Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern - Silke Kruse-Weber - E-Book

Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern E-Book

Silke Kruse-Weber

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Beschreibung

MusikerInnen erleben den Umgang mit Fehlern vielfach angstbesetzt, wenig produktiv und verhalten sich in Folge fehlervermeidend. Im Instrumental- und Gesangsunterricht bleiben individuelle Bedürfnisse oft unberücksichtigt. Negativ empfundene Fehlersituationen sind unter anderem auf verengte behavioristische Sichtweisen, Kommunikationsdefizite in der Rückmeldung, mangelnde Selbstreflexion sowie fehlende fachliche Fehlerkompetenz und ungenügendes Strategiewissen zurückzuführen. MusikerInnen wollen exzellente Leistungen zeigen und Fehler vermeiden. Gleichzeitig lernen sie aus Fehlern - auch Innovationen gelingen nicht ohne Risiko. Wie lassen sich all jene Aspekte in eine produktive Fehlerkultur integrieren? Wie können MusikerInnen mit Fehlern beim Musizieren und Unterrichten konstruktiv umgehen? Was sind "gute" und "schlechte" Fehler? Die Beiträge dieses Buchs beleuchten die Thematik aus verschiedenen Perspektiven: der Musizier- und Unterrichtspraxis, der Musikdidaktik, der wissenschaftlichen Musikpädagogik sowie im interdisziplinären Kontext. In allen Bereichen der Instrumental- und Gesangspädagogik zeigen sich Desiderate in Bezug auf die Thematisierung und reflexive Auseinandersetzung mit Fehlern. Jedoch kristallisieren sich auch zahlreiche positive Herausforderungen im Umgang mit Fehlern beim Musizieren und Unterrichten heraus.

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Inhalte

Inhalt

Präludium

Stefan Hörmann

Silke Kruse-Weber

Andreas Dorschel (Moderation)

Maria Spychiger

Gerhard Mantel

Peter Röbke

Martin Widmaier

Sibylle Cada

Stefan Hörmann (Moderation)

Manuel von der Nahmer

Silke Kruse-Weber

Tom Sol

Peter Revers

Anthony Maher

Wolfgang Kallus

Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern

Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten

Herausgegeben von

Silke Kruse-Weber

Inhalt

Präludium. Einführung

Stefan Hörmann: Ein fachliches Strukturmodell und Bachs „Kunst der Fuge“. Kompass für das Symposion

Silke Kruse-Weber: Zwischen Instruktion und Konstruktion. Einstellungen zum Lernen, Lehren und zu Fehlern

Andreas Dorschel (Moderation): Interdisziplinäres Roundtablegespräch mit Sibylle Cada, Ilona Funke, Boris Kuschnir und Anthony Maher.

Gerhard Mantel: Die Kunst, die richtigen Fehler zu machen. Zur Ambivalenz des Fehlerbegriffs

Peter Röbke: Die Fehler und das Schöne. Annäherungen an eine Ästhetik des Unvollkommenen

Martin Widmaier: Falsch!? Zur Rolle von „Fehlern“ im Differenziellen Lernen

Sibylle Cada: Schwan, Möwe oder Amsel? Flexible Fehlernutzung beim Lernen und Lehren

Stefan Hörmann (Moderation): Roundtablegespräch Instrumental- und Gesangspädagogik mit Silke Kruse-Weber, Gerhard Mantel, Peter Röbke und Maria Spychiger

Maria Spychiger: Instrumentalpädagogischer Zugriff im Umgang mit Fehlern. Fehlerkultur in konstruktiv(istisch)en Lernprozessen

Manuel von der Nahmer: Im Rampenlicht. Erwartungsdruck im Orchesteralltag

Silke Kruse-Weber: Fallbeispiele. Zum Umgang mit Fehlern im Instrumental- und Gesangsunterricht, beim Üben und Auftreten

Peter Revers: „…bizarr, wie chinesisch“. Falsche Töne? Falsches Hören? Falsche Ausgaben?

Tom Sol: Die Stimme, das Singen oder der Sänger? Über das Akzeptieren, Ausgleichen, Ignorieren und Beschönigen von Fehlern

Anthony Maher: Where failure breeds success. And differences in cultural mindsets

Wolfgang Kallus: Antizipation und Aufmerksamkeit bei der Vermeidung von Fehlern. Ergebnisse aus kritischen Flugsituationen im Simulator

Coda

Autorenhinweise

Für eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema „Exzellenz durch dif­ferenzierten Umgang mit Fehlern“ steht unter www.schott-musikpädagogik.dezu diesem Buch eine umfangreiche Literaturliste zur Verfügung.

Unter http://exzellenzdurchumgangmitfehlern.wordpress.com sind alle Vorträge des Symposions als Videoaufzeichnung zu sehen.

Dieses Buch widme ich Gerhard Mantel –

Mensch, Musiker und (Quer-)Denker

* 31. Dezember 1930

† 13. Juni 2012

Kaum waren die Texte dieses Buchs fertiggestellt, musste ich betroffen zur Kenntnis nehmen, dass Gerhard Mantel am 13. Juni 2012 von uns gegangen ist.

Mit seiner Vitalität hat Gerhard Mantel noch im November 2011 auf dem Symposion „Exzellenz durch Umgang mit Fehlern“ sehr viele TeilnehmerInnen begeistert. Im Nach­hinein betrachtet, ist sein Beitrag für dieses Buch ein besonders wertvolles Geschenk.

Gerhard Mantel untersuchte das Thema „Umgang mit Fehlern“ schon lange. Er dachte immer lösungsorientiert und in künstlerischen Spiel- bzw. Freiräumen, suchte allzeit Anschluss an die neuesten Erkenntnisse benachbarter Disziplinen und setzte Meilensteine für eine innovative und zeitgemäße Instrumentalpädagogik. Seine Begeisterung und Liebe zum Musizieren und Unterrichten, seine Sichtweisen und seine Kommunikationsfähigkeit haben meine Intentionen, Visionen und mein Engagement für die Instrumentalpädagogik wesentlich beeinflusst und mich auf meinem Lebensweg begleitet. Ich danke dir!

Silke Kruse-Weber

Es ist vom Anfang des Unterrichts an bis zum Konzertauftritt wichtig, das Selbstvertrauen des Schülers zu fördern, Freiräume zu schaffen und ihn auch in Widerspruch zum Lehrer treten zu lassen. Leider werden hier große Fehler begangen, selbst von prominenten Musikpädagogen, die gar nicht bemerken, dass sie mit ständiger Kritik das Selbstvertrauen ihrer Studenten zerstören. Auch die Einstellung zu Fehlern ist bedeutsam. Wenn ein Fehler als persönliche Niederlage interpretiert wird, schleicht sich schon beim Lernen im stillen Kämmerlein die Angst mit ein…

Gerhard Mantel

Präludium

Das Thema

Die Thematik „Umgang mit Fehlern“ steht im Brennpunkt zahlreicher Disziplinen: in den Risikobranchen wie Luftfahrt und Medizin, im Management, in der Psychologie und in der Pädagogik. Fehler-ForscherInnen sind sich einig, dass eine positive Fehlerkultur die Basis für Erfolge bieten kann. Je nach Disziplin gibt es verschiedene Ansätze im Umgang mit Fehlern: So steht im pädagogischen Ansatz das Lernen aus Fehlern, im Qualitätsmanagement-Ansatz die Vermeidung, Überprüfung und Kontrolle von Fehlern sowie im Innovationsmanagement und den lernenden Organisationen die Fehlertoleranz und Kultur der Fehlerfreundlichkeit im Zentrum.

Fehler gehören zu jedem Lernprozess. Bei vielen Dingen, die wir uns aneignen, wie z. B. Sprechen, Laufen oder auch das Arbeiten am Computer, ist uns dies bewusst. Wir bewegen uns ständig in der Instabilität zwischen Scheitern und Gelingen. Beim Musizieren jedoch sind Fehler meist negativ konnotiert. Die Einstellung, dass Fehler als Versagen und persönliche Bedrohung empfunden werden, scheint hier weit verbreitet.

Das produktive Potenzial von Fehlersituationen beim Unterrichten wird viel zu seltengenutzt. Aus den Befunden von Fritz Oser und Maria Spychiger geht hervor, dass Fehlerviel zu oft ignoriert oder von Lehrpersonen selbst ganz schnell korrigiert werden, ohne dass der betreffende Schüler oder die betreffende Schülerin dadurch etwas lernt.1

Auch beim eigenen Üben verfolgen MusikerInnen meist die Strategie der Fehlervermeidung. Doch Fehler passieren.2 Wie gehen MusikerInnen damit um? Um exzellente Leistungen zu erreichen, arbeiten sie lebenslang – oft angstbesetzt. Doch zwanghaftes Streben nach Perfektion und stark stressbesetzte Fehlersituationen können zu Blockierungen in Lernprozessen, Einschränkungen in Gedächtnisleistungen und Sinneswahrnehmungen sowie zu Aufführungsangst führen.

Perfektion erwarten nicht nur die MusikerInnen, sondern auch das Publikum. Aber gerade in einem komplex-dynamischen Prozess wie dem Musizieren sind unerwartete und unerwünschte Ereignisse, Wirkungen und Kontextveränderungen unvermeidbar.3 In der Musikbranche wird dies jedoch nicht berücksichtigt. Auf Grund der medialen Präsenz von Musik erwartet das Publikum, dass MusikerInnen fehlerfrei spielen. Der Perfektionsanspruch wird in unserer Zeit als besonders hoch empfunden.

Das Spannungsfeld im Umgang mit Fehlern bewegt sich somit zwischen „Fehler als Lernchance“ und „Fehler als persönlicher Makel“.

Wie sich eine negative Fehlerkultur im Instrumentalunterricht auswirken kann, zeigt rückblickend folgende Aussage von Frau H., 25, Pressesprecherin (Interview im Rahmen des Symposions): „Ich bin Opfer der Fehlerkultur in meiner Kindheit. Ich hätte sicher länger selbst Musik gemacht, wenn ich nicht andauernd negative Rückmeldungen bekommen hätte. Sicherlich hat das mit der Chemie zwischen meinem damaligen Lehrer und mir zu tun. Wenn ich selbstbewusst genug gewesen wäre, hätte ich mit meinen Eltern darüber reden können. Dann hätten sie vielleicht reagiert und mir einen anderen Lehrer gesucht.“

Die Fehler-Thematik ist nicht nur eine Sache des individuellen Umgangs. Es stellen sich auch kritische Fragen an das Umfeld – u. a. Familie, Gesellschaft und Bildungssysteme wie Musikschulen und Schulen. Hier fehlt es oft an einer konstruktiven und produktiven Fehlerkultur, an Fehlerkompetenz, an Wissen über Fehlervermeidungsstrategien sowie an Forschungserkenntnissen zu Fehlerstrategien. Es gibt bisher kein systematisches Curriculum für den Aufbau von Fehlerkompetenz und -kultur im Fach.

Ein Blick auf die Historie der (Musik-)Pädagogik kann einige interessante Aspekte in der Auseinandersetzung mit der Thematik liefern, die auch aus heutiger Sicht als modern angesehen werden können. Heinrich Jacoby (1889-1964) beobachtete beim Lernen die hemmende „Angst vor dem Falschmachen“ und plädierte sehr dafür, weniger Normen und Regeln von außen zu setzen, sodass jeder Lernende erst selbst durch Ausprobieren „das Empfinden für das Stimmende finden kann. Wir sind erzogen in lauter Angst vor dem Falschmachen.“4 Jacoby fragt sich, warum so viele Kinder falsch singen. „Zunächst singen alle Kinder falsch, bevor sie allmählich – ganz wie bei der Sprache – richtig singen. Je früher ein Kind beim ,Falsch‘-Singen korrigiert wird, desto gewisser wird es später beim Intonieren unsicher bleiben und sich so verhalten, daß man ein ,schlechtes Gehör für Musik‘ konstatiert. Desto mehr wird seine ­Unbefangenheit und Bereitschaft, sich selber zu korrigieren, gestört, desto mehr gewöhnt es sich daran, sich nach außen zu orientieren und die anderen zu fragen, ob etwas falsch oder richtig sei, und desto weniger kann es gelassen probieren, Klänge zu intonieren, wie es sie hört.“5

Auch Gerhard Mantel beschreibt Ähnliches: „Als typisch erscheint der ängstliche Blick eines 25-jährigen Studenten zur Lehrerin, mit dem Gesichtsausdruck: ,Ist es richtig?‘ Dies in einem Alter, wo andere junge Menschen Firmen gründen, Abgeordnete werden, eine Passagiermaschine fliegen, vielleicht als Assistenzärzte operieren.“6 Solange direktes Instruieren und autoritäre Anweisungen statt autonomiefördernde Anregungen die Kommunikation im Instrumental- und Gesangsunterricht bestimmen, verbleibt die Selbsteinschätzung des Lernenden defizitär und das Lernen wird geprägt durch die Angst vor dem Falschmachen.

Im Umgang mit Fehlern ergeben sich in der Instrumental- und Gesangspädagogik aber auch viele positive Herausforderungen. Unterricht hat die Möglichkeit, Aufgabe und trägt Verantwortung dafür, Selbstwirksamkeitserwartungen und positive Selbstkonzepte der Lernenden zu fördern und zu stärken. Fehler geben Auskunft über den aktuellen Leistungs- und Wissensstand. Sie geben wichtige Information darüber, was noch fehlt, und informieren über die Wirklichkeit.7 Sie bieten Anlass zum Reflektieren von Routinen, geben Anreiz für den Erwerb neuen Wissens und Könnens und eröffnen positive Lernchancen. Durch Fehler können Rückschlüsse auf kognitive Prozesse gewonnen werden. Fehler stellen Herausforderungen dar, sich mit der Situation und Routine auseinanderzusetzen sowie mentale Repräsentationen zu modellieren. Fehler haben auch Potenzial für Innovationen. Wer Fehler im Lernprozess zulässt, zugibt und systematisch aus ihnen lernt, ist kreativer, innovativer und erfolgreicher.8 Weiterhin zeigt sich im Umgang mit Fehlern, wie flexibel, ideenreich, schnell und angemessen ausübende und unterrichtende MusikerInnen auf etwas Unerwartetes oder Unerwünschtes reagieren können.9 Nicht zuletzt kann man mit Fehlern gezielt arbeiten sowie Gefahren und Störungen antizipieren, um negative Konsequenzen bei Fehlersitua­tionen gering zu halten.

Sowohl im Instrumental- und Gesangsunterricht als auch im Üben und Auftreten vor Publikum kristallisiert sich der Umgang mit Fehlern als ein starkes Qualitätskriterium heraus. Hier zeigt sich fachliche, didaktische und diagnostische Kompetenz. Und obwohl der Umgang mit Fehlern eine pädagogische Schlüsselposition darstellt und das Fehlermachen zum Alltag von MusikerInnen gehört, gibt es kaum gesicherte Aussagen und systematische Darstellungen zum Umgang mit Fehlern im Bereich des ­Musizierens. Auch wie das Lernen aus Fehlern genau funktioniert, liegt weitgehend im Dunkeln.10

Das Symposion

Das Symposion „Exzellenz durch Umgang mit Fehlern“ im Bereich des Musizierens und Musiklehrens fand am 11. und 12. November 2011 mit 250 TeilnehmerInnen in der Kunstuniversität Graz (Österreich) statt. Der Fachbereich für Instrumental- und Gesangspädagogik übernahm die Konzeption und Durchführung dieser Veranstaltung. Die Reflexion und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Fehlerthema, die offene und vielfältige Kommunikation in den Roundtables, Diskussionen, Pausen­gesprächen und Interviews stellten zentrale Aspekte dar. Der Erfahrungsaustausch unter den TeilnehmerInnen war ein wesentliches Anliegen.

Grundlage bei der Planung des Symposions bildete das „Strukturmodell der Musikpädagogik“ von Stefan Hörmann mit der Differenzierung des Fachs in die mitei­nander vernetzten Bereiche einer vielfältigen Musizier- und Unterrichtspraxis, einer auf Unterrichtsplanung ausgerichteten Musikdidaktik und schließlich einer forschungsgeleiteten Wissenschaftlichen Musikpädagogik. Entsprechend rekrutierten sich die TeilnehmerInnen und ExpertInnen des Symposions: erstens aus MusikerInnen, zweitens aus MusikpädagogInnen, die Entscheidungen für Handlungskonzepte zur Fehlerkorrektur treffen, und drittens aus WissenschaftlerInnen, die über Fehler forschen.

Bedeutsam ist auch, dass die Musikpädagogik mit ihren verschiedenen Bereichen als ein interdisziplinär vernetzter Gegenstandsbereich verstanden wird. Dies zeigt sich in den Beiträgen des Symposions, die an verschiedenste Disziplinen anknüpfen: Musik- und Erziehungswissenschaften, Lernpsychologie, Organisations- und Arbeitspsychologie, Sportwissenschaften und Risikobranchen wie Management, Luftfahrt und Medizin. Das Interesse an der Interdisziplinarität besteht vor allem darin, dass Synergien zwischen den verschiedenen Fachrichtungen produktiv für das eigene Fach genutzt werden können.

Die Beiträge

Zunächst wird auf disziplinärer Ebene Struktur in das weite Feld der Instrumental- und Gesangspädagogik bzw. Musikpädagogik gebracht: Stefan Hörmann stellt das besagte Strukturmodell der Musikpädagogik vor und bringt es in einen Zusammenhang mit der Kunst der Fuge (BWV 1080) von Johann Sebastian Bach, die das Symposion musikalisch begleitet hat.

Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass sich die Einstellung zu Lernprozessen, die Auffassung vom Lernen und das musikpädagogische Können speziell im Umgang mit Fehlern herauskristallisiert,11 geht die Herausgeberin, Silke Kruse-Weber, auf die didaktischen Grundhaltungen in der Gestaltung pädagogischer Handlungsspielräume ein. Auch die Einstellung zu Fehlern von Lernenden und Lehrenden in den Phasen des Übens auf dem Weg zur Expertise werden hierbei berücksichtigt.

Maria Spychiger berichtet über grundlegende Befunde der Fehlerkultur und des Lernens aus Fehlern, die sie zusammen mit Fritz Oser in den Erziehungswissenschaften entwickelte. Weiter bezieht sie Erkenntnisse aus der Lernpsychologie sowie Arbeits- und Organisationspsychologie ein und setzt sie in Beziehung zur Instrumentalpädagogik.

Sowohl Gerhard Mantel als auch Peter Röbke beschäftigen sich mit dem Spannungsfeld von Perfektion und Unvollkommenheit. Gerhard Mantel bezieht seine Anschauungen und Vorstellungen jeweils auf den handelnden Musiker und die handelnde Musikerin. Die didaktisch-methodischen Ansätze werden im Hinblick auf ihre möglichen praktischen Wirkungen entwickelt.

Peter Röbke entfaltet seine Überlegungen zu einer Ästhetik des Unvollkommenen ausgehend von einem psychoanalytischen Ansatz. Er macht deutlich, dass ein Beseitigen alles Fehlerhaften das Ende eines berührenden Musizierens bedeuten würde. Nicht zuletzt nimmt er die traditionellen musikalischen Ausbildungssysteme kritisch in den Blick.

Auch Martin Widmaier entwickelt einen interdisziplinären Zugang zur Thematik: Die Grundlage bildet das systemdynamische Lernmodell „Differenzielles Lernen“ aus dem sportwissenschaftlichen Bereich. Widmaier adaptiert das differenzielle Lern­modell für das instrumentale Üben. Der Begriff „Fehler“ erhält hier eine ganz neue Bedeutung.

Sibylle Cada nimmt rückblickend ihren Unterrichtsworkshop mit drei Schülern und Schülerinnen verschiedener Alters- und Leistungsstufen am Klavier in den Blick. Fehlerfreundliche Kommunikation beschreibt sie auf der sachlichen, strategischen und psychologischen Verhaltensebene.

Manuel von der Nahmer gibt Einsichten in den Alltag eines professionellen Orchesters. Er berichtet vom großen Erwartungsdruck, dem jene MusikerInnen ausgesetzt sind, von Fehlern, die selbstverständlich weiterhin passieren – sowohl im musikalischen als auch im zwischenmenschlichen Bereich – und dem „Makel“, diese Fehler vor dem Dirigenten bzw. der Dirigentin und den KollegInnen zu zeigen.

Tom Sol stellt Ergebnisse aus seiner Studie zur Bewertung des Singens vor. Der Gesang scheint im Umgang mit Fehlern eine besondere Rolle zu spielen, denn wohl in kaum einem anderen Gebiet der musikalischen Aufführungspraxis werden Sängerinnen und Sängern ihre Fehler so leicht vergeben wie beim Sologesang. Nur „professionelle“ Kritiker haben immer etwas „zu nörgeln“, und wenn es die Perfektion ist.

Peter Revers nimmt das Thema „Fehler“ und „Überschreiten von Normen“ aus der musikhistorischen Perspektive in den Blick. Er spürt dem Spannungsfeld von (angenommenen) „falschen“ Noten, „falschem“ Hören und – daraus resultierend – „falschen“ editorischen Entscheidungen nach und nimmt zugleich die Rolle der Werk­interpretation und der zugrunde liegenden Notentexte kritisch ins Blickfeld.

Anthony Maher beleuchtet das Thema „Fehler führen zum Erfolg“ aus dem Blick­winkel des Innovationsmanagements. Diese Sichtweise rechnet immer mit dem Schei­tern. Auffallend ist, dass es in Bezug auf Experimentier- und Risikofreude gegenüber Fehlern starke kulturelle Unterschiede gibt.

Anhand von Beispielstudien aus dem Sport, kritischen Flugsituationen im Simulator und dem instrumentalen Bewegungslernen beschreibt Wolfgang Kallus die Beziehung zwischen antizipativer Verhaltenssteuerung, Aufmerksamkeit und Leistung bei der Vermeidung von Fehlern aus der Sicht der Organisations- und Arbeitspsychologie.

Die Prämisse, dass offene Kommunikation und Selbstreflexion wesentliche produktive Kriterien im Umgang mit Fehlern darstellen, soll auch in dieser Publikation gespiegelt werden. So werden wesentliche Ausschnitte aus dem eröffnenden interdisziplinären Roundtable sowie dem abschließenden Roundtable-Gespräch mit Vertretern der Musik- bzw. Instrumental- und Gesangspädagogik zum Anlass genommen, sie hier abzudrucken. Auch die Studierenden der Kunstuniversität Graz haben sich wesentlich an der Auseinandersetzung mit der Thematik beteiligt. Sie verfassten Fallberichte im Rahmen von Seminaren zur Fehlerkultur, reflektierten und tauschten sich untereinander aus. Für dieses Buch wurden die Fallbeispiele von der Herausgeberin strukturiert und kommentiert. Grundgedanke in der Arbeit mit diesen Beiträgen ist es, dass Studierende nicht nur Wissen generieren und reproduzieren, sondern durch problembezogenes Reflektieren Erfahrung und Professionalität entwickeln, die jeweils auf das Handeln in der Praxis gerichtet sind.

Am Schluss dieser Publikation kehren wir nochmals zum fachlichen Strukturmodell der Musikpädagogik zurück. Wir beleuchten die Fehlerthematik aus den verschiedenen disziplinären Perspektiven sowie in ihrer interdisziplinären Vernetzung und fassen schließlich wesentliche Ergebnisse zusammen.

Mit diesem Buch werden erstmalig Grundlagen der Fehlerforschung aus den Nachbardisziplinen für die Instrumental- und Gesangspädagogik12 adaptiert. Möge hiermit ein wesentlicher Beitrag zu den Professionalisierungsbestrebungen im Umgang mit Fehlern geleistet werden.

Dank

Den Autorinnen und Autoren danke ich herzlich für die vielseitigen und interessanten Beiträge zum Buch, Manfred Rechberger und seinem Team für die Unterstützung beim Erstellen des Blogs, Barbara Borovnjak für die kompetente und einfühlsame Unterstützung in der Vor- und Nachbereitung des Symposions sowie insbesondere dem Land Steiermark für die großzügige Unterstützung dieser Publikation.

Silke Kruse-Weber

1 Maria Spychiger und Fritz Oser konnten diese Beobachtung im Rahmen ihrer Forschungsstudie „Lernen Menschen aus Fehlern? Zur Entwicklung einer Fehlerkultur in der Schule“ von 1991 bis 2001 machen (Diese Studie wurde durchgeführt an der Universität Fribourg (Schweiz) am Departement für Erziehungswissenschaften). Vgl. auch Maria Spychiger: „Ein offenes Spiel. Lernen aus Fehlern und Entwicklung von Fehlerkultur“, in: Ralf Caspary (Hg.): Nur wer Fehler macht, kommt weiter. Wege zu einer neuen Lernkultur, Freiburg 2008, S. 25-48, hier: S. 30.

2 Vor allem erklären die komplexen Vernetzungen des Gehirns die Fehlerentstehung. Nicht zuletzt entdeckte man ein so genanntes „Ups-Potenzial“ im Gehirn, welches den Fehler meldet, noch kurz bevor er ausgeführt wird. Maria Herrojo Ruiz/Hans-Christian Jabusch/Eckart Altenmüller: „Detecting wrong notes in advance: Neuronal Correlates of Error-Monitoring in Pianists“, in: Cerebral Cortex 2009/19(11), S. 2625-2639. Vgl. auch Clemens Maidhof u. a.: „Nobody Is Perfect. ERP Effects Prior to Performance Errors in Musicians Indicate Fast Monitoring Processes“, in: Public Library of Science ONE. 2009/4(4), e5032. Online unter: www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0005032 (Stand: 17.7.2012). Und vgl. Manfred Spitzer: „Das Gehirn und seine Fehler“, in: Ralf Caspary (Hg.): Nur wer Fehler macht, kommt weiter. Wege zu einer neuen Lernkultur, Freiburg 2008, S. 73-85.

3 vgl. Martin Weingardt: Fehler zeichnen uns aus. Transdisziplinäre Grundlagen zur Theorie und Produktivität des Fehlers in Schule und Arbeitswelt, Bad Heilbrunn 2004, S. 262.

4 Heinrich Jacoby: Jenseits von Begabt und Unbegabt. Zweckmäßige Fragestellung und zweck­mäßiges Verhalten – Schlüssel für die Entfaltung des Menschen, hg. von Sophie Ludwig, Hamburg 21983, S. 101.

5 ebd., S. 332-333.

6 Gerhard Mantel: „Zeitgemäße Hochschulausbildung?“, in: Üben & Musizieren 2/2003, S. 30-36, hier: S. 31.

7 vgl. Reinhard Kahl: „Perfektion ist der Tod“, in: Aus Fehlern lernen. Vom Wert falscher Entscheidungen – Geo 2012/03, S. 146-149, hier: S. 149.

8 vgl. u. a. Doerte Heimbeck/Michael Frese/Sabine Sonnentag: „Integrating errors in the training process.The function of error management instructions and the role of goal orientation“, in: Personnel pychology 2003, 56, S. 333-361.

9 vgl. Maria Spychiger: „Schule als fehlerfreundliche Zone“, in: ILSMAIL, Ausg. 2/10, FehlerHAFT, S. 7. Online unter: www.uibk.ac.at/ils/ilsmail/pdf_ils_mail/ilsmail_02_2010_fehlerhaft.pdf (Stand: 21.7.2012).

10 vgl. Weingardt, Fehler zeichnen uns aus, a. a. O., S. 128. Vgl. auch: Eveline Wuttke/Jürgen Seifried/Anja Mindnich: „Umgang mit Fehlern und Ungewissheit im Unterricht. Entwicklung ­eines Beobachtungsinstruments und erste empirische Befunde“, in: Michaela Gläser-Zikuda/ Jürgen Seifried (Hg.): Lehrerexpertise. Analyse und Bedeutung unterrichtlichen Handelns, Münster 2008, S. 91-111, hier: S. 91.

11 Spychiger, „Ein offenes Spiel“, a. a. O., S. 31.

12 vgl. aber Maria Spychiger: Vom Umgang mit dem Fehler im Instrumental- und Vokalunterricht, Schriftenreihe zum Projekt „Lernen Menschen aus Fehlern? Zur Entwicklung einer Fehlerkultur in der Schule“, Nr. 4/Nr. 5, Pädagogisches Institut der Universität Freiburg, 1998.

Ein fachliches Strukturmodell und Bachs „Kunst der Fuge“

Kompass für das Symposion

Stefan Hörmann

Der Umgang mit Fehlern im Kontext des Musizierens und Unterrichtens von Musik ist eine sehr vielschichtige Thematik, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden kann und muss. Welche Perspektiven dabei prinzipiell zu berücksichtigen sind,verdeutlicht ein fachliches Strukturmodell der Musikpädagogik, das auch bei der Bear­beitung instrumental- und gesangspädagogischer Fragestellungen Orientierung bietet.

Dieses Strukturmodell geht im Ansatz auf Eckhard Nolte zurück und wird vom Verfasser und seinem Bamberger Forschungsteam seit Längerem weiterentwickelt. Es unterscheidet zwischen Praxis-, Planungs- und Forschungsbereich. Der Praxisbereich richtet dabei den Fokus auf das konkrete Geschehen in der Vermittlungssituation. Der Planungsbereich widmet sich der (normativ angelegten) Konzeption von Musikunterricht und wird Musikdidaktik genannt. Der Forschungsbereich schließlich liefert ge­sichertes Wissen zu verschiedenen Teilbereichen der Wissenschaftlichen Musikpädagogik, die sich nach ihrer inhaltlichen bzw. forschungsmethodischen Ausrichtung in Historische, Empirische, Vergleichende und Systematische Musikpädagogik unterteilen lassen.1

Macht dieses Strukturmodell einerseits die verschiedenen fachlichen Bereiche in ihrer Eigenart und Unterschiedlichkeit deutlich, so dürfen diese andererseits nicht als streng voneinander abgegrenzt missverstanden werden. Sie hängen vielmehr eng zusammen und befinden sich gleichrangig in einem dynamischen Austausch. Grafisch gut darstellen lässt sich dieser Sachverhalt im Bild des Propellers (siehe Abbildung auf der folgenden Seite), das an die Stelle der früheren, leicht als hierarchische Anordnung misszuverstehenden Ebenendarstellung2 getreten ist.

Bedeutsam ist schließlich auch noch, dass die Musikpädagogik mit ihren verschiedenen Bereichen nicht als fachlich eng begrenzter, sondern interdisziplinär vernetzter Gegenstandsbereich verstanden wird.

Für die Auseinandersetzung mit Fehlern im Kontext des Musizierens und Unterrichtens von Musik kann das dargestellte Strukturmodell eine Reihe von Anstößen geben. So regt es an, den Blick unter anderem zu richten auf:

∎ in der Musizier- und Unterrichtspraxis auftretende Fehler als Gegenstand eigener Erfahrungen und bereits vorliegender forschungsbasierter wissenschaftlicher Erkenntnisse,

∎ (dem Bereich der Empirischen Musikpädagogik zuzuordnende) physiologische und psychologische Hintergründe fehlerhaften Musizierens,

∎ instrumentaldidaktische Ansätze zum Umgang mit Fehlern und deren wissenschaftliche Fundierung bzw. wissenschaftlich erwiesene Effizienz,

∎ Anregungen aus anderen Fachgebieten zu Erforschung von und Umgang mit Fehlern im musikalischen und musikpädagogischen Kontext.

Neben dem dargestellten fachlichen Strukturmodell hat das Symposion einen zweiten Orientierungspunkt: Bachs Kunst der Fuge. Der Vortrag der Contrapunctus-Kompositionen Nr. I, V, X und XI ist dabei weit mehr als nur ein musikalisches Rahmenprogramm. Vielmehr können diese Stücke sinnfällig Bezüge zur Thematik der Veranstaltung und ihrer Behandlung aufweisen. Sie fungieren damit als eine Art musikalischer Wegweiser und Klammer.

Eine direkte Brücke zum Thema „Fehler“ stellt das Eröffnungsstück der Kunst der Fuge, der Contrapunctus I, her. Dies trifft zumindest dann zu, wenn man Diether de la Motte folgt, der hier eine Reihe von fehlerhaften Momenten entdeckt. Beispielsweise merkt er an, dass der Themenverlauf „mehrfach […] nicht korrekt“ und die Themenbehandlung „außerordentlich fahrlässig“ sei, es kaum für Fugen charakteristische satztechnische Künste gebe und das Thema „zweimal mit ,falschem‘ Anfangston in der Tonika“ zu beginnen scheine.3 Zu einem solchen Urteil kann man freilich nur kommen, wenn man dieses Stück am „Fugenschema der Formenlehre“ misst, um mit Hans Heinrich Eggebrecht zu sprechen.4 Diether de la Motte relativiert seine Aus­sagen zur Fehlerhaftigkeit des Contrapunctus I allerdings auch selbst. So glaubt er etwa, dass Bach die kontrapunktischen Künste „absichtlich“ für spätere Teile des Zyklus „aufgespart“ habe.5 Damit richtet sich der Blick auf die Notwendigkeit einer Betrachtung des scheinbar Fehlerhaften in einem größeren Kontext.

Anknüpfend an diesen inhaltlichen Bezug des Contrapunctus I zum Symposion stellen weitere Stücke aus Bachs Zyklus Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit der Fehlerthematik bereit. Vergleichsmoment ist dabei die Art der thematischen Konstruktion der Musik.

Contrapunctus V – eine Gegenfuge, in der das Thema variiert und in seiner Umkehrung erklingt – zeigt, welche kompositorischen Möglichkeiten dem zunächst als fehlerhaft bzw. unvollkommen erscheinenden Thema innewohnen. Im Kontext des Symposions kann dies den Blick auf die Frage richten helfen, welches musikdidaktische Potenzial in einem produktiven Umgang mit Fehlern stecken könnte.

In der Doppelfuge des Contrapunctus X erfährt das variierte Hauptthema durch Hinzutreten eines neuen Themas als gewichtigem Partner eine neue Beleuchtung. Umgemünzt auf den Umgang mit Fehlern könnte dieser Perspektivgewinn durch die Einbeziehung musikpädagogischer Forschungserkenntnisse als Basis für den musikdidaktischen Umgang mit Fehlern erzielt werden – ein für das Symposion wichtiger Ansatzpunkt.

Contrapunctus XI, ein Stück hoher kompositorischer Dichte, führt gegen Ende unterschiedliches thematisches Material in allen vier Stimmen zusammen. Mit seiner Komplexität eröffnet es der Fugenkomposition neue Dimensionen. Für das Symposion könnte es z. B. als Wegweiser verstanden werden, die Fehlerthematik über die Grenzen des eigenen Fachs hinaus in einem größeren interdisziplinären Kontext zu betrachten.

Charakteristisch für die Kunst der Fuge insgesamt ist schließlich, dass von verschiedenem thematischem Material geprägte, sich gegenseitig beleuchtende und he­rausfordernde, in einen komplexen satztechnischen Zusammenhang eingefügte Stimmen zu einem überzeugenden Ganzen verschmelzen. Dieser harmonisch abgestimmte thematische Reichtum kann ein Sinnbild für eine Beschäftigung mit Fehlern im Kontext des Musizierens und Unterrichtens unter vielerlei miteinander vernetzten Pers­pektiven sein.

Nach allem Gesagten können das vorgestellte fachliche Struktur­modell und Bachs Kunst der Fuge in spezifischer Weise als Orientierung gebender Kompass für das Symposion fungieren. Möge die Fachdiskussion zur Fehler-Thematik mit diesem Ansatz viele neue Denkanstöße erhalten.

1 vgl. zum Strukturmodell und zum genaueren Umriss der verschiedenen Teilbereiche Eckhard Nolte: „Musikpädagogik als wissenschaftliche Disziplin – Struktur und Aufgaben“, in: Seoul ­Institute of Music Education (Hg.): The 3rd International Symposion on Music Education. ­Contemporary Approaches to Music Education, Seoul 1997, S. 73-85; Eckhard Nolte: „Musik­pädagogik als wissenschaftliche Disziplin – Struktur und Aufgaben“, in: Ludwig-Maximilians-Universität München, Gemeinsame Kommission für Fragen der Didaktik durch Alfred Gleißner (Hg.): Bildung für morgen. Zukunftsorientierte Fachdidaktik. Dokumentation des fachdidaktischen Dies academicus am 3.12.1996, München 1998, S. 168-181; Stefan Hörmann: „Was bedeutet eigentlich ,Musikdidaktik‘? Reflexionen zum neu gefassten Begriffsverständnis Eckhard Noltes“, in: Stefan Hörmann/Bernhard Hofmann/Martin Pfeffer (Hg.): In Sachen Musikpädagogik. Aspekte und Positionen. Festschrift für Eckhard Nolte zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 2003, S. 229-248, hier: 233 ff.; Stefan Hörmann: „Aktuelle Entwicklungen in der deutschen Musikpädagogik“, in: Institut für Musikpädagogik Frankfurt am Main (Hg.): Zielstringenz in der Musikpädagogik. Zum Gedenken an Sigrid Abel-Struth (1924-1987), Musikpädagogische Impulse, hg. von Peter Ackermann und Ulrich Mazurowicz, Bd. 9, Fernwald 2007, S. 67-86, hier: S. 67 ff.; Stefan Hörmann: „Im Gespräch: Systematische Musikpädagogik“, in: Bernd Clausen (Hg.): Vergleich in der musikpädagogischen Forschung, Musikpädagogische Forschung, hg. vom Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung e. V., Bd. 32, Essen 2011, S. 211-224, hier: S. 216 f.

2 vgl. Hörmann, „Aktuelle Entwicklungen in der deutschen Musikpädagogik“, a. a. O., S. 67 f.

3 Diether de la Motte: Musikalische Analyse. Mit kritischen Anmerkungen von Carl Dahlhaus. Textteil, Kassel 61990, S. 24 und 27 f.

4 Hans Heinrich Eggebrecht: Bachs Kunst der Fuge. Erscheinung und Deutung, München 21985, S. 9.

5 de la Motte, a. a. O., S. 28.

Zwischen Instruktion und Konstruktion

Einstellungen zum Lernen, Lehren und zu Fehlern

Silke Kruse-Weber

Gerade im Umgang mit Fehlern zeigen Lehrpersonen ihre Einstellung zu Lernprozessen.1 Aus diesen Sichtweisen resultieren wiederum entsprechende Verhaltensweisen. Im folgenden Beitrag werden wesentliche Grundhaltungen zum Lernen und zu Fehlern gegenübergestellt. Zugleich möge dieser Beitrag LeserInnen anregen, im Hinblick auf traditionelles Lehren und Lernen einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und ihr Verständnis von Lernen und Leistung zu erweitern sowie ihre Einstellung zu Fehlern zu reflektieren. Christian Winkler2 hat den systemisch-konstruktivistischen Ansatz für das Lernen und Lehren in der Instrumentalpädagogik entwickelt. Auf einige seiner Ausführungen wird hier Bezug genommen.

Grundhaltungen zum Lernen und Lehren

Abbildung 1 veranschaulicht bzw. karikiert eine häufig anzutreffende Unterrichtssitua­tion: Lea3 verspielt sich immer wieder im gleichen Lauf. Ihre Lehrperson sieht sie ­resignierend an und ruft: „Ich hab’s dir doch schon 100 Mal erklärt! DU MUSST LOCKER SEIN! Die Anderen schaffen es doch auch! So wirst du nie musizieren können.“ Lea ist verunsichert, fühlt sich hilflos und überfordert.

Abb. 1: „Sei locker!“

Welche Einstellung dem Lernen und Lehren gegenüber zeigt uns diese Karikatur? Die Lehrperson hat eine genaue Vorstellung vom Lernziel („Sei locker“) – und da möchte sie möglichst ohne Widerstände und Umwege hin. Hindernisse stören und werden als Defizit gesehen. Die Lehrperson versteht nicht, dass Lea auf ihren Hinweis („Sei locker“) nicht adäquat reagieren kann. Im Gegenteil: Die Aufforderung der Lehrperson scheint zu einer weiteren Verschlechterung geführt zu haben. Lea ist noch angespannter.

Die Lehrperson richtet ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Differenz zwischen dem angestrebten Ziel (= Lockerheit) und dem Leistungsergebnis (= Verspannung). Sie ist nicht daran interessiert, was im Inneren von Lea vorgeht. Stattdessen hebt die Lehrperson das Negative hervor und ist selbst entmutigt, weil ihr die Umsetzung des Inputs nicht gelingt. Letztlich sanktioniert sie den Fehler („So wirst du nie musizieren können“). Die ungenügende Leistung schreibt die Lehrperson den mangelnden Fähigkeiten bzw. der fehlenden Einstellung von Lea oder auch ihrer eigenen Unfähigkeit zu. Lea empfindet die gesamte Situation als negatives Erlebnis. Sie hat in dieser Interaktion keine positive Lernchance wahrnehmen können, sondern eine stress­volle und entwertende Leistungssituation.

Wie wäre es aber weitergegangen, hätte die Lehrperson wie folgt reagiert? „An dieser Stelle scheint es mir ein Problem zu geben. Aber wir beide werden der Sache jetzt auf den Grund gehen. Und ich bin mir sicher, wir bekommen heraus, wo der Schuh drückt.“ Die Lehrperson weiß, dass Lernende Impulse nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten aufnehmen und verarbeiten können. Sie hat zwar eine Vorstellung, wo die Ursache liegen könnte, weil sie viel Erfahrung hat, aber sie fragt Lea dennoch: „Lag es vielleicht an einer falschen Bewegung oder an einem zu komplizierten Fingersatz? An was hast du gedacht? Was hast du empfunden?“ Die Lehrperson fühlt sich forschend in den Lernprozess von Lea ein und reflektiert die Situation in gemeinsamer Arbeit. Auch Lea ist optimistisch und fühlt sich gestärkt, weil sie spürt, dass sie ihr Musizieren verbessern wird. Sie überlegt nun selbst, was sie verändern kann.

„Lehren heißt, ein Feuer entfachen, und nicht, einen leeren Eimer fü̈llen.“ (Hera­klit) – Die traditionelle bzw. konventionelle Instrumentalpädagogik fasst das Lernen und Lehren als einen linearen kausalen Zusammenhang auf. Das Lernziel wird durch direktes Instruieren fokussiert. Auch in der behavioristischen Tradition der Lernpsychologie wird Lernen als ein Vorgang aufgefasst, der Verhalten durch äußere Hinweisreize und Verstärkungen – Lob und Tadel – steuern und kontrollieren kann. Gegenstand der Betrachtung ist allein das beobachtbare Verhalten. Alles das, was sich ­zwischen Reizen und Reaktionen im „Inneren“ des Lernenden abspielt, befindet sich in einer so genannten Black Box, die keiner Beobachtung zugänglich ist. Dieses Lernen ist rezeptiv, rein auf die Wiedergabe vorgegebener Lerninhalte konzentriert und es tritt vielfach in Verbindung mit einem autoritär geprägten Erziehungsstil auf: Die Lehrperson bestimmt die Regeln, Maßnahmen der Verbesserung etc. Lob und Tadel erfolgen nach vorgegebenen Normen und sollen einschüchtern („Die Anderen schaffen es doch auch“). Erfahrungen, Wünsche und Vorstellungen der Lernenden werden nicht berücksichtigt. Sie agieren meist passiv, demotiviert und beantworten Fragen nur nach Aufruf.

Winkler beschreibt diese traditionelle Lehrer-Schüler-Beziehung so: Der Meister formt sein „Objekt“ nach seinen Vorstellungen. Der Schüler oder die Schülerin stellt quasi das Produkt seines bestimmten Plans dar, das umso besser ist, je näher es an die Vorstellungen des Meisters herankommt. Auch die Beurteilung ergibt sich daraus. Diese Grundhaltung entspricht einer Erziehung aus Sicht des Erziehenden, seiner Werte und Erfahrungen. „Der Erziehende erschafft quasi in einem Akt von ,poiesis‘ oder ,herstellendem Machen‘ Produkte und bewertet dabei seinen Erfolg im ständigen Vergleich seiner Schüler mit sich selbst.“4 Diese Haltung gegenüber Lernenden wird auch Erzeugungsdidaktik genannt.5

Lebewesen können als autopoietische Systeme betrachtet werden. Dies sind ei­nerseits geschlossene Systeme, die sich selbst erzeugen, selbst herstellen bzw. selbst organisieren, andererseits auch offene Systeme, da sie mit ihrer Umwelt – allerdings nur im Rahmen ihres Verhaltensrepertoires – in Kontakt stehen. Hiernach kann die Umwelt niemals bestimmen, wie sich ein System verhält, sondern sie kann Verhaltensweisen nur anregen und verstören bzw. irritieren.6

Wenn die Lehrperson von einer konstruktivistischen Auffassung ausgeht, weiß sie, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit subjektiv konstruiert und auf der Basis bereits bestehenden Wissens interpretiert wird. Erst durch den gemeinsamen Kommunikations- und Interaktionsprozess kann die Wahrnehmung erweitert werden. Die Gestaltung des Lernumfeldes spielt eine bedeutende Rolle. Winkler veranschaulicht dies am Bild des Gärtners, der seine Pflanzen umsorgt und die nötigen Rahmenbedingungen schafft.7 Ebenso gestaltet die Lehrperson die Lernumgebung: Sie regt den individuellen Konstruktionsprozess an, aktiviert, unterstützt kreativ und vielfältig, überprüft den Lernprozess und gibt Rückmeldung zu den Zwischenschritten. Ihre Aufgabe besteht in der Bereitstellung einer herausfordernden, möglichst authentischen Lernumgebung, sodass an Vorwissen angeknüpft werden kann. Das didaktische Handeln orientiert sich an den subjektiven Möglichkeiten des Lernenden. Die beschriebene zentrale Hypothese der Selbsterschließung von Wissen mit den je eigenen Möglichkeiten der Autopoiesie wird in pädagogischen Zusammenhängen als systemisch-konst­ruktivistische Ermöglichungsdidaktik bezeichnet.8

Abbildung 2 veranschaulicht die beiden erzieherischen Grundhaltungen:

Abb. 2: Perspektiven in der Einstellung zu Lern- und Lehrprozessen

∎ Bei der Erzeugungsdidaktik geht die Lehrperson, der Meister, vom Sachgegenstand, dem Lehrplan oder anderen Inhalten aus und fokussiert ein vorgegebenes Ziel. Die Lehraktivitäten stehen im Mittelpunkt, indem der Meister anleitet, erklärt und Aufgaben erteilt (Instruktion). Der Akzent liegt auf der eigenen Person und Kompetenz. Lernende folgen den Lehranweisungen ihres Meisters (Input-Orientierung), reagieren und sind vorwiegend passiv.

∎ Bei der systemisch-konstruktivistischen Ermöglichungsdidaktik richtet sich die Unterrichtsgestaltung nach dem Lernprozess und Output des Lernenden. Lernaktivitäten stehen im Zentrum des Unterrichts. Wie bereits erwähnt unterstützt die Lehrperson, regt zu neuen Übungen und Gedanken an, gibt angemessenes Feedback und berät als Lernpartner. Unterrichten bedeutet, dass die Lehrperson an das Wissen und Können des Lernenden beständig anknüpfen kann (Konstruktion) und gemeinsam mit dem Schüler oder der Schülerin die eigene Wirkung und das Lernverhalten reflektiert.

Heinz von Förster9 benutzt als Physiker und Kybernetiker für diese Prinzipien jeweils eine Maschinenmetapher: triviale und nichttriviale Maschine. Die Vorgänge in der trivialen Maschine lassen sich so vorstellen: Wenn ich bei einem Toaster den Schalter drücke, ist mein Input zwangsläufig mit dem Ergebnis, dem Output verknüpft. Die Eingabe, der Input, ist deterministisch. Das Ergebnis ist vorhersehbar und in der Regel mit der Ausgabe eines leicht knusprigen Toastes gekoppelt. Diese Art der Input-Output-Relation liegt einem geradlinig-kausalen Denken zugrunde.10

Eine Maschine kann man konstruieren, wenn die innere Struktur vorbestimmt ist. Übertragen auf Unterricht bedeutet diese Sichtweise, dass Didaktik normativ ist, ­insofern Lernende als kontrollierbar und formbar betrachtet werden. Berechenbar ist dieser Typ von Maschine insofern, als er den Beobachter nicht überraschen kann. Wenn die Maschine allerdings unvorhergesehen reagiert (der Toast z. B. zu dunkel wird), dann wird die Differenz als Defekt und Versagen erkannt. Dieser Aspekt ist wichtig für unsere Fehlerthematik: Wenn die triviale Maschine defekt ist, muss sie wieder repariert, das heißt berechenbar, kontrollierbar und quasi trivialisiert werden.

Abb. 3: Triviale Maschine

Das Quadrat (f) in der Mitte von Abbildung 3 bestimmt die Wirkungsfunktion der Maschine. Diese kann von uns Menschen bestimmt werden. Diese Funktion wird für eine gewisse Eingabe (x) die Ausgabe (y) zur Folge haben. „Spürt“ die Maschine eine bestimmte Ursache, wird sie immer eine entsprechende Wirkung produzieren. Das ist das Schema der Kausalität. Wenn wir uns die Situation vom Anfang („Sei locker!“) ins Gedächtnis rufen, erkennen wir, dass Lea im Prinzip wie eine defekte triviale Maschine behandelt wird. Auch Förster schließt aus seinen Beobachtungen in institutiona­lisierten Erziehungssystemen, dass in Unterrichtssituationen die inneren Zustände von SchülerInnen gerne ausgeschaltet werden, und unterstellte die Tendenz, dass SchülerInnen bisweilen wie triviale Maschinen behandelt werden, unser Erziehungssystem darauf ausgelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen und „alle jene innerlichen Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen“.11

Einstellung zum Schüler:12

∎ eindeutige Beziehung zwischen Input und Output,

∎ synthetisch determiniertes und analytisch determinierbares System,

∎ vorhersagbares Ergebnis und damit berechenbar.

Ganz anders funktioniert die nichttriviale Maschine (siehe Abbildung 4). Diese nichttriviale Maschine hat einen inneren Zustand (z) – eine Geschichte. Wenn die Maschine einmal eine Reaktion (y) erzeugt hat, mag sie das nächste Mal nicht mehr dieselbe Reaktion hervorrufen, weil die neue Handlung durch das Ergebnis der vergangenen Handlung neu „berechnet“ werden muss. Ein Teil des Outputs wird wieder in das System zurückgeführt. Hierdurch entsteht der zirkuläre Prozess.

Menschen reagieren wie nichttriviale Maschinen. Sie erscheinen dem Beobachter komplex, weil ihr Verhalten nicht erklärbar oder voraussehbar ist (Black Box) und sich dem mechanischen Denken zu entziehen scheint. Nichttrivial heißt: Wir sind Individua­listen. Wir sind vergangenheitsabhängig. Wir sind Geschichte, jeder hat etwas anderes erlebt. Wir sind lebende Systeme und unsere Operationsweisen unterscheiden sich voneinander, da wir autonom operieren (Autopoiese). Menschen als selbstgesteuerte „Systeme“ können von der Umwelt nicht determiniert, sondern allenfalls angeregt werden. Impulse von außen müssen auf der Grundlage biografisch geprägter psycho-physischer kognitiver und emotionaler Strukturen umgewandelt werden.

Abb. 4: Nichttriviale Maschine

Einstellung zum Schüler:

∎ synthetisch determiniert, aber analytisch undeterminierbar,

∎ unvorhersehbares Ergebnis,

∎ vergangenheitsabhängig.

Die beiden Beziehungssysteme müssen sich in pädagogischen Situationen nicht gegenseitig ausschließen. Um Lernprozesse zu einem Ziel zu bringen, müssen Lernen­debis zu einem gewissen Grad als triviale Maschinen, also in einem kausalen Zusam­men­­hang, betrachtet werden. Auch die aktive Teilnahme des Lernenden ist beim direkten Instruieren nicht ausgeschlossen. Die Lehrperson diagnostiziert und ordnet die Stärken und Schwächen des Lernenden ein, um die SchülerInnen in ihrem Konstruktionsprozess begleiten zu können, erkennt das hohe (kreative) Potenzial der inneren Maschine,versteht sich als LernhelferIn und greift nur bei auftretenden Problemen ein. Sie schafft sich Zugang zum Innenleben der Maschine, um sie (trivial) besser steuern zu können.

In der Unterrichtspraxis geht es darum, diese Sichtweisen in den pädagogischen Handlungsspielräumen dynamisch zu gestalten sowie sensibel und bewusst auszubalancieren. Je nach Vorgabe, Situation, jeweiligem Lerninhalt, Lernziel, Alter oder individuellen Lernvoraussetzungen muss ein Pädagoge oder eine Pädagogin die passende Haltung und Rolle innerhalb des polaren Spannungsfelds auswählen, einnehmen und als Rahmen anbieten.13 Das Nachdenken über den Lernprozess bildet den zentralen Schlüssel zur Eigenverantwortlichkeit des Lernenden und zugleich werden Schlüsselkompetenzen sowie das Lernen des Lernens gelernt.14

Wenn Lehrpersonen erkennen, dass Individuen in sich geschlossene Systeme sind, welche sich einem einfachen Ursache-Wirkungszusammenhang entziehen, und sie daraufhin ihre Beobachterposition relativieren, können sie so Routinehandlungen kritisch reflektieren, sich intersubjektiv verständigen und neue Sichtweisen entdecken.15

Abbildung 5 fasst die Perspektiven im systemischen Konstruktivismus noch einmal in einer Übersicht zusammen:16

Abb. 5: Dynamische Gestaltung pädagogischer Handlungsspielräume

Einstellungen zum Fehler

Die erzieherischen Grundhaltungen verkörpern jeweils Einstellungen zu Fehlern.

∎ Einerseits führen Geringschätzung von Fehlern und niedrige Fehlertoleranz zu einer Didaktik, die Fehler am liebsten vermeidet (Fehlervermeidungsdidaktik).17 Fehler werden als zu vermeidende Missgeschicke gesehen und als negative Erfahrung empfunden. Die Aufmerksamkeit der Lehrperson ist auf die gute Leistung bzw. das richtige Ergebnis des Lernprozesses fixiert.

∎Andererseits gibt es in der radikal konstruktivistischen Auffassung „objektiv“ keine Fehler, kein Richtig und Falsch. Hier ist das Fehlermachen konstitutives Element. Fehler liefern Informationen und geben Orientierung über die Funktionsweise des Lernprozesses bzw. das System. Die Grundhaltung gegenüber Fehlern ist reflexiv. Das Lernen aus Fehlern, die ständige Überprüfung und Korrektur der Qualität des Gelernten gelingt in der sozialen Interaktion; Lernende stellen auch eigene Fragen (Fehlerermutigungsdidaktik).18 Gemeinsam gehen Lehrpersonen mit Lernenden auf Spurensuche und versuchen, den Lernprozess zu verstehen, um weitere Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die das System potenziell in die richtige Richtung anregen. Nach dem systemisch-konstruktivistischen Verständnis ist es auch die Lehrperson, die verstört werden kann: Unerwartete Reaktionen (z. B. Fehler) des Lernenden können das eigene Konzept zur Abänderung bewegen bzw. die Einstellungen auf die gegebene Situation hin verändern.

Rückmeldungen über Zwischenschritte sind angemessen. Wenn die Lehrperson einen Fehler rückmeldet, weiß sie, dass das Handeln des Schülers einem hochkomplexen Prozess unterliegt, der zu seinem individuellen System gehört und vielfältigen Wechselwirkungen zugrunde liegt. Sie stellt ihre eigenen Handlungsanweisungen in Frage und versucht aus einer gewissen Distanz den Fehler als eine Lernmöglichkeit für alle Beteiligten zu sehen. Dieses Verhalten kann zu einer positiven Erfahrung im Unterricht werden. Abbildung 6 zeigt die Einstellungen zum Fehler tabellarisch.19 Fehlervermeidung und Fehlerermutigung stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, welches ausbalanciert werden muss.

Abb. 6: Einstellungen zum Fehler

Spielräume des Musizierens

Wenn wir in engsten Spielräumen nach dem Richtig-Falsch-Syndrom musizieren, liegen Fehler außerhalb des Lösungsraums bzw. außerhalb des Handlungsrepertoires. Wir können nicht reagieren, weil wir den Umgang mit z. B. unerwartet eintretenden Kontexten, Störungen, Emotionen nicht trainiert haben. Erweitern wir jedoch den Lösungsraum und variieren die Parameter, Spielbewegungen und musikalischen Bausteine und überschreiten dabei die Grenzen zur Norm, dann rückt der Fehler in den Erfahrungsraum. Fehler erhalten die Bedeutung einer weiteren Option und verlieren möglicherweise an negativem Wert. Auch wenn im Fehlermanagement-Training20 Fehler antizipiert werden, erreichen MusikerInnen Beweglichkeit und Geschicklichkeit im Umgang mit Fehlern, weil sie in den Handlungsspielraum einbezogen werden.

In Abbildung 7 werden ein schmales und ein bewusst breit gestreutes Spektrum im Umgang mit Fehlern gegenübergestellt:21

Abb. 7: „Richtig-Falsch-Syndrom“ vs. erweiterte Spielräume des Musizierens

Musikalische und spieltechnische Grundsätze sollten nicht als Diktat verstanden werden. Wenn MusikerInnen „forschend üben“,22 geht es nicht mehr nur um ein „Soll“, sondern um ein „Es könnte so sein“. Gemeint ist ein Ausloten, Hinterfragen, Differenzieren, Kontrastieren, Improvisieren und gelegentliches Übertreiben, um aufmerksam zu werden und die Wahrnehmung für Nuancen an der Grenze zur Norm zu sensibilisieren. Es geht darum, Spiel- und Lösungsräume auszutarieren, Kompetenz im Umgang mit Normen aufzubauen und diese relativieren zu können – in der musikalischen Ausdeutung des Notentextes und auch im spieltechnischen Bereich.

Phasen des Lernens im Umgang mit Fehlern auf dem Weg zur Expertise

Die erste Stufe des Lernens – auf jeder Leistungsebene – besteht aus dem Bekanntwerden, Explorieren, dem Erproben eines Gegenstandes, unter anderem durch Versuch und Irrtum. Jeder Musiker und jede Musikerin macht hier Fehler. Die Lehrperson begleitet dieses Stadium, vermittelt Begeisterung für die Sache und ermutigt zur Fehlerfreundlichkeit und Fehlertoleranz.

Beim deklarativen Lernen (wissen, was) lernen wir bewusst, z. B. lernen wir ein Instrument neu oder eignen uns ein Stück ganz neu an. Das Handeln kann verbalisiert werden. In diesem Stadium machen wir viele auffällige Fehler. „We must be permitted to do it badly before we can do it smoothly and well.“23 Hier ist die Lehrperson dazu da, Orientierung zu geben und für Klärung zu sorgen, Übungen anzubieten und Lernende zu führen.24 Jedoch gibt es hier noch keine gesicherten Erkenntnisse für das Musizieren, inwieweit das Feedback direkt oder verzögert sein soll.25 Doch sollte es die selbstregulierenden Fähigkeiten des Lernenden aktivieren.

Beim prozeduralen Lernen (wissen, wie) automatisieren wir Handlungen. Hier geht es um das Können. Die Lehrperson bietet vielfältige Strategien an, mit denen Fehlerkompetenz aufgebaut werden kann und Fehler vermieden werden können.26 MusikerInnen glauben oft, hiermit am Ziel zu sein. Das Werk wird dann weggelegt oder etwas Neues geübt. Unter dem Aspekt des verteilten Übens ist dies eine nachvollziehbare Strategie.

Das Streben nach Perfektion hat jedoch keinen Endpunkt. „Expertise ist kein Endzustand, der erreicht wird, sondern ein Zustand, der nur durch fortwährende Aktivität gehalten wird. Daher wird die dritte Stufe der Expertise auch die kreative Stufe genannt.“27 In dieser Phase des kreativen Übens (wissen, wann) fängt man quasi wieder von vorne an und lässt Fehler wieder zu, weil man Neues ausprobiert, um wieder neue Muster zu erzeugen. In der kreativen Phase des Übens ist das Zulassen von Fehlern wieder wichtig, denn in der Exploration – im Suchen nach neuen Ideen, Balancen, Tempi, Klängen usw. – werden durch Versuch und Irrtum, Experimentieren und variab­les Üben Lernprozesse immer wieder neu – in verschlungenen Pfaden – in Gang gesetzt.28 Um eine fortwährende Verbesserung und weiteres Lernen auf dem Weg zur Expertise zu ermöglichen, werden Automatisierung und Routine bewusst vermieden.29

Abb. 8: Umgang mit Fehlern in den Phasen des Lernens auf dem Weg zur Expertise

Wenn man die Stufen zur Expertise hinsichtlich ihrer Fehlerstrategien anschaut (Abbildung 8),30 ergibt sich folgendes Bild: Vor allem in der prozeduralen Phase steht die Fehlervermeidung im Fokus. Die Lehrperson hilft dem Lernenden, Fehlerkompetenz aufzubauen. In allen anderen Phasen ist das Zulassen von Fehlern für den effizienten Lernprozess wichtig, unterstützt durch eine Fehlerermutigungsdidaktik.

Fehlerbewältigung geschieht quasi in einem Kreislauf – im Spannungsfeld von Fehlerermutigung beim Explorieren und Lernen sowie Fehlervermeidung in der Performanz. Die Phase des Lernprozesses ist entscheidend, ob ich Fehler zulassen kann oder vermeiden möchte. In jedem Fall aber vermeiden ExpertInnen Routine. „The process of continual improvement means experimentation, not ,straight, upwards-sloping lines‘ of progress, but winding paths, anything but routine.“31 Automatisierung und Routine werden hiernach bewusst und gezielt vermieden, um eine fortwährende Verbesserung und weiteres Lernen zu ermöglichen.32

Schluss

Die Idee der Perfektion hat einen totalitären Impuls, denn wer Fehlerlosigkeit fordert, glaubt sich im Besitz der absoluten Wahrheit zu befinden und duldet keine Abweichung. Dies kann nicht das Ziel einer künstlerischen Ausbildung sein, sondern „Freiheit gelingt nur in einer fehlerfreundlichen Umwelt. […] Das Ziel der Perfektion ist nicht Perfektion, sondern Vielfalt.“33

Wenn Lehrpersonen berücksichtigen, dass Wahrheit lediglich eine bloße subjektive Konstruktion des Betrachters ist, gewinnen sie eine offenere Haltung ihren Lernenden gegenüber. Der Konstruktivismus lehrt eine Denkweise, die Verschiedenheiten der Individuen und Vielfalt als wertvoll erachtet.

Lehrpersonen werden zu Künstlern, wenn es ihnen gelingt, Perspektivenwechsel als Rahmen anzubieten und diesen innerhalb der pädagogischen Spielräume zu steuern.34 Erst durch die dynamische Orientierung an Defiziten und