Exegese zwischen Religionsgeschichte und Pastoral - Joachim Kügler - E-Book

Exegese zwischen Religionsgeschichte und Pastoral E-Book

Joachim Kügler

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Beschreibung

Aus den tiefen Brunnen der Vergangenheit schöpfen, um die Gegenwart zu verstehen und in gottgefälliger Menschenfreundlichkeit mitzugestalten - um diese Konzeption einer kontextuellen Bibelwissenschaft geht es hier. Religionsgeschichtliche Fragen werden integriert, um das Fremde, Störende und Horizonteröffnende neutestamentlicher Literatur herauszuarbeiten, und Religionsgeschichte, Exegese und Pastoral zu drei-einigen Aspekten einer neuen Bibelwissenschaft zu machen.

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Joachim Kügler

Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 64

Herausgegeben vonThomas Hieke und Thomas Schmeller

Joachim Kügler

Exegese zwischen Religionsgeschichte und Pastoral

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.bibelwerk.de

Satz: SatzWeise GmbH, Trier

Druck: Sowa Sp. z.o.o., Warschau

Printed in Poland

ISBN 978-3-460-06641-0eISBN 978-3-460-51032-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Zur Rolle der Exegese

1. Mensch und Schrift

in: Harry Haroun Behr/ Fahimah Ulfat (Hg.), Zwischen Himmel und Erde. Bildungsphilosophische Verhältnisbestimmungen von Heiligem Text und Geist, Münster-New York: Waxmann 2014, 121–137.

2. Kanonisch, kirchlich, postmodern?

in: Orientierung 72 (2008) 38–41.

II. Religionsgeschichte

3. Die religionsgeschichtliche Methode

in: Biblische Notizen 38/39 (1987) 75–84.

4. Why should Adults want to be Sucklings again?

in: Lovemore Togarasei/ Joachim Kügler (Hg.), The Bible and Children in Africa (BiAS 17), Bamberg: UBP 2014, 103–125.

5. Tiere als Götter? – Götter als Tiere!

in: Miorita Ulrich/ Dina De Rentiis (Hg.), Animalia in fabula. Interdisziplinäre Gedanken über das Tier in der Sprache, Literatur und Kultur, Bamberg: UBP 2013, 117–141.

6. Hatschepsut – eine mehrfache Tochter als König

in: J. Kügler/ L. Bormann (Hg.), Töchter (Gottes). Studien zum Verhältnis von Kultur, Religion und Geschlecht (bayreuther forum TRANSIT 8), Münster: Lit 2008, 22–45.

7. Die Windeln des Pharao

in: Göttinger Miszellen 172 (1999) 51–62.

III. Exegese

8. Paulus und der Duft des triumphierenden Christus

in: R. Hoppe / U. Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus. Christologische Studien. FS Paul Hoffmann (BZNW 93), Berlin: De Gruyter 1998, 155–173.

9. Das Ende der Kritik?

in: J. Kügler/ U. Bechmann (Hg.), Biblische Religionskritik. Kritik in, an und mit biblischen Texten – Beiträge des IBS 2007 in Vierzehnheiligen (bfT 09), Münster: Lit 2009, 111–130.

10. Junge »Witwen« als Bräute Christi (1 Tim 5,11f.)

in: U. Busse/ M. Reichardt/ M. Theobald (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung. FS Rudolf Hoppe (BBB 166), Göttingen: V&R unipress 2011, 483–497.

11. »Denen, aber die ihn aufnahmen, …« (Joh 1,12)

in: Jahrbuch für Biblische Theologie 17 (2002) 163–179.

12. In Tat und Wahrheit

in: Biblische Notizen 48 (1989) 61–88.

IV. Pastoral

13. Pastoraltheologie und Exegese: Vom Verstehen zum Handeln und zurück

in: D. Nauer/ R. Bucher/ F. Weber (Hg.), Praktische Theologie: Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven. FS O. Fuchs, Stuttgart: Kohlhammer 2005, 402–408.

14. People with a Future

in: E. Chitando/ M. R. Gunda/ J. Kügler (Hg.), Prophets, Profits and the Bible in Zimbabwe (BiAS 12), Bamberg: UBP 2013, 323–338.

15. Politics of Feeding: Reading John 6 (and 1 Cor 11) as Documents of Socio-political conflicts

in: Masiiwa Ragies Gunda/ Joachim Kügler (Hg.), The Bible and Politics in Africa (BiAS 7), Bamberg: UBP 2012, 251–273.

16. Zusammen essen ist das Wesen des Christentums

in: J. Rahner/ M. Schambeck (Hg.), Zwischen Integration und Ausgrenzung. Migration, religiöse Identität(en) und Bildung – theologisch reflektiert (Bamberger Theologisches Forum 13), Berlin 2011, 107–122.

17. Gal 3,26–28 und die vielen Geschlechter der Glaubenden

in: M. E. Aigner/ J. Pock (Hg.), Geschlecht quer gedacht. Widerstandspotenziale und Gestaltungsmöglichkeiten in kirchlicher Praxis (Werkstatt Theologie 13), Münster: Lit 2009, 53–70.

Stellenregister

Vorwort

Einen kleinen aber einigermaßen repräsentativen Überblick über meine exegetische Arbeit der letzten Jahrzehnte zu geben, ist die Zielsetzung dieses Bandes. Deshalb sind Veröffentlichungen aus den Achtziger-Jahren des letzten Jahrhunderts ebenso vertreten wie ganz neue Publikationen, wobei manchen Leserinnen und Lesern vermutlich auch ältere Arbeiten neu sein werden, was vor allem für diejenigen gilt, die etwas abseits der klassischen exegetischen Diskussionsforen erschienen. In diesem Band können sie nun – ganz der Zielsetzung der Reihe entsprechend – eine neue Bühne erhalten und noch einmal in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden.

Nicht nur zeitlich, sondern auch hinsichtlich der behandelten Themen spannt sich ein weiter Bogen. Daraus ergab sich die Herausforderung, die Beiträge in eine einigermaßen logische Ordnung zu bringen, was zu folgendem Aufbau führte:

Nach einigen eröffnenden Gedanken zu Aufgabe und Status der Bibelwissenschaft in Theologie, Kirche und Gesellschaft geht es zum ersten titelgebenden Themenschwerpunkt, der Religionsgeschichte. Mit Beginn meines theologischen Studiums im Jahre 1977 wurde ich von Manfred Görg († 2012), damals noch Alttestamentler in Bamberg, ägyptologisch »infiziert«. Dass sich dies zu einer, wie sich zeigen sollte, unheilbaren »Krankheit« auswuchs und eine immer größerer Faszination für die religionswissenschaftliche Fragestellung verursachte, lag auch daran, dass das Feuerchen, das Görg gelegt hatte, in meinen Bonner Jahren (1992–1999) von meinem verehrten Lehrer und väterlichen Freund Helmut Merklein († 1999) auf neutestamentlicher Seite und Ursula Rößler-Köhler als Ägyptologin weiter genährt und in geordnete akademische Bahnen gelenkt wurde. Und so hoffe ich, dass ich mit meinen religionswissenschaftlichen Arbeiten einiges zum besseren Verständnis neutestamentlicher Texte beigetragen habe. Nun ist freilich Verstehen erst der Anfang, wenn es um die Bibel geht. Da das Christentum ja weniger ein Ideengebäude als vielmehr eine bestimmte Lebensform ist, muss immer über das Verstehen hinausgefragt werden. So stellt sich jenseits der schieren Faszination für alte Kulturen, die wohl jeder nachvollziehen kann, der jemals mit den Schätzen des Orients in Berührung kam, auch immer die ebenso unangenehme wie notwendige Frage, welchen Beitrag die Religionsgeschichte zu einer Bibelwissenschaft leisten kann, die mehr sein will als ein akademisches Glasperlenspiel. Biblische Exegese ist ja nicht einfach Text- und Literaturwissenschaft bestimmter alter Texte, sondern sie vollzieht sich, ob sie es begreift oder nicht, als theologische Wissenschaft immer in kirchlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Und diese Kontexte gilt es ernster zu nehmen als dies meist geschah und geschieht. So habe ich seit längerem für eine neue »Kirchlichkeit« der Bibelwissenschaft plädiert. Das ist bisweilen gründlich missverstanden worden, weil sich der vorkonziliare, institutionalistische Kirchenbegriff – theologisch ebenso fragwürdig wie soziologisch einleuchtend – so hartnäckig hält, bei seinen Kritikern ebenso wie bei seinen Verfechtern. Deshalb sei hier noch einmal klargestellt, dass es mir natürlich nicht um eine ideologische Anpassung an bestimmte Lehrmeinungen geht, sondern um eine neue Sensibilität für Fragen und Nöte der Mehrheit von Christgläubigen weltweit. Es geht mir um eine Kontextualisierung exegetischen Fragens, nicht um ein machtkonformes Zurechtbiegen von Ergebnissen. Letzteres wäre ja nichts anderes als die Selbstaufgabe der Bibelwissenschaft als Wissenschaft. Es geht bei der anzustrebenden neuen Kirchlichkeit vielmehr darum, von den Laien – also von der überwältigenden Mehrheit des Gottesvolks in allen Denominationen – zu lernen, welche Fragen sich lohnen. Diese pastorale Kontextualisierung der Bibelwissenschaft steht noch ganz am Anfang und ist auch in den hier vorgestellten Arbeiten allenfalls angestrebt, aber bei weitem noch nicht erreicht. Und dabei ist mit dem Begriff »Pastoral« selbstredend auch nicht einfach kirchliche Gemeindearbeit oder Pfarrseelsorge gemeint, sondern in dem ganz grundsätzlichen Sinne der Konzilskonstitution »Gaudium et Spes« das Wirken des Gottesvolkes in der Welt und für die Welt. Eine in diesem Sinne pastoral orientierte Exegese hat damit auch immer eine politische Dimension, denn der kirchliche Kontext bedeutet – recht verstanden – eben gerade nicht die Beschränkung auf das Innenleben einer Religionsgemeinschaft, sondern beinhaltet unausweichlich den Versuch, als Sakrament der Menschenliebe Gottes für ein Leben in Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden aller Menschen zu wirken. Eine pastoral ausgerichtete Exegese hat im Konzert der anderen theologischen Disziplinen die Aufgabe, zu diesem Wirken der Kirche biblische Impulse zu geben. Dabei dürfen sich diese Impulse nicht in Vorgaben zur Nachahmung erschöpfen, sondern müssen stets das Fremde, Unpassende und gerade so Horizonteröffnende der biblischen Traditionen herausarbeiten.

Eine solche »Pastoralexegese« passt – so mein immer deutlicherer Eindruck in den letzten Jahren – erstaunlich gut zur religionsgeschichtlichen Fragestellung. Wenn diese nämlich begriffen wird als Kontextualisierung biblischer Texte in ihrer Entstehungssituation, dann stellt die Religionsgeschichte so etwas wie eine pastorale Verortung in der Vergangenheit dar, die Hinweise geben kann für die pastorale Kontextualisierung in der Gegenwart. So ist etwa aus dem Machtkontext von Religion und Sexualität im Alten Ägypten viel zu lernen für das Verständnis von Gender-Konflikten in den Christus-Gemeinden des Paulus und eröffnet gleichzeitig einen Weg für den biblisch inspirierten Umgang mit den Irrtümern wie Missachtung der Armen, Homomisie1 und Frauenverachtung, von denen sich die globalen Christentümer zurzeit bis hin zur weitgehenden Entchristlichung deformieren lassen.

Dass einige englischsprachige Beiträge vertreten sind, hängt mit der globalen Perspektive zusammen, die sich mir durch meine afrikanischen Schüler aufgedrängt hat, wofür ich ihnen immer dankbar sein werde. Sie haben mir nicht nur neue Welten und Sichtweisen erschlossen, die immer wieder erstaunliche Querbezüge – etwa zwischen antiken Konzepten zu Ehe und Sexualität und Gender-Debatten im heutigen Simbabwe – ermöglichten, sondern sie haben mich durch ihre Forderung nach Kontextualisierung auch mit einem neuen und zutiefst befriedigenden Sinn meines akademischen Arbeitens beschenkt.

So sind Religionsgeschichte, biblische Exegese im engeren Sinne und pastorale Kontextualisierung zwar unterschiedliche Akzentsetzungen, aber keine ganz getrennten Wissenschaftsfelder. Sie sind vielmehr drei wesentliche Aspekte einer recht einheitlichen Konzeption der Bibelwissenschaft, die aus den tiefen Brunnen der Vergangenheit schöpft, um die Gegenwart zu verstehen und in gottgefälliger, also menschenfreundlicher Weise mitgestalten zu können. Es ist deshalb auch kein Zufall, wenn die einzelnen Beiträge in diesem Band immer wieder von einem Bereich auf den anderen ausgreifen, und die Entscheidung, welcher Beitrag welchem Abschnitt zuzuordnen ist, nicht immer leicht fiel. Wenn also die Lesenden hie und da den Eindruck haben, ein Beitrag könnte auch in einer anderen Abteilung stehen, dann ist das überhaupt kein Schaden, denn es zeigt einfach, wie die Fäden von einem Bereich zum anderen laufen und wieder zurück, so dass die Dinge sich gegenseitig erhellen können.

Wenn man eingeladen wird, eine kleine Auswahl seiner Arbeiten für die SBAB-Reihe zusammenzustellen, dann ist das eine große Ehre, für die ich dem Kollegen Thomas Schmeller von Herzen danke. Es macht aber auch ein wenig nachdenklich. Könnte es doch darauf hinweisen, dass der Zenit des eigenen Schaffens vielleicht schon überschritten ist und nun – quasi im gleitenden Sinkflug – gesammelt und geerntet wird. Wenn dem so wäre, so hätte das seine eigene Schönheit, weil es den Lesenden hoffentlich ermöglichte, auf neue Weise Zusammenhänge zu entdecken, die durch die Vielzahl der einzelnen Veröffentlichungen in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten vielleicht nur schwer zu erkennen war. Es wäre mir jedenfalls eine große Freude, wenn es gelungen wäre, mit diesem Band etwas abzubilden, was typisch ist für die Bibel, nämlich Einheit in überbordender Vielfalt. Ottmar Fuchs hat ja mit einer inzwischen klassisch gewordenen Formulierung die Bibel als »Lernschule der Pluralität«2 bezeichnet, und das ist sie auch. Sie lehrt uns eine Vielfalt, die ohne Beziehungslosigkeit auskommt und eine Einheit, die ohne Einheitlichkeitsdruck bestehen kann, weil sie sich als dezentrales Beziehungsgeflecht – sozusagen rhizomatisch3 – organisiert.

Mein Dank für die Mitarbeit an der Edition geht vor allem an Frau Irene Loch für die bewährt zuverlässige Unterstützung. Was wäre ich ohne ihre Akribie, Kompetenz und geduldige Freundlichkeit! Geholfen haben diesmal auch Maximilian Beierlein, Stefanie Beck, Benard Obhade, Kolade Igbasan und Valentin Schmidt. Auch Ihnen sei herzlich gedankt.

Widmen möchte ich diesen Band einigen Menschen, die mich wissenschaftlich und persönlich seit langem begleiten und in gewisser Weise auch leiten, nämlich Ulrike Bechmann, Ottmar Fuchs, Marlis Gielen und Rainer Bucher.

 

1Zum Begriff »Homomisie« vgl. Masiiwa Ragies Gunda, The Bible and Homosexuality in Zimbabwe. A Socio-historical analysis of the political, cultural and Christian arguments in the homosexual public debate with special reference to the use of the Bible (Bible in Africa Studies 3), Bamberg 2010, 64f.

2Ottmar Fuchs, Umgang mit der Bibel als Lernschule der Pluralität, Una Sancta 44 (1989) 3, 208–214.

3Ich kann mich bei meiner Begriffsverwendung nicht wirklich auf Gilles Deleuze und Félix Guattari (Rhizom. Aus dem Französischen übers. v. Dagmar Berger, Berlin 1977) berufen, da mir ihr Buch in vielen Details trotz heftigen Bemühens geheimnisvoll-unbegreiflich blieb.

I. Zur Rolle der Exegese

Mensch und Schrift

Von der Anthropologie des Textes aus der Perspektive eines katholischen Bibelwissenschaftlers

»In der Heiligen Schrift wird uns das Göttliche so vorgelegt, wie es Menschen zu tun pflegen.«

Thomas von Aquin (1225–1274)

Vorbemerkung

Da ich kein Islamexperte bin, maße ich mir nicht an, irgendetwas über das Verhältnis zwischen Mensch und Heiliger Schrift in der islamischen Religion zu sagen. Trotzdem sind meine Anmerkungen als Beitrag zum christlich-islamischen Dialog gedacht. Ich spreche über das Eigene in der Hoffnung, dass die islamischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in Zustimmung oder Abgrenzung etwas über ihr Eigenes erkennen können. Die Herausforderung durch die moderne Welt und ihre Aufklärungslogik betrifft schließlich alle Religionen gleichermaßen, auch wenn die einzelnen Gruppierungen ganz unterschiedlich mit dieser Herausforderung umgehen. Ich bestimme darüber hinaus meinen Standpunkt als den eines katholischen Exegeten. Wo ich den Eindruck habe, dass das, was ich sage, auch von protestantischen Theologinnen und Theologen geteilt werden kann, vermerke ich das eigens.

1. Historische Gründe für die Entstehung der wissenschaftlichen Bibel-Exegese

Der Ursprung der modernen Bibel-Exegese, die meist als historisch-kritische Exegese bezeichnet wird, liegt nicht allein, wie viele meinen, im Protestantismus der Aufklärung, sondern auch im französischen Aufklärungskatholizismus des 17. Jh. Es war nämlich der katholische Priester Richard Simon (1638–1712), der das Alte und das Neue Testament historisch-kritisch analysierte und mit seinen Werken der neuartigen Bibelwissenschaft auch gleich ihren Namen gab1. Obwohl die Bezeichnung 122 »historisch-kritisch« eine kritisch-distanzierte Einstellung zur Bibel suggeriert, stand im Hintergrund der frühen aufklärerischen Bibelwissenschaft eine klare religiöse Verteidigungsabsicht. Das gilt nicht nur für Richard Simon, der allen Anfeindungen – sein Hauptwerk wurde auf kirchliches Betreiben vom König konfisziert – zum Trotz zeitlebens ein kirchentreuer Priester blieb, sondern auch für die meisten anderen Bibelwissenschaftler jener Zeit.

Um dieses Verteidigungsinteresse zu begreifen, muss man sich klarmachen, dass damals der radikale Rationalismus der frühen Aufklärungsphilosophie mehr und mehr den Zeitgeist bestimmte und viele biblische Geschichten als für das neue historische Denken nicht mehr akzeptabel erscheinen ließ – zumindest nicht so, wie sie in den Texten erzählt wurden. Der historisch-kritische Ansatz stellte in diesem geistesgeschichtlichen Horizont einen Versuch dar, die Heilige Schrift und ihre Autorität zu retten, indem man in den biblischen Erzählungen nach dem »historischen Kern« fragte. Die Alternative wäre gewesen, die Heilige Schrift insgesamt als menschliche Fiktion einzustufen. Das wurde von radikalen Bibelkritikern, die die Bibel als religiöse Autorität ablehnten, auch tatsächlich vertreten. Kirchliche Exegeten wie Simon versuchten dagegen, genau diese Alternative zu vermeiden und die Autorität der Heiligen Schrift zu retten, wobei Simon sogar in einer scharf antiprotestantischen Wendung das Sola-scriptura-Prinzip Luthers ablehnte und zu einer Unterscheidung von Offenbarungsakt und Offenbarungstext gelangte, die erst im 20. Jh. vom katholischen Lehramt aufgegriffen wurde und heute auch in der protestantischen Offenbarungstheologie gang und gäbe ist.2

Der Weg der historischen Kritik erscheint im Rückblick als nahezu alternativlos. Zum einen gab es damals kaum einen positiven Begriff von Fiktionalität bzw. Mythos, den man auf die Bibel hätte anwenden können. Die spezifische Wahrheit des Mythos war damals nicht formulierbar. Mythos war ganz im antiken Sinne nur fassbar als das, was »nicht stimmt«. Zum anderen zwang der historische Anspruch des Christentums, das immer mehr sein wollte als bloßer Mythos (im Sinne von menschlicher Projektion ohne Wahrheitsgehalt), geradezu zur historischen Fragestellung.

Ein theologisches Verteidigungsinteresse steht dann auch im Hintergrund der später entstehenden Literarkritik, auch Quellenkritik oder Schichtenkritik genannt. Man unterscheidet in den biblischen Texten ältere Textschichten, die man für historisch 123 zuverlässig hält, von später hinzugefügten Legenden. Im Streit um die historische Zuverlässigkeit der Bibel will man so vermeiden, die biblischen Texte insgesamt für historisch unzuverlässig erklären zu müssen.3 Mit entsprechenden Teilungshypothesen versuchte man, die ursprüngliche Wahrheit des wertvollen Alten zu eruieren und so den Konsequenzen der radikalen Bibelkritik zu entkommen. Leider hat das kirchliche Lehramt, besonders auf katholischer Seite, den Verteidigungscharakter des historisch-kritischen Ansatzes nicht recht verstanden, wie man überhaupt mit der Aufklärung und ihren Auswirkungen nicht gut zurechtkam. Bis ins 20. Jh. hat die Kirchenleitung in Rom die historisch-kritische Exegese erbittert bekämpft. Erst 1943 läutete Papst Pius XII. mit seiner Enzyklika »Divino afflante Spiritu«4 eine Wende ein, indem er feststellte, dass es in der Bibel verschiedene Gattungen mit unterschiedlichen Formen des Wahrheitsanspruches gibt. Darauf und auf die kulturellen Rahmenbedingungen habe die Auslegung Rücksicht zu nehmen. Damit war der Grund für eine kritische Exegese, die sich als Geschichts- und Literaturwissenschaft entwirft, gelegt. Diese Hinwendung zur Moderne wurde dann vom Zweiten Vatikanischen Konzil (11. Oktober 1962 bis zum 8. Dezember 1965) mit der Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung »Dei Verbum«5 vollendet.

2. Ist die historische Kritik heute überhaupt noch aktuell?

Heute mag man über die Probleme der Aufklärungstheologen schmunzeln. Zum einen scheint ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit historischer Erkenntnis heute recht naiv. Zum anderen ist ihre Unfähigkeit, die positive Wahrheitsleistung der Fiktion bzw. des Mythos zu erkennen, kulturwissenschaftlich längst überholt – wird doch in der modernen Kulturwissenschaft dem Mythos ein eigener Wahrheitswert zugeschrieben.

Die Frage ist aber, ob das, was zum Entstehen der historisch-kritischen Exegese beitrug, nicht trotz aller geistesgeschichtlichen Veränderungen heute noch aktuell ist. Die Antwort auf diese Frage hängt sehr davon ab, wie man das Verhältnis zwischen Moderne und Postmoderne bestimmt. Versteht man die Postmoderne als Rückgängigmachen der Moderne, dann wird man den kurzen historisch-kritischen Ausflug der Bibelwissenschaft in die Welt der Aufklärung als traurige Verirrung möglichst 124 schnell hinter sich lassen wollen. Entsprechende Positionen, die man landläufig als Fundamentalismus einstufen würde, sind in der neueren Entwicklung der Katholischen Kirche durchaus festzustellen und sie scheinen sogar an Einfluss zu gewinnen, auch wenn sie (noch?) nicht als offizielle Lehre der Kirche anzusehen sind.

Sieht man dagegen die Postmoderne als Radikalisierung der Moderne, als eine Moderne, die sich auch noch über sich selbst aufklärt, dann wird es eher um eine Weiterentwicklung der Aufklärungsexegese gehen.

Ich halte – für einen Aufklärungsexegeten nicht weiter überraschend – den zweiten Weg für den angemessenen.6 Selbstverständlich gibt es im Christentum wie auch in anderen Religionen religiöse Gruppen und Strömungen, die sich abkapseln und einen vormodern wirkenden Irrationalismus kultivieren, aber diese ideologischen Inselbildungen sind umspült von einem Meer ökonomischer, naturwissenschaftlicher und technischer Rationalität. Diese Rationalität als Erbe der Aufklärung prägt unser Bild von der Wirklichkeit und ebenso unser Alltagsverhalten. Selbst wer bei Zahnschmerzen lieber einen Segnungsgottesdienst aufsucht als einen Zahnarzt, wendet sich bei Problemen mit seiner Solaranlage in der Regel dann doch eher an einen Energietechniker als an einen Priester. Und für die meisten Menschen ist auch ein historischkritisches Denken in Bezug auf die Vergangenheit ganz selbstverständlich. Man will z. B. wissen, ob der Ehepartner »wirklich« untreu gewesen ist, ob der Minister N.N. »wirklich« korrupt ist, ob Papst Pius XII. »wirklich« ein Judenfeind war, ob Jesus »wirklich« eine Affäre mit Maria Magdalena hatte usw.

Die gängige Konzeption der Wirklichkeit, auf der auch unser ganzes Strafrechtssystem beruht, ist fast überhaupt nicht tangiert von der wissenssoziologischen These, dass das, was wir »Wirklichkeit« nennen, eine gesellschaftliche Konstruktion ist. Ebenso hat die Erkenntnis, dass die Geschichtswissenschaft (auch) deshalb mindestens teilweise Dichtung ist und bestenfalls einen Entwurf der Vergangenheit darstellt,7 keine hohe Bedeutung im allgemeinen Bewusstsein erlangt. Der Einfluss dieser kulturwissenschaftlichen Theorien auf unser Alltagsverhalten und auf die alltägliche Wahrnehmung der Wirklichkeit erscheint als noch denkbar gering. Wenn die Bibelwissenschaft also nicht nur noch mit anderen Kulturwissenschaften reden, sondern sich auch um »die normalen Leute« kümmern will, dann hat sie den Mainstream der Wirklichkeitswahrnehmung ernst zu nehmen. Deshalb wird die historische Kritik als altmodische Frage nach dem, wie es »wirklich« war, 125 auf Dauer zu ihren Aufgaben gehören, auch wenn die historische Fragestellung heute nur noch einen recht kleinen Teil der bibelwissenschaftlichen Arbeit ausmacht und die Frage nach Sinn (Aussage, Semantik) und Bedeutung (Relevanz, Pragmatik) der biblischen Texte längst im Vordergrund steht.

3. Das Verhältnis von Menschlichem und Göttlichem in der Heiligen Schrift

Wenn man fragt, ob Bibelwissenschaft dem Glauben schadet, dann ist mit einem klaren Nein zu antworten. Bibelwissenschaft schadet (wie jede andere Wissenschaft auch) dem religiösen Vorurteil.8 Das ist ihre Aufgabe. Genau dazu ist sie da. Der Verlustschmerz, der viele religiöse Menschen bei der Begegnung mit Wissenschaft quält, ist freilich real und durchaus ernst zu nehmen. Er bezieht sich aber zunächst auf den Verlust von Vorurteilen. Auch dieser Verlust tut weh, weil wir unsere Vorurteile in der Regel lieben. Schließlich haben wir sie uns zugelegt, weil sie uns das Leben leichter machen. In der Religion aber verwechseln die meisten Menschen ihre Vorurteile mit dem Glauben. Vielen bedeutet deshalb der Verlust dieser Vorurteile zugleich den Verlust ihres »Glaubens« und viele wollen ihren »Glauben« schützen, indem sie zur Verteidigung ihrer religiösen Vorurteile die Wissenschaft bzw. bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen.

Der erbitterte Kampf um den Kreationismus ist ein klassisches Beispiel. Für viele Christen ist Charles Darwin ein Todfeind. Man meint, sich vor seinen teuflischen Theorien nur schützen zu können, indem man sich gegen ihn und für die »Wahrheit« der Heiligen Schrift entscheidet: Gott hat die Welt in sechs Tagen geschaffen und wenn man Saurierknochen findet, dann wurden die eben damals mitgeschaffen. Mit dieser Ablehnung einer feindlichen Wissenschaft wird natürlich zugleich eine Bibelwissenschaft abgelehnt, die darauf aufmerksam macht, dass der Aussagewert der biblischen Schöpfungstexte überhaupt nicht im naturwissenschaftlichen Bereich liegt und deshalb ein Widerspruch zwischen Bibel und Darwin streng genommen gar nicht möglich ist. So hat uns mein alter Religionslehrer schon vor Jahrzehnten eingeschärft: »Die Bibel sagt uns, dass Gott die Welt geschaffen hat und Darwin versucht, uns zu erklären, wie Gott die Welt geschaffen hat.« Diese einfache Wahrheit ist vielen freilich schon zu kompliziert. Sie stimmt aber trotzdem. Schließlich steht auch die Aussage, dass ein bestimmter Mensch »meine Flamme, mein Herz, mein Ein-und-Alles« ist, nicht prinzipiell im Widerspruch zu der Aussage, dass genau dieser Mensch zum größten Teil aus Wasser besteht oder rote Haare hat oder die chinesische Staatsbürgerschaft besitzt.

Ob wir wollen oder nicht, die Wirklichkeit ist so vielfältig, dass sie nur multi-perspektivisch (d. h. unter verschiedenen Gesichtspunkten gleichzeitig) beschrieben 126 werden kann. Scheinbar gegensätzliche Aussagen können gleichzeitig wahr sein, weil sie perspektivisch begrenzt sind, und wir müssen wohl oder übel begreifen, dass wir ohne die Unterscheidung der jeweiligen Geltungsbereiche nicht gut durchs Leben kommen. Diese Herausforderung ist übrigens keine, die erst die späte Moderne kennt. Schon die alten Ägypter brauchten die Kompetenz, den Geltungsbereich bestimmter Wahrheiten zu erkennen und entsprechend zu handeln. So galt etwa der König als »leiblicher Sohn des Amun«, vom König der Götter mit der Königinmutter gezeugt. Wenn nun ein König aufgrund dieses Dogmas auf Geschlechtsverkehr mit seinen Frauen verzichtet und darauf vertraut hätte, dass Amun ihm einen Nachfolger schenkt, dann wäre er höchstwahrscheinlich ohne Erben gestorben. Der weise König musste stattdessen begreifen, dass das Dogma der königlichen Gottessohnschaft eine Aussage über die Legitimität der königlichen Herrschaft macht, aber keinesfalls das Geschlechtsleben des Königs regeln soll. Solche Mythenkompetenz war nicht nur damals nötig, wir brauchen sie auch heute, um die verschiedenen Geltungsbereiche von naturwissenschaftlichen, technischen, religiösen, persönlich-intimen Aussagen in rechter Weise bestimmen zu können.

Betrachtet man die Wirkung der Bibelwissenschaft unter diesem Aspekt, so hat sie einerseits eine apologetische Wirkung: Sie schützt den Glauben vor unnötigen Problemen, indem sie auf die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit aufmerksam macht und die jeweiligen biblischen Texte den Wirklichkeitsbereichen zuordnet, zu denen sie (entsprechend ihrer Gattung und dem in ihnen vorausgesetzten Wahrheitsanspruch) gehören. Bibelwissenschaft, gerade in ihrer aufklärerischen Spielart, kann durchaus dazu dienen, unnötige Glaubensbarrieren und Glaubensverunsicherungen zu überwinden.9

Zum anderen hat sie eine reinigende Wirkung: Sie befreit die Religion von bestimmten religiösen Vorurteilen (z. B. »Das Weltall ist in sechs Tagen gemacht worden«) und ermöglicht uns gerade so, im Glauben zu reifen und uns neuen, tieferen Fragen (z. B. »Was bedeutet es, die Welt als Schöpfung zu sehen?«) zu öffnen. Dieser spirituelle Dienst der Bibelwissenschaft am Glauben wird oft verkannt. Auch in hohen und höchsten Kirchenkreisen wird eher die Angst vor dem ideologischen Verlustschmerz kultiviert, als sich und andere zum Fortschreiten und Reifen im echten Glauben zu ermuntern.

Das bedeutet in der Regel auch, dass Aussagen über die Entstehungsgeschichte der Heiligen Schrift schnell in die Nähe zur Blasphemie gerückt werden. Natürlich bedeutet es für Menschen, die bisher diffus davon ausgegangen sind, dass die Bibel irgendwie »vom Himmel gefallen« ist, einen Schock, wenn man ihnen sagt, dass Mose die fünf »Bücher Mose« sicher nicht geschrieben hat, dass es Quellen, Überarbeitungen und Redaktionsprozesse gab, dass es Legenden in der Bibel gibt 127 und sogar Verfasserschaftsfälschung, dass die meisten Texte sicher nicht in der Zeit entstanden, von der sie erzählen, usw. Das macht die Bibel zu einem menschlichen Gebilde und das ist für viele so etwas wie Gotteslästerung. Die Menschlichkeit der Bibel wird nämlich leicht als Gegensatz zu ihrer göttlichen Qualität als Offenbarung verstanden. Entweder ist die Heilige Schrift Gottes Wort oder menschliches Produkt, so sagt man dann. Diese Alternative ist aber ein grobes Missverständnis der katholischen Tradition und Lehre von der Offenbarung. Trotzdem erliegen nicht nur theologische Laien, sondern oft auch hoch gelobte theologische Koryphäen diesem Missverständnis.10 Gern wird dann der Bibelwissenschaft vorgeworfen, sie beschäftige sich zu sehr mit der menschlichen Seite der Schrift und vergesse den göttlichen Autor. Diese Alternative ist theologischer Unsinn. Die katholische Kirche versteht nämlich die Bibel in Analogie zu Jesus Christus. So wie sich in Jesus Göttliches und Menschliches zueinander verhält, genau so verhält sich auch in der Heiligen Schrift Göttliches und Menschliches zueinander.

Deshalb zuerst einige Informationen darüber, wie die katholische Lehre das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem in Jesus versteht. Ich weiß, dass von islamischer Seite hier schnell der Vorwurf der Vergöttlichung Jesu und des Drei-Götter-Glaubens kommt, aber aus christlicher Innenperspektive ist die besondere Lehre über Jesus Christus der Versuch, die Menschlichkeit Jesu ernst zu nehmen und den Ein-Gott-Glauben zu wahren.

Die Kirche hat immer gelehrt, dass Gott sich in Jesus offenbart. Deshalb ist der Mensch Jesus der Ort der göttlichen Offenbarung und wer sich um die Erkenntnis Gottes bemüht, muss sich bemühen, diesen Menschen und seine Botschaft zu verstehen und anzunehmen. Bei der Lehre über Jesus darf es nach christlicher Überzeugung keine Opposition zwischen Gott und Mensch geben. So lehrt das von den meisten christlichen Kirchen anerkannte Konzil von Chalkedon (heutiger Istanbuler Stadtteil Kadiköy) 451 n.Chr.:

»Unser Herr Jesus Christus ist als ein und derselbe Sohn zu bekennen,

vollkommen derselbe in der Gottheit,

vollkommen derselbe in der Menschheit,

wahrhaft Gott und

wahrhaft Mensch

[…]

wesensgleich dem Vater der Gottheit nach,

wesensgleich uns derselbe der Menschheit nach,

[…]

in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt zu erkennen, in keiner Weise unter Aufhebung des Unterschieds der Naturen aufgrund der Einigung, 128 sondern vielmehr unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und im Zusammenkommen zu einer Person […]«11

Die Stellung der Bibel als Heilige Schrift und Quelle der Offenbarung wird in der katholischen Lehre nun wie gesagt in gewisser Parallele zu dieser Lehre über Jesus als Mensch und Gott beschrieben. Die Bibel ist deshalb Heilige Schrift, weil sie die Offenbarung Gottes in Jesus und in der Geschichte Israels bezeugt, aber sie ist nicht selbst die Offenbarung. Gott offenbart nämlich nach christlichem Verständnis keinen Text, sondern sich selbst – in der Geschichte des Gottesvolks und in Jesus Christus. Deshalb gilt von der Heiligen Schrift, dass sie menschliches Zeugnis der göttlichen Offenbarung ist. Wer sich um dieses Zeugnis bemüht, muss sich um den menschlichen Text mühen. Sie ist Gottes Wort in menschlichen Wörtern. Das bedeutet, dass jeder Versuch, die göttliche Offenbarung zu verstehen und anzunehmen, die menschliche Gestalt dieser Offenbarung ernst nehmen muss: Die Offenbarung Gottes ist nicht ohne den Menschen Jesus zu haben und das Zeugnis von der Offenbarung Gottes ist nicht ohne den menschlichen Text zu haben. Wer hier einen Gegensatz aufbaut, verrät wichtige, alte Grundsätze des christlichen Glaubens. Deshalb darf die katholische Exegese mit den üblichen historischen Grundsätzen an die Bibel herangehen und auch die biblischen Texte mit den üblichen literaturwissenschaftlichen Methoden analysieren.

Das ist keine Leugnung der göttlichen Offenbarung, sondern einfach der Versuch, sich um die menschliche Gestalt der Offenbarung zu bemühen, damit wir immer besser begreifen, was Gott uns durch Jesus sagen will.

Ganz im Sinne dieser Lehrtradition hat Papst Johannes Paul II. jede fundamentalistische Bibelauslegung als unangemessen verurteilt. Er stellte fest, die Meinung, »bei Gott als absolutem Wesen müsste auch jedes seiner Worte absolute Geltung haben, unabhängig von allen Einflüssen der menschlichen Sprache«, beruhe auf einer falschen Vorstellung von Gott und der Menschwerdung.12

Er bestätigte damit frühere Aussagen, die den fundamentalistischen Umgang mit der Heiligen Schrift ablehnen und dies mit einer strikten Analogie zwischen Inkarnation und Offenbarung begründen: So wie Gott in Jesus wahrhaft Mensch wurde, so fand die göttliche Offenbarung ihren Niederschlag in einem wahrhaft menschlichen Text. Diese Art der Offenbarungstheologie, die mindestens bis zu Aurelius Augustinus13129 zurückreicht, schließt jeden fundamentalistischen Umgang mit den biblischen Texten aus und zwingt geradezu dazu, bei der Auslegung der Bibel dieselben Auslegungsmethoden anzuwenden wie bei anderen menschlichen Texten auch.14

Für die Bibelwissenschaft bedeutet dies: Sie wird nicht dadurch »untheologisch«, dass sie Methoden der Textauslegung verwendet, die im Kontext anderer, nichttheologischer Text- und Literaturwissenschaften entwickelt wurden. Und umgekehrt wird sie nicht dadurch zur Theologie, dass sie eine besondere Methode anwendet, die man für andere Texte nicht anwenden würde. Als eine solche spezifisch theologische Methode wird bisweilen die allegorische Bibelauslegung genannt. Die menschlichen Grundlagen des Textverstehens hängen aber nicht davon ab, ob man »profane« oder »heilige« Texte liest. Es ist nämlich immer der Mensch, der liest, und seine Verstehensmöglichkeiten unterscheiden sich beim Lesen eines religiösen Textes nicht von denen beim Lesen eines nichtreligiösen Textes. Die Fähigkeiten des Menschen zum Verstehen eines Textes sind immer menschliche Fähigkeiten und unterliegen den Begrenzungen der conditio humana. Deshalb kann es eine spezielle Methode für biblische Texte nicht geben, vielmehr müssen die normalen Lese- und Verstehensweisen angewendet werden – im wissenschaftlichen Kontext dementsprechend die allgemeinen text- und literaturwissenschaftlichen Methoden.

Das wussten auch die antiken Kirchenväter. Als sie sich nämlich für die allegorische Bibelauslegung entschieden, griffen sie einfach die Methode auf, die heidnische Denker für die Homer-Exegese entwickelt hatten und die von frühjüdischen Gelehrten (etwa Philo von Alexandria) auf das Alte Testament übertragen worden war.15 Wenn christliche und hellenistisch-jüdische Exegeten also allegorisch arbeiteten, dann entwickelten sie gerade keine biblische Sondermethode, sondern wandten auf die Bibel eine Auslegungsmethode an, die im paganen Bereich, gang und gäbe war und von Gelehrten wie Plutarch und Chaeremon auch auf Texte der ägyptischen Religion angewandt wurde.16 Die Hinwendung zu einer ursprünglich heidnischen Methode entsprang bei jüdischen wie christlichen Gelehrten einem massiven Modernisierungsproblem. Um zu verhindern, dass die Heilige Schrift der eigenen Religion nur noch als ein unverständlich dunkles Märchenbuch angesehen wurde, über das sich die heidnischen Gelehrten allenfalls lustig machen konnten, griff man zu der damals modernsten Form der Textauslegung. Mithilfe der Allegorese wollte man die Würde der eigenen Offenbarungstexte verteidigen und zeigen, dass die alten 130 Texte der Bibel das zeitlose, stets aktuelle Wort Gottes darstellen, das sich mit jeder Weisheit dieser Welt messen kann. Die allegorische Schriftauslegung entstand also gerade nicht als spezifisch christlicher Ansatz, sondern entspringt dem furchtlosen Übernehmen einer damals hoch aktuellen, zeitgemäßen Methodik der heidnischen Mehrheitskultur. Das hindert freilich manch Ahnungslosen nicht daran, heute die allegorische Schriftauslegung als spezifisch theologisch anzupreisen.

Wenn es aber nicht die Besonderheit der Methode ist, was macht Bibelwissenschaft dann zur Theologie? Ich denke, dass es eine bestimmte, theologische Option ist, auf der die theologische Identität der Bibelwissenschaft basiert. Bibelauslegung ist dort wirklich christliche Theologie und der Würde der Heiligen Schrift als Offenbarungszeugnis angemessen, wo sie sich die Option für die bleibende existentielle Relevanz der untersuchten Texte aneignet. Selbstverständlich hat die Bibelwissenschaft bei ihrer Arbeit größtmögliche methodische Klarheit und Neutralität, ohne die jede Wissenschaft zur Ideologie verkommen müsste, zu wahren. Aber die Vermutung, dass die von den Texten her erarbeiteten Ergebnisse eine bis in die eigene Gegenwart hineinreichende existentielle Relevanz haben, ist eine theologische Option, welche die Exegese nicht aufgeben darf. Die Relevanzoption impliziert eine weitere: Von ihrem Forschungsgegenstand her ist der Bibelwissenschaft nämlich auch die Option für die Botschaft vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, vom Gott Israels also, der auch der Gott Jesu ist, aufgegeben. Es geht um die Grundannahme, dass in den untersuchten Texten eine Wahrheit zu finden ist, mit der man leben und sterben kann. Dies hat Konsequenzen in zwei Richtungen:

•Inhaltlich bedingt die Option für diesen Gottesbegriff ein bestimmtes Verständnis vom Wesen und Handeln der Kirche und einer kirchlich orientierten Theologie, wie es sich realisiert in einer umfassenden Option für die Armen17, also für die Ausgebeuteten, Unterdrückten und Marginalisierten, welche überwiegend Frauen18 sind. 131

•Methodologisch folgt aus der Option für diesen Gottesbegriff, dass es im christlichen Kontext theologisch legitim ist, menschliche Erkenntnisweisen in einer theologischen Disziplin anzuwenden, auch auf die Heilige Schrift.19

Wenn das Wort Gottes als Botschaft menschlicher Autoren Text geworden ist, dann ist es die zentrale Aufgabe exegetischer Arbeit, von der her sich alle Detailuntersuchungen zuordnen und begründen lassen müssen, diese Botschaft durch die sorgfältigste Analyse der biblischen Texte für die Menschen von heute neu zum Sprechen zu bringen. Die theologische Bewertung der Texte als Offenbarungstexte und die Benutzung allgemeiner text- und literaturwissenschaftlicher Methoden widersprechen sich in diesem theologischen Rahmen nicht nur nicht, sondern bedingen sich sogar. Gerade die höchste Wertschätzung der Texte fordert zu ihrer gründlichsten Untersuchung heraus.

Der Zusammenhang von Kanonizität und Auslegungswissenschaft, wie ihn Aleida und Jan Assmann kulturwissenschaftlich herausgearbeitet haben, lässt sich also auch theologisch ausformulieren. Hat die Auslegung kanonischer Texte nämlich prinzipiell die Aufgabe, Text und Situation in zwei Richtungen zu vermitteln, »in der Richtung der Applikation, die Textsinn mit dem Leben« vermittelt, und »in der Richtung der Legitimation, die ›Lebenssinn‹ mit dem Text vermittelt«20, so gilt dies auch und gerade für die Bibelwissenschaft. Diese doppelte Vermittlungsaufgabe, die aus der Wertschätzung der Texte resultiert, widerspricht aber keinesfalls der Anwendung bestimmter Methoden, sondern fordert dazu auf, das jeweils Beste zu übernehmen, was eine Kultur an Interpretationsmethoden zu bieten hat. Dem entspricht der Auftrag, den Papst Leo XIII. den katholischen Bibelforschern gab:

»Sie sollen nichts als ihrem Fachgebiet fremd betrachten, was die emsige Forschung der modernen Zeiten Neues gefunden hat; ganz im Gegenteil sollen sie einen Geist der Wachheit pflegen, um unverzüglich das zu übernehmen, was jede Stunde der Bibelexegese an Nützlichem bietet.«21132

Wenn also neuerdings wieder gefordert wird, dass in der Bibelwissenschaft spezielle »theologische« Methoden anzuwenden seien, dann ist dem zu widersprechen, selbst wenn es Papst Benedikt XVI. selbst ist, dem die Bibelwissenschaft bisweilen zu »untheologisch« ist. Die menschlichen Grundlagen des Textverstehens hängen einfach nicht davon ab, ob wir »profane« oder »heilige« Texte lesen. Deshalb kann es eine spezielle Methode für heilige Texte nicht geben. Auch heilige Texte sind Texte, menschliche Texte. Wäre dies anders, könnten wir sie ja gar nicht verstehen. Deshalb müssen die normalen text- und literaturwissenschaftlichen Methoden angewendet werden – auch auf die Heilige Schrift. Wie die Kirchenväter des antiken Christentums müssen wir jene Methoden anwenden, die in der heutigen Zeit dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Das widerspricht der Heiligkeit der Bibel nicht. Ganz im Gegenteil, wenn wir die Heilige Schrift als Wort Gottes in der Gestalt menschlicher Texte begreifen, dann ist das Bemühen um das menschliche Verstehen genau das, was wir dem Wort Gottes schuldig sind.

4. Gibt es nur eine richtige Interpretation?

Wer sich die zahlreichen Veröffentlichungen wissenschaftlicher Bibel-Exegese anschaut, wird feststellen, dass es die Textauslegung der Exegese nicht gibt, sondern eine geradezu unüberschaubare Pluralität exegetischer Methoden und Meinungen, die eher zunimmt als abnimmt. Je mehr Menschen weltweit sich mit der Bibel befassen, desto mehr Meinungen über ihre Botschaft gibt es. Früher hat man diese Vielfalt immer negativ gesehen. Sie erschien als Folge von Fehlern der Ausleger und der unvollkommenen Weise, in der Menschen Texte verstehen. Heute begreift man immer mehr, dass dies nur einen Teil der Vielfalt in der Textauslegung erklären kann. Es ist wohl nicht nur die Mangelhaftigkeit der Exegese, die verhindert, dass wir zur Feststellung des einen richtigen Textsinns kommen. Es liegt auch an den Texten selbst. Die biblischen Texte sind nicht nur untereinander (als »Lernschule der Pluralität«22) verschieden, sondern jeder für sich ist auch noch in sich vieldeutig. Diese doppelte innere Pluralitätsstruktur der Texte versucht die Bibelwissenschaft seit einigen Jahrzehnten theoretisch und methodisch zu fassen und hat sich dabei in der Regel an Text- und Literaturtheorien orientiert, die man etwas unscharf als »Rezeptionsästhetik« bezeichnen kann. Einen Extrempunkt dieser Entwicklung markierte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mit seiner Forderung nach einem Verzicht auf jede Interpretation. So forderte er die Deutschlehrer auf: »Bekämpfen Sie das hässliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch hässlichere Laster der richtigen Interpretation!«23133

Der geforderte Abschied von jeder Interpretation hat sich literaturwissenschaftlich nicht durchgesetzt und ist auch exegetisch kein guter Weg, weil kanonische Texte wie die Bibel nach Interpretation verlangen und nicht dem chaotischen Spiel rein subjektiver und oft projektionsgeleiteter Sinnbildung überlassen werden können. Die biblischen Texte haben für die christlichen Kirchen ja eine normative, Sinn gebende und Identität stiftende Funktion. Sie sind die höchste Autorität, der sich (theoretisch) jede andere Autorität in der Kirche unterzuordnen hat. Diese Funktion der biblischen Texte als Norma normans, die sich im Begriff »Kanon« verdichtet,24 legitimiert wesentlich die Existenz der Bibelwissenschaft. Kanonizität und Exegese hängen, wie oben schon gesagt, zusammen: Weil es die Kirche mit ihrer Festschreibung des Kanons gibt, gibt es Bibelwissenschaft. Weil die biblischen Texte kanonischen Rang genießen, braucht es eine Institution, die mit wissenschaftlicher Akribie die Interpretation dieser Texte betreibt und dabei den Hiatus zwischen fixierter Textgestalt, die nicht mehr geändert werden kann, und den aktuellen, sich stets ändernden Fragen der jeweiligen Zeit zu schließen sich bemüht.

Das Bemühen der Exegese um textgemäße und zeitgemäße Interpretation wird gestützt durch die Feststellung, dass Texte zwar keine »Sinnbehälter« sind, aber doch halboffene Regelwerke, deren Sinn zwar erst durch den »Akt des Lesens«25 entsteht und damit in einem hohen Maße von der Aktivität der Lesenden abhängt, aber auch nicht völlig beliebig ist, wenn die Lesenden darauf verzichten, ihre eigenen Gedanken, Wünsche und Vorstellungen in den Text hineinzulegen, und bereit sind, die textlichen Strukturen, die den Leseprozess steuern wollen, zu beachten.

Da diese Beachtung der textlichen Strukturen unterschiedlich ist, gibt es auch bessere und schlechtere Interpretationen.26 Auch wenn es also die einzig richtige Interpretation nach dieser Theorie nicht mehr geben kann, kann man doch richtige und falsche, bessere und schlechtere Interpretationen noch voneinander unterscheiden. Das ändert freilich nichts daran, dass es schon auf der Ebene der Sinnbildung eine unüberwindbare Pluralität gibt. Das gilt erst recht auf der Ebene der Bedeutung, wo gefragt wird, welche existenzielle Relevanz eine Textaussage in heutigen Lebenssituationen erlangen kann.

Die gemäßigte Rezeptionsästhetik, die ich hier als Rahmentheorie vertrete, bedeutet aber – einem weit verbreiteten Missverständnis zum Trotz – nicht, dass die Exegese generell nur noch einen Korridor von möglichen Interpretationen beschreiben könnte, innerhalb dessen alles möglich wäre. Auf der Ebene des Textsinns ist die 134 Bandbreite der Pluralität von Text zu Text sehr verschieden und kann bei manchen Texten gegen Null gehen. Sie ist bei nicht-fiktionalen Texten bzw. Text-abschnitten generell geringer als bei fiktionaler Literatur. Selbst innerhalb eines fiktionalen Textes wie z.B. dem Johannesevangelium kann die Bandbreite der legitimen Sinnbildungen sehr unterschiedlich sein. So lässt sich der Sinn des Satzes »Die Worte, die ich geredet habe zu euch, Geist sind sie und Leben sind sie« (Joh 6,63*) aus dem unmittelbaren Kontext und der weiteren johanneischen Begriffsverwendung relativ präzise formulieren. Dagegen ist der Sinn eines symbolisch aufgeladenen Erzähldetails (z.B. Joh 12,3: Maria trocknet die gesalbten Füße Jesu mit ihren Haaren ab) weit weniger genau zu präzisieren.

Es hängt also sehr vom Einzelfall ab, ob es eine oder viele richtige Sinnbildungen gibt. Die Pluralität auf der Ebene der existenziellen Bedeutung scheint mir dagegen tatsächlich nie aufhebbar, sondern allenfalls eingrenzbar, weil sie weitgehend von den Rahmenbedingungen der Lesenden abhängt, oder theologisch gesprochen: vom Geist, in dem ein Text rezipiert wird.27

Literaturwissenschaftlich gesehen, gibt es jedenfalls die »richtige« Interpretation in der Regel nicht mehr, aber durchaus bessere oder schlechtere, und deshalb muss eine literaturwissenschaftlich arbeitende Exegese, die sich auf der Höhe gegenwärtiger Theoriebildungen befindet, auf die Rolle einer autoritativen Lieferantin des Textsinns verzichten, ohne deshalb ihr Bemühen um ein angemessenes Textverständnis aufzugeben. Jeder Exeget und jede Exegetin darf sich weiterhin auf eine bestimmte Position festlegen und argumentativ für sie kämpfen, freilich ohne den Habitus der Unfehlbarkeit, vielmehr in dem Bewusstsein, dass die eigene Position unter Umständen doch nur eine von mehreren möglichen ist. Und die für die christliche Praxis entscheidende Frage, was ein bestimmter Textsinn oder ein bestimmter historischer Befund heute bedeuten, ist schließlich etwas, um das Glaubende gemeinsam ringen müssen.

5. Heilige Texte vor unheiligen Lesenden schützen?

Vor einem gedeckten Tisch kann man verhungern, wenn man die aufgetischten Speisen nicht isst. Ohne den Akt des Essens ist eine Speise, mag sie auch noch so liebevoll zubereitet sein, kein Lebensmittel. So ist es auch mit Texten. Ein Text, der nicht gelesen wird, ist tot. In gewisser Weise gibt es ihn gar nicht. Erst durch den Akt des Lesens wird ein Text zur Mitteilung. Texte vor dem Lesen zu schützen, scheint deshalb ein unsinniges Unterfangen. Nun geht es der Bibelwissenschaft auch gar 135 nicht darum, die Bibel vor dem Lesen zu schützen. Wohl geht es ihr aber darum, die Bibel vor dem falschen Lesen zu schützen.

Falsches Lesen liegt nicht nur dort vor, wo sich beim Lesen ein Missverständnis einschleicht. Solches aufzuklären, ist natürlich Aufgabe der Exegese, aber einfache Missverständnisse sind oft banal und meist nicht sonderlich gefährlich. Es geht aber beim falschen Lesen um deutlich mehr, nämlich darum dem Text eine Position gegenüber dem Lesenden zu sichern. Wenn man das Lesen als Machtkampf begreift, dann ergreift die Exegese Partei für den schwächsten Teil im Kampf zwischen Text und Lesenden, nämlich für den Text.

Das klingt jetzt vermutlich ziemlich überraschend, denn wir sind es ja gewohnt, heilige Texte als machtvolle Texte zu begreifen, die ihre Autorität von Gott beziehen, also von der höchsten denkbaren Macht überhaupt. Das ist theoretisch natürlich richtig, in der Praxis aber ist der Text schwach. Auch der denkbar heiligste Text muss gelesen werden, um wirken zu können, und die Macht des Textes ist in der Regel dann doch wieder nur die Macht der Menschen, die den betreffenden Text benutzen, meist als Waffe gegen andere.28 Heilige Texte sind – wie alle anderen Texte auch – den Lesenden vollkommen ausgeliefert. Nichts kann Lesende daran hindern, mit einem Text genau das zu machen, was sie wollen. Eine technische Gebrauchsanweisung kann sich nicht dagegen wehren als ein Liebesgedicht gelesen zu werden. Nachrichten können als Unterhaltung konsumiert werden und eine Gesetzesvorschrift als Poesie. Das ist im Einzelfall manchmal gar nicht schlimm, aber wenn es um Texte geht, denen zugetraut wird, göttliche Offenbarung zu vermitteln, dann geht es schnell um Leben und Tod. Kanonische Texte, und also auch der biblische Kanon haben nämlich immer auch einen Eliminationsaspekt, der alles andere als harmlos ist.

»Denn wir können und müssen eine historische Linie aufzeigen, die von der Scheidung zwischen dem Kanonischen und dem Apokryphen (zunächst nur ein Wertakzent zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen) zur Trennung zwischen Orthodoxie und Häresie, also nicht nur Eigenem und Fremdem, sondern Freund und Feind geführt hat. Mit der Richtschnur des Kanons, nicht mehr nur auf Gegenstände und Sachverhalte, sondern auf Menschen angewandt, hat man immer wieder über Sein und Nichtsein, über Leben und Tod entschieden.«29

Die Unterstellung, die Bibel sei immer wieder als Werkzeug und Waffe missbraucht worden, widerspricht natürlich zutiefst dem Selbstbild christlicher Theologen und Kirchenführer, die sich selbst ja stets nicht nur als Künder des Wortes, sondern 136 zugleich als ergebene Hörer der biblischen Offenbarung verstanden haben. Dieses Selbstbild steht freilich in deutlichem Kontrast zur Realität der Auslegungsgeschichte, die immer wieder deutlich macht, dass die Bibel in diesem Machtzusammenhang stets nur sehr selektiv gelesen wurde, und in der Regel eben so, dass die Macht derer, die sich als Kirche verstanden, nicht nur nicht gefährdet, sondern legitimiert und gefördert wurde. Das kann – unbeschadet des gegenläufigen Selbstbildes vom glaubend-gehorsamen Hören – auch gar nicht anders sein, denn man darf eben bestimmte Passagen der Bibel keinesfalls lesen, wenn man Ketzerverbrennungen, Kreuzzüge, Judenfeindlichkeit, Sklaverei, Rassismus, Ausbeutung der Landbevölkerung und andere Gräuel biblisch begründen will. Mit Jesu Lehre von Feindesliebe und Gewaltlosigkeit ist das nicht zu machen. Gerade vor dem Hintergrund einer durch selektives und ideologisches Bibellesen ermöglichten Gewaltgeschichte kommt es also sehr darauf an, die biblischen Texte als Gegenüber der Lesenden stark zu machen – so stark, dass das Lesen ein Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern wird. Nur wenn die biblischen Texte im Leseprozess stark genug sind, können sie die Erfahrung von Fremdheit bewirken, die die menschliche Basis für die Begegnung mit dem ganz Anderen legt.

In einem gelungenen Leseprozess steht auf der einen Seite der inspirierte (= von göttlichem Geist erfüllte) Text, auf der anderen der/die inspirierte (= von göttlichem Geist erfüllte) Leser/Leserin und die beiden sprechen solange miteinander, bis sie sich verstehen. Inspiriert Lesende werden darauf vertrauen, dass ihnen in den biblischen Texten, die ihnen andere Menschen hinterlassen haben, letztlich Gott entgegenkommt. Gottes Wesen ist aber im strengen Sinne Geheimnis, mysterium stricte dictum. Gott ist nicht Mensch und kein Ding dieser Welt. Gott ist also für uns Menschen immer der/die/das ganz Andere. Dieses Wesen Gottes gilt es auch beim Lesen der Heiligen Schrift zu respektieren, und dieser Respekt wird sich vor allem in der Achtung der Andersartigkeit und Fremdheit des Textes ausdrücken müssen, also im Verzicht auf das Überformen des Textes durch die eigenen Überzeugungen und Vorurteile. Letztlich kann nur in der Begegnung mit dem Fremden Offenbarung geschehen: neues Denken, neue Erfahrung, Umkehr und neues Leben. Deshalb werden inspiriert Lesende versuchen, die eigenen Projektionen zurückzunehmen und die eigenen Vorstellungen, Wünsche und religiösen Vorurteile wenigstens für einen Moment hintan zu stellen, damit das Andere vernehmbar wird. Solche Offenheit für die genaue Wahrnehmung des Textes zu fördern, ist die Aufgabe der Exegese. Indem sie die Texte möglichst gut übersetzt, Hintergrundinformationen bereitstellt und zum genauen Hinsehen ermuntert, versucht sie, den Text gegenüber den Lesenden möglichst stark zu machen.

Das ist notwendig, denn wie anderen heiligen Büchern auch, wird der Bibel mit Vorurteilen und Fanatismus Gewalt angetan. Der Bibel geht es da nicht besser als dem Koran. In der Hand ihrer falschen Freunde wird sie als Waffe missbraucht, um die Botschaft von einem Gott, der Liebe ist, nach Kräften zu widerlegen. Man wird also die erste Aufgabe der Bibelwissenschaft weniger in der Feststellung des 137 einzig richtigen Textsinns sehen als in der Verteidigung der Bibel gegen falsche Festlegungen.30 Würde die Bibelwissenschaft sich als Lieferantin des einzig richtigen Textsinns verstehen, würde sie selbst wieder in die Falle der Macht tappen und die Bibel als Waffe gegen andere, abweichende Auslegungen benutzen. Wenn sie aber die Pluralitätsbotschaft der biblischen Texte auch selbst ernst nimmt, darf sie nicht selbst Lehramt spielen, sondern muss ihre Rolle bescheidener anlegen. Sie kann nicht mehr sein als die Anwältin der Fremdheit der biblischen Texte, die die Texte gegen Vorurteile, ideologische Überformungen und Machtmissbrauch schützt, so gut sie das eben kann. Das ist die besondere Aufgabe der Bibelwissenschaft in der kritischen Gesamtaufgabe christlicher Theologie, die darauf aus sein muss, »den Namen Gottes zu ehren und deshalb die falsche Darstellung seiner Existenz zu meiden«31. Die Darstellung der Existenz Gottes, auf die es letztlich ankommt, liegt ohnehin nicht in den richtigen Worten, sondern in einer beistimmten Lebenspraxis, die die Pluralitätszumutung des biblischen Kanons als Gottesgeschenk annimmt.

Die Bibel ist ja nicht einfach ein Text.32 Sie ist aber auch mehr als eine Textsammlung, eher so etwas wie eine Versammlung: Die Texte verschmelzen nicht zu einem Text, aber sie stehen auch nicht isoliert. Sie beziehen sich aufeinander, sie beleuchten, erhellen, kritisieren sich gegenseitig und widersprechen sich bisweilen sogar. So sollte man diese Textversammlung eher als ein lebendiges Netzwerk ansehen, das eine Einheit im Gespräch bildet, aber die eine Mitte oder den einheitlichen Erzählfaden nicht hat und nicht braucht. Die oben schon erwähnte Bezeichnung der Bibel als »Lernschule der Pluralität« trifft den Nagel auf den Kopf. Die Bibel weist eine wirklich erstaunliche innere Pluralität auf, aber ohne dass die Texte beziehungslos nebeneinander stehen. Und in diesem Sinne kann sie wirklich eine »Lernschule« sein. Beim aufmerksamen und veränderungsbereiten Lesen der Bibel kann man lernen, wie Pluralität und Einheit, Beziehung und Freiheit zusammen gehen. Und Biblische Exegese ist erst dann wirklich bei sich und bei ihrem göttlichen Gegenüber angekommen, wenn sie die Nichtfestlegbarkeit biblischer Texte nicht nur auf der Ebene der Lehre verteidigt, sondern auch noch auf der Ebene der Praxis dafür eintritt, dass der Heiligen Schrift eine pluralitätsfreundliche Bedeutung zukommt, die ihrer inneren Pluralitätsstruktur entspricht.

 

1Vgl. z. B. Richard Simon, Histoire critique du Vieux Testament. Nouv. éd., augm. d’une apologie générale, de plusieurs remarques critiques, et d’une réponse par un theologien protestant, Rotterdam 1685 (Nachdruck: Frankfurt 1967).

2Vgl. z.B. Siegfried Zimmer, Schadet Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2007. Zimmer unterscheidet die Autorität Gottes und die Autorität Jesu Christi von der Autorität der Heiligen Schrift und begreift die Bibel als göttliche Offenbarung, insofern sie die Selbstmitteilung Gottes bezeugt. Da dieses Zeugnis in menschlichen Texten erfolgt, sind auch die üblichen menschlichen Methoden zur Analyse dieser Texte anzuwenden. Ganz ähnlich Wolfgang Schoberth, Fundament ohne Fundamentalismus. Die Bibel im Protestantismus, in: Joachim Kügler/ Werner H. Ritter (Hg.), Auf Leben und Tod oder völlig egal. Kritisches und Nachdenkliches zur Rolle der Bibel. FS Robert Ebner (Bayreuther Forum Transit 3), Münster 2005, 137–148.

3So stellte etwa einer der Väter der Literarkritik im Hinblick auf das Johannesevangelium die These auf, »dass das Buch dem inneren Werthe nach theils ächt sei, theils unächt« (Alexander Schweizer, Das Evangelium Johannes nach seinem innern Werthe und seiner Bedeutung für das Leben Jesu kritisch untersucht, Leipzig 1841, 6).

4Die amtliche deutsche Übersetzung des Lehrschreibens ist online zugänglich unter: http://www.vatican.va/holy_father/pius_xii/encyclicals/documents/hf_p-xii_enc_30091943_divino-afflante-spiritu_ge.html.

5Der amtliche deutsche Text ist online zugänglich unter: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651118_dei-verbum_ge.html.

6Schützenhilfe erhält diese Entscheidung auch von nichttheologischer Seite. Vgl. Martin Engelbrecht, Eine Verteidigung der ›Nekrophilie‹. Wissenssoziologische Befunde und Gedanken zur Unhintergehbarkeit der historisch-kritischen Exegese, in: Joachim Kügler (Hg.), Prekäre Zeitgenossenschaft. Mit dem Alten Testament in Konflikten der Zeit. Internationales Bibel-Symposium Graz 2004 (Bayreuther Forum Transit 6), Münster 2006, 224–246.

7Vgl. den klassischen Beitrag von Hayden White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Einführung v. Reinhart Koselleck (Sprache und Geschichte 10), Stuttgart 2. Auflage 1991.

8Vgl. Zimmer, Schadet Bibelwissenschaft dem Glauben?

9Vgl. Anton Vögtle, Unnötige Glaubensbarrieren. Neutestamentliche Texte und ihre Glaubensaussagen, hg. v. Carola Diebold-Scheuermann (Stuttgarter Bibelstudien 174), Stuttgart 1998.

10Vgl. dazu: Joachim Kügler, Glaube und Geschichte. Von den Grenzen der Exegese und der Hilflosigkeit eines Dogmatikers, in: Hermann Häring (Hg.), »Jesus von Nazareth« in der wissenschaftlichen Diskussion, Berlin 2008, 153–168.

11Zitiert nach Josef Wohlmuth (Hg.), Concilium oecumenicorum decreta I, Paderborn 3. Auflage 1998, 86.

12So Johannes Paul II. in seiner Ansprache über die Interpretation der Bibel in der Kirche, in: Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Ansprache seiner Heiligkeit Johannes Paul II. und Dokument der Päpstlichen Bibelkommission, 23. April 1993 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993, 7–20:13.

13Geboren am 13. November 354 in Tagaste, heute Souk Ahras in Algerien; gestorben am 28. August 430 in Hippo Regius, heute Annaba in Algerien.

14Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Interpretation der Bibel in der Kirche (s. Anm. 12), 61–63.

15Vgl. Joachim Kügler, Auf dem Weg zur Pluralitätsfähigkeit? Bibelwissenschaft im Spannungsfeld von Sozialkonstruktivismus, Rezeptionsästhetik und Offenbarungstheologie, in: Alexius J. Bucher, (Hg.), Welche Philosophie braucht die Theologie? (Eichstätter Studien 47), Regensburg 2002, 135–160; hier: 144–148.

16Vgl. dazu Joachim Kügler, Pharao und Christus? Religionsgeschichtliche Untersuchung zur Frage einer Verbindung zwischen altägyptischer Königstheologie und neutestamentlicher Christologie im Lukasevangelium (Bonner Biblische Beiträge 113), Bodenheim 1997, 98.114–115.191–193.

17Vgl. hierzu den Überblick von Franz Weber, Für oder gegen die Armen? Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer notwendigen Grundentscheidung der Kirche, in: Rainer Bucher/ Ottmar Fuchs/ Joachim Kügler (Hg.), In Würde leben. Interdisziplinäre Studien zu Ehren von Ernst Ludwig Grasmück (Theologie in Geschichte und Gegenwart 5), Luzern 1998, 188–208. Die umfassende Option für die Armen, legitimiert selbstredend die Ansätze kontextueller Exegese, wie sie im Bereich der Befreiungstheologie und der Feministischen Bibelauslegung entwickelt wurden.

18Eine feministische Option der Exegese ist daher nicht nur naheliegend, sondern zwingend. Eine geschlechtsrollensensible Forschungsperspektive darf deshalb nicht länger ein Reservat für feministische Exegetinnen sein, sondern muss zur selbstverständlichen Forschungshaltung aller Exegetinnen und Exegeten werden.

19Fundamentaltheologisch ist festzuhalten: Der Mensch hat, weil er eben nicht Gott ist, überhaupt keine anderen als menschliche Erkenntnisweisen. Insofern Gott den Menschen als potentiellen Offenbarungsempfänger geschaffen hat, ist dem Menschen damit trotzdem die Möglichkeit der Gotteserkenntnis gegeben. Vgl. den klassischen Beitrag von Karl Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München 1941 (neu bearb. v. Johann Baptist Metz, München 1963).

20Aleida & Jan Assmann, Kanon und Zensur, in: DIES. (Hg.), Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, 7–27: 14.

21Zitiert nach Päpstliche Bibelkommission, Interpretation der Bibel (siehe Anm. 12), 13. Dass sich das römische Lehramt in der Folgezeit aus Enttäuschung über die Ergebnisse moderner Exegese zu einer antimodernistischen Inquisition verleiten ließ, die bis in die erste Hälfte des 20. Jh. dauerte, darf freilich nicht verschwiegen werden. Dieser autoritäre Irrweg schmälert allerdings nicht die theologische Dignität der zitierten methodologischen Grundentscheidung.

22Die inzwischen klassisch gewordene Formulierung stammt von Ottmar Fuchs, Umgang mit der Bibel als Lernschule der Pluralität, Una Sancta 44 (1989) 3, 208–214.

23Vgl. Siegfried J. Schmidt, »Bekämpfen Sie das hässliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch hässlichere Laster der richtigen Interpretation!« (Hans Magnus Enzensberger), in: Wolfgang Frier/ Gerhard Labroisse (Hg.), Grundfragen der Textwissenschaft, Amsterdam 1979, 279–309.

24Zum Verhältnis von Kanon und Identitätsbildung vgl. Aleida & Jan Assmann, (Hg.), Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987.

25Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 3. Auflage 1990. Zur exegetischen Rezeption vgl. z.B. Jens Schröter, Zum gegenwärtigen Stand der Wissenschaft: Methodologische Aspekte und theologische Perspektiven, New Testament Studies 46 (2000) 262–283, bes. 267–274.

26Das wird festgehalten von Analysetheoretikern wie Manfred Titzmann, Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977.

27Aus religionssoziologischer Perspektive vgl. dazu Martin Engelbrecht, Impuls oder Hindernis? Wissenssoziologische Beobachtungen zur Verwendung alttestamentlicher Zitate in interreligiösen Gesprächen, in: Joachim Kügler (Hg.), Impuls oder Hindernis? Mit dem Alten Testament in multireligiöser Gesellschaft. Beiträge des Internationalen Bibel-Symposions 2002 in Bayreuth (Bayreuther Forum Transit 1).

28Vgl. zu diesem Machtproblem: Joachim Kügler, Im Rücken der Kobra. Warum es vielleicht besser wäre, die Bibel als Literatur zu lesen, in: Ders., Eric Souga Onomo, Stephanie Feder (Hg.), Bibel und Praxis. Beiträge des Internationalen Bibel-Symposiums 2009 in Bamberg (Bayreuther Forum Transit 11), Berlin 2011, 105–132.

29Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 87–129; hier: 125.

30Vgl. dazu: Joachim Kügler, Die Gegenwart ist das Problem! – Thesen zur Rolle der neutestamentlichen Bibelwissenschaft in Theologie, Kirche und Gesellschaft, in: Ulrich Busse (Hg.), Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche (QD 215), Freiburg u.a. 2005, 10–37, sowie: Hans-Joachim Sander, Die kritische Autorität der Exegese für die Dogmatik. Theologie im Zeichen einer prekären Differenz über die Heilige Schrift, a.a.O., 38–75.

31Hans-Joachim Sander, Macht in der Ohnmacht. Eine Theologie der Menschenrechte (Quaestiones Disputatae 178), Freiburg u.a. 1999, 167 [kursiv von mir].

32Vgl. Joachim Kügler, Hände weg!? Warum man die Bibel nicht lesen sollte … und warum doch, Würzburg 2008, 15–26.

Kanonisch, kirchlich, postmodern?

Die Bibelwissenschaft sucht ihren Weg nach der Moderne

Spätestens seit Papst Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch auf die Kanonische Exegese (im Folgenden KE) zurückgreift, ist auch eine breitere Öffentlichkeit auf diese Form der Schriftauslegung aufmerksam geworden. Weitgehend unbemerkt von der Außenwelt wurde aber schon seit längerem in der Fachwissenschaft über diesen neuen Zugang gestritten; seit mehr als zwanzig Jahren sorgt das Thema für Diskussionen.1 Und das Feld der KE ist inzwischen schon so vielfältig geworden, dass es hier nicht detailliert beschrieben werden kann, aber die Grundüberlegungen der KE sind doch in Kürze anzugeben:

Es wird erstens darauf hingewiesen, dass der Kanon, also die Sammlung des Alten und Neuen Testaments, der primäre Bezugsrahmen ist, in dem ein biblischer Text zu lesen ist. Zweitens: Da diese Texteinheit von der Kirche erstellt wurde, wird der Glaubensgemeinschaft eine wichtige Rolle in der Auslegung zugeschrieben. Und drittens votiert die KE dafür, die Endfassungen der Texte zum ersten Gegenstand der Auslegung zu machen, denn diese seien von der Kirche als theologisch maßgeblich kanonisiert und nicht irgendwelche Vorstufen. Bei solchen Vorstufen ist an die Quellen zu denken, aus denen z. B. die fünf Bücher Mose (Pentateuch) entstanden sind, also etwa die »Priesterschrift« oder der (inzwischen höchst umstrittene) »Jahwist«. Im Neuen Testament geht es z. B. um die Quellen, die dem Markusevangelium zugrunde liegen, oder um die »Logienquelle«, die Matthäus und Lukas nach der vorherrschenden »Zwei-Quellen-Theorie« als zweite Quelle neben dem Markusevangelium benutzt haben, um ihre Großevangelien zu verfassen. Die KE weist zu Recht darauf hin, dass die Rekonstruktion solcher Vorstufen der Texte immer hypothetisch bleiben muss. Daraus wird gefolgert, dass in der Frage nach der rechten Theologie und Praxis der Kirche letztlich nur der kanonisierte Endtext normative Kraft habe und man sich auf diesen konzentrieren und ihn in seinem kanonischen Kontext auslegen muss. Damit ist zugleich gesagt, dass jede KE sich im Rahmen der kirchlichen Gemeinschaft vollzieht, die den Kanon festgelegt hat.

Die »Kanonische Schriftauslegung« als neuer Weg der Exegese

Dieses Programm einer »neuen Kirchlichkeit« der Exegese wurde lange ignoriert und hat dann – vor allem in der alttestamentlichen Bibelwissenschaft – z. T. recht polemisch geführte Debatten ausgelöst. Die Polemik, die in Beiträgen zur KE bisweilen zu spüren ist, hängt vor allem mit dem Verdacht zusammen, bei der KE handle es sich um ein neokonservatives Programm, das reaktionäre Entwicklungsströme, wie sie in allen Religionen zur Zeit erkennbar sind, in die Bibelwissenschaft eintragen wolle. Dass die Reizschwelle – vor allem im katholischen Raum – hier sehr niedrig liegt, wird verständlich, wenn man sich klar macht, dass die Bibelwissenschaft nach dem Trauma der innerkirchlichen Unterdrückung ja erst seit wenigen Jahrzehnten eine nennenswerte Forschungsund Lehrfreiheit genießt. Vor allem in der älteren Exegetengeneration, die über die Biografien ihrer Lehrer noch mit den Erfahrungen der antimodernistischen Knebelung verbunden ist, löst jede Infragestellung des historisch-kritischen Ansatzes die Befürchtung aus, man wolle unter dem Deckmäntelchen der Postmoderne zu vormoderner Unterdrückung zurückkehren. Da die KE aber auf reale Schwächen der historisch-kritischen Exegese2 aufmerksam macht, wäre es angezeigt, zu einer möglichst nüchternen Auseinandersetzung zurückzufinden. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, einerseits die positiven Ansätze der KE aufzuzeigen, andererseits aber auch deutlich zu machen, dass Ambivalenzen in diesem Projekt mitschwingen, die bei den meisten Vertretern der KE nicht beabsichtigt sind, aber bei der historisch-kritischen Exegese zu Recht erhebliche Bedenken auslösen, weil man befürchtet, hier solle die Exegese 39 als Aufklärungsprojekt begraben werden. Gefordert ist ein Entwurf der KE, der deutlich macht, dass es nicht darum geht, Kirche prämodern als patriarchales Hierarchiegebilde zu entwerfen, das seine Einheit monolithisch und in scharfer Abgrenzung zur Welt entwirft.

Der Kanon als ein Text?

Der Ausgangspunkt für die KE ist die These, dass der biblische Kanon nicht nur eine kirchliche Sammlung von normativen Texten darstellt, sondern bei der Auslegung als ein Text zu behandeln sei, der den entscheidenden Rahmen für das Verständnis jedes Teiltextes liefert. Der Kanon ist so etwas wie der Makrotext, der alle seine Teile determiniert. Ausdrücklich wird festgestellt, dass der Kanon für die Einzeltexte der entscheidende Bezugsrahmen ist. Das bedeutet, dass einzelne Textaussagen nicht verabsolutiert werden können, sondern stets im Kontext des Ganzen zu verstehen sind. Da der Kanon zudem der primäre und privilegierte Bezugsrahmen für die Einzeltexte ist, kann außerbiblischen Bezügen nur eine nachgeordnete Bedeutung zugemessen werden. Selbst wenn es solche gab, sind sie durch die Integration eines Textes in den Kanon ungültig geworden. Kanonisierung nimmt Texte aus ihrem Ursprungskontext heraus und weist sie in neue Kontexte ein.

Hier sind weitere Präzisierungen unverzichtbar. So unbestreitbar der Kanon eine Einheit darstellt, so genau muss noch gefragt werden, wie sich diese Einheit konstituiert. Wenn der biblische Kanon wirklich ein Text ist, dann doch zumindest kein linearer – kein »Werk«, das von vorne bis hinten fortlaufend zu lesen ist. Vielmehr machen »Doppelungen«, wie sie im Alten Testament die Chronikbücher oder im Neuen Testament die Vierzahl der Evangelien erzeugen, deutlich, dass man einen erweiterten Textbegriff anwenden muss, wenn man den biblischen Kanon als einen Text bezeichnen will. Ein solch erweiterter Begriff müsste Text tatsächlich wieder als Gewebe verstehen, und zwar als eines, das aus mehr als einem fortlaufenden Erzählfaden besteht.

Die Einheit der Bibel: Monolith oder Rhizom?

Nimmt man die textinternen Bezüge ernst, dann ist der Kanon wohl eher dem Wurzelgeflecht von Pilzen (Rhizom) vergleichbar: Das biblische Rhizom ist mehrstufig, dezentral und multiperspektivisch organisiert. In der Bibel ist zum Teil auch damit zu rechnen, dass das Beziehungsgewebe nicht über literarische Beziehungen hergestellt wird, sondern über außertextliche Fluchtpunkte. So gehören die vier Evangelien deshalb zusammen, weil sie verschiedene Aspekte des einen