeben und du bist ja nur so sauer, weil …«
»Dia alte Schnepfa hot domols versuacht d'r Mutter s’Leaba schwer zu mache und jetzt versucht se dees mit uns. Scheene Nachbare …«
»Frau Geyer gehört das Anwesen, das ans S’Stüble angrenzt. Sie ist keine Freundin von Cafés«, erklärte Elsa.
»Ein Sündenpfuhl hot se uns gnannt. Ein Ort der müßigen Faulpelze und Lästerer. Ratschtanten. Bloß, weil i ihr des Rezept für die Schokotorte it verrota hon. Aber i hon mi g’rächt.« Sofie lachte böse. »Sie wois hoit no it, was se troffa hot.« Mitzi nahm ihre zeternde Schwester an den Schultern und führte sie weg.
Kurz herrschte ungemütliches Schweigen am Tisch, dann lenkte Leni das Gespräch auf Kräuter und Pflanzen.
»Ja, das vermisse ich dann doch ein bisschen«, seufzte die alte Dame. »Meinen Kräutergarten und die Blumen.«
Überrascht hörte Karin sich sagen: »Ich hatte noch nie einen Garten. Wenn Sie erlauben, ließe ich den Garten am Haus gerne aufleben und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir dabei mit Rat zur Seite stehen könnten.«
Elsa Schnitzlers Augen strahlten. »Das wäre wunderschön.«
11
Karin
»Buon Giorno, hier ist Padre Giuseppe Niije. Wie geht es Ihnen?« Karins Smartphone zeigte die italienische Landesvorwahl an.
»Hallo, Padre«, ihr Herz klopfte heftig. Stand der Gerichtstermin schon an? Sie hatte noch nichts gehört. »Soweit ganz gut. Aber warum rufen Sie mich von Ihrem Handy aus an? Das muss doch sehr teuer sein.« Es klang zwar ungelenk, aber Karin wollte nicht direkt nach Silvia und deren Geliebten fragen. Andererseits war das Gehalt eines italienischen Dorfpfarrers nicht übermäßig üppig. Außerdem wusste sie, dass er einen Großteil seines Gehaltes an seine Familie in Gambia überwies. Er musste einen triftigen Grund haben, diesen Anruf zu tätigen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe einen Sponsor«, beruhigte der Priester. »Karin, wäre es in Ordnung, wenn ich bei Ihnen vorbeikomme?«
»Padre, Sie sind natürlich jederzeit herzlich willkommen, aber …« schließlich war die Pfarrei Niijes nicht um die Ecke und sie wollte niemanden im Haus haben, der vielleicht doch noch ihre Pläne erahnen könnte.
Karin hörte den alten Freund lachen. »Keine Angst. Ich werde beim Gemeindepfarrer wohnen. Als Ihr Brief kam, in dem stand, dass Sie sich eine kleine Wohnung gemietet haben, dachte ich, es sei eine gute Gelegenheit, Urlaub in Deutschland zu machen. Es ist sehr lange her, dass ich dort studiert habe. Also nahm ich Kontakt mit meinem Kollegen auf, der mich herzlich eingeladen hat, eine Weile bei ihm zu wohnen. Ich würde dann Ihren Wagen zu Ihnen zurückbringen und später mit dem Zug wieder heimreisen.«
Ihren Käfer! Den hatte sie vollkommen vergessen. Nach Marios Tod blieb der VW in Italien.
»Sie schickt der Himmel.«
Der Padre lachte am anderen Ende der Leitung. »Das sollte bei meinem Beruf eigentlich selbstverständlich sein.«
Karin lachte ebenfalls. »Ihnen ist aber schon klar, dass es hier noch richtig kalt ist. Der Frühling lässt sehr auf sich warten.«
»Ich bin zwar in Afrika geboren, aber so schlimm wird es schon nicht sein«, gluckste er. »Dann werde ich bald losfahren und melde mich, sobald ich angekommen bin. Ciao.«
Karin legte ihr Smartphone weg und ging in die kleine Küche, um sich einen Tee zu kochen. Es war gut, die Stimme des Padre zu hören. Die Aussicht, mit ihrem eigenen Wagen unabhängiger von den Busverbindungen und Leni zu sein, kam ihr entgegen. Und später könnte ihr alter VW ihr noch ganz andere Dienste leisten.
Karin zitterte. Die Erinnerungen an Mario, der ein Freund geworden war und der mehr hätte sein können, wenn die Dinge anders gekommen wären, drängten sich nach oben. Wie würde sie ihre Ruhe nach außen hin wahren können?
Zwei Tage später, kämpfte Karin sich durch kalten Nieselregen zur Bäckerei und lief Wilhelmine Geyer direkt in die Arme, die just in dem Moment den Laden verließ, als Karin ihn betreten wollte.
»Haben Sie es schon gehört? Es ist wirklich unerhört!«, überfiel sie sie.
»Guten Tag, Frau Geyer.« Karin hoffte, eine neutrale Antwort würde ihrem Gegenüber den Wind aus den Segeln nehmen.
»Wirklich. Sie wissen ja, ich bin sehr sozial eingestellt und habe auch immer dafür plädiert, dass die Damen im Strickzirkel ihre Produkte auch zugunsten von diesen dunklen Seelen verkaufen, aber irgendwo muss man eine Grenze ziehen. Wenn man als unbescholtene Bürgerin nicht einmal mehr nachts über den Dorfplatz gehen kann, ohne angepöbelt zu werden.«
In Gedanken sah Karin schwarze Seelen in bunt gestrickten Ringelpullis über den Dorfplatz schweben und machte ein glucksendes Geräusch, das Wilhelmine als Aufforderung verstand, weiter zu sprechen. »Gestern war Donnerstag.«
Karin nickte. »Und heute ist Freitag«, fügte sie automatisch hinzu.
»Natürlich ist heute Freitag. Tun Sie doch nicht so. Jeder weiß doch, dass sich am Donnerstag die Strickgruppe trifft. - Dass die es wagen, hierher zu kommen. Mein armes Herz, ich bin immer noch ganz durch den Wind.« Zur Bekräftigung griff sie sich an den flachen Busen, um darauf in ihrer riesigen Handtasche zu kramen, bis sie ihre kleine Metalldose fand. Sie steckte eines der mit Puderzucker bestäubten violetten Bonbons in den Mund.
»Buon Giorno, Karin. Wie schön, dass ich Sie hier treffe.«
Wilhelmine verschluckte ihre Süßigkeit, lief blau an und hustete heftig.
Padre Niije startete sofortige Erste Hilfe-Maßnahmen, indem er Wilhelmine mit besorgter Miene auf den Rücken klopfte. »Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.
Wilhelmine schnappte nach Luft und entzog sich mit einer unwilligen Bewegung dem Einflussbereich seiner Hand. »Finger weg!« Sie drehte sich zu Karin und kniff die Augen zusammen. »Hätte ich mir ja denken können, dass so was wie Sie irgendwas damit zu tun hat. Die Sitten verkommen immer mehr, seitdem Sie in das Haus von der Schnitzler gezogen sind.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz ihrer Pumps um und eilte mit der unter den Arm geklemmten Handtasche von dannen.
Der Padre und Karin sahen ihr kurz nach. Daraufhin zuckte der Priester mit den Schultern und hielt ihr die Tür zur Bäckerei auf. Die im Laden befindliche Kundschaft hatte durch die großen Fensterscheiben das Schauspiel mit unverhohlenem Interesse verfolgt und sah ihnen gespannt entgegen.
Karin war so viel Aufmerksamkeit unangenehm. Sie beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Guten Morgen, allerseits. Darf ich Ihnen meinen alten Freund, Padre Giuseppe Niije vorstellen? Ich bin selbst ganz überrascht …«
»Buon Giorno«, übernahm der Padre weitere Ausführungen. »Ich bin gestern in der Nacht angekommen und die Signora mit der großen Handtasche …«
»Die Geyere«, ließ sich eine der anwesenden Kundinnen vernehmen.
»Signora Geyer war so freundlich, als ich sie nach dem Weg fragte, trotz ihrer offensichtlichen Überraschung, in Richtung des Pfarrhauses zu weisen. Ich werde einige Zeit bei meinem Kollegen wohnen.«
Er wandte sich direkt an seine Begleiterin: »Ich wollte Sie gestern nicht noch belästigen und hätte nach dem Frühstück bei Ihnen angerufen. Jetzt hatte ich vor, für mich und meinen Gastgeber etwas frisches Brot zu kaufen, für ein gemeinsames Frühstück - als Dank für seine Gastfreundschaft.«
»Jo wenn des so isch.« Frau Metzger, die Chefin des Bäckerladens lächelte den Geistlichen freundlich an. »Suchen Sie sich etwas aus. Ihre Frühstückswecka gehen aufs Haus.«
12
Karin
Ostern war dieses Jahr spät. Leni und Karin hatten Wilhelmine Geyer zu Anfang der Fastenzeit am geschmückten Dorfbrunnen getroffen. Inzwischen war der Frühling stärker vorangeschritten und das Osterfest stand bevor. Nach einigen kalten Tagen waren die Krokusse verblüht und in den Gärten strahlten die Tulpen mit den Narzissen um die Wette. An vielen Fensterbänken hingen bunt bepflanzte Blumenkästen, in denen Primeln, Stiefmütterchen und andere Frühlingsblumen mit der Frühlingssonne um die Wette leuchteten.
Karin beschloss, ihr Hexenhäuschen ebenfalls mit Blumen zu schmücken. Wenn überall Blumenkästen mit bunter Pracht gefüllt waren, würde es auffallen, wenn einige Fensterbänke ungeschmückt blieben. Außerdem würde sich die alte Frau Schnitzler sicher freuen, wenn die vorhandenen Kästen bunt gefüllt wären. Im Dorf gab es keine Gärtnerei. Also rief Karin Leni an und fragte nach: »Wo kann ich Blumen kaufen?«
»In Wangen, entweder am Mittwoch auf dem Wochenmarkt, oder wenn du nicht warten willst, im Baumarkt. Soll ich mitkommen?«, bot die Freundin an.
»Nein, lass mal«, lehnte Karin ab. »Ich bin selber groß. Ich lade dich aber gerne ein, hinterher zur Begutachtung zu kommen. Padre Giuseppe auch, und wir machen dann einen gemütlichen Kaffeeklatsch.«
Die Rekonvaleszentin war nicht die Einzige, die Blumen benötigte. Der Parkplatz des Baumarktes wimmelte von Autos und Menschen. Vor dem Eingang entdeckte Karin unterschiedliche bunt blühende Pflanzen. Neben dem Eingangsbereich befand sich eine kleine Cafeteria.
Sie beschloss, zuerst ihre Einkäufe zu erledigen und sich anschließend, mit Hilfe eines Stücks Torte, zu belohnen. Leni hatte gemeint, Karin sei zu dünn und würde zu wenig essen. So könnte sie ihre Freundin Lügen strafen. Also suchte Karin zunächst die Gartenabteilung auf, merkte aber schnell, dass das alles nicht ganz so einfach sein würde, wie gedacht.
Sie wollte schon aufgeben und unverrichteter Dinge den Laden verlassen, aber eine Baumarktberaterin hatte Karins Hilflosigkeit bemerkt. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte ein paar Blumenkästen befüllen«, vertraute sie der Verkäuferin an.
»Das sollte nicht so schwer sein. Wie viele Fensterkästen benötigen Sie denn?«
»Eigentlich keine, da sind schon welche. Nur nicht bepflanzt.«
»Dann würde ich auf alle Fälle frische Blumenerde empfehlen. Wie viele Kästen sind es denn?«
»Lassen Sie mich nachdenken.« Karin überflog gedanklich kurz den Grundriss des Hexenhäuschens. Im Erdgeschoss gab es nach vorne zur Straße zwei Fenster und im ersten Stock nochmal zwei und ein kleines. Nach hinten in den Garten gab es zwar auch Fenster, die waren allerdings ohne Kästen und sie entschied, dies erst einmal so zu belassen. Nachdem die Grundlagen geklärt waren, fragte die Verkäuferin: »Welche Blumen hätten Sie denn gerne?«
Wieder war Karin ratlos. »So gelbe Narzissen wären schön, aber die sind, glaube ich, zu groß.«
»Wir haben sehr hübsche Tête-à-Têtes, dazu würde ich noch ein paar Zwerghyazinthen und Tulpen empfehlen. Kommen Sie mit in den Außenbereich, da finden Sie sicher etwas Passendes.«
Es dauerte eine Weile, bis sie sich entschieden hatte. Karin schien es, als würden es immer mehr Blumen. Neben den von der Verkäuferin empfohlenen Sorten kamen Primeln und Vergissmeinnicht hinzu. Zum Schluss fiel ihr eine Zwergweide ins Auge. »Die würde sich in einem größeren Blumentopf vor der Haustür gut machen«, überlegte Karin laut. »Wenn ich so drüber nachdenke, wäre eine kleine Sitzbank auch sehr schön.«
»Da haben wir hier genau das Richtige für Sie. Gerade im Sonderangebot.« Die Verkäuferin zeigte sich recht geschäftstüchtig. Wahrscheinlich wurde die Dame prozentual am Umsatz beteiligt.
»Ich weiß nicht, die Bank muss man ja zusammenbauen und ich hab niemanden, der mir das macht«, versuchte Karin schwache Gegenwehr.
»Das ist nicht schwer, das kriegen Sie auch selbst hin«, beruhigte die Verkäuferin. »Für die Weide würden sich doch Plastikeier schön machen. Soll ich Ihnen die mal zeigen?«
Geraume Zeit später und ihr Bankkonto um einiges leichter, lud Karin ihre Einkäufe vor der Haustür ab.
In kürzester Zeit waren die alten Kästen mit Blumenerde befüllt und mit den gekauften Primeln und kleinen Narzissen bepflanzt. Es war seltsam. Schon lange hatte sie nicht mehr so viel Energie gehabt. Karin genoss das Gefühl der kühlen Erde auf ihren Händen und die wärmende Sonne im Nacken und stellte sich vor, wie aus der Erde, über die Finger, Wurzeln gleich, Kraft in ihren Körper gelangte.
Nachbarskinder spielten auf der Straße. Sie fuhren mit ihren Rollern oder Fahrrädern den Weg entlang. Ein kleines Mädchen aus dem Haus schräg gegenüber hatte aufgehört zu spielen. Es stand abseits und beobachtete Karins Tun. Als dieser der Handspaten – ein günstiges Sonderangebot laut Verkäuferin – Handspaten, Rechen und Harke in Miniaturausführung für nur fünf Euro – herunterfiel, war die Kleine blitzschnell zur Stelle und hob ihn auf. Schüchtern hielt sie ihn ihr hin. Karin musste lächeln.
»Vielen Dank, das ist sehr lieb von dir.« Karin fühlte sich in der Gesellschaft von Kindern etwas befangen, da sie nie wusste, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Erstaunt hörte Karin sich fragen: »Magst du mir helfen? Schau, ich hab dieses Bäumchen gekauft und das kommt jetzt in den großen Topf hier. Ich heiße Karin und du?«
Das kleine Mädchen antwortete: »Ich bin die Maja und ich bin fünf Jahre alt.