Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten - Jens Hacke - E-Book

Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten E-Book

Jens Hacke

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Beschreibung

"Die Demokratiedebatte der Zwischenkriegszeit gehört fraglos zu den Sternstunden der politischen Ideengeschichte. In der Auseinandersetzung mit den Vordenkern der liberalen Demokratie lässt sich der existenzielle Ernst der Argumentation nachempfinden. Ihre Einsichten bleiben aktuell, weil sie uns daran erinnern, wie anspruchsvoll das Projekt der liberalen Demokratie tatsächlich ist." Demokratie war in Weimar und ist auch im 21. Jahrhundert ein Versprechen auf die Zukunft, getragen von Hoffnungen auf Verbesserung, dem Leitbild einer sozialen Demokratie folgend und von der Vision erfüllt, Klassenkonflikte zu überwinden. Die kurzen vierzehn Jahre ihrer Existenz gleichen einem Laboratorium der Moderne. Der fatale Ausgang des Demokratieexperiments ist bekannt, aber die Wagnisse und Erfahrungen Weimars entfalteten eine langfristige Wirkung – als Beispiel Periode intensiver politischer und gesellschaftlicher Krisenreflexion und als Warnung vor antidemokratischer Militanz und populistischer Leichtfertigkeit. Die Stärke der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie verbesserungs- und lernfähig ist. Garantien für ihren Bestand gibt es nicht. Ihr Gelingen hängt davon ab, dass die Bürger*innen die Vorzüge der demokratischen Lebensform erkennen und sich für das Gemeinwesen engagieren. Die Einsichten der Weimarer Denker bleiben aktuell, weil sie die Existenzgrundlagen der Demokratie durchdachten. Bei ihnen ging es ums Ganze, und sie erinnern uns daran, wie voraussetzungsreich das Projekt der liberalen Demokratie bis heute tatsächlich ist.

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Jens Hacke

Liberale Demokratiein schwierigen Zeiten

Weimar und die Gegenwart

In Erinnerung anHans-Christoph Schröder (1933–2019)

E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Coverabbildung: Kurt Schwitters, »Merzbild 25 A. Das Sternenbild«,

bpk / Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf / Walter Klein

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-574-0

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Print: ISBN 978-3-86393-111-7

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Einleitung: Weimar und die Gegenwart

Orientierungen

Das Wagnis der Demokratie

Der Liberalismus zwischen Erneuerung und Existenzkrise

Max Weber – Interpret der Moderne an der Schwelle zur Demokratie

Die Herausforderung des Autoritarismus

Selbsttäuschung aus Enttäuschung

Robert Michels’ Parteiensoziologie auf dem Weg von der Demokratie in den Faschismus

„Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten“

Liberale Faschismusanalysen in den 1920er Jahren und die Ursprünge der Totalitarismustheorie

Carl Schmitt – Antiliberalismus, identitäre Demokratie und Weimarer Schwäche

Liberale Vernunft

Demokratischer Kapitalismus

Moritz Julius Bonns Defizitanalyse der wirtschaftlichen Ordnung in der Weimarer Republik

Ein Liberalismus der Ambivalenz

Überlegungen zu Thomas Manns politischem Denken

Probleme in Vergangenheit und Gegenwart

Stabilität durch „Wehrhaftigkeit“?

Karl Loewenstein und die Debatte um die gefährdete Demokratie

Die Fragilität der Demokratie

Zum Verhältnis von Recht und Politik in der Weimarer Republik

Krise der repräsentativen Demokratie – gestern und heute

Nationalismus und Liberalismus – eine komplizierte Beziehungsgeschichte

Anmerkungen

Literatur

Drucknachweise

Einleitung: Weimar und die Gegenwart

„Bonn ist nicht Weimar“ – diese sprichwörtlich gewordene Diagnose des Schweizer Publizisten Fritz Réné Allemann aus dem Jahr 1956 beinhaltete die Staatsräson der Bundesrepublik. Warum Weimar scheiterte und was den Nationalsozialismus an die Macht brachte, diese Fragen gehörten zum Selbstverständnis einer Nachkriegsdemokratie, die aus der Geschichte gelernt hatte. Mit jedem Jahrzehnt rückte die Zwischenkriegsepoche mit ihren politischen Extremen ferner: Radikalnationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiliberalismus, Irrationalismus und Gemeinschaftssehnsucht – diese Verirrungen konnten mit Verweis auf bewegte Zeiten, die psychosozialen Folgen des Krieges und die Verzweiflung angesichts des ökonomischen Zusammenbruchs erklärt werden. Alles sehr weit weg. Lange schienen die Lektionen aus der Geschichte verinnerlicht, und die Welt der (Ur)Großeltern lieferte den Rahmen für schaurige Historienfilme, ähnlich fremd wie das Mittelalter.

In der letzten Zeit hat sich die gefühlte Überlegenheit der Nachgeborenen verflüchtigt. Wenn vom Aufschwung des Rechtspopulismus und von der Krise der Demokratie die Rede ist, sind die 1920/30er Jahre wieder bedrohlich nahe an die Gegenwart herangerückt. „Nächste Ausfahrt Weimar?“, fragte nach den Ereignissen von Chemnitz im Spätsommer 2018 Albrecht von Lucke, einer der führenden Publizisten der Republik. Die Kooperation bürgerlicher Parteien mit der AfD im Thüringer Landtag, um Anfang Februar 2020 die Wahl des FDP-Fraktionsvorsitzenden Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten zu bewerkstelligen, weckte vielfach Weimar-Assoziationen. Der renommierte Historiker Timothy Snyder diagnostiziert ein Revival faschistischer Ideologie, in Russland, aber auch in den USA, und sieht die westliche Welt auf dem Weg in die Unfreiheit. Politikwissenschaftler sinnieren darüber, wie Demokratien scheitern und zerfallen. So sehr sich die historischen Umstände nach neun Jahrzehnten unterscheiden, so sensibel registrieren die Ideenhistoriker ihre Déja-vu-Erlebnisse. In der Tat reaktivieren die nationalistischen Homogenitätsfantasien europäischer Populisten das Vokabular von Rechtsintellektuellen wie Carl Schmitt. Ressentiment und Aggression richten sich gegen das Fremde und gegen diejenigen, die für Pluralität, Toleranz und kulturelle Vielfalt eintreten. Schuld an allem sind die Liberalen, damals wie heute.

Beschleunigter Fortschritt, sozialer Wandel, internationale Krisen und ökonomische Ungewissheit machen Demokratien erneut anfällig für den Irrationalismus. Statt komplizierter Problembewältigung will man einfache Lösungen, statt mühsamer Kompromisssuche herrscht die Sehnsucht nach Führung von oben, statt Möglichkeiten für das politische Engagement wahrzunehmen, erklärt man die politische Elite zum Sündenbock.

Zutiefst irritierend ist allerdings, dass uns kein adäquater Krisenbegriff zur Verfügung steht, der uns hilft, die gegenwärtige Situation zu verstehen. Sozioökonomisch war in Deutschland vor Corona keine größere Not erkennbar als in früheren Jahren. Im Gegenteil: Die Wirtschaft boomte, die Arbeitslosigkeit bewegte sich auf einem historischen Tiefstand, und Haushaltsüberschüsse boten politische Handlungs- und Verteilungsspielräume wie niemals zuvor. Trotzdem erreichte die Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik ein bislang ungekanntes Ausmaß.

Das Misstrauen in das politische System zeigt sich am Erfolg der Rechtspopulisten überdeutlich. Ihnen gelingt es, als reine Protestparteien, Ablehnung und Unzufriedenheit zu bündeln, ohne auch nur den Ansatz einer tragfähigen politischen Programmatik erkennen zu lassen. Als die AfD Mitte 2015 vor dem Sturz in die politische Bedeutungslosigkeit stand, sicherte sie sich durch die monothematische Instrumentalisierung der Flüchtlingsfrage ihr vorläufiges Überleben. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, lediglich die Rechtspopulisten zu dämonisieren und nicht nach den Schwächen der etablierten Parteien zu fragen.

Die Krise wurzelt mithin in tieferen Ursachen und kollektiven Projektionen, in Statusverlustängsten und im Gefühl bestimmter Bevölkerungsgruppen, benachteiligt zu sein. Dabei verweist die Abkehr von der liberalen Demokratie auf drei Defizite, die oberflächliche Strukturähnlichkeiten zur Weimarer Lage aufweisen. Erstens werden die Leistungsfähigkeit und die demokratische Legitimation der parlamentarisch-repräsentativen Regierungsweise generell in Frage gestellt. Zweitens traut man der liberalen Demokratie nicht mehr zu, hinreichend für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen und Antworten auf Sinnfragen zu finden. Drittens gibt es einen Vorbehalt gegenüber den Verteilungsungerechtigkeiten einer kapitalistischen Ordnung; auch die Wendung gegen Asylsuchende und Flüchtlinge ist dafür ein Zeichen, denn sie vollzieht sich in der Regel mit dem Hinweis darauf, dass sich ein Anrecht auf Unterstützung auf Staatsbürger*innen beschränken sollte. Dieser Umstand kennzeichnet eine Leerstelle: Soziale Gerechtigkeit und prekäre Lebensumstände werden weder zureichend problematisiert noch Gegenstand politischer Auseinandersetzung.

Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht. Kriegsfolgen, Inflation und Weltwirtschaftskrise sorgten in Weimar für ein schwer vergleichbares, überhitztes politisches Klima. Die soziale Not war real, die ideologischen Kämpfe waren existenziell. Dennoch klingen die damaligen Krisendebatten auf unheimliche Weise vertraut. Das Aufkommen einer radikalen Rechten, welche die Massen mobilisierte, hielt man nach dem Untergang der Monarchie für ebenso unwahrscheinlich wie heute Trumps Präsidentschaft oder eine AfD auf dem Rang der drittstärksten, in vielen Bundesländern auf dem der zweitstärksten Partei. Und dem globalen Finanzkapitalismus kann man gegenwärtig kaum mehr vertrauen als in der Ära der verheerendsten Weltwirtschaftskrise.

Der große Nationalökonom und liberale Intellektuelle Moritz Julius Bonn (1873–1965) diagnostizierte bereits im Jahr 1925 eine „Krisis der europäischen Demokratie“. Sein gleichnamiges Buch liest sich in weiten Teilen wie eine Bestandsaufnahme zur Gegenwart. Als Reaktion auf Modernisierungsprozesse beobachtete er einen ressentimentgeladenen Nationalismus, der sich gegen Minderheiten wandte und eine Politik der Ausgrenzung praktizierte. Nationalisten und Faschisten attackierten die zarten Anfänge internationaler Kooperation im Völkerbund und die ersten europäischen Versöhnungsinitiativen vehement. In Benito Mussolini sah Bonn den Vorboten einer pseudodemokratischen Regierungsweise, bei der sich die Mitwirkung des Volkes auf die plebiszitäre Legitimation von bereits vollzogenen Maßnahmen beschränkte. Die faschistische und später nationalsozialistische Propaganda zielte darauf ab, das Volk als homogene Masse im Führerwillen aufgehen zu lassen. Eine klare Absage an Gewaltenteilung, Pluralismus und Rechtsstaat.

Wie andere Weimarer Demokraten sorgte sich Bonn um die junge Republik, die sich noch nicht auf einen eingeübten Verfassungspatriotismus und eine bewährte demokratische Kultur stützen konnte. Bonn wusste, dass die Stabilität der liberalen Demokratie von ihrer Leistungsfähigkeit abhing. Gute demokratische Regierung musste allen Bürgerinnen und Bürgern Anteil am Gemeinwohl bieten – das hieß vor allem soziale Sicherheit und klassenübergreifende Prosperität. Dabei sollte der Bürger aber nicht auf die Rolle des Konsumenten reduziert werden. Das Ideal einer bürgerlichen Selbstregierung verlangte nach Partizipation und Einsatz für das Gemeinwesen.

Kluge Staatsrechtler wie Hans Kelsen, Hermann Heller oder Richard Thoma realisierten, dass politischer Irrationalismus und Faschismus kein Schicksal waren, sondern strukturelle Ursachen hatten. Sie erkannten, dass sich die liberale Demokratie schwer damit tat, die Herzen der Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen. Demokratisches Bewusstsein benötigt Überzeugung, den Glauben an gemeinsame Ziele und kann nur durch eine republikanische Erziehung gewährleistet werden. Trotz aller Schwierigkeiten sahen sie in der demokratischen Regierungsweise die aussichtsreichste Form, hinreichend für soziale Integration zu sorgen. Funktionierende demokratische Gemeinwesen setzen eine zufriedene gesellschaftliche Mitte voraus – und es ist Aufgabe der Politik, durch aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik für Lebenschancen aller Schichten zu sorgen.

Diese Herausforderungen waren damals neu, denn der Wohlfahrtsstaat steckte in den Kinderschuhen. Unter dem Leitbegriff der sozialen Demokratie suchten moderne Liberale und Sozialdemokraten nach Formen und Methoden, um den krisenanfälligen Kapitalismus einzuhegen. Die Marktwirtschaft musste demokratisch werden, das heißt: der Allgemeinheit Vorteile bringen, mehr Arbeitnehmerrechte und betriebliche Mitbestimmung zulassen. Das Wirtschaftsleben war ohne politische Regulierung undenkbar geworden. Moritz Julius Bonn, Verfechter eines demokratischen Kapitalismus, richtete seine Kritik nicht gegen die Forderungen der Arbeiterbewegung, sondern gegen Unternehmereliten, die ihrer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung in der Demokratie nicht gerecht wurden. Ihnen warf Bonn vor, die Gewinne zu privatisieren und die Verluste zu sozialisieren, ohne sich um die gesellschaftliche Balance zu scheren. Auch diese Kritik bleibt aktuell. Wie damals geht es heute darum, die Dynamik der Wirtschaft politisch auszubalancieren und sozial abzufedern. Neben der notwendigen Gewährung von Aufstiegschancen für alle Bevölkerungsteile sind allerdings heute ökologische Verantwortung und globale Gerechtigkeitserwägungen als neue Faktoren hinzugetreten.

Als Zeitzeugen von Bolschewismus und Faschismus entwickelten Liberale bereits Mitte der Zwanzigerjahre eine Vorform der Totalitarismustheorie, mit der sich die politischen Extreme in Ideologie und Praxis verstehen ließen. Die Gegner einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung formierten sich damals ähnlich schnell und unvorhergesehen wie in der Gegenwart. Ihre Militanz war unübersehbar. Überzeugte Republikaner diskutierten deshalb frühzeitig über die Gestaltung einer wehrhaften Demokratie. Dass sie politisch keinen Widerhall fanden, ist ihnen nicht anzulasten. Aber nach 1945 kehrten ihre Ideen zurück ins Nachkriegsdeutschland und formten den Konsensliberalismus im Kalten Krieg.

Es bleibt daran zu erinnern, dass politische Denker Neuland betraten, als sie damals egalitäre Massendemokratie und liberale Freiheitswerte zusammen dachten. 1918 war die Geburtsstunde der liberalen Demokratie, nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen der atlantischen Welt, denn das freie und gleiche Wahlrecht, auch für Frauen, setzte sich erst jetzt, nach und nach durch – in Großbritannien 1928 und in Frankreich noch später, nämlich 1944. Heute wird uns klar, dass die liberale Demokratie keinem determinierten Entwicklungsgang entsprungen ist. Sie beruht auf hart erkämpften Kompromissen zwischen bürgerlichem Liberalismus und Sozialdemokratie. Die einen mussten soziale und politische Gerechtigkeitsforderungen anerkennen, die anderen die Unhintergehbarkeit des Rechtsstaates und der individuellen Freiheit.

Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert lässt sich konstatieren, dass die Demokratie nie Ausgangspunkt war, sondern fast immer zuletzt kam, also auf der vorherigen Verankerung liberaler Ideen aufbaute. Anders ausgedrückt: Nur als liberale Demokratie hatte sie bislang Chancen auf Stabilisierung und Dauerhaftigkeit. Das sollte man auch in Erinnerung behalten, wenn Rechtspopulisten das Hohelied auf die „illiberale Demokratie“ singen. Damals wie heute bekämpft der Antiliberalismus die Demokratie als Lebensform, die von Pluralität, kultureller Buntheit und individuellen Entfaltungsräumen geprägt sein soll. Feminismus, Sexualmoral, alternative Lebensstile gehören nach wie vor zu den Angriffszielen, aus denen sich die rückwärtsgewandte rechtsnationale Programmatik nährt. Fremdenhass, Antisemitismus, Verschwörungstheorien und dumpfer Geschichtsrevisionismus haben sich kaum gewandelt.

Natürlich reicht allein das Glaubensbekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung kaum aus. Sie ist ein fragiles Gut, und unsere Demokratie wäre nicht in gefährdeter Lage, wenn sie keine Schuld an ihrem derzeitigen Zustand trüge. Das Register der Fehlentwicklungen ist lang: die Technokratie der Europäischen Union, die neoliberale Inkaufnahme wachsender sozialer Ungleichheit, der fehlende Mut zum Entwurf des guten Lebens in einer künftigen ökologisch verantwortlichen Gesellschaft, die verspäteten Anstrengungen sozialer und politischer Integration von Zuwanderern, die Versäumnisse in der Prävention und Steuerung globaler Migration.

Die Stärke der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie verbesserungs- und lernfähig ist. Garantien für ihren Bestand gibt es nicht. Die Einsichten der Weimarer Denker bleiben aktuell, weil sie die Existenzkrise der Demokratie durchdachten. Bei ihnen ging es ums Ganze, und sie erinnern uns daran, wie voraussetzungsreich das Projekt der liberalen Demokratie bis heute tatsächlich ist. Daraus lässt sich Kraft schöpfen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel besser die gegenwärtige Lage und wie viel kreativer Spielraum für demokratische Politik eigentlich vorhanden ist. Demokratie war in Weimar und ist auch im 21. Jahrhundert ein Versprechen auf die Zukunft, getragen von Hoffnungen auf Verbesserung, mit dem Blick für Fehlentwicklungen und im Streit um Alternativen. Nötig bleibt der Mut, die demokratische Gesellschaft weiterzuentwickeln, lebenswerter zu machen und dabei die Freiheit entschlossen zu schützen.

In diesem Sinne handeln die hier versammelten Beiträge von der Idee der Demokratie, die sich in Krisenzeiten auf ihren Kern zurückbesinnt und gleichzeitig nicht aufhört, eine bessere Zukunft zu entwerfen. Zwar verbinden wir die liberale Demokratie stets mit grundlegenden Wertvorstellungen wie Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Toleranz, Pluralität, Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit. Doch die Ausgestaltung dieser Werte in der konkreten lebensweltlichen Praxis – die Prägung der Demokratie als Lebensform – verändert sich. Entscheidend bleibt das Gleichheits- und Gerechtigkeitsversprechen der Demokratie, denn die Ermöglichung von Chancen und die Emanzipation der Benachteiligten sind die Motivationsressourcen für demokratische Gesellschaften, die sensibel ihre Wahrnehmung für Unrecht und Diskriminierung schärfen müssen. Die Auseinandersetzung mit den liberalen Demokraten der Weimarer Republik kann dabei helfen.

Die vorgelegten Studien sind ideengeschichtlich ausgerichtet. Ihr Fluchtpunkt bleibt in vielerlei Hinsicht die Gegenwart, aber sie folgen dem Ansatz, dass die Beschäftigung mit politischen Ideen sowohl den historischen Abstand als auch eventuelle Strukturanalogien heutiger Krisenreflexion verdeutlichen muss. In der Mehrzahl sind die Texte nach der Publikation meines Buches Existenzkrise der Demokratie entstanden, um einzelne Aspekte zu vertiefen und noch einmal neu zu belichten. Ich danke Irmela und Axel Rütters für die Initiative zu diesem Buch und für den fruchtbaren Ideenaustausch der letzten Jahre. Christoph Claussen danke ich sehr für die kritische und genaue Durchsicht des Textes, meiner Schwester Vera Hacke für einen gewohnt akribischen abschließenden Korrekturgang, den sie trotz ihrer eigenen Verpflichtungen auf sich nahm.

Gewidmet ist dieser Band dem Andenken Hans-Christoph Schröders, einem großartigen Historiker und warmherzigen Freund über zwei Jahrzehnte.

Orientierungen

Das Wagnis der Demokratie

Der Liberalismus zwischen Erneuerung und Existenzkrise

Will man die Novemberrevolution in Deutschland angemessen begreifen, so verdienen die Hoffnungen und Erwartungen der Zeitgenossen besondere Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich gab es wenige Momente in der deutschen Geschichte, in denen optimistischer Aufbruch und Resignation eine derart spannungsvolle Melange eingingen wie in der Gründungsphase der Weimarer Republik. Dies galt vor allem für das sehr heterogene Lager des politischen und intellektuellen Liberalismus.

Der Historiker hat es mit der Evaluation von Handlungsspielräumen und Alternativen zu tun, und sicherlich wäre in politischer Hinsicht vielerlei über verspielte Chancen und verpasste Möglichkeiten zu sagen. Natürlich liegt es nahe, hier eine Geschichte des Versagens liberaler Politik zu erzählen. Sie ist hinreichend bekannt: Wir haben es uns angewöhnt, Weimars Ende mit der Erosion der bürgerlichen Mitte und dem politischen und geistigen Niedergang des Liberalismus zu verknüpfen.1

Aber in den letzten Jahren hat sich eine Perspektivverschiebung ergeben. Die erste deutsche Demokratie wird nicht mehr allein als Geschichte des Scheiterns erkundet, sondern die Errungenschaften, die Entwicklungsmöglichkeiten und die mit ihr verbundenen Neuanfänge werden stärker ins Blickfeld gerückt.2 Oder, um es anders zu wenden: Es war nicht selbstverständlich, dass trotz vielfältiger Belastungen überhaupt eine demokratische Ordnung entstehen konnte.

Arnold Brecht, ein republikanischer Ministerialbeamter und späterer Politikwissenschaftler, hat diesen Blickwechsel schon viel früher gefordert: „Das eigentlich Erstaunliche“, bemerkte Brecht zur Gründungsphase Weimars in seinen Memoiren, „ist nicht, daß dreizehn Jahre später die demokratische Verfassung in Deutschland zusammenbrach, sondern daß das nicht schon viel eher geschah.“ Statt nach Sündenböcken zu suchen, wäre es logischer, sich zu vergegenwärtigen, „welche Ereignisse und Personen dazu beigetragen haben, daß die demokratische Republik trotz des Widerspruchs zwischen den Spielregeln und den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen so lange funktionieren konnte“.3

Wir haben es also mit einer komplizierten Gemengelage zu tun: Vor dem Hintergrund der alsbald schwindenden Unterstützung für die Weimarer Koalition, ist die Verfassungsschöpfung aus der Revolution und die vorübergehende Stabilisierung innerhalb massiver Krisen außenpolitischer, innenpolitischer und ökonomischer Art das erklärungsbedürftige Faszinosum. Überhaupt gilt es daran zu erinnern, dass das liberale Momentum der Republikgründung zunächst gar nicht absehbar war. Immerhin war es die politische Linke, die im Rat der Volksbeauftragten und auf der Straße die Novemberrevolution prägte, während sich die bürgerliche Mitte erst einmal in der Defensive befand.

Insofern erscheint es gerechtfertigt, sich mit den Chancen, dem Neuen und auch den Wagnissen derer zu beschäftigen, die wir zum Kreis der Liberalen zählen können. Dabei werde ich den Liberalismus aus ideengeschichtlicher Perspektive behandeln und die politische Ereignisgeschichte und die komplexe Transformationsgeschichte der liberalen Parteien eher vernachlässigen.

Ich möchte dabei in vier Schritten vorgehen: Zunächst will ich versuchen zu erläutern, in welcher Weise wir überhaupt von Liberalismus als einem Sammelbegriff in der Novemberrevolution sprechen können; in einem zweiten Abschnitt möchte ich mich dann mit dem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie beschäftigen, um Weimar als Durchbruchphase zur liberalen Demokratie – etwas bis dato Neues – begreifen zu können. Drittens möchte ich auf den parteipolitischen Neuanfang unter „massendemokratischen“ Bedingungen eingehen, der in vielerlei Hinsicht revolutionär war, auch wenn der echte Aufbruch nur ein knappes Jahr dauerte. Viertens sollen aus ideengeschichtlicher Perspektive die langfristigen Innovationen des demokratischen Liberalismus in Weimar verdeutlicht werden, um am Ende zu einem knappen Fazit zu kommen.

1. Zum Begriff des Liberalismus

Es ist unmöglich, einen klar definierten Liberalismusbegriff zu präsentieren. Meiner Ansicht nach gibt es drei Möglichkeiten:

Man nimmt erstens die Selbst- und Fremdbezeichnung der Zeitgenossen ernst und bezieht jeden, der von sich oder anderen als liberal bezeichnet wird, in die Untersuchung ein. Ein solches Vorgehen ist mit dem Problem konfrontiert, dass sich im Revolutionsjahr kaum jemand als liberal exponierte; der Begriff war verbrannt, galt als Relikt des 19. Jahrhunderts und gehörte gewissermaßen zu einer im Weltkrieg untergegangenen Epoche.

Zweitens könnten wir uns den Parteien zuwenden, die nach allgemeinem Verständnis dem liberal-bürgerlichen Lager zugerechnet wurden (und bekanntlich auch nicht das Wort liberal im Namen trugen). Dies würde den Blickwinkel allerdings politisch einengen, denn der Liberalismus war stets eine unübersichtliche „Familie von Ideen und Verhaltensmustern“ (Sheehan), von Netzwerken und Gruppierungen.4 Es gehört zu seiner Eigenheit, dass er als Ensemble von Ideen und Überzeugungen in viele Richtungen diffundierte.

Dies führt uns drittens zu dem Problem, im Liberalismus so etwas wie einen überzeitlichen ideellen oder normativen Kern auszumachen. Auch dies scheint schwer möglich. Ein Blick auf den Theoretiker, der allgemein als wichtigster Repräsentant des Liberalismus gesehen wird, nämlich Max Weber, mag das illustrieren.5 Es gibt wichtige Argumente – und ich werde sie gleich vertreten –, Weber als entscheidenden Vordenker der liberalen Demokratie zu würdigen. Aber genauso gut kann man die Auffassung haben, dass an gewissen Wertüberzeugungen gemessen Weber nach heutigen Maßstäben (und wohl auch schon in den Augen anders gepolter liberaler Zeitgenossen) weit entfernt von gängigen liberalen Vorstellungen war: Weder vergötterte er den freien Markt noch war er ein Anwalt internationaler friedlicher Völkerverständigung; auch der Schutzraum des Einzelnen vor dem Staat interessierte ihn nicht besonders – und einen Fortschrittsoptimisten wird man ihn auch nicht nennen wollen, denn zu düster war sein Blick auf ‚das stahlharte Gehäuse der Hörigkeit‘, welches das moderne Individuum einenge.6 Insofern kann es im Folgenden nicht darum gehen, eine Gesamtschau des Liberalismus mit allen Licht- und Schattenseiten zu geben, sondern ich möchte einige Linien herausarbeiten, die in konstruktiver Absicht die im Entstehen begriffene liberale Demokratie konturierten.7

2. Liberalismus und Demokratie

Der englische Journalist Edmund Fawcett hat in seiner Ideengeschichte des Liberalismus noch einmal daran erinnert, dass der Kompromiss zwischen Liberalismus und Demokratie, die Kombination von Freiheits- und Bürgerrechten und demokratischer Regierungsform (begleitet vom Ringen um eine sozialverträgliche Ökonomie) hart erkämpft und historisch keineswegs zwangsläufig war.8 Ideengeschichtlich ist es ironisch, dass just in dem Moment, da Carl Schmitt die Unverträglichkeit von Parlamentarismus und Demokratie beweisen wollte, progressive Liberale von Max Weber über Hugo Preuß bis zu jüngeren wie Hans Kelsen oder Moritz Julius Bonn die repräsentative Regierungsform als einzig mögliche Realisierung der modernen Demokratie verteidigten.

Das ist nicht als Ergebnis eines durch Kriegsniederlage erzwungenen Vernunftrepublikanismus aufzufassen. Schon die Demokratisierungsdebatte während des Ersten Weltkriegs bereitete den Boden für Späteres, denn Deutschlands liberale Intellektuelle stritten in dieser Zeit vehement für Parlamentarisierung und politische Mitbestimmung.9 Auf drei Weltkriegsschriften möchte ich kurz verweisen: Hugo Preuß’ Das deutsche Volk und die Politik aus dem Jahr 1915, Max Webers Artikelserie in der Frankfurter Zeitung zu Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland aus dem Sommer 1917 und die etwas unbekanntere Schrift von Leopold von Wiese über den Liberalismus in Vergangenheit und Gegenwart, ebenfalls 1917 erschienen.

Preuß war einer der wenigen, die sich nach dem Kriegsausbruch 1914 nicht vom nationalen Überschwang anstecken ließen. Bereits im Frühjahr 1915 veröffentlichte er seine viel diskutierte Stellungnahme, die sich in großer Distanz zu den „Ideen von 1914“ befand.10 Seine massive Kritik am wilhelminischen Obrigkeitsstaat verband er mit einem Plädoyer für den „Volksstaat“. Dieser Begriff war nichts anderes als das Synonym für eine Demokratie mit republikanischem Ethos. Preuß konzipierte den Staat als „Wir-Gemeinschaft“, die sich von einem Untertanenvolk zu einem positiv politisierten Staatsvolk wandeln sollte.

Mit Sorge hatte er die „Verachtung des Liberalismus“ als Zeittendenz registriert, was allerdings dazu führte, dass auch er selbst den Begriff mied. Inhaltlich hielt er jedoch daran fest, für eine Politik der bürgerlichen Selbstorganisation zu werben. Preuß wusste, wovon er sprach, denn er hatte sich als sozialliberaler Berliner Kommunalpolitiker einen Namen gemacht; anders als den Vertretern einer liberalen Orthodoxie war ihm völlig klar, dass der Staat die zentrale politische Steuerungsinstitution war, die man mit demokratischen Mitteln handhaben musste. Wichtiger als Freiheit vom Staat war die verantwortliche Gestaltung sozialer Politik. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Weimarer Verfassung, die zu ihrer Zeit als freieste Verfassung der Welt galt, ganz wesentlich auf seinem Entwurf beruhte, dann bekommt man einen Eindruck von Preuß‘ intellektueller Statur.

Zum zweiten möchte ich an den heute weithin vergessenen Soziologen Leopold von Wiese erinnern, den der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller noch in den 1920er Jahren zu den wichtigsten Vordenkern des „Neoliberalismus“ zählte – und Heller meinte mit Neoliberalismus natürlich nur einen „neuen Liberalismus“.11 Wieses Buch Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft war 1917 im renommierten S. Fischer Verlag erschienen.12 Wiese wagte eine entschlossene begriffspolitische Aneignung des Liberalismus, indem er nicht nur an das normative Wertegerüst, sondern auch an die Fähigkeit des Liberalismus erinnerte, reflexiv zu lernen, sich immer wieder zu erneuern, um sich an veränderte Problemlagen anzupassen. Er wehrte sich vehement dagegen, mit dem Krieg die zivilisatorischen Werte der bürgerlich liberalen Welt zu verabschieden. Gegen den Strom bürgerlicher Kriegsbegeisterung hatte er bereits 1915 seine Gedanken über Menschlichkeit veröffentlicht.13 Menschenwürde, persönliche Freiheit, bürgerliche Selbstverwaltung, aber auch das Eintreten für eine pluralistische offene Gesellschaft bestimmen seine liberale Haltung.

Max Webers Forderung nach Demokratisierung im Weltkrieg – für ihn gleichgesetzt mit Parlamentarisierung – ist allgemein bekannt. Es ist auch wahr, dass Weber dazu keine normative Demokratietheorie brauchte. Aber seine „realistische“ politische Theorie führte liberalen Theorieskeptikern vor Augen, wie aussichtslos es war, sich gegen das Schicksal der Massendemokratie zu stellen. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass die Gewährung der Demokratie ohnehin zum grand bargain gehörte, den der Liberalismus an die gesellschaftliche Modernisierung zu entrichten hatte. Nach dem Weltkrieg konnte man den rückkehrenden Soldaten, aber auch den Frauen an der Heimatfront die politischen Partizipationsrechte nicht mehr verwehren. Weber ging allerdings weiterhin davon aus, dass – wie ihn das Vorbild der Vereinigten Staaten lehrte – der entscheidende politische Einfluss bei den Besitz- und Bildungseliten blieb. Auch deshalb bedeutete für ihn das freie und gleiche Wahlrecht eine notwendige Kompensationsleistung: so würde die Masse zumindest im Wahlakt symbolisch gleichgestellt.14 Bedeutsam blieb auch Webers Einsicht, dass Demokratie nur als parlamentarische Parteiendemokratie vorstellbar war.

Im umfangreichen Demokratisierungsdiskurs des Ersten Weltkriegs zählten Preuß, Wiese und Weber fraglos zu den progressiven Stimmen. Um die Dynamik der Novemberrevolution zu begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, in welcher Geschwindigkeit jahrelang erhobene Forderungen auf einmal Makulatur wurden und von der Wucht der Ereignisse überholt worden waren: Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, eine parlamentarische Regierungsform, Frauenwahlrecht usw. Im Herbst 1918 waren progressive Liberale in ihrem Selbstverständnis erschüttert: Die noch kaum praktizierte parlamentarische Demokratie sollte revolutionär überwunden werden; Rätesystem und Sozialisierungsforderungen bestimmten die politische Agenda.

3. Der politische Liberalismus in der Novemberrevolution

Das „Traumland der Waffenstillstandsperiode“15 und die unübersichtlichen Startbedingungen waren zugleich von Hoffnungen und Befürchtungen geprägt – zwischen Selbstüberschätzung und Desillusionierung auf Seiten der Liberalen. In jedem Fall gab es keine einhellige „Kultur der Niederlage“ (Schivelbusch); es herrschte sogar bisweilen ein politischer Neugestaltungswille, der zu ignorieren schien, dass die Kriegsniederlage empfindliche Einschränkungen und Obligationen mit sich bringen würde. Zum Idealismus von 1918 gehört ein spezifisch deutscher Wilson-Mythos, der vom Glauben an einen demokratischen Neubeginn ohne die Belastungen des Besiegten erfüllt war.16

Der Riss, der durch das liberale Lager ging, offenbarte sich am deutlichsten in der Neugründung der liberalen Parteien. Zwar kann man hier von der Kontinuität einer Spaltung im liberalen Lager reden, aber sie wurde unter den Vorzeichen der politischen Neuordnung noch einmal verschärft. Und dies geschah, obwohl sich angesichts der nun (aus bürgerlich-liberaler Sicht) drohenden sozialistischen und sozialdemokratischen Dominanz eine Annäherung angeboten hätte.

Ich kann den Prozess, der zur separaten Gründung von DDP und DVP führte, an dieser Stelle nicht genauer beleuchten.17 Festzuhalten ist, dass sich der Graben zwischen einstigen Annexionisten und Befürwortern eines Verhandlungsfriedens, zwischen Wirtschaftsliberalen und gemäßigt Sozialliberalen, zwischen Republikanern und einstigen Monarchisten vertieft hatte. Die Auseinandersetzung um die Figur Gustav Stresemann, an der sich die Konflikte entzündeten, spielte hier zweifellos eine entscheidende Rolle. Dabei profilierte sich Stresemann recht bald als zukunftsoffener, der parlamentarischen Demokratie durchaus zugewandter Politiker.

Der sozialliberale Aufbruch wird vor allem durch den Gründungsaufruf der Deutschen Demokratischen Partei vom 16. November 1918 verkörpert. Wenn man sich die beeindruckende Liste der Unterzeichner (und der später Hinzugestoßenen) vor Augen hält, bekommt man einen Eindruck von der intellektuellen Energie und Zuversicht, die damals diese Neugründung begleiteten: Zu den herausgehobenen Persönlichkeiten gehörten Moritz Julius Bonn, Albert Einstein, Heinrich Herkner, Rudolf Mosse, Hugo Preuß, Alfred Weber, Marianne Weber, Theodor Wolff – später kamen Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Ernst Troeltsch und Max Weber hinzu. Ich möchte diesen Aufbruch unter drei Stichworten diskutieren: Utopie der Intellektuellenpolitik, sozialliberale Vision, Vernunftrepublikanismus.

1. Utopie einer intellektuellen Politik: Sicherlich hat es nie zuvor oder danach in Deutschland ein derart hochkarätiges Engagement von angesehenen Intellektuellen für die Demokratie gegeben. Darin lag Chance und Gefahr zugleich. Ohne die linksliberale intellektuelle Mobilisierung ist der überwältigende Wahlerfolg der DDP bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung nicht zu erklären. Niemals wieder hat eine linksliberale Partei über 18 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen können. Die Novemberrevolution war daher auch eine bürgerliche Revolution – dies zeigte nicht nur das Engagement in Bürgerräten18, sondern auch die gestaltende Rolle liberaler Politiker und Intellektueller im Prozess der Verfassungsgebung.

Die Hoffnung auf „Philosophenkönige“ spiegelte freilich auch ein überkommenes elitär-liberales Moment. Zwar wollte man sich auf linksliberaler Seite gesellschaftlich öffnen, aber in der Personalrekrutierung und in der partizipativen Ausrichtung dominierten honoratiorenliberale bildungs- und großbürgerliche Tendenzen. Eine in Aussicht gestellte Mittelstandspolitik litt damit von Anfang an am Mangel politischer Repräsentanten, wie Lothar Albertin in seiner Pionierstudie herausgearbeitet hat.19

2. In gewisser Weise artikulierte der Weimarer Verfassungskonsens zwischen Sozialdemokratie und progressivem Linksliberalismus eine im 20. Jahrhundert nachhaltig wirksame sozialliberale Vision. Sie zielte auf die Einhegung des Kapitalismus, eine gestaltende Rolle des Wohlfahrtsstaates und auf die soziale Demokratie als Leitwert. Im Gründungsmanifest der DDP wurde „die Gestaltung einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Politik“ gefordert.20 Das hieß eine völlig neue Perspektivierung der Staatsaufgaben. Liberale forderten nun einen aktiven Staat; Keynes’ später formulierte Einsicht vom Ende des Laissez-faire war auch in Deutschland verbreitet.21 Die Suche nach sogenannten „dritten Wegen“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus hat eine Wurzel in der Weimarer Debatte. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die anfänglich geäußerte Offenheit gegenüber einer Sozialisierung der Schlüsselindustrien oft mit taktischen Lippenbekenntnissen zu tun hatte, so wurde die Wirtschafts- und Sozialpolitik doch als ein ganz neues Feld begriffen.22

3. Die lange abschätzig benutzte Formel vom Vernunftrepublikanismus, dem wie im Falle Friedrich Meineckes und einiger anderer ein „Herzensmonarchismus“ vorausging, hat in den letzten Jahren eine Neubewertung erfahren.23 Warum sollte die Parteinahme für die Republik aus Vernunft und Einsicht auch tadelnswert sein? Der undifferenzierte Vorwurf eines liberalen Vernunftrepublikanisus verliert aus dem Blick, wie schnell sich allein zwischen 1918 und 1922 (Marsch auf Rom) der Bezugsrahmen des politischen Denkens wandelte: Zwar finden sich auch schon bei wachen Zeitgenossen wie Ernst Troeltsch Bemerkungen über die Bedrohungslage der Demokratie in der Zange von neuen links- und rechtsextremen Massenbewegungen. Aber es braucht keiner langen Erklärung, um Verständnis dafür aufzubringen, dass im Kaiserreich sozialisierte Vernunftrepublikaner noch ohne Konzept waren, wenn es um die Abwehr neuer rechtsnationaler/faschistischer Republikgegner ging. Allerdings bietet die Ideengeschichte des Liberalismus in Weimar – und darauf haben nicht zuletzt Christoph Gusy und Michael Dreyer hingewiesen – eine reiche Debatte darum, wie sich der demokratische Staat gegen seine Gegner wehren kann.24 Auch dies lässt sich durchaus unter dem Aspekt des Innovativen betrachten, denn es handelte sich um eine weitgehend neue, vorher unbekannte Konstellation.

Überhaupt liegt spätestens seit der Weimarer Republik das Problem darin, dass Politiker und Parteien, die sich in einer liberalen Tradition verorten (oder von Gegnern als Liberale bezeichnet wurden), mit dem Sammelbegriff des Liberalismus häufig nur sehr kursorisch zu erfassen sind. Wir müssen schon angeben, welche Art von Liberalismus wir meinen – denn normativ anspruchsvolle, an der Demokratie interessierte liberale Denkströmungen hat es in Weimar durchaus gegeben, in nicht geringer Zahl.

4. Langfristige Innovationen liberaler Theoriebildung

Es hieße nicht nur, die innovativen Potentiale zu verleugnen, wenn wir die historischen Verlierer von 1933 ein weiteres Mal bestrafen, indem die geringe Resonanz ihrer Ideen zum Maßstab für ihre Beurteilung wird. Es wäre auch in hohem Maße unrealistisch, wenn wir in irgendeiner Weise davon ausgingen, dass die mannigfaltigen strukturellen und kontingenten Faktoren der Weimarer Staatskrise durch einen einzigen, wie auch immer gearteten Politikentwurf hätten bewältigt werden können.

Meine These ist deshalb: Der Weimarer Liberalismus wurde zwar parteipolitisch immer schwächer, und die liberale Idee wurde zusehends heimatloser, aber das Bemühen um die intellektuelle Erneuerung des Liberalismus war trotzdem nachhaltig. Man kann deshalb die Zwischenkriegszeit – übrigens nicht nur bezogen auf die Weimarer Republik, sondern innerhalb der „Geschichte des Westens“ (H.A. Winkler) – als eine zweite „Sattelzeit“ des liberalen Denkens begreifen.

Innerhalb der ersten Sattelzeit, so wie der Historiker Reinhart Koselleck das Konzept eingeführt hat, bildeten sich die konstitutiven politischen Begriffe der Moderne zwischen 1750 und 1850 heraus25; die zweite passte diese Begrifflichkeiten an das demokratische Zeitalter an. Pointiert heißt dies: Nach der Krise des Weltkriegszeitalters war der Liberalismus erstens nicht mehr ohne Demokratie zu denken, und hier liegt die Bedeutung der Novemberrevolution. Zweitens konnten Liberale fortan den Kapitalismus nur noch als ein vom Staat eingehegtes und auf staatliche Steuerungsfunktionen angewiesenes Wirtschaftssystem begreifen. Drittens schließlich gewannen Liberale Distanz zur nationalen Idee; der Radikalnationalismus der Faschisten und Nationalsozialisten kurierte sie davon, den Machtstaat (wie es noch Max Weber vorschwebte) zum Maßstab erfolgreicher Politik zu erheben – das nationale Interesse konnte sich, wie kluge Liberale nach dem Ersten Weltkrieg wussten, nur im Konzert mit anderen Staaten zur Geltung bringen, war auf internationale Kooperation und die Ausweitung kollektiver Sicherheit angewiesen, sollte dem Frieden dienen, der im Anschluss an Kant als das oberste Ziel der Politik zu betrachten war.26

Wenn wir den Liberalismus nicht als eine Ideologie verstehen, deren Grundsätze gleichsam in Stein gemeißelt sind und an deren ewige Wahrheiten lediglich in verschiedenen Lagen zu erinnern ist, sondern als ein wandelbares, konstellationsabhängiges Denken, das Lern- und Transformationsprozessen unterworfen ist, dann lassen sich als langfristige Wirkungen der demokratischen Revolution von 1918 für die 1920/30er Jahre womöglich drei wichtige Gebiete aufzeigen, auf denen es zu neuen liberalen Positionsbestimmungen kam:

1. Kapitalismus und Demokratie: Die Debatte um die politische Gestaltbarkeit der Ökonomie war eine der fruchtbarsten und bewegtesten nach 1918; sie ergriff die liberale Nationalökonomie ebenso wie sie Brücken zwischen demokratischen Sozialisten und Sozialliberalen schlug. Von Weber bis Schumpeter glaubte man einen nahezu unausweichlichen Zeittrend zum Sozialismus diagnostizieren zu können. Wie konnte man ihn abfedern, lenken oder gar mit kapitalistischen Überlegungen in Einklang bringen? Wie ließ sich die Dynamik der Industriemoderne zum Wohl breiter Bevölkerungsschichten nutzen? Die Antworten darauf waren vielfältig – von den allfälligen Sozialisierungsdebatten seit der Novemberrevolution (sogar Konservative und Liberale nahmen die Forderung nach der Sozialisierung von Schlüsselindustrien in ihre Parteiprogramme auf) bis zu den Diskussionen über einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Natürlich gab es weiterhin standfeste Wirtschaftsliberale wie den Wiener Ludwig von Mises, dessen Bücher über die Gemeinwirtschaft (1922) und über Liberalismus (1927) bis heute als Schlüsseltexte des Marktliberalismus gelten.27 Aber sogar Mises sah die Demokratie als günstigste Regierungsform für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem an. Moderner und pragmatischer gab sich der 1873 in Frankfurt geborene, aus einer alten jüdischen Bankiersfamilie stammende Nationalökonom Moritz Julius Bonn. Der anglophile Liberale, der übrigens 1925 ein hellsichtiges Buch über die Krisis der europäischen Demokratie verfasste, wollte der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft ein umfassendes Amerikanisierungsprogramm verschreiben. „Demokratischer Kapitalismus“ hieß seine Zauberformel.28 Damit war gemeint, dass das Wirtschaftssystem sich über seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand zu rechtfertigen hatte. Kurz: Nur wenn der Kapitalismus den breiten Bevölkerungsschichten zugutekomme, verdiene er sich seine Legitimität. Für Bonn war damit die – wie man neumodisch sagen könnte – Output-Seite eines demokratischen Kapitalismus entscheidend: seine Konsumentenorientierung, seine Innovationsfähigkeit und seine Gewährleistung sozialer Durchlässigkeit. In seinen Büchern, Broschüren, Aufsätzen und Leitartikeln, die in den großen liberalen Organen seiner Zeit erschienen, griff Bonn denn auch hauptsächlich die Kartellierungstendenzen in der deutschen Industrie an, kritisierte die Bestrebungen der Wirtschaftseliten, sich den Einflüssen demokratischer Politik zu entziehen. Bonn hatte frühzeitig einen Modus industrieller Interessenpolitik identifiziert, der dazu führte, ökonomische Gewinne zu privatisieren und Verluste zu verstaatlichen. Sein Plädoyer für hohe Löhne, ja sogar seine Anregung von Mindestlöhnen zur Steigerung der Kaufkraft zeigten außerdem an, dass er sich bereits deutlich jenseits der rein wirtschaftsliberalen Konzeptionen bewegte.29 Ins breite Spektrum der liberalen Wirtschaftskonzeptionen gehören auch die später so bezeichneten Ordoliberalen, eine recht heterogene Gruppe von Ökonomen, zu denen vor allem Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zählten. Sie gaben Impulse für eine neuliberale Ordnungsökonomik, die die Rolle des Staates völlig neu konzipierte, nämlich unter der Prämisse, dass ideale Marktbedingungen erst herzustellen seien. Freilich sahen insbesondere Eucken und Rüstow die Interessengruppen einer pluralistischen Gesellschaft eher als Störfaktoren an, und für die parlamentarische Parteiendemokratie hegten sie kaum Sympathien.

Walter Eucken gestand nach 1945 selbstkritisch ein, in der Endphase der Weimarer Republik „das Unbedingte“ angestrebt zu haben. Sinnvoller wäre es gewesen, an die gesellschaftlichen „Bedingungszusammenhänge“ anzuknüpfen. Damit meinte er die Berücksichtigung von öffentlicher Meinung und den Ausgleich der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen.30

Es scheint mir wichtig, vor allem die Heterogenität dieser Gruppe zu betonen, die dann in der Bundesrepublik so einflussreich werden sollte, weil sie den Mythos der Sozialen Marktwirtschaft mit begründete. Eucken kam aus national-konservativem Milieu und hatte mit der Weimarer Republik anfangs wenig im Sinn: sein politischer Weg ist ein Lernprozess, der ihn über die Begeisterung für liberale Wirtschaftstheorie langsam in die moderne Demokratie führte; Rüstow stand ursprünglich sozialistischen Positionen um Franz Oppenheimer nahe, machte aber bereits in Weimar Karriere als Lobbyist und gehörte zum Schattenkabinett Kurt von Schleichers; eigentlich war nur Röpke zu Weimarer Jahren schon als politischer Liberaler anzusehen. Die in den letzten Jahren populär gewordenen, sehr gegensätzlichen Interpretationen des Ordoliberalismus zeigen die Schwierigkeit, diese Ökonomen politisch zu interpretieren: So gibt es einerseits Foucaults Lesart von einer neuen ordoliberalen Regierungstechnik (Gouvernementalität), die still und leise dem Liberalismus all seine normativen Elemente nimmt und den Freiheitsbegriff eliminiert.31 Andererseits hat Philip Manow versucht, die vormodernen Sittlichkeitsvorstellungen und die Elemente einer christlichen Ethik im Denken der Ordoliberalen herauszustellen, die es fraglich erscheinen lassen, hier überhaupt noch von Liberalismus zu reden.32

Schon dieser kursorische Blick zeigt, wie vielstimmig und uneins die Weimarer Liberalen waren, wenn es um eine Einhegung des Kapitalismus ging. Die Erfahrung von Inflation und Wirtschaftskrise bewies lediglich, dass es ohne eine politische Rahmung nicht funktionierte; wie diese jedoch zu konzeptualisieren war, blieb umstritten. Dass es vor allem darum ging, die Demokratie über sozialstaatliche Leistung und wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit zu legitimieren, zeigten nicht zuletzt die – vom Weimarer Personal weitergeführten – Debatten im Exil. Walter Lippmanns Entwurf The Good Society von 1937 eröffnete den exilierten Ökonomen eine neue gesellschaftliche und politische Dimension des Liberalismus.33 Nicht zuletzt fanden sich in der nach dem legendären Lippmann-Colloquium gegründeten Mont Pelerin Societé verschiedene Schulen zusammen, die für den Cold War Liberalism wichtig werden sollten.34

2. Antitotalitarismus: Einen Einschnitt bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, die zu einer Renormativierung liberalen Denkens führte. Liberale erkannten in der faschistischen Politik der Gewalt, in der Suspendierung des Rechtsstaates, im Antiparlamentarismus und im Führerkult die Symptome einer neuartigen europaweiten Bedrohung. Die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung, die Schriften von Bonn oder von Hermann Heller lassen darüber keinen Zweifel aufkommen. In den Grundzügen entwickeln die Verteidiger der Republik, die sich in den 1920er Jahren von den links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedroht sehen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie.35 Die Erfahrung des Faschismus und des Nationalsozialismus führten schließlich zu einer strengen kategorialen Trennung von Diktatur und Demokratie. Weder konnte die Diktatur als Verfassungsinstitut der Demokratie inkorporiert werden, noch die Vorstellung aufrechterhalten werden, dass eine kombinatorische Lösung möglich sei, die den Diktator jenseits von ihm selbst initiierter Plebiszite wirklich demokratisch legitimierte. Gegen Rechtsbrüche, Terror und die Suspendierung bürgerlicher Freiheiten gab es keinen Schutz mehr, sobald der Weg des demokratisch verfassten Rechtsstaates verlassen war. Die Haltung zum Faschismus wurde zum Lackmustest für liberale Standhaftigkeit.

3. Wehrhafte Demokratie: Die Erkenntnis, dass die demokratische Lebensform einen besonderen Schutz benötigte und kontinuierlicher Pflege bedurfte, rückte von der Peripherie ins Zentrum liberalen Denkens. Auch dies zeigten die vielfältigen Beiträge zur notwendigen Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Demokratie in den 1930er Jahren, wie z.B. Karl Loewensteins Konzept der „militant democracy“, das sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung verdankt.36 Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert. „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen“, forderte er damals.37 Loewenstein sollte später aber auch herausstellen, dass der wirksamste Schutz in der Einübung und Pflege einer demokratischen Kultur liege.

So beinhaltete die liberale Thematisierung der „wehrhaften Demokratie“ beides: das Nachdenken über Maßnahmen zum Schutz von Staat und Verfassung und zugleich eine Hinwendung zur Demokratietheorie. Denn angesichts existentieller Bedrohungen durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schufen den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus. Die klare Feindbestimmung erlöste Liberale davon, Toleranz und Relativismus als konstitutive Eigenschaften der eigenen Weltanschauung verteidigen zu müssen. Vielmehr war es zwingend geworden, die Grenzen der Toleranz zu bestimmen, und dies war angesichts der politischen Verhältnisse nicht mehr nur eine theoretische, sondern eine praktische Operation.

5. Fazit

Die Ereignisse des Jahres 1918/19 werden bisweilen mit der Epochenzäsur von 1989 verglichen. Tatsächlich liegt ein verbindendes Element darin, dass nicht wenige eine vermeintliche Alternativlosigkeit westlicher Werte zu erkennen meinten. Sicherlich, eine solche Sichtweise ignoriert die parallelen zeitgenössischen Hoffnungen, die sich auf den Sozialismus und die Ausbreitung der Revolution stützten. Aber von liberaler Warte aus wähnte man sich mit der Durchsetzung der liberalen Demokratie an einem „Ende der Geschichte“. In einem „Wilsonian Moment“ glaubte man an die Universalisierung des gerade geborenen westlichen Modells, das Demokratie, liberalen Konstitutionalismus und internationale Verständigung im Rahmen des neu zu gründenden Völkerbundes vereinte.38 So lassen sich – in der Vielfalt der Perspektiven – die Weltkriegsniederlage und die damit einhergehende Staatsgründung in ihren Effekten als eine Transformationsphase begreifen. Unter den Bedingungen der Massendemokratie musste der Liberalismus sich gesellschaftspolitisch in einer Weise modernisieren, die einer Neuerfindung gleichkam.

Der ideelle Aufbruch, als der die Novemberrevolution in vielerlei Hinsicht zu betrachten ist, traf allerdings auf schwierige gesellschaftspolitische und ökonomische Bedingungen. Dazu zählte vor allem die drastische Spielraumverengung für die soziale Demokratie in den Krisen der Republik. Reparationslasten, Inflation und Weltwirtschaftskrise schränkten die Möglichkeiten wohlfahrtsstaatlicher Politik in einer Weise ein, welche die hochfliegenden Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und Prosperität an fiskalischen Zwängen und an einer auf die Spitze getriebenen Austeritätspolitik zerschellen ließen. Ein weiterer unvorhergesehener Krisenfaktor lag darin, dass der Parlamentarismus – gerade erst mit wirklicher politischer Verantwortung ausgestattet – unter Beschuss geriet. Während sich liberale Theoretiker mühten, die Illusionen einer direkten Demokratie und die Gefahren plebiszitärer Stimmungsschwankungen zu enthüllen, verlor der Weimarer Parlamentarismus rapide an Vertrauen. Der Ruf nach einer starken Exekutive und nach einer autoritären Überwindung gesellschaftlicher Fragmentierung erschwerte daher jede Argumentation für Rationalität, Kompromiss- und Verantwortungsfähigkeit der repräsentativen Regierungsform. Trotz oder gerade aufgrund ihrer realpolitischen Marginalisierung entwickelten allerdings die liberalen Weimarer Demokraten eine bewunderungswürdige theoretische Standfestigkeit.

Die Ideengeschichte lässt sich gewiss nicht als stringente Kette von Lernprozessen und Anpassungsleistungen verstehen. Aber die Krise der Demokratie, ihre enttäuschten Erwartungen und die politischen Niederlagen in Weimar bewirkten langfristig unstreitig eine umfassende Neujustierung liberalen Denkens. Es beinhaltete ein neues Kontingenzbewusstsein, eine Wende zur Skepsis und den geschärften Sinn für politische Gewalt. Das Wissen darum, dass demokratische Gesellschaften nicht davor gefeit sind, in zivilisatorische Regression und eine Herrschaft des Unrechts abzugleiten, prägte ein normativ erneuertes, aber zugleich realistisch gewordenes liberaldemokratisches Denken.39

Demokratie, so die aus der fragilen Weimarer Republik gewonnene Grundeinsicht, war nur als parlamentarisch-repräsentative Regierungsform funktionsfähig, benötigte eine strikte Gewaltenteilung und durfte den Pfad der freiheitsgarantierenden Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen. Doch darin erschöpft sich das Vermächtnis der liberalen Weimarer Demokraten nicht. Sie wussten auch, dass die demokratische Verfassung keine Existenzgarantie kennt. Hans Kelsen sah den Identitätskern der Demokratie darin, ihren Feinden nur mit Argumenten begegnen zu dürfen. Gegen eine demokratische Selbstpreisgabe gab es aus seiner Sicht kein probates Mittel.40