Existenzkrise der Demokratie - Jens Hacke - E-Book

Existenzkrise der Demokratie E-Book

Jens Hacke

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Beschreibung

In der Zeit zwischen den Weltkriegen geriet die Demokratie in die Krise. Kommunismus und Faschismus boten Modelle einer alternativen Moderne. Anders als der Niedergang des politischen Liberalismus vermuten lässt, gehören die damaligen intellektuellen Debatten über die Grundlagen der Demokratie zum essentiellen Bestand der politischen Theorie. Jens Hackes brillante ideengeschichtliche Studie führt vor Augen, wie seit den 1920er Jahren Ideen entwickelt wurden, die die Welt nach 1945 prägen sollten und im Lichte gegenwärtiger Krisenphänomene neue Aktualität beanspruchen: die Totalitarismustheorie, das Konzept der wehrhaften Demokratie und die Vorstellung von einem gezähmten Kapitalismus.

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3Jens Hacke

Existenzkrise der Demokratie

Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit

Suhrkamp

4In Erinnerung an Detlef Ahlers (1940-2008) und Eberhard Pieper (1937-2015)

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

I

. Einleitung: Zur Problematik liberaler politischer Theorie

II

. Ausgangslagen: Konstellationen liberalen Denkens nach dem Ersten Weltkrieg

Liberale Suchbewegungen im Ersten Weltkrieg: Hugo Preuß, Leopold von Wiese und Max Weber

Startbedingungen für die Demokratie

Schwierigkeiten mit der liberalen Demokratie

Liberale Bürgerlichkeit und bürgerlicher Antiliberalismus

III

. Der Feind von rechts: Auseinandersetzung mit dem Faschismus

Eine frühe liberale Deutung des Faschismus – Fritz Schotthöfer

Moritz Julius Bonn: Faschismus als Tyrannei der primitiven Demokratie

Rechtsliberale Sympathien für den Faschismus? Der Fall Erwin von Beckerath

Ludwig von Mises: Faschismus als Antimarxismus

Staatsrechtliche Perspektiven: Gerhard Leibholz und Hermann Heller

Liberales Denken und der Faschismus – eine Neubewertung

IV

. Verteidigung der parlamentarischen Ordnung: Nachdenken über die »wehrhafte« Demokratie

Robert Michels’ Soziologie des Parteiwesens: Selbstgefährdungen der Demokratie

Parlamentarismus in der Weimarer Republik: Herausforderer und Verteidiger

Hans Kelsen als Theoretiker der Demokratie

Kelsens Verteidigung der parlamentarischen Regierungsform

Defizite und Gefährdungen der Demokratie

Karl Loewenstein: »Militant Democracy«

Moralische Aufrüstung der liberalen Demokratie

Liberale Lehren aus der Krise: Auf dem Weg zu einer robusten Demokratie?

V

. Einhegung des Kapitalismus? Die liberale Reformdiskussion in der Zwischenkriegszeit und die Suche nach dritten Wegen

Strukturwandel im Verhältnis von Liberalismus und Kapitalismus

Probleme des deutschen Kapitalismus: Moritz Julius Bonns Defizitanalyse

Das amerikanische Vorbild

Politik und Ökonomie im Angesicht der Staatskrise

Genese des Ordoliberalismus

Totaler oder starker Staat? Carl Schmitt und der Ordoliberalismus

Auf der Suche nach Ordnung

Das Legitimationsproblem eines demokratischen Kapitalismus

Ausblicke und Neuansätze nach 1933

Ernüchterung und Erneuerung – zum liberalen Denken im 20. Jahrhundert

Danksagung

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Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7I. Einleitung: Zur Problematik liberaler politischer Theorie

Die Ideengeschichte des Liberalismus in Deutschland wird unübersichtlicher, je näher man an die Gegenwart heranrückt. Während der Liberalismus in der angelsächsischen Welt ganz selbstverständlich als konstitutiver Bestandteil einer lebendigen, mindestens aber zu pflegenden Ideentradition behandelt wird und über den politischen Parteiungen steht, ist seine Lage hierzulande wesentlich komplizierter.[1] In Deutschland bleibt die Anrufung des Liberalismus vor allem ein zeitdiagnostisches Phänomen: Entweder warnen die Verteidiger des Wohlfahrtsstaates vor den Exzessen eines neoliberalen Kapitalismus,[2] oder es exponieren sich angesichts der parteipolitischen Malaise des deutschen Liberalismus Intellektuelle, um für eine Aktualisierung liberaler Ideen zu werben. Das kann originell ausfallen wie bei Wolfgang Kerstings »Verteidigung des Liberalismus«, theoretisch reflektiert, aber unbeirrbar wirtschaftsliberal wie bei Rainer Hank, eher appellativ wie bei Ulrike Ackermann oder sozial engagiert wie bei Lisa Herzog.[3]

Es ist jedenfalls bezeichnend, dass sich die meisten Plädoyers für eine Stärkung des Liberalismus entweder auf die angelsächsische 8Tradition von Smith bis Hayek beziehen oder aber präsentistisch ihre Argumente aus gegenwärtigen Konfliktlagen beziehen. Diese variierenden Zugänge zum Liberalismus verdeutlichen, dass es an übergreifenden ideengeschichtlichen Forschungen mangelt. Zwar herrscht weitgehender Konsens über die klassische Phase des liberalen Sonderwegs in Deutschland, aber die Ideengeschichte des Liberalismus von der Weimar Republik bis in die Gegenwart bleibt als ein Nachklapp im Ungewissen.

Die wesentliche Ursache für diese merkwürdige Geschichtslosigkeit des bundesrepublikanischen Liberalismus liegt in seiner politischen Schwäche. Der Liberalismus trägt an der Bürde des Gescheiterten, denn das lange vorherrschende Interpretament vom deutschen Sonderweg erklärte vor allem die mangelnde politische Liberalität innerhalb des deutschen Bürgertums sowie die Konzessionen des politischen Liberalismus an Bismarck und die preußischen Eliten zur Ursache der verzögerten und schwach ausgeprägten Parlamentarisierung. Ob man nun seit 1848 die Überforderung des Liberalismus betonte, Einheit und Freiheit gleichzeitig zu verwirklichen, oder einen realpolitisch grundierten Verrat an liberalen Prinzipien beklagte, die der Reichseinigung auf Kosten der Freiheit geopfert wurden – die Ideengeschichte des Liberalismus hat in Deutschland den »Weg in die Katastrophe« stets eindrucksvoll orchestriert.[4] In dieser Beleuchtung war die Weimarer Republik der tragische Endpunkt einer Niedergangsgeschichte, die sich strukturell erklären ließ.

Dieter Langewiesche hat bereits vor einem Vierteljahrhundert betont, dass der Liberalismus, »verstanden als ein Geflecht aus politischen, sozialen und kulturellen Leitbildern und als organisierter Interessenverband, […] in außerordentlich vielfältiger Weise die deutsche Gesellschaft und ihre Institutionen geprägt« habe.[5] Allerdings hat es seit Langewiesches Studie zum »Liberalismus in Deutschland« auch keine weiteren Versuche gegeben, die Ideengeschichte des Liberalismus über Weimar hinaus zu verfolgen. Auch 9die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen enden im Wesentlichen mit dem »langen 19. Jahrhundert«, um eine Aufhebung des Liberalismus als historisches Deutungsmuster zu diagnostizieren.[6] Dieser Befund rekurriert auf die verstärkte Dysfunktionalität von maßgeblichen politischen Ideen, deren Substanz und Vokabular dem 18. und 19. Jahrhundert entstammen und die deswegen ihre Geltungskraft verloren haben. Allerdings ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Ideologien einen Bedeutungs- und Funktionswandel durchlaufen. Zwar gilt es, sich bewusst zu machen, dass politische Ideen »auf politische Situationen angewendet werden, die sich seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vollkommen geändert haben im Vergleich zu denjenigen, auf die sie eine Antwort geben sollten«.[7] Man sollte es jedoch nicht dabei belassen, die Beziehungslosigkeit zwischen den politischen Ideen und der politischen Wirklichkeit zu beklagen, sondern die Aktualisierungsanstrengungen von Intellektuellen untersuchen, die das herkömmliche politische Vokabular auf neue soziale und institutionelle Wirklichkeiten beziehen. Denn die Erklärung, dass eine Idee oder Ideologie erschöpft und mit einer Epoche zu einem Ende gekommen sei, hat bislang selten zu ihrer faktischen Erledigung geführt.[8]

Es liegt in der Konsequenz dieser Deutungsunsicherheit, dass die eigentümliche Schwäche des deutschen Liberalismus stets für die ideenpolitischen und geistesgeschichtlichen Sonderwegsbegründungen herhalten musste, wohingegen das Fortleben des liberalen Denkens in Deutschland und seine Spuren aus der Weimar 10Zeit nach 1945 kaum thematisiert worden sind.[9] Das Fehlen eines »hegemonialen Liberalismus« im Sinne einer die politische Kultur prägenden Kraft sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass weite Teile der deutschen Ideengeschichte des Liberalismus durchaus parallel und vergleichbar zu den westlichen Liberalismen verliefen. Wesentliche Elemente eines neuen demokratischen Liberalismus waren zumindest in Weimar Verfassungsnorm geworden, und die liberale Demokratie avancierte (keineswegs nur in negativer Weise) zum zentralen Bezugspunkt der zeitgenössischen Debatten.

Dilemma des Liberalismus in der Weimarer Republik

Die Ideengeschichte des deutschen Liberalismus ist mehr als die Rekonstruktion seines Scheiterns. Weder spricht die politische Schwäche gegen eine Idee, noch lässt sich der Liberalismus auf bestimmte Parteien und Trägergruppen reduzieren. Die »Selbstpreisgabe der Demokratie«, die »Auflösung des deutschen Bürgertums«, der »Extremismus der Mitte« – mit diesen thesenhaften Zuspitzungen ist die Erosion der liberalen Demokratie in Deutschland beschrieben worden. Dabei ist die Gewichtung der Faktoren, die dazu führten, dass die Weimarer Republik zum explodierenden Laboratorium in den Krisenjahren der klassischen Moderne wurde,[10] ebenso komplex wie umstritten. Die »Verschränkung von wirtschaftlicher Systemkrise und politischer Legitimationskrise« (Peukert) wurde von einer kulturellen, sich gesamtgesellschaftlich auswirkenden Modernisierungskrise massiv verstärkt.[11] Doch einerlei, wohin man den Blick richtet: auf die Talfahrt der Ökonomie, den überforderten Sozialstaat, die fragmentierte Gesellschaft, die Feinde der Republik 11links und rechts oder die außenpolitische Lage – stets landet man beim Liberalismus.

Die Geburt der Weimarer Republik als Verwirklichung liberaldemokratischer Verfassungsziele schien sich just in dem Moment zu vollziehen, als die bürgerliche Epoche an ein Ende gelangt war und die Massenmobilisierung des Antiliberalismus unter demokratischen Bedingungen ungeahnte Kräfte entfaltete.[12] Die erstmalige politisch-institutionelle Durchsetzung der liberalen Demokratie mündete in ihre sofortige – auch in den Augen der zeitgenössischen Betrachter – europaweite Existenzkrise. Dass die Gründung der Republik nicht ex nihilo, sondern mit Vorbelastungen erfolgte und von »Basiskompromissen« gekennzeichnet war, hat die Forschung immer wieder hervorgehoben. Nicht zuletzt galt die historische und politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit lange Zeit den vermeintlichen Konstruktionsfehlern der Verfassung, dem Problem einer »stehengebliebenen« Revolution oder der allzu pfleglichen Behandlung alter Eliten in Wirtschaft, Militär und Verwaltung. All diese Phänomene sind bekanntlich häufig als Geburtsmängel oder richtungsweisende Weichenstellungen diskutiert worden, wobei die Vorstellung von einer fatalen Pfadabhängigkeit deterministischen Deutungsmustern günstige Bedingungen bot.[13]

Die Frage nach der Verantwortung des politischen Liberalismus für den Untergang der Weimarer Republik ist häufig gestellt worden, und wer die Geschichte als Weltgericht begreift, vermag 12eine ganze Anzahl von vermeintlichen Fehlern und Versäumnissen oder auch den Verrat an eigenen Prinzipien erkennen. Das Sündenregister des (zumeist als Entität begriffenen) Liberalismus ist lang: die innere Distanz zur »Massendemokratie«, eine elitäre Politikkonzeption, die (vergebliche) Ausrichtung auf die politische Führerpersönlichkeit, das fehlende Verständnis für die Sozialpolitik als Mittel demokratischer Integration, das Festhalten am Primat nationaler Machtpolitik, die Preisgabe des Parlamentarismus etc.[14] Sogar der vermeintlich naive demokratische Idealismus, der von einem geeinten Europa träumte und meinte, dass die Lehre aus dem Ersten Weltkrieg nur in einer den Nationalismus überwindenden Friedenspolitik liegen könne, ist wegen seiner Weltfremdheit gescholten worden. Die Behauptungen, dass die Schwäche des Liberalismus die Gegner der Republik stark gemacht habe oder dass der Liberalismus durch die Angriffe auf die parlamentarische Demokratie seine Standfestigkeit verloren habe, bieten nur verschiedene Variationen desselben Gedankens, um den rapiden Legitimationsverlust der Weimarer Republik zu erklären.

Die Rolle des politischen Liberalismus, seine Verantwortung und sein Verfall sind zentral für jede Beschäftigung mit Weimar und den europäischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit insgesamt. Wenn es auch stets schwierig ist, aus der Perspektive der Ideengeschichte Zäsuren zu setzen, so können im Blick auf Deutschland und Westeuropa die intellektuellen Orientierungsversuche zwischen den Weltkriegen in einem Zusammenhang betrachtet werden. Dies liegt nicht im Widerspruch zu den wichtigen 13geschichtswissenschaftlichen Werken der letzten Jahre, welche das Zeitalter der Weltkriege 1914-1945/49 im Zusammenhang betrachten.[15] Die Erfahrung der später von George Kennan so apostrophierten »Urkatastrophe« 1914-1918 und das Bewusstsein, in eine neue Epoche eingetreten zu sein, die sich von der bürgerlich geprägten europäischen Welt vor 1914 deutlich unterschied, eröffneten neue Räume des politischen Denkens. Die Monstrosität kriegerischer Gewalt und die Absurdität der opferreichen Materialschlachten im Grabenkrieg ließen zumindest liberale Intellektuelle davon ausgehen, dass eine derartige Abkehr von zivilisatorischen Normen die Lektion lehrte, den Frieden als höchstes Gut zu bewahren. Aus dieser Perspektive gilt für Geistes- und Sozialwissenschaft einerseits sicherlich im Großen und Ganzen der Befund einer »Kriegsverdrängung« (Knöbl/Joas).[16] Andererseits: Wer unter Problemdruck eine politische Nachkriegsordnung entwirft, dem fehlt die Zeit für die sozialtheoretische Aufarbeitung von Krieg und Gewalt. Sehr früh sahen sich aber die intellektuellen Fürsprecher der liberalen Demokratie mit dem Problem konfrontiert, dass die Gewalt – auch als sozialpsychologische Folge des Krieges – in die politischen und ideologischen Kämpfe innerhalb des Staatswesens einwanderte.

Zweifellos wäre es erstrebenswert, eine vergleichende Ideengeschichte des westeuropäischen Liberalismus zu konzipieren, doch eine solche Aufgabe ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Sicherlich hatte die von zeitgenössischen Beobachtern diagnostizierte internationale Krise des Liberalismus in vielerlei Hinsicht verwandte strukturelle Ursachen, und es wäre reizvoll, den Diskurszusammenhang liberaler Intellektueller zu rekonstruieren und ihre Problemwahrnehmung auf Gemeinsamkeiten hin zu prüfen. Dies gestaltet sich aber umso problematischer, sobald man die unterschiedlichen Ausgangslagen, die spezifischen nationalen Traditionen und die Ungleichzeitigkeit verschiedener Krisenmomente in Rechnung stellt, die in Großbritannien, Frankreich, Spanien oder 14Italien zu registrieren sind. Die Divergenzen werden bereits auf der Ebene des parteipolitischen Liberalismus sichtbar. Während sich in Frankreich dem Selbstverständnis und dem Namen nach gar keine liberale Partei fand, erfuhr in England die liberale Partei aufgrund des Mehrheitswahlrechts zwar einen massiven Bedeutungsverlust, der Liberalismus in der politischen Kultur verschwand aber natürlich keineswegs. Dass im faschistischen Italien die liberale Opposition marginalisiert und schließlich unterdrückt wird, in Spanien wiederum die kurze Zeit der Republik einem parteipolitischen Liberalismus kaum Entfaltungsmöglichkeiten bot, verkompliziert einen Vergleich zusätzlich. Berücksichtigt man die Eigenschaft liberaler Intellektueller, vor allem anlass- und problembezogen auf die politische Praxis zu reflektieren, so wird die Komplexität deutlich, die Pluralität der Liberalismen national und international angemessen darzustellen sowie ihre Netzwerke und diskursiven Kontexte zu untersuchen. Daher ist es kaum verwunderlich, dass bisherige Studien sich entweder auf repräsentative Denker beschränken oder selektiv Ähnlichkeiten und Unterschiede benennen.[17]

Legt man einen weiteren Begriff des Liberalismus zugrunde, der verschiedene Strömungen liberalen Denkens berücksichtigt und die Parteinahme für die Weimarer Demokratie als liberale Positionsbestimmung eingemeindet, ergeben sich auch für die deutsche Diskurslandschaft neue Verbindungslinien, die uns helfen, die konstruktiven Aspekte der Debatte um die Demokratie wahrzunehmen. Die liberale Reflexion war umfassender, flexibler und problemsensibler als bisher bekannt; sie registrierte die Gefährdungen der Demokratie relativ früh und fand durchaus Anschluss an europäische Entwicklungen. Nicht umsonst blieben viele exilierte Liberale nach 1933 in den wichtigen politiktheoretischen Debatten einflussreich.

15Neue Perspektiven

Da es sich bei der Zeit nach 1918 historiographisch um die am besten und am detailliertesten erforschte Epoche der deutschen Geschichte handeln dürfte,[18] wäre es vermessen, mit einer ideengeschichtlichen Studie zum Liberalismus in der Zwischenkriegszeit neue Antworten auf die klassische Frage zu finden, warum Weimar und andere »Lebensversuche moderner Demokratien« (T. Müller) scheiterten.[19] Es kann auch nicht das Ziel sein, die Gewichte für die Verantwortung am Untergang der Republik neu zu verteilen. Lohnend erscheint es stattdessen, einen unbefangeneren Blick auf die intellektuellen Bemühungen um die Stabilisierung der Demokratie zu werfen und neuere Ansätze weiterzuverfolgen, die den Fluchtpunkt des Jahres 1933 nicht zum alles dominierenden Kriterium machen.

In der Geschichtswissenschaft hat sich in den vergangenen Jahren die Tendenz durchgesetzt, die Weimarer Republik nicht nur im Hinblick auf das Ende zu betrachten, sondern neben allen Belastungsfaktoren für die Demokratie auch ein Sensorium für die Potentiale und Chancen dieses Staates und seiner Gesellschaft zu entwickeln, also die Offenheit und die Kontingenz historischer Entwicklung stärker zu berücksichtigen.[20] Das Erkenntnisinter16esse hat sich dementsprechend von den Kausalerklärungen und vom Verstehen politischer und sozialer Entwicklungsverläufe auf die Analyse von Strukturbedingungen der Moderne verlagert. Die Zwischenkriegszeit und in ihr die Weimarer Republik werden dabei in ihrer Krisenhaftigkeit mehr und mehr als konstitutive Epoche einer pluralistischen, demokratischen und nicht zuletzt liberalen Welt, wie wir sie heute kennen, begriffen.

Eine ähnliche Tendenz lässt sich für die ideengeschichtliche und politikwissenschaftliche Forschung zur Zwischenkriegszeit diagnostizieren. Während es früher darum ging, die Verbreitung und Virulenz des antidemokratischen und antiliberalen Denkens kenntlich zu machen sowie die Chancenlosigkeit der verfassungstreuen republikanischen Minderheit unter den intellektuellen Eliten herauszustellen,[21] beginnt man sich in letzter Zeit stärker für die Substanz der politiktheoretischen Vorstellungen der Weimarer Debatte zu interessieren. Schon lange gilt die von dem Historiker Klaus Epstein 1963 geäußerte Befürchtung nicht mehr, dass für eine Abhandlung »über das demokratische Denken (und die demokratische Haltung) der Freunde der Weimarer Republik« womöglich »ein kleiner Aufsatz genügen würde«.[22] Auch Kurt Sontheimer hatte in seiner Pionierstudie zum antidemokratischen Denken, auf die sich Epstein bezog, noch resigniert konstatiert, dass »im geistigen Konzert der Republik […] die kräftig intonierten Zwischentöne [fehlten]« und es »nur einige wenige große Vertreter einer kämpferischen Mitte« gab.[23] Zwar hatte er in seiner Arbeit bereits auf die Schwierigkeit verwiesen, die Grenze zwischen antidemokratischer und republikanisch-konstruktiver Parlamentarismuskritik präzise zu bestimmen. Aber seine Dichotomie demokratisch/antidemokra17tisch wurde in den von Christoph Gusy und anderen angestoßenen Forschungen grundsätzlich beibehalten.[24]

Neuere Ansätze konzentrierten sich darauf, das Potential des demokratischen Denkens in seiner Vielfalt, zuvörderst im Blick auf die Staatsrechtslehre, neu zu entdecken und sich dabei auch vom engeren Demokratiebegriff des Kalten Krieges zu lösen. Schon Michael Stolleis hat in seiner Geschichte des öffentlichen Rechts auf den geistigen Rang der damaligen Auseinandersetzungen hingewiesen: »Nie wieder sind seither der politische Charakter des Staatsrechts, der Ausnahmezustand, der Prozeß staatlicher Integration, die Funktionsvoraussetzungen der Demokratie und der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft mit solcher intellektuellen Energie und sachlichen Leidenschaft diskutiert worden.« Stolleis konstatiert zu Recht, dass »noch die Staatslehre der Bundesrepublik […] jahrzehntelang von diesen Texten zehren und die eigenen Positionen in Zustimmung oder Widerspruch mit ihnen ausbilden [sollte]«.[25] Diese Wirkung ist eben auch der Offenheit einer Debatte zu verdanken, die in der Krise der Demokratie keine Denkverbote kannte und sich noch nicht auf einen Konsensbegriff der liberalen Demokratie zurückziehen konnte. Dies hat ebenfalls Christoph Möllers betont, der im Anschluss an Detlev Peukert dafür plädiert, die Weimarer Staatstheorie nicht auf das Scheitern der Republik zu reduzieren, sondern als »Laboratorium einer demokratisch-rechtsstaatlichen Demokratietheorie« zu verstehen, deren »brauchbare Beiträge« sich nicht auf – nach heutigem Maßstab – demokratische Autoren beschränkten.[26]

Trotz dieser Diversifizierung verschiedener Demokratiebegriffe jenseits der repräsentativen parlamentarischen Regierungsform ließ der Anschluss an Sontheimers Gegensatzpaar demokratisches versus antidemokratisches Denken die Frage nach dem Ort dieser Demokratievorstellungen innerhalb des liberalen Denkens erst einmal offen. Dabei erhärtet sich der Eindruck, dass das immer breiter werdende Forschungsfeld zur Geschichte der Demokratie 18sich weitgehend von einer Ideengeschichte des Liberalismus entkoppelt hat.[27] Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass die liberale Demokratie nur eine Option unter anderen war und sich viele Liberale selbst schwertaten, die moderne egalitäre »Massendemokratie« zu akzeptieren. Darüber hinaus scheint die Erforschung des Liberalismus und des liberalen Denkens, die auch immer mit der Bürgertumsforschung verbunden war, mit dem Abschied vom Sonderwegstheorem an Bedeutung eingebüßt zu haben. Sie wirkte spätestens nach den großen historischen Forschungsprojekten der 1990er Jahre gewissermaßen abgeschlossen.[28]

Die Ideen-, Gesellschafts- und Institutionengeschichte der Demokratie in ihren epochalen Wandlungsprozessen besitzt dagegen den Vorzug, dass ihr Gegenstand konkret als Genese eines politischen Legitimations- und Ordnungsmodells beschreibbar ist. Das Ringen um Stabilität und die Normalität einer demokratischen Kultur angesichts vielfältiger Belastungsproben prägte dieses »Zeitalter der Extreme«, dessen Geschichte sich im Wesentlichen als Überlebenskampf der Demokratie erzählen lässt.[29]

Diese Dichotomie von Demokratie und Diktatur bzw. die für 19manche Intellektuelle zwingend erscheinende Entscheidung zwischen sozialistisch-republikanischer und faschistischer Parteinahme etwa zu Zeiten des Spanischen Bürgerkrieges marginalisierte den Liberalismus in den 1930er Jahren. Die Behauptung des Historikers und Ex-Trotzkisten Enzo Traverso, dass sich in den 1930er Jahren »das politische Engagement der liberalen Intellektuellen […] nur noch innerhalb der antifaschistischen Bewegung entfalten« konnte, spiegelt in gewisser Weise eine gängige Auffassung über die Wirkungslosigkeit des Liberalismus in dieser Phase wider.[30] Doch auch wenn damit die Optionen des praktischen politischen Engagements in der schwersten Krise der liberalen Demokratie zutreffend beschrieben sein mögen, verkennt eine solche Sichtweise die Zuständigkeit der Intellektuellen für Reflexion und Kritik. Es drängt sich der Eindruck auf, als ob der »Verrat der Intellektuellen« – »La trahison des clercs« (J. Benda) –, d. h. ihre aktivistische politische Parteinahme gegen die liberale Vernunft und im Bewusstsein, an einer existentiellen Auseinandersetzung teilzuhaben, vor dem Hintergrund eines ideologischen Bürgerkrieges, der sich an nicht immer klaren Fronten zwischen Bolschewismus, Faschismus und Demokratie abspielte, weiterhin eine besondere Faszination auf die Ideen- und Intellektuellengeschichte ausübt.[31]

Es wäre aber unangemessen, aus dem situationsbedingten Tiefstand der politischen Wirksamkeit des Liberalismus auf seine politiktheoretische Irrelevanz bzw. auf die mangelnde Qualität seiner politischen Reflexion zu schließen. Resonanz allein ist kein Kriterium für die Originalität, die Vernünftigkeit oder Praktikabilität einer politischen Idee. Es ist relativ leicht, Belege dafür zu finden, dass wegweisende politiktheoretische Einsichten und Innovationen gerade in Zeiten des Übergangs, der Unsicherheit, Krise und Bedrohung zutage gefördert wurden, als politische Denker marginalisiert und zunächst einmal ohne Einfluss auf die praktische Politik waren. Das gilt für Machiavelli oder Hobbes ebenso wie für Tocqueville oder Marx. Darum darf auch mit Blick auf den Liberalismus an den Umstand erinnert werden, dass Krisenzeiten neue 20Kräfte für Reflexion freisetzen können, wenn sie auch zunächst ohne unmittelbare Wirkung bleiben. Fest steht: Selten haben Liberale intensiver über die Bestandsbedingungen und die Fragilität einer demokratischen Ordnung nachgedacht als in der Krise der Zwischenkriegszeit.

Liberales Denken als Reflexions- und Erfahrungsgeschichte

Ist die derzeitige Dominanz der Demokratiegeschichte also ein Beleg dafür, dass der Liberalismus inzwischen als »sekundäres Phänomen« hinter die Demokratie zurückgetreten ist?[32] Dies würde bedeuten, dass er eine vorher bestehende hegemoniale Stellung eingebüßt habe. Davon kann eigentlich keine Rede sein, wurde doch gerade für den politischen Liberalismus in Deutschland stets seine Schwäche ins Feld geführt. Zwar hatten Elemente bürgerlich-liberaler Lebensform durchaus den Rang gesellschaftlicher Leitwerte, und auch Errungenschaften wie der Rechtsstaat und sein Bürgerliches Gesetzbuch (1896/1900) ließen sich allgemein dem Liberalismus zurechnen. Daraus aber eine ideologische Hegemonie abzuleiten, wäre missverständlich, zumal eine solche Rechnung stets auf einem schiefen Vergleich beruht: Während die Demokratie als Idee der Volksherrschaft mit der konkreten Frage nach ihrer institutionellen Implementierung verbunden bleibt, verschränkt der liberale Gedanke einen Modus des Normativen mit bestimmten Forderungen formaler Art. Zwar ging er zunächst von der Sicherung der Freiheit für den Einzelnen aus, die prinzipiell gegen jede Art von Herrschaft, auch die demokratische, zu verteidigen ist, doch erschöpft er sich darin nicht.

Wolfgang Kersting hat den Liberalismus als »Reflexionsform der politischen Moderne« charakterisiert und damit verdeutlicht, dass die demokratische Organisation der Herrschaftsausübung ein wichtiger Aspekt neben anderen ist: Markt, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Gewährung des sozialen Friedens, deliberative Verständi21gung in einer offenen Gesellschaft – dies sind heute weitere Kernelemente des Liberalismus.[33] Kersting bietet freilich eine auf die Gegenwart des 21. Jahrhunderts gemünzte »Verteidigung des Liberalismus«, die diese Bestandteile gewissermaßen im ideengeschichtlichen Arsenal der liberalen Klassiker auffindet. Dass die politische Theorie sich aus dem Archiv der Ideengeschichte des Liberalismus bedient und auf alte Bestände zurückgreift, diese aktualisiert, neu kombiniert und für gegenwärtige Problemlagen nutzbar macht, ist legitim.[34] Diese Praxis darf allerdings nicht dazu verleiten, den Liberalismus als ein konstantes und in sich geschlossenes Ensemble von Ideen zu begreifen und seine Wandelbarkeit zu ignorieren. Die vielfältigen Rekonstruktionen eines idealen Liberalismus in der politischen Philosophie und Theorie, die genretypisch im Dialog mit den Klassikern den überzeitlichen Geltungscharakter liberaler Werte und Normen suggerieren, sind zweifellos selbst historisierbare Deutungsversuche, die selektiv auf das »Archiv« zugreifen.

Es bleibt der Befund, dass die Politikwissenschaft sich zwar seit Jahrzehnten in einer andauernden Hochkonjunktur liberaler Theorieproduktion befindet und auch die politische Philosophie mindestens seit John Rawls vom Paradigma des politischen Liberalismus dominiert wird. Man wird kaum gerechtigkeitstheoretische, vertragstheoretische, deliberative, republikanische oder kommunitaristische Konzepte der Demokratie finden, die sich außerhalb des Liberalismus situieren. Doch dies hat keineswegs dazu geführt, sich mit der Ideengeschichte des Liberalismus zu beschäftigen. Im Gegenteil: Es stellt sich der Verdacht ein, dass die weitläufigen liberalen Theoriearchitekturen und Theorierekonstruktionen zunehmend ahistorisch geworden sind und sich vom geschichtlichen Erfahrungshintergrund des Liberalismus abschotten. Die wichtigsten Ausläufer liberaler politischer Philosophie von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit über die Kommunitarismusdebatte bis hin zu 22den verschiedenen Modellen demokratischer Deliberation verzichten auf ideengeschichtliche Sondierungen.[35] Beiträge zu liberalen Standortbestimmungen befassen sich bis heute generell weitaus intensiver mit der Auslegung von Klassikern wie Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill, um eine Rekonstruktion der reinen Lehre anzustreben, als mit der Ideengeschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert.

Die Fixierung auf die großen Texte oder auf die Identifizierung von klassischen Denkern stößt an ihre Grenzen, je näher wir der Gegenwart kommen. Das »Gewebe politischer Diskurse« (Llanque) wird engmaschiger,[36] und es sind nicht unbedingt die herausragenden Einzeldenker, deren Klassizität bestimmte politische Ideen mitdefiniert oder deren große Werke die maßgeblichen Fragen klären. Vielleicht noch stärker als in früheren Epochen prägt die anlass- und problembezogene tagespolitische Reflexion die Produktion, Modifikation oder Revision politischer Ideen. »Die einzige Geschichte der Ideen, die geschrieben werden kann«, formulierte Quentin Skinner, »ist die Geschichte ihrer Verwendungen in bestimmten Argumentationen.«[37] In diesem Sinne wurden und werden auch die liberalen Ideen weiter verwendet und in neue Kontexte eingepasst. Politische Theorie lässt sich deshalb immer besser als Reparaturwerkstatt oder als Modus flexibler Antworten auf neue Herausforderungen begreifen; sie knüpft an Vorgefundenes an und verzichtet immer häufiger darauf, all ihre Grundannahmen explizit zu machen. Dies gilt insbesondere für ein liberales Denken, das pragmatisch und mit realistischen Zielsetzungen den demokratischen Verfassungsstaat zu verteidigen strebt.

Nun wäre es hybrid und vermessen, von politischen Theoretikern und Philosophen ständig ideenhistorische Sensibilität und Kontextualisierung einzufordern. Wenn man aber ernst nimmt, 23dass eine wesentliche Eigenschaft des Liberalismus darin besteht, die Erfahrung gesellschaftlichen und politischen Wandels zu verarbeiten, um sich neuen Wirklichkeiten anzupassen, dann verleitet eine auf reine Normativität verengte Perspektive dazu, Wesentliches zu übersehen, nämlich den ideenhistorischen Wandel liberaler politischer Theorie, bedingt durch den Zwang zur Neuorientierung, durch Lernerfahrungen und innere Reformbemühungen.

»Die Geschichte des Liberalismus« charakterisierte Karl Dietrich Bracher als »die Geschichte seiner Wandlungen und Anfechtungen«.[38] Sicherlich teilt der Liberalismus die Eigenschaft der Wandlungsfähigkeit mit seinen ideologischen Konkurrenten, dem Konservatismus und dem Sozialismus respektive der Sozialdemokratie. Der Konservatismus musste allerdings in einschneidender Weise sukzessive von seinen Leitbildern (Religion, Heimat, Tradition) oder von bestimmten politischen Ordnungsmodellen (Monarchie) Abschied nehmen und ist seit langem vornehmlich als reaktives und relationales Phänomen zu verstehen. Der Sozialismus ist als Ideologie weitgehend obsolet geworden, während die Sozialdemokratie oft in feindlicher Nähe, mindestens aber im engen wechselseitigen Austausch zum Liberalismus stand, was bereits in der Zwischenkriegszeit die Übergänge zwischen pragmatischen Sozialdemokraten und modernisierungsbereiten Sozialliberalen fließend machte. Gleichwohl zeichnet es den Liberalismus in besonderer Weise aus, dass ihm das Moment der Selbstverbesserung und Reformbereitschaft eingeschrieben ist. Der liberale Fortschrittsoptimismus hat von jeher Wandel zum Programm erhoben, und die liberale Idee kann nicht nur über ihre Grundierung in bestimmten Freiheitswerten begriffen werden, sondern auch in ihrer Voraussetzung produktiven Wettbewerbs unterschiedlicher Auffassungen. Der Liberalismus gründete traditionell – deshalb haben ihn seine Gegner vehement bekämpft – im Rationalismus, in einem positivistischen Wissenschaftsverständnis, das Kritik und Prüfung des Bestehenden notwendig vorsah, und in einem mehr oder minder maßvollen Werterelativismus, der letzte Wahrheitsansprüche zugunsten einer Ausbalancierung konkurrierender Freiheitsansprüche suspendierte.

24Die häufig ins Feld geführte Anpassungsfähigkeit des Liberalismus, seine Einbeziehung neuer Ideen, konnte an Grenzen stoßen und innere Zerreißproben verursachen. Die »Krisenanfälligkeit des liberalen Verfassungsstaates« beruhte, wie der Historiker Theodor Schieder beobachtete, vor allem »auf mangelnder Anpassung an die massendemokratische Wirklichkeit, einem Mangel allerdings, in dem zugleich ein gutes Stück der geschichtlichen Größe des Liberalismus besteht«.[39] Die für den Liberalismus lange konstitutive Skepsis gegenüber der Massendemokratie und ihren Gefahren einerseits sowie andererseits die geistige Vorbereitung demokratischer Emanzipation und die frühe sozialliberale Bestrebung, Bildung, Wohlfahrt und Lebenschancen in weiten Teilen der Gesellschaft zu verankern, ergab eine Konstellation, die fortwährende Bemühungen um Balance verlangte. Die Rolle eines kritischen Korrektivs für die Demokratie auszufüllen, also in einem Spannungsverhältnis zu ihr zu verharren, machte für Schieder zu einem Teil die »geschichtliche Größe« des Liberalismus aus.

Mit Tony Judt kann man im Rückblick auf das 20. Jahrhundert konstatieren, dass die Demokratie nie Ausgangspunkt war, sondern fast immer zuletzt kam, also auf der vorherigen Verankerung liberaler Ideen aufbaute. Oder anders ausgedrückt: Nur als liberale Demokratie hatte sie bislang Chancen auf Stabilisierung und Dauerhaftigkeit. Zu entscheidenden Kriterien ihres Gelingens werden ihre rechtsstaatliche Verfassung und ihre Garantie liberaler Freiheitsrechte.[40] Kurt Sontheimer hat dies bereits gesehen und folgerichtig ein Demokratieverständnis positiviert, das an den Normen der Weimarer Reichsverfassung und des Grundgesetzes orientiert bleibt: »Zur Idee der Demokratie gehört wesensmäßig die Idee der Freiheit. Demokratie ist nur als Freiheit und Gleichheit [sic]. Eine Demokratie ohne Gewaltenteilung, ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne individuelle Freiheitsrechte, ohne die politischen Grundpfeiler des Liberalismus also, ist keine wahre Demokratie, ganz gleich, wie man den Volkswillen interpretieren mag. Die Demokratie ist weder nur ein technisches Verfahrensprinzip politischer Willens25bildung noch ein Blankoscheck für den vermeintlichen Willen des Volkes. Sie ist eine werterfüllte politische Ordnung mit dem Ziel, einen Zustand geordneter Freiheit für das politische Gemeinwesen zu sichern.«[41]

Insbesondere im Hinblick auf das Bemühen um eine Verbindung zwischen wertegeleiteter Ordnung, demokratischer Funktionalität und Legitimation lässt sich die Epoche der Weltkriege als eine Transformationskrise des Liberalismus beschreiben, die mittlerweile vermutlich als »wichtigste Zeitspanne in der Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert« zu verstehen ist.[42] In Ergänzung zu einer formativen Phase der modernen politischen Begrifflichkeit, wie sie Reinhart Koselleck in der sogenannten Sattelzeit von 1750-1850 entworfen hat, lassen sich die Krisenzeiten der 1920/30er Jahre für den Liberalismus möglicherweise als eine zweite Sattelzeit begreifen, in der sich die Bedeutungsgehalte liberalen Denkens noch einmal entscheidend verschieben und sich im Koselleckschen Sinne »die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt«.[43] Dies gilt, wie bereits angemerkt, in jedem Fall für eine hart umkämpfte, aber letztlich nachhaltige »Demokratisierung des Liberalismus« (Th. Schieder),[44] denn das allgemeine Wahlrecht und die Akzeptanz der Massendemokratie standen am Ausgang der Krise nicht mehr grundsätzlich zur Disposition; fortan sollte sich der Liberalismus für die entschiedene Verteidigung der Demokratie einsetzen. Während sich das Verhältnis zur Demokratie festigte, lockerte sich das liberale Dogma eines Kapitalismus, der von staatlichen Einflüssen weitgehend freizuhalten war; die Überzeugung von der Gestaltbarkeit der wirtschaftlichen Ordnung, der Wohlfahrtsstaat und die staatliche Verantwortung für Prosperität bzw. den Ausgleich von Konjunkturkrisen gingen in diesen nach 1945 wirksamen Konsensliberalismus ein.[45]

26Liberalismus: Versuch einer Gegenstandsbestimmung

Umstritten bleibt freilich, welcher Begriff von Liberalismus verwendet wird und was dieser bezeichnen soll. Die Historiographie nahm klassischerweise vor allem die Parteien des politischen Liberalismus und die mit ihnen verbundenen Vordenker in den Blick, untersuchte ihre Programmatik und ihre Bindung an die bürgerlichen Milieus. Eine solche politikgeschichtliche Engführung ist zwar plausibel und hat durchaus ihre Berechtigung, aber es ist zweifelhaft, ob sich in dieser Weise der Liberalismus als Idee begreifen lässt. Die Schwierigkeiten beginnen damit, überhaupt erst einmal zu benennen, wer oder was zum Liberalismus zählen soll. Wenn man etwa all diejenigen einbezieht, die sich selbst dem liberalen Lager zurechneten oder von ihren Gegnern als Liberale bekämpft wurden, so ergibt dies noch nicht unbedingt ein aussagekräftiges Bild. Die expliziten Bekenntnisse zum Liberalismus nach 1918 waren auch deshalb rar gesät, weil er vor allem als Feindbegriff unter Beschuss stand; sogar diejenigen Parteien, die sich in einer liberalen Tradition sahen, wichen einer Auseinandersetzung mit dem Begriff aus und vermieden es, ihn prononciert in Anspruch zu nehmen. Diese Zurückhaltung hatte offenkundig ihren Grund darin, dass das zeitgenössische Verständnis und der daraus hervorgehende pejorative Gebrauch des Begriffs vor allem mit dem Kapitalismus, überlebten bürgerlichen Lebensformen und – in zunehmender Weise – mit dem krisenbehafteten Parlamentarismus verbunden wurden. Solche Lesarten reproduzierten Zerrbilder vom Manchesterliberalismus oder vom Parlament als wirklichkeitsfremdem Debattierklub bürgerlicher Honoratioren.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich liberale Ideen nicht so leicht auf bestimmte Parteien, geistige Strömungen oder intellektuelle Netzwerke beschränken lassen. Charakteristisch für den Liberalismus schien weiterhin die Universalisierbarkeit seiner Ideen, welche zum Teil auch von den politischen Konkurrenten angenommen werden konnten und in alle möglichen Bereiche diffundierten. Diese Eigentümlichkeit erwies sich je nach politischer 27Lage als Stärke oder Schwäche – so haben es zeitgenössische Betrachter bereits wahrgenommen, wenn sie darauf beharrten, dass die Liberalen eben nicht nur als Partei von Interessen, sondern gewissermaßen als Anwälte von Freiheit und Vernunft eine wichtige Funktion erfüllten.

Eine ideengeschichtliche Untersuchung zum Liberalismus in der Zwischenkriegszeit muss auswählen, Entscheidungen treffen und ihr Erkenntnisinteresse explizieren. Ansonsten läuft sie Gefahr, sich zu verlieren und zu viele Fäden in der Hand zu halten, denn der Liberalismus war stets eine unübersichtliche »Familie von Ideen und Verhaltensmustern« (Sheehan).[46] Der Anspruch kann nicht darin liegen, eine allen Verästelungen nachspürende Überblicksdarstellung liberalen Denkens in der Zwischenkriegszeit zu liefern. Jede Analyse von Grundlinien liberalen Denkens, die das ganze Spektrum derjenigen Strömungen abdecken, also den Liberalismus insgesamt umfassen wollte, würde schließlich in einer Bestandsaufnahme weitgehender Varianz enden. Legte eine solche Darstellung Wert auf Repräsentativität und Relevanz, wäre hingegen wenig Überraschendes zu erwarten. Stattdessen möchte ich liberale Diskurse identifizieren, die nicht nur den Krisencharakter der Epoche widerspiegeln, sondern zudem Antworten auf akute Herausforderungen suchen. Dabei spielt es eine nachgeordnete Rolle, ob die von liberalen Theoretikern vertretenen Positionen sich ausreichend Gehör verschaffen konnten – das gelang ihnen nachgewiesenermaßen nicht. Wichtiger erscheint mir, auf welche Weise sie neue Entwicklungen und Gefahren wahrnehmen, bisweilen sogar antizipieren, und welche Rezepte sie vorschlagen, um die Republik als liberale Ordnung zu stabilisieren. Anstatt also den liberalen Denkern Weimars ihr Scheitern anzulasten und ihre vermeintlichen Irrtümer aufzulisten, halte ich es mit Arnold Brecht für nützlicher, sich damit auseinanderzusetzen, was dazu beigetragen hat, »daß die demokratische Republik trotz des Widerspruchs zwischen den Spielregeln und den tatsächlichen Machtverhältnissen so lange funktionieren konnte«. Gegen die verbreitete Unart, 28»der prodemokratischen Minderheit Vorwürfe zu machen, daß sie keine Mehrheit war«,[47] sollen die intensiven Bemühungen liberaler Demokraten um die Festigung der Republik untersucht werden.

Wenn Peter Gay die Weimarer Republik als »eine Idee auf der Suche nach ihrer Verwirklichung« bezeichnet, so hat er damit zugleich die prekäre Situation des deutschen Liberalismus zutreffend beschrieben.[48] Denn eigentlich mussten seine Akteure nicht unbedingt »neue Ideen und Strategien […] erfinden«, wie Lothar Albertin bemerkte, sondern nur »die vorhandenen […] berücksichtigen«.[49] Diese Einsicht ist alles andere als trivial, beschreibt sie doch ein liberales Dilemma, das bis heute andauert. Noch nach den Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa nahm Ralf Dahrendorf die Vordenker und intellektuellen Beweger des Umbruchs gegen den abschätzigen Befund von Jürgen Habermas in Schutz, es handle sich allenfalls um eine nachholende Revolution, die keine neuen Ideen hervorgebracht habe. Der Originalitätsgehalt von politischen Ideen war für Dahrendorf nebensächlich – die »Bekräftigung alter Ideen« schien ihm verdienstvoll genug, wenn sie denn Freiheit und Demokratie dienten.[50] Es wäre also verfehlt, sich darauf zu kaprizieren, stets nach dem Originalitätsgehalt von politischen Ideen zu fahnden, um dann Innovation zu prämieren. Wichtiger erscheint mir der Rückgriff auf die bereits verfügbare Substanz liberaldemokratischen Ideenguts, ihre Aneignung mit neuen Schwerpunktsetzungen und die Übertragung der Ideen auf die Realität von Industriemoderne und Massendemokratie. Vermutlich ist der Common-Sense-Liberale eher ein virtuoser Eklektiker als ein systematischer Theoretiker. Diese Eigenschaft schränkt die Handbuchwürdigkeit und die Klassikertauglichkeit wichtiger 29liberaler Denker ein, wie insbesondere ein Blick auf die typischen Cold War Liberals wie Raymond Aron, Isaiah Berlin, Karl Popper oder sogar Ralf Dahrendorf belegt: Ideologieskepsis, Kritik und das Sensorium für die Bedrohung freier, offener Gesellschaften waren bei ihnen weit ausgeprägter als die Ambition, positive Grundsätze einer systematischen politischen Theorie zu entwerfen.[51] Diese Präferenz hat sich im Liberalismus langsam ausgeformt, nämlich erst als die liberale Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg Verfassungsrang erlangte. Es ist deswegen zu vermuten, dass wir am meisten über den Liberalismus lernen, wenn wir ihn als Modus eines konstellationsabhängigen Denkens betrachten, der in unterschiedlichen Lagen versucht, seine Grundprinzipien zur Geltung zu bringen bzw. zu verteidigen.

Es könnte das Verständnis der Lage des Liberalismus in der Weimarer Republik – und in der Zwischenkriegszeit generell – vertiefen, einen neuen Blick auf diejenigen zu werfen, die mit Common Sense und Pragmatismus die neue Ordnung zu verteidigen suchten. Diese liberalen Demokraten und »Vernunftrepublikaner« konnten sich noch nicht auf eine Rechtfertigung des Status quo zurückziehen, weil die Tradition eines demokratischen (Liberal-)Konservatismus erst zu etablieren war. Gleichwohl gab es Milieus, in denen sich ein moderner, aufgeklärter und demokratischer Liberalismus artikulierte: in der Frankfurter Zeitung, im Berliner S. Fischer Verlag und seiner Monatsschrift Die Neue Rundschau, in der Vossischen Zeitung und im Berliner Tageblatt, in der Deutschen Hochschule für Politik oder etwa im Weimarer Kreis verfassungstreuer Hochschullehrer – um nur einige intellektuelle Zirkel zu nennen, deren geistiges und praktisches Engagement im Zusammenhang gesehen werden sollte.[52] Zwar hat sich 30das Interesse in den letzten Jahren verstärkt den republikanischen Denkern zugewandt, und es entstanden (abgesehen von den umfassenden Studien zur demokratischen Staatsrechtslehre) wichtige Einzelstudien zu Arnold Brecht, Ernst Fraenkel, Karl Loewenstein, Sigmund Neumann, Helmuth Plessner, Arthur Rosenberg, Alfred Weber u. a.[53] Dabei konnte jedoch der Eindruck entstehen, dass es sich um Solitäre handelte, deren politische Anschauungen sich nur schwer in Debattenkontexte einfügen ließen. Auch die vorliegende Arbeit kann keine umfassende Rekonstruktion der zeitweise zweifellos bedeutenden liberaldemokratischen Netzwerke liefern. Stattdessen unternimmt sie den Versuch, einige wesentliche Motive und Denkfiguren des liberalen Diskurses zu identifizieren.

Als ein herausragender Repräsentant dieser prorepublikanischen Denkhaltung kann der Nationalökonom Moritz Julius Bonn gelten. Beim vorliegenden Versuch, die Spezifika des Weimarer Liberalismus positiv zu konturieren, nimmt er neben vielen anderen in diesem Buch behandelten politischen Denkern eine exemplarische Rolle ein.[54] Bonn war in allen der oben genannten Netzwerke aktiv: Er war Mitgründer der DDP, er engagierte sich in der »Deutschen Hochschule für Politik«, er gehörte zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufes für einen »Bund verfassungstreuer Hochschullehrer«. Vor allem aber war er ein profilierter liberaler Publizist mit besten Kontakten ins politische Berlin; er fungierte als Berater von Reichsregierungen und Ministerien, als Mitglied von diplo31matischen Delegationen – darüber hinaus besaß er als Ökonom und politischer Intellektueller hohe internationale Reputation. Es wäre ein Thema für sich, die vielfältigen Kontakte, Kooperationen und Initiativen dieses Liberalen umfassend zu rekonstruieren. Als progressiver liberaler Demokrat war er nicht nur in der politischen Praxis ein Verteidiger der Weimarer Republik, sondern bemühte sich, ihre ideellen Grundlagen und ihr politisches System auch theoretisch zu begründen. In den Handbüchern politischen Denkens sucht man seinen Namen vergeblich – vermutlich weil sich mit ihm kein Originalitätspatent verbinden lässt. Er gehörte eher zu den »secondhand dealers in ideas« (F. A. Hayek), denen es in erster Linie um die Anwendbarkeit und Angemessenheit politischer Ideen ging.[55] Bonn wollte liberale Politik in der politischen Praxis stärken, indem er die wesentlichen Argumente für die parlamentarische Demokratie, für die liberale Bürgergesellschaft und für einen »demokratischen Kapitalismus« in die öffentliche Debatte einbrachte. Seine kosmopolitische Ausrichtung, die Vertrautheit mit der angelsächsischen Tradition sowie sein politisches und gesellschaftliches Modernisierungsstreben machten ihn zu einem beinahe idealtypischen »Westler«.

Bonn kannte die Schwächen und Schwierigkeiten des deutschen Liberalismus, sah aber offensichtlich genug Chancen dafür, dass die Weimarer Republik sich als Teil des demokratischen Westens etablieren könne. Als Schüler des sozialliberalen Lujo Brentano, als Promotor von John Maynard Keynes’ Rezeption in Deutschland, als Grenzgänger zwischen Wissenschaft, Politik, Diplomatie und Publizistik, als Direktor der Münchener und später der Berliner Handelshochschule verkörperte er das Integrationspotential, das der demokratische Liberalismus in der Hochzeit der Weimarer Republik besaß. Dass seine maßgeblichen politischen zeitdiagnostischen Schriften zur Demokratie nicht nur von Staatsrechtlern wie Hans Kelsen, Hermann Heller oder Richard Thoma zur Kenntnis genommen, sondern auch von einer breiten, politisch interessierten Öf32fentlichkeit gelesen wurden, unterstreicht seinen Rang als öffentlicher Intellektueller, der liberale Ideen zu popularisieren wusste.

Zugleich führt das Beispiel von Moritz Julius Bonn vor Augen, wie offen sich die Diskurslandschaft in Weimar präsentiert: Es gab auf intellektueller Ebene kaum klare Fronten, sondern fließende Übergänge in viele Richtungen. Bonns enge Verbindungen zu Carl Schmitt, den er als Mentor förderte und als Kollegen und Diskussionspartner schätzte, oder zu Hjalmar Schacht waren nur ein Beleg für den zunächst einmal undramatischen Pluralismus politischer Positionen, die zumindest bis zur Staatskrise 1930/32 vor einem weitgehend geteilten Erwartungshorizont der liberalen Demokratie koexistierten. Sicherlich lassen sich in die Debatten um die Demokratie stets ihre Gefährdung und ihre Fragilität hineinlesen; allerdings sollte man diesen Krisendiskurs nicht apriorisch überbetonen, denn die Zeitgenossen stritten zukunftsoffen und mit dem Selbstverständnis, dass das Experiment der Demokratie ständige Kritik erforderte. Die vielbeschworene Offenheit der Weimarer Verfassung betonte den Entwicklungsaspekt und die Möglichkeit der Reform; diese Konstitution kannte keine Ewigkeitsklauseln, und ihre Geltungsdauer war zu kurz, um einen Verfassungspatriotismus zu generieren.

Drei Gründe lassen sich nennen, warum der Blick auf Moritz Julius Bonn unser Verständnis des Liberalismus in Weimar und in der Zwischenkriegszeit vertiefen kann: Erstens war er kein Solitär, sondern repräsentierte einen urbanen und modernitätsaufgeschlossenen Liberalismus, der einem nüchternen, aber zugleich sozioökonomisch gestaltenden Politikverständnis Geltung verschaffen wollte und dieses gegen die ideologischen Unbedingtheitsansprüche von rechts und links zu verteidigen bestrebt war. Zweitens setzte sich Bonn deutlich von einem auf den Nationalstaat und seine Machtinteressen fixierten Liberalismus ab, wie ihn Friedrich Naumann und Max Weber verfochten hatten. Seine Präsenz in der »liberalen Internationale«, sein Einsatz für den Völkerbund und sein Eintreten für europäische Kooperation entsprachen einem Kosmopolitismus, der die Dynamik von Globalisierungs- und Emanzipationsprozessen als Chance verstand. Drittens trägt die Erinnerung an Intellektuelle wie Bonn dazu bei, sich die folgenreiche Vertreibung liberalen Geistes, häufig (wie in seinem Fall) deutsch-jüdischer Provenienz, nach 1933 zu vergegenwärtigen. Folgenreich nicht 33nur im Sinne eines dauerhaften Verlusts und einer verloschenen Welt, sondern auch im Sinne einer Ideenwanderung und bedeutender Transfers von der Epoche der Zwischenkriegszeit in diejenige des Kalten Krieges nach 1945. An liberalen Emigranten wie Bonn lässt sich zeigen, dass wesentliche innerliberale Positionsklärungen über Faschismus und Totalitarismus, die Reform und Verteidigung der parlamentarischen Demokratie oder die politische Rahmung des Kapitalismus im Exil weitergeführt wurden. Daraus lässt sich zwar kein »Weimar Century« (Udi Greenberg) ableiten, aber es lassen sich doch manche Belege für das produktive Nachwirken bestimmter liberaler Denkmotive gewinnen, die sich in dieser Zeit ausformten. Insofern geht der Liberalismus der Weimarer Epoche über Weimar hinaus, nimmt eigene Wege im Exil und kehrt in mancherlei Facetten nach 1945 wieder in die deutschen und westeuropäischen liberalen Diskurse zurück.

Anliegen, Fragestellung, Probleme

Das zentrale Anliegen der vorliegenden Studie ist theoriegeschichtlich. Zwar soll nicht einseitig vorausgesetzt werden, dass die politische Theorie der liberalen Demokratie als eine Geschichte ungebrochenen Fortschritts zu vergegenwärtigen ist. Aber die Evolution hin zur repräsentativen Demokratie liberalen Zuschnitts lässt sich vor dem Hintergrund ihrer späteren Bewährung, ihrer Integrationskraft und ihrer Stabilität als eine konstitutive Errungenschaft der westlichen Moderne begreifen. Die Krisenjahre der Zwischenkriegszeit waren in dieser Hinsicht eine wegweisende Etappe. Wie kontingent und wie wenig selbstverständlich die Konzeptualisierung und die Realisierung der liberalen Demokratie waren, führen die Debatten der 1920/30er Jahre vor Augen. Gegen sie schien vor allem ihre Komplexität, ihr Rechnen auf die Kompromissbereitschaft der Beteiligten und die dafür notwendige Toleranz bzw. Akzeptanz von allseits respektierten Regeln zu sprechen.

Mit resignativer Note hob der spanische Philosoph José Ortega y Gasset die ambitionierte zivilisatorische Ambition des Liberalismus hervor: »Die politische Form, die den höchsten Willen zur Gemeinschaft verkörpert hat, ist die liberale Demokratie. Sie zeigt die Bereitschaft zur Anerkennung des Mitmenschen in vollster Entfaltung und ist das Urbild der indirekten Aktion. Der Liberalismus ist das 34politische Rechtsprinzip, nach welchem die öffentliche Gewalt, obgleich sie allmächtig ist, sich begrenzt und, sei es auch auf ihre eigenen Kosten, in dem Staat, den sie beherrscht, eine Stelle für jene frei läßt, die anders denken und fühlen als sie, das heißt als die Starken, als die Majorität.« Ortega y Gasset setzte Ende der 1920er Jahre nur wenig Hoffnung auf den Bestand der liberalen Demokratie, denn ihre Praxis gestaltete sich zu »schwierig und verwickelt, als daß sie auf dieser Erde Wurzeln schlagen könnte«.[56] Durch den Befund der praktischen Untauglichkeit, welche die liberale Demokratie trotz aller prinzipiellen Wünschbarkeit zum Scheitern verurteilte, sahen sich progressive Liberale mit einer nahezu unlösbaren Aufgabe konfrontiert. Weitaus schwieriger als eine überzeugende Theorie der liberalen Demokratie (auf die man sich immerhin in der Weimarer Reichsverfassung geeinigt hatte) gestaltete sich der Nachweis, dass diese in der Wirklichkeit einer vielfach segmentierten und zerklüfteten Gesellschaft überhaupt funktionsfähig sein könne.

Edmund Fawcett beschreibt den langwierigen historischen Prozess, der zur liberalen Demokratie geführt hat, im Rückblick als einen »grand bargain« und weist mit vollem Recht auf die Fragilität dieses Arrangements hin: »Liberale akzeptierten das Prinzip der Volkssouveränität. Im Gegenzug akzeptierten demokratische Kräfte liberale Verfahrensregeln, den Schutz des Eigentums und den Respekt vor persönlicher Entscheidung. Der Kompromiss ergab sich nicht reibungslos oder von selbst, sondern er kam widerwillig und hart umkämpft zustande. Keinesfalls war er historisch determiniert oder gedanklich zwingend.«[57] Die harte Auseinandersetzung um die liberale Demokratie steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit; sie legt den Schwerpunkt auf jene Theoretiker und Intellektuelle, denen an einer Erneuerung des Liberalismus gelegen war und die zugleich die Weimarer Demokratie stärken bzw. stabilisieren wollten. Die liberale Demokratie zu stützen, das bedeutete vor und auch nach der Krise der europäischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit ein Eintreten für den Parlamentarismus, das repräsentative System, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Menschen- und Bürgerrechte. Zieht man dies in Betracht, so öffnet sich einerseits 35das politische Feld hin zur reformistischen Sozialdemokratie. Andererseits ergeben sich gute Gründe, die Vertreter eines ökonomisch verengten Liberalismus kritischer zu sehen. Wir kommen also nicht umhin, die politische Theorie des Liberalismus im Hinblick auf die Weimarer Verfassungsnormen zu beurteilen. Allerdings ging es in den Debatten um die liberale Demokratie nicht allein um Werte und Überzeugungen, sondern auch um akute Bedrohungen und um praktische Argumente für die bestehende politische Ordnung. Ein umfassender systematischer Anspruch oder das Ziel, eine verbindliche politische Theorie des Liberalismus vorzulegen, waren in der Weimarer Debatte nicht zu erkennen, zumal das Spektrum der Positionen vom demokratieskeptischen Nationalliberalismus über einen entschiedenen Wirtschaftsliberalismus bis hin zu demokratisch-sozialliberalen Auffassungen kaum integrierbar erschien. Die Auseinandersetzung um die liberale Demokratie wurde deshalb auch innerhalb des liberalen Lagers kontrovers geführt.[58]

Eine Unterscheidung, die implizit die heutige Wertschätzung einer liberalen, parlamentarischen und repräsentativen Demokratie mitführt, läuft Gefahr, allzu rasch über die Vagheit und Unbestimmtheit des zeitgenössischen Demokratiebegriffs hinwegzusehen.[59] Nicht zuletzt unterlag die Demokratiesemantik in den wenigen Jahren der Weimarer Republik heftigen konjunkturellen Schwankungen: Unmittelbar nach der Kriegsniederlage, im Zuge der Verfassungsgebung, stand die Demokratie – zumindest in der politischen Rhetorik – bis ins Lager der Konservativen hoch im Kurs; späterhin, in den Krisen der Republik, geriet der Demokratiebegriff wieder in Misskredit und drohte im Strudel des virulenten Antiliberalismus zu versinken. Zweifellos ist es viel einfacher, die Gegner der liberalen Demokratie zu identifizieren als die Fürsprecher. Auch lässt sich demokratisches Denken viel besser markieren, wenn es sich in der Opposition befindet; dies unterstreichen die Befunde von Marcus Llanque eindrucksvoll.[60] Es ist deshalb wichtig, daran zu erinnern, dass progressive Liberale wenige Jahre vor der allenthalben beschwo36renen Krise des parlamentarischen Systems die Parlamentarisierung als Ziel ausgelobt hatten. Sie wurde von Max Weber, Hugo Preuß und anderen als Vehikel einer Demokratisierung der Politik im Obrigkeitsstaat des Kaiserreiches verstanden. Zwar war das Verhältnis zwischen Demokratisierung und Parlamentarisierung im Kaiserreich spannungsvoll und in mancherlei Hinsicht dysfunktional, weil die liberalen Konzeptionen eher auf die demokratische Auslese und Verantwortlichkeit von politischen Eliten ausgerichtet waren und die Eigendynamik demokratischer Prozesse unterschätzten. Aber bei schwindendem Vertrauen in den Monarchen und angesichts einer De-facto-Diktatur der Obersten Heeresleitung hatte der Konnex von Demokratisierung und Parlamentarisierung in weiten Kreisen die geeignete Reformperspektive geboten.

Diese Zuversicht wurde alsbald nicht nur durch die sich formierenden antiliberalen Republikfeinde erschüttert. Zweifel und Desillusionierung erfassten viele, die sich vorher als Liberale verstanden. Hinzu kam, dass das liberale Selbstverständnis nicht lediglich das politische System und die Haltung zur Verfassung betraf, sondern ebenso die Fragen nach den Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung, nach kultureller Identität und nach dem Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft berührte. Auch hier gab es keine Kohärenz und keinen liberalen Konsens. Die Vorstellung, dass eine politische Ordnung Pluralität nicht nur gewährleisten, sondern organisieren und schützen sollte, war angesichts der grassierenden nationalen Homogenitätsvorstellungen weit davon entfernt, liberales Gemeingut zu sein. Im Blick auf die innerliberalen Konflikte lässt sich eine ganze Reihe von umkämpften Themen anführen, die auf einen im Wandel befindlichen liberalen Politikbegriff aufmerksam machen.

Im Kern ging es um die Gestaltungskraft der Politik, um die Rolle eines tätigen Staates, der von nun an nicht nur wachsende Partizipationsbedürfnisse seiner Bürger zu befriedigen hatte, sondern an den zugleich höhere Ansprüche als je zuvor gerichtet wurden. Krisen ergaben sich nicht nur aus Faktoren objektiver sozialer und politischer Problemverschärfung, wie wir sie zweifellos in den ökonomischen, sozialpolitischen und außenpolitischen Herausforderungen der Weimarer Republik beobachten können. Sie wurden zugleich mit einem Gefühl der Überforderung verbunden, das sich im Fall des deutschen Liberalismus an zwei Elementen besonders 37herausstellen lässt. Zum einen hatten progressive demokratische Liberale einen Rollenwechsel zu absolvieren, der sie aus der lange eingeübten Position der oppositionellen Kritik in die politische Verantwortung katapultierte.

Damit ging zum anderen eine Neujustierung des Verhältnisses zum Staat einher: Zwar hatte sich in den Debatten seit der Jahrhundertwende bereits die Staatsauffassung des Liberalismus vorsichtig gewandelt. Die Transformation des sozial- und wirtschaftspolitisch zurückhaltenden bürgerlichen Rechtsstaats hin zum intervenierenden und planenden Staat vollzog sich jedoch im Ersten Weltkrieg auf irreversible Weise, ohne dass ein neues politisches Ordnungsprinzip schon sichtbar wurde.[61] Deutlich wurde auch, dass es für den Liberalismus kein Zurück zum Laissez-faire-Gedanken eines Nachtwächterstaates geben konnte. Liberale kamen nicht umhin anzuerkennen, dass der »welfare state« aus dem bereits erstarkten und keineswegs nachtwächterhaften »warfare state« entstanden war. Sie konnten sich nicht auf ein steril-idealisiertes humanitäres liberales Ideal zurückziehen; auch Nationalismus und Imperialismus gehörten in den Verantwortungsbereich liberalen Denkens.[62]

Die intellektuellen Akteure in den liberalen Selbstverständigungs- und Bewährungsversuchen waren sich der Ambivalenzen der eigenen Positionen häufig nur allzu bewusst. Mit dem Erwartungsüberschuss der Bürger, dass mit der Demokratie alles besser würde, verband sich die Hoffnung auf Entlastung von praktischer Politik, die wiederum kaum mit dem Ideal bürgerlicher Selbstregierung zu vereinbaren war. Das demokratische Prinzip konnte nach Einschränkungen verlangen, sobald die Rechte der unterlegenen Minderheit in Gefahr waren. Verschiedene Modi parlamentarischer oder plebiszitärer Legitimation konnten im Widerstreit miteinander liegen, und mehrere Varianten, die eine gemischte Verfassung zur Handhabung der Regierungsgeschäfte bereitstellten, boten Möglichkeiten zur Aushebelung der demokratischen Ordnung. Für die Aufgaben des Sozialstaates gab es noch kein Maß und Vorbild – und sie gerieten ohnehin unter den Druck der kon38junkturellen Verhältnisse und in Konflikt mit den Prinzipien einer auf Privateigentum basierenden Marktwirtschaft.

Aufbau der Arbeit

Die folgende Untersuchung behandelt vier zentrale Aspekte, um die Konturen der liberalen Krisen- und Reformdebatten zu verdeutlichen: 1. die Entwürfe zu einer liberalen Demokratie aus der Kritik am politischen System des Kaiserreiches, 2. die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und die damit einhergehende Rückbesinnung auf die parlamentarische Demokratie, 3. die Reflexion der Fragilität der Demokratie und das Ringen um Konzepte zu ihrer Stabilisierung, 4. das Bemühen um die Balancierung von Demokratie und Kapitalismus.

Wegweisende Versuche liberaler Neuorientierung waren bereits im Kaiserreich unternommen worden, als sich insbesondere während des »Großen Krieges« die Debatte um Parlamentarisierung und Demokratisierung dynamisierte und um die Möglichkeiten der liberalen Demokratie in Deutschland gestritten wurde. So schien es, als ob das liberale Denken im Vorfeld der Republikgründung und der Verfassungsgebung von 1919 ideenpolitisch eine führende Rolle eingenommen hatte. Die staatsrechtliche, soziologische und historische Vorratsreflexion, die immer schon auf Defizite der politischen Ordnung innerhalb der konstitutionellen Monarchie abgestellt hatte, ging in die Konzeptionen der Liberalen ebenso ein wie der kritische Vergleich mit den westlichen Demokratien. Bereits die Ausgangslage des Liberalismus war ambivalent: Zum einen standen Liberale unter dem Eindruck, dass die Moderne vom Paradigma eines quasi-deterministischen, unaufhaltsamen Demokratisierungsprozesses beherrscht werde – und diese Entwicklungen schienen auch den eigenen politischen Zielen Auftrieb zu verleihen. Zum anderen wiederum blieben viele Liberale skeptisch hinsichtlich der Auswirkungen einer in Entstehung begriffenen »Massendemokratie«, die die Umsetzung liberaler Politik zu erschweren drohte. Um die Freiheitsräume und politischen Partizipationsmöglichkeiten des Einzelnen innerhalb einer nunmehr auf Gleichheit und soziale Gerechtigkeit verpflichteten Ordnung neu zu konzeptualisieren, mussten Liberale ihre Vorstellung von Bürgerlichkeit überdenken. (Kapitel 1)

39Die frühe und intensive Auseinandersetzung mit dem Faschismus verschärfte schließlich die Prüfung eigener Ideenbestände und leitete eine erste Renormativierungsphase ein: die Rückbesinnung auf das Kernanliegen liberaler Freiheitsüberzeugungen, die mit einer Dekonstruktion neuer antiliberaler Gemeinschaftssemantiken einherging. In der Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus spielte die Kritik an hierarchisch-ständischen und autoritär-korporativistischen Politikmodellen eine beträchtliche Rolle. Denn diese hatten sich in der deutschen Debatte ebenso schnell festgesetzt wie die Hoffnungen auf die krisenüberwindende Kraft diktatorischer Führung. (Kapitel 2)

Die gesamteuropäisch diagnostizierte Wert- und Funktionskrise der liberalen Demokratie beförderte eine intensive Reflexion über die Fragilität der Demokratie, die von der wie auch immer quasi-demokratisch legitimierbaren Liquidation bedroht war. Im Hinblick auf die neuen ideologischen Massenbewegungen, die mit antiliberaler Stoßrichtung und den in der Demokratie verfügbaren Mitteln sich gegen das »demokratische System« selbst wandten, war dieses Phänomen neuartig. Es stellte sich das Problem, wie die Bestandsvoraussetzungen der liberalen Demokratie selbst gesichert werden konnten, um sich gegen ihre Feinde zu wehren. Diese Debatte mündete in den 1930er Jahren in die Vorstellungen von einer »militant democracy«, die sich ganz wesentlich aus dem Erfahrungsraum des Weimarer Endes speiste. (Kapitel 3)

Ein weiterer Aspekt, der die Debatte um die liberale Demokratie prägte, war die Frage nach dem Konnex von Ökonomie und Staat. Die Weimarer Verfassung hatte bekanntlich die Möglichkeit offengelassen, Schlüsselindustrien zu sozialisieren, und damit der in der Phase der Republikgründung breiten Raum einnehmenden Debatte um Sozialisierung und Gemeinwirtschaft Tribut gezollt. Das Problem der politischen Einhegung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, ihrer sozialen Abfederung oder gar die Suche nach dritten Wegen begleitete die Republik und nahm europaweit in der Zwischenkriegszeit einen zentralen Platz ein. Kapitalismus unter den Bedingungen der Demokratie zu denken und damit in der Wirtschaftspolitik eine Legitimationsressource für demokratische Politik zu entdecken, darin zeigten sich neue Herausforderungen. Die Aufgabe, Wirtschaftspolitik und den Rahmen der kapitalistischen Ordnung zu gestalten, war Chance und Belastung zugleich. 40Denn die Versuche zur sozialen Einhegung, Krisenbewältigung und Konjunktursteuerung des Kapitalismus wurden am Erfolg gemessen und bescherten der Politik ein bislang ungekanntes Maß an Verantwortung und damit an Möglichkeiten der Haftbarmachung. (Kapitel 4)

Demokratie in Krisenzeiten: eine Wiederkehr Weimarer Muster?

Die Erforschung des Liberalismus bewegt sich stets in einem eigenartigen Spannungsfeld: Aus einer eurozentristisch-westlichen Perspektive wirkt die Beschäftigung mit dem Liberalismus einerseits als eine Vergegenwärtigung des Selbstverständlichen. Konsensliberal scheint es kaum kontrovers, sich mit Werten und der Genese von Normen zu beschäftigen, die zum demokratischen Common Sense gehören und Verfassungsrang besitzen – intellektuell wenig aufregend, mit dem Ruch der Status-quo-Konservierung behaftet. Andererseits steht diese vermeintliche Fraglosigkeit des Liberalismus im Kontrast zu allen rezenten weltpolitischen Entwicklungen, die keineswegs auf die Ausweitung und Stärkung der westlichen Demokratie hindeuten, sondern im Gegenteil ein teils autokratisch, teils religiös fundamentalistisch geprägtes roll back signalisieren. Fukuyamas Hoffnung auf ein liberales Ende der Geschichte, nach dem es »keine ideologische Konkurrenz mehr zur liberalen Demokratie« geben sollte[63] – eine repräsentative Stimmungslage nach Beendigung des Kalten Krieges –, erwies sich als ebenso trügerisch wie die Erwartung, dass die kapitalistisch induzierte Globalisierung quasi automatisch die Entwicklung hin zu demokratisch verfassten, offenen Gesellschaften fördern müsse. Viele liebgewonnene Muster aus der Zeit des großen Booms, der trente glorieuses, sind mittlerweile fraglich geworden; das institutionelle Arrangement von parlamentarischer Demokratie, kapitalistischer Ökonomie und Wohlfahrtsstaat hat sich als fragiler herausgestellt, als der weitreichende Konsens einer sozialliberalen Reformpolitik suggerierte.[64]

41Der zur Zeit des Cold War Liberalism angenommene Konnex zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und liberaler Demokratie ist bezogen auf Russland oder China alles andere als zwingend; der Appeal von Menschen- und Bürgerrechten hat sich auch in einer digital-vernetzten Welt nicht universalisiert; die Intensivierung und Ausweitung des Welthandels hat entgegen liberaler Erwartung nicht unbedingt pazifizierende Wirkung, sondern birgt im Lichte verknappter Energieressourcen und Armutsmigration ganz neue Konfliktlinien. All diese Phänomene verdeutlichen, dass die Bestimmung und die Legitimierung liberaler Politik schwieriger geworden sind, dass sie sich angesichts neuer Problemlagen stetig wandeln und dass deshalb nicht nur ein Bedarf an ideengeschichtlicher Forschung besteht, um sich diesen Wandel zu vergegenwärtigen, sondern auch, um angesichts des gestiegenen Legitimationsdrucks für westliche Demokratien Erfahrungen und Argumente für die liberale demokratische Ordnung zu prüfen. In unübersehbarer Weise werden demokratische Verfassungsordnungen in Mittel- und Osteuropa – Polen und Ungarn liefern hier eindrückliche Beispiele – ausgehöhlt und manipuliert; autoritäre Regierungsformen scheinen auf dem Vormarsch, und auch der Populismus bleibt europaweit ein Dauerthema, während die Klage über die Dysfunktionalität der repräsentativen Demokratie, ihren vermeintlich »postdemokratischen« Charakter und ihre schwindende Legitimation bei den Bürgern nicht nachlässt. Die Soziologen diagnostizieren neue Klassengegensätze und machen auf den sozialen Abstieg und die Exklusion gesellschaftlicher Schichten aufmerksam, die mit der »Neoliberalisierung« der ökonomischen Verhältnisse nicht mehr Schritt halten können.[65] Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 ff. und die Möglichkeit eines erneuten Kollapses tragen periodisch zur Verunsicherung bei und halten die Erinnerung an die verheerenden Folgen des »Black Thursday« von 1929 wach.

Zwar sollte man sich hüten, bei jedem Krisenanzeichen die Wiederkehr Weimarer Verhältnisse zu beschwören oder die Katastrophenszenarien der Zwischenkriegszeit zu bemühen, als ökonomische, staatliche und internationale Ordnungssysteme nach und 42nach zerbrachen. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der lange Zeit die Stabilität, Vernünftigkeit und auch die universale Übertragbarkeit der liberalen Demokratie mitsamt ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung angenommen worden ist, hat sich verflüchtigt. Das Misstrauen gegenüber supranationalen Institutionen, die Sehnsucht nach kraftvoller politischer Führung im Nationalstaat, die Kritik am Parteiensystem, die Angst vor dem Fremden – diese nicht nur beiläufigen Phänomene rufen vertraute Problemkonstellationen auf und rücken die liberalen Streiter von damals wieder näher an die Gegenwart.[66] In den damaligen Debatten lassen sich – bei allen situativen Unterschieden – markante Strukturanalogien entdecken, die bei der Suche nach neuen und besseren Begründungen der Demokratie helfen können.