Fachkräftemangel und falscher Fatalismus - Sven Rahner - E-Book

Fachkräftemangel und falscher Fatalismus E-Book

Sven Rahner

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Beschreibung

Die Debatte um einen Fachkräftemangel in Deutschland reißt nicht ab. In den letzten zehn Jahren hat kaum ein anderes Thema die arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Debatten so stark bestimmt und zum Nachdenken über die Zukunft der Arbeit herausgefordert. Sven Rahner legt nun die bislang erste umfassende politikwissenschaftliche Studie zum Thema vor. Das Buch liefert Vorschläge zum Umgang mit drängenden Zukunftsfragen und entwirft Strategien für den digitalen und demografischen Wandel.

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Sven Rahner

Fachkräftemangel undfalscher Fatalismus

Entwicklung und Perspektiven eines neuen Politikfeldes

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die Debatte um einen Fachkräftemangel in Deutschland reißt nicht ab. In den letzten zehn Jahren hat kaum ein anderes Thema die arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Debatten so stark bestimmt und zum Nachdenken über die Zukunft der Arbeit herausgefordert. Sven Rahner legt nun die bislang erste umfassende politikwissenschaftliche Studie zum Thema vor. Das Buch liefert Vorschläge zum Umgang mit drängenden Zukunftsfragen und entwirft Strategien für den digitalen und demografischen Wandel.

Vita

Sven Rahner, Dr. rer. pol., arbeitet in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Thema »Zukunft der Arbeit«.

Inhalt

I.Fachkräftemangel und Zukunftschancen des deutschen Modells

1.Einleitung

1.1Klärung arbeitsmarktrelevanter Begrifflichkeiten

1.2Fachkräftemangel als gesamtgesellschaftliche Herausforderung

1.3Fragestellung, Zielsetzung und Erkenntnisinteresse

1.4Begründung der Fallauswahl und Untersuchungszeitraum

1.5Aufbau der Arbeit

2.Stand der Forschung

2.1Theoretische und politikpraktische Relevanz der Studie

2.2Möglichkeiten und Grenzen makroökonomischer Prognosen

3.Untersuchungsdesign und Methode

3.1Wissenschaftstheoretische und methodologische Reflexionen

3.2Methodisches Vorgehen

4.Erklärungsansätze und Arbeitshypothesen

4.1Theorien der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung

4.2Modell Deutschland-Ansatz

4.3Komparative Stärken und Schwächen des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells

4.4Politische Strategie und Mikro-Policy-Analyse

II.Vom »Leutemangel« zum Fachkräftemangel

1.Historischer Kontext

1.1Etappen in der Geschichte der Arbeitsmigration

Saisonale Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften im Deutschen Kaiserreich ab den 1880er Jahren

Der erzwungene Arbeitskräfteeinsatz im nationalsozialistischen Fremdarbeitersystem

Massenhafte Anwerbung von Gastarbeitern durch bilaterale Abkommen in den 1950er und 1960er Jahren

Überregionale und transnationale Flüchtlingsströme seit den 1980er Jahren

Zuwanderung von ausländischen Fachkräften seit 2000

1.2Etappen in der Geschichte der Arbeits- und Familienförderung

Aufbau des deutschen Sozialstaats im späten 19. Jahrhundert

Intensivierung des politisch-ökonomischen Interessenausgleichs in der Weimarer Republik

Soziale Marktwirtschaft und Wirtschaftswunder ab den 1950er Jahren

Aktive Arbeitsmarktpolitik im Kontext von Globalisierung und Automatisierung ab Anfang der 1960er Jahre

Konzertierte Reformstrategien und aktivierende Arbeitsmarktpolitik ab Ende der 1990er Jahre

1.3Folgerungen aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte

III.Fachkräftepolitik als neues Politikfeld

1.Handlungsrahmen, Akteurskonstellation und Interaktionsformen

1.1Koalitionsvereinbarungen und Fachkräftekonzept der Bundesregierung

1.2Positionsentwicklung innerhalb der Unionsfraktionen und der SPD

1.3Positionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE

1.4Positionen und Leitvorstellungen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der Bundesagentur für Arbeit

1.5Zwischenfazit: Thematisierungsmacht der zentralen politischen und gesellschaftlichen Akteure

2.Maßnahmen zur Fachkräftemobilisierung und Einfluss potenzieller Vetospieler

2.1Bildungspolitik

a) Verbesserung und Ausweitung des Meister-BAföG (Beschluss des Bundeskabinetts am 24. September 2008)

b) Anerkennungsgesetz (Beschluss des Bundeskabinetts am 23. März 2011)

2.2Arbeitsmarktpolitik

a) Einführung des Ausbildungsbonus für Altbewerber (Beschluss des Bundeskabinetts am 20. Februar 2008)

2.3Zuwanderungspolitik

a) Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz (Beschluss des Bundeskabinetts am 27. August 2008)

2.4Familienpolitik

a) Kinderförderungsgesetz (Beschluss des Bundeskabinetts am 30. April 2008)

2.5Zwischenfazit: Unterschiede in der Reformdynamik der fünf Gesetzgebungsprozesse

3.Gelingensbedingungen ressortübergreifender Politik

4.Fachkräftepolitische Handlungsstrategien

IV.Von der aktivierenden zur befähigenden Arbeitsmarktpolitik

1.Konzeptionelle und normative Grundlagen einer befähigenden Arbeits- und Sozialpolitik

1.1Begriffserklärungen und Entstehungszusammenhang des Befähigungsansatzes

1.2Bestimmungsfaktoren der Verwirklichungschancen

1.3Möglichkeiten und Grenzen des Befähigungsansatzes

1.4Anwendungsperspektiven und Weiterentwicklung

a) Fehlende Transparenz und Unterstützung bei der Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen

b) Systematisierung der Fort- und Weiterbildung sowie Etablierung einer lebensbegleitenden Bildungs- und Qualifizierungsberatung

1.5Der Befähigungsansatz als Kompass für gutes Regieren?

2.Weiterbildungspolitische Gestaltungsoptionen

2.1Strukturwandel der Arbeit und neue Beruflichkeit

2.2Reformbaustelle Weiterbildung

2.3Paradigmenwechsel in der Arbeits- und Sozialpolitik

2.4Modelle für Beschäftigungsversicherungen und Weiterbildungsfonds

2.5Gestaltungs- und Umsetzungsperspektiven

2.6Tarif- und personalpolitische Anknüpfungspunkte

2.7Internationale Anknüpfungspunkte

2.8Weiterbildungsfonds in den Niederlanden und Frankreich

2.9Bildungskarenz, Bildungsteilzeit und Fachkräftestipendium in Österreich

3.Reformperspektiven einer neuen Weiterbildungspolitik

3.1Handlungsfelder und Bündnispartner

V.Fazit und Ausblick

Tabellen und Abbildungen

Literatur

Forschungsliteratur

Zeitungsartikel, Gastbeiträge von Mandatsträgern und Meinungsbildnern, Interviews, Pressemitteilungen und sonstige Quellen

Amtliche Dokumente, Drucksachen, Protokolle, Reden und interne Vorlagen

Anhang

Übersicht Experteninterviews Fach- und Spitzenebene (BRD)

Übersicht Experteninterviews Meinungsbildner (BRD und USA)

Übersicht Experteninterviews Fach- und Spitzenebene (USA)

Übersicht Experteninterviews Fach- und Spitzenebene (Österreich)

Danksagung

»We are suffering, not from the rheumatics of old age, but from the growing-pains of over-rapid changes, from the painfulness of readjustment between one economic period and another.«

John Maynard Keynes, Economic Possibilities for Our Grandchildren (1930: 321)

»What is also needed is a clearheaded perception of how different institutions actually work, and of how a variety of organizations – from the market to the institutions of the state – can go beyond short-term solutions and contribute to producing a more decent economic world.«

Amartya Sen, Capitalism Beyond the Crisis (2009)

I.Fachkräftemangel und Zukunftschancen des deutschen Modells

1.Einleitung

Es ist ein Donnerstagvormittag im Mai 2015 als der Blick auf die Nachrichtenlage für größeres Erstaunen bei einigen Referenten in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sorgt.1 Es sind die folgenden beiden Schlagzeilen, deren nahezu zeitgleiche Präsentation irritiert: Während die Nachrichtenagentur dpa-AFX die Meldung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) vom Fehlen von mehr als 137.000 Technikern, IT-Spezialisten und Mathematikern in der deutschen Presselandschaft verbreitet, lässt das Statistische Bundesamt (Destatis) via Pressemitteilung nüchtern wissen: »6 Millionen Menschen wollen (mehr) Arbeit« (Destatis 2015a; FAZ online 2015; IW 2015: 63).

Das Beispiel verdeutlicht: Der deutsche Arbeitsmarkt ist gehörig in Bewegung. Wissenschaftliche Beobachter sprechen von einer »Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt« (Hinte/Zimmermann 2013), inmitten der wir uns befinden. Verbindungslinie zahlreicher Einschätzungen und Kontroversen zum Strukturwandel der Arbeit ist die Frage nach der aktuellen und zukünftigen Zahl, Verfügbarkeit und Entwicklung von Fachkräften für den deutschen Arbeitsmarkt. Nicht zuletzt die hohe Medienresonanz hat aus dem Thema Fachkräftemangel ein zentrales Thema der öffentlichen Auseinandersetzung gemacht. Nicht selten ist diese aufgrund komplexer sozialer und ökonomischer Wechselwirkungen und der starken interessenpolitischen Aufladung der Fachkräftefrage auch von einer großen Widersprüchlichkeit begleitet.

10.565 ist die beeindruckende Zahl, die das Pressearchiv des Deutschen Bundestages auf die Suchanfrage nach der Anzahl der Presseartikel in den letzten zehn Jahren zum Begriff Fachkräftemangel in überregionalen Medien zu Tage fördert.2 Es gab seit 2007 kaum ein anderes Thema, das die arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Debatten in dieser Weise dominierte und die politischen Akteure des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells zur Positionierung sowie zum Nachdenken über den Wandel und die Zukunft der Arbeit herausgefordert hat. Das diskursmächtige Schlagwort vom Fachkräftemangel liegt somit im direkten Vergleich im Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 1. Januar 2017 deutlich vor politischen Begriffen wie z. B. TTIP (7.288), Exportüberschuss (1.762) oder Haushaltskonsolidierung (7.025). Auch debattenprägende Schlüssel- oder Fahnenwörter wie z. B. Agenda 2010 (10.497), Rente mit 67 (8.305), Abwrackprämie (5.360), Leitkultur (2.579), Kopfpauschale (2.604) oder Industrie 4.0 (2.160) erreichen eine niedrigere Aufmerksamkeit in überregionalen Printmedien. Lediglich Begriffe wie Energiewende (31.271) oder Hartz IV (37.344) erreichen deutlich höhere Werte.

Es deutet zudem vieles darauf hin, dass das Thema auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in den Personalabteilungen von Unternehmen, den Strategieabteilungen von Kammern, Gewerkschaften, Verbänden und der Bundesagentur für Arbeit (BA) unverändert aktuell bleiben wird (DIHK 2017: 17; IG Metall 2014b; BDA 2015a; FAZ online 2016; BMAS 2017a; Handelsblatt 2017b: 8; Süddeutsche Zeitung 2017: 6; Tagesspiegel 2017: 15). Nach den Ergebnissen einer Betriebs- und Beschäftigtenbefragung im Auftrag des BMAS beklagt jeder vierte Betrieb Schwierigkeiten bei Stellenbesetzungen (BMAS 2015d: 6). 61 Prozent der Personalverantwortlichen erwarten zudem Probleme bei der Personalsuche. Fachkräfteengpässe sind damit mit großem Abstand vor Fehlzeiten, Lohnkosten und Überalterung der Belegschaften unter sämtlichen Betriebsgrößen das am häufigsten genannte zukünftige Personalproblem (ebd.). Auch in der Bevölkerung herrscht ein ausgeprägtes Bewusstsein für den strategischen Stellenwert der Fachkräftesicherung: Einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid zufolge gaben 90 Prozent der Befragten im Februar 2013 an, dass es aus ihrer Sicht »für den Wohlstand in Deutschland« sehr wichtig (51 Prozent) oder wichtig (39 Prozent) ist, dass es »genügend Fachkräfte in den einzelnen Branchen der Wirtschaft gibt« (BMAS 2013c: 65).

Gleichzeitig bestimmen zunehmend Fragen der Digitalisierung von Arbeit und Wirtschaft sowie die Folgen der »Flüchtlingskrise in Europa« die öffentlichen Debatten. Zentrale Zukunftsfragen, die ohne eine profunde Antwort auf die Fachkräftefrage nicht zu lösen sein werden (vgl. Sachverständigenrat Wirtschaft 2017: 360 ff.; vgl. Dengler/Matthes 2015; vgl. Brücker u. a. 2015). Auch die beispielsweise von Sigmar Gabriel in seiner Funktion als Bundeswirtschaftsminister im Juni 2015 geäußerte Hoffnung, die Digitalisierung könne dabei helfen, den erhöhten Fachkräftebedarf »ein bisschen untertunneln [zu] können« (Bundesregierung 2015b) trügt, wie Albrecht/Ammermüller (2016) zu Recht betonen: »Viele Tätigkeiten im Pflege- und Gesundheitsbereich sind in absehbarer Zukunft nicht automatisierbar und sollten es zum Teil auch nicht sein. Im technischen, vor allem im IT-Bereich, werden sich die Engpässe durch eine steigende Nachfrage eher noch erhöhen« (Albrecht/Ammermüller 2016: 45). Vieles spricht daher dafür, dass der Trend der Digitalisierung der Wirtschaft viel weniger Arbeitsplatzverluste, sondern vielmehr den Wandel der erforderlichen Qualifikationen und die Wertigkeit von Arbeit und damit eine erhöhte Nachfrage nach Fachkräften zur Folge haben dürfte.3 Diesen Aspekt unterstreicht auch David Autor in seiner Analyse der Geschichte der Automatisierung in den USA: »Focusing only on what is lost misses a central economic mechanism by which automation affects the demand for labor: raising the value of the tasks that workers uniquely supply« (Autor 2015: 5).

Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes von Januar 2016 kann der Trend zur zunehmenden Alterung der Bevölkerung auch nicht durch die aktuell hohe Zuwanderung umgekehrt werden. Die anhaltenden Migrationsströme können zwar das Tempo und Ausmaß des demografischen Wandels abmildern, ihn jedoch nicht verhindern. Selbst im Falle eines Wanderungsgewinns von 8,5 Millionen Personen bis 2040 würde die Altersgruppe der 20- bis 66-Jährigen um fünf Millionen Menschen abnehmen (Destatis 2016). Ohnehin weisen die Wiesbadener Statistiker darauf hin, dass in der bundesdeutschen Zuwanderungsgeschichte seit jeher auf Phasen einer starken Zuwanderung stets verstärkte Abwanderung folgte (ebd.).

Die folgende Abbildung 1 verdeutlicht auf Grundlage der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausrechnung die starke Prägekraft der demografischen Entwicklung in Deutschland: Eine Zuwanderung von 300.000 Personen kann das Ausmaß des Rückgangs der Bevölkerung ab 2030 signifikant beeinflussen, die Schrumpfung der Bevölkerung jedoch nicht vollständig aufhalten (Destatis 2015b: 22). Ein angenommener Anstieg der Geburtenrate auf 1,6 Kinder je Frau könnte sich ab den 2040er Jahren stabilisierend auf die Bevölkerungsentwicklung auswirken. Ausgangspunkt der Modellrechnung des Statistischen Bundesamtes sind zwei Varianten, die einen Korridor der erwarteten Entwicklung abgrenzen (Destatis 2015b: 5). Beide Varianten gehen von der Fortsetzung langfristiger demografischer Trends und damit einer »annähernd konstanten jährlichen Geburtenhäufigkeit« sowie eines »Anstiegs der Lebenserwartung um 7 (Männer) beziehungsweise 6 Jahre (Frauen)« aus (ebd.). Die erste Variante »Kontinuität bei schwächerer Zuwanderung« geht zudem von einem Absinken einer hohen jährlichen Nettozuwanderung von 500.000 im Jahr 2015 auf anschließend dauerhaft rund 100.000 Personen ab 2021 aus. Die zweite Variante »Kontinuität bei stärkerer Zuwanderung« geht von der Annahme aus, dass sich der jährliche Wanderungssaldo auf dem Niveau von jährlich 200.000 Personen ab dem Jahr 2021 einpendeln wird (ebd.).

Abbildung 1: Bevölkerung im Erwerbsalter von 20 bis 64 Jahren

Quelle: Destatis 2015b: 22; Basisszenario der Modellrechnung: Geburtenrate 1,4 Kinder je Frau, durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt 2060 für Jungen 84,8 und für Mädchen 88,8 Jahre; eigene Darstellung.

Der Wandel von Arbeit und Demografie erfordert eine ressortübergreifende politische Handlungsstrategie unter enger Einbindung der Sozialpartner. Die ehemalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles spricht in ihrem »Grünbuch Arbeiten 4.0« von dem Bedarf nach einem »neuen sozialen Kompromiss« (BMAS 2015c: 85, vgl. zudem Nahles 2016) und konstatiert in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau: »Gut ausgebildete Fachkräfte in ausreichender Zahl, kreative Produkt- und Prozessinnovationen, soziale Stabilität und sozialpartnerschaftlicher Ausgleich sind in Deutschland seit langem untrennbar miteinander verwoben. Wenn wir über ›Industrie 4.0‹ und ›Arbeiten 4.0‹ sprechen, dann führt uns das auch zur Frage nach der Zukunft der Sozialpartnerschaft« (Nahles 2015a).

1.1Klärung arbeitsmarktrelevanter Begrifflichkeiten

In der gegenwärtig andauernden wissenschaftlichen und publizistischen Debatte mangelt es zumeist an terminologischer Genauigkeit. Es existiert keine allgemeingültige Definition für das Phänomen eines Fachkräftemangels (ZEW 2001: 20 ff.). Folglich gibt es auch »keine allumfassende Kennzahl zur Messung von Engpässen« (BA 2016: 5). Häufig wird der drohende Fachkräftemangel nicht trennscharf von einem demografisch bedingten Arbeitskräftemangel unterschieden. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verwendet in seinem Jahresgutachten 2007/2008 beispielsweise ausschließlich den Begriff des Fachkräftemangels, den er als eine »relative Angebotsverknappung auf einem Teilmarkt für bestimmte Qualifikationen« bestimmt (Sachverständigenrat Wirtschaft 2008: 345). Die Vergleichbarkeit von Untersuchungsergebnissen und Befunden wird durch die begriffliche Heterogenität erheblich erschwert. Roy u. a. (1996) sehen Fachkräftemangel als Ausdruck eines Ungleichgewichts zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften unter den jeweils vorliegenden Marktbedingungen. Freeman und Aspray (1999) sprechen dann von Fachkräftemangel, wenn neben dem Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage qualifizierter Arbeitskräfte zudem eine langsame Anpassungsgeschwindigkeit an das Ungleichgewicht vorliegt. Green und Owen (1992) verweisen darüber hinaus darauf, dass die Einschätzung von Fachkräfteengpässen auch davon abhängt, in welchem Umfang von den Unternehmen Rekrutierungsaktivitäten durchgeführt und inwiefern angemessene Löhne angeboten wurden (ZEW 2001: 20 ff.).

Die Bundesregierung spricht von einem Fachkräftemangel, der gesamtwirtschaftlich oder nur in berufsfachlichen, räumlichen oder zeitlich begrenzten Teilarbeitsmärkten auftreten kann, »wenn die Nachfrage nach Fachkräften nicht bzw. nicht ausreichend gedeckt werden kann« (Deutscher Bundestag 2011a: 3). Als Indikatoren werden die Entwicklung von Vakanzzeiten und das Verhältnis von offenen Stellen und der Arbeitslosenzahl genannt. Allerdings wird einschränkend auf das grundlegende Forschungsproblem verwiesen, dass »sowohl das frei verfügbare Arbeitsangebot über die Gruppe der Arbeitslosen hinausgeht als auch die bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Arbeitsstellen nicht den gesamten Arbeitskräftebedarf der Unternehmen abbilden« (ebd.).

Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Arbeitskräften und Fachkräften ist – wie Kettner (2012a) trefflich ausführt – für eine systematische Erfassung des politischen Reformdrucks eines drohenden Fachkräftemangels unabdingbar: »Nur differenzierte Betrachtungen erlauben es, zwischen volkswirtschaftlich relevanten Angebotsverknappungen und rein konjunkturell bedingten oder einzelbetrieblich verursachten Verknappungen zu unterscheiden. Ausschließlich erstere erfordern staatliche Interventionen, da von ihnen negative Effekte auf die Volkswirtschaft ausgehen können« (Kettner 2012a: 17). Im Folgenden sollen daher diejenigen Begriffe und Kategorien definiert werden, welche nach Kriterien der Intensität der Teilhabe am Arbeitsmarkt und den formalen Qualifikationen Abgrenzungen unterschiedlicher Personengruppen am Arbeitsmarkt ermöglichen. Unter Erwerbstätige sind alle Personen zu fassen, die als Arbeitnehmer, als Selbstständige bzw. mithelfende Familienangehörige eine auf wirtschaftlichen Erwerb ausgerichtete Tätigkeit ausüben. Dies geschieht unabhängig vom Umfang der Tätigkeit (Bott u. a. 2011: 12). Zu den Erwerbslosen werden nach dem Konzept der International Labour Organisation (ILO) diejenigen Personen im Alter von 15 bis 74 Jahren gezählt, die zum Zeitpunkt der Erhebung nicht erwerbstätig waren, obwohl sie in den letzten vier Wochen vor der Befragung aktiv auf Arbeitssuche waren (ILO 1982: IX-XVI). Die Erwerbstätigen und die Erwerbslosen machen zusammen die Gruppe der Erwerbspersonen aus. Sie bilden das sofort verfügbare Arbeitskräfteangebot (Bott u. a. 2011: 12). Das Erwerbspersonenpotenzial beinhaltet die Erwerbspersonen und die sogenannte Stille Reserve. Diese setzt sich aus denjenigen Personen zusammen, die prinzipiell arbeiten würden, aber sich momentan nicht um eine Stelle bemühen (ebd.: 12). Die Bundesregierung definiert Fachkräfte »sowohl [als] Personen mit einer anerkannten akademischen als auch einer anerkannten anderweitigen mindestens zweijährigen abgeschlossenen Berufsausbildung« (Deutscher Bundestag 2011a: 3). In Abgrenzung dazu werden alle arbeitsfähigen Personen unabhängig von ihrer formalen Qualifikation als Arbeitskräfte bezeichnet.

Ein weiteres hilfreiches Begriffsinstrumentarium liefert die BA im Rahmen ihrer Methodik zu den Fachkräfteengpassanalysen. Die BA stützt sich in ihrer regelmäßigen Darstellung der aktuellen Fachkräftesituation auf die ab dem Jahr 2011 eingeführte »Klassifikation der Berufe 2010« (BA 2011b). Die im Jahr 2007 begonnene und im Jahr 2010 abgeschlossene Berufsklassifikation ersetzt die bisherigen Berufsklassifikationen der BA und des Statistischen Bundesamtes von 1988 und 1992 (ebd.: 6). Sie ermöglicht eine Differenzierung nach 144 Berufsgruppen sowie vier qualifikatorischen Anforderungsniveaus. Anhand der Komplexität der auszuführenden Tätigkeiten können mit ansteigendem Anforderungsniveau die folgenden Kategorien unterschieden werden: Helfer, Fachkraft, Spezialist und Experte. Während die Berufsklassifikation »fachlich ausgerichtete Tätigkeiten« mit dem Begriff Fachkraft umschreibt, werden dem Spezialisten »komplexe Spezialistentätigkeiten« zugeordnet. Der Experte wiederum übt hochkomplexe Tätigkeiten aus. Der Begriff »Fachkräfte« beschreibt hierbei die Summe aus den drei Kategorien Fachkraft, Spezialist und Experte (BA 2016: 23). Bezüglich der Fachkräfteengpassanalysen verfolgt die BA das Ziel, auf Grundlage dieser Differenzierungen und unter Verwendung verschiedener sich gegenseitig ergänzender Indikatoren ein »aussagekräftiges Bild über Engpässe auf dem deutschen Arbeitsmarkt« zu ermitteln (ebd.: 20). Zu den Hauptkriterien der in weiteren Validierungsschritten durch zusätzliche statistische Daten zu verfeinernden Vorauswahl zählt neben dem Verhältnis von offenen Stellen und der Zahl der Arbeitslosen im betrachteten Beruf eine »durchschnittlich abgeschlossene Vakanzzeit« von mindestens 40 Prozent über dem Gesamtdurchschnitt aller Berufe (ebd.). Die Statistikdaten der BA können den Arbeitsmarkt jedoch nicht vollständig abbilden, da »nur etwa jede zweite offene Stelle« der BA gemeldet wird und zudem die »ausschließliche Fokussierung auf Arbeitslose« in den zu betrachtenden Berufen wichtige Fachkräftepotenziale wie z. B. »Personen, die aus der Stillen Reserve zurückkehren möchten« oder Teilzeitbeschäftigte mit dem Wunsch nach einer Erhöhung ihrer Arbeitszeit außer Acht lässt (ebd.: 5) . Ferner kann die Engpassanalyse lediglich Einblicke in die aktuelle Fachkräftesituation geben, valide Aussagen zur Einschätzung der mittel- bis langfristigen Entwicklung sind auf dieser Grundlage nicht möglich. Darüber hinaus werden in den Engpassanalysen keine Quantifizierungen zur Darstellung der Fachkräfteengpässe in absoluten Zahlen vorgenommen (ebd.).

Das Arbeitskräfteangebot insgesamt ist in besonderem Maße von der demografischen Entwicklung beeinflusst, die wiederum maßgeblich von der Geburtenrate und der Zuwanderung abhängt. Der Arbeitskräftebedarf wird durch das Erwerbspersonenangebot gedeckt, das sowohl aus qualifizierten Fachkräften als auch formal nichtqualifizierten Arbeitskräften besteht. Der entscheidende Unterschied gegenüber Fachkräften besteht also in qualifikatorischer Hinsicht. Hinsichtlich einer Mismatch-Situation zwischen Angebot und Nachfrage ist ferner die Passung von erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen durch Aus- und Weiterbildung und ausgeübter Tätigkeit entscheidend. In manchen Berufsfeldern kann es zu beträchtlichen Unterscheidungen zwischen erlerntem und ausgeübtem Beruf kommen (Bott u. a. 2011: 12 f.).

1.2Fachkräftemangel als gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Die gegenwärtigen regionalen und branchenspezifischen Fachkräfteengpässe deuten bereits jetzt an, welche zentrale Herausforderung dem deutschen Wirtschafts- und Sozialmodell bevorstehen. Der Bestand der ökonomischen Stützpfeiler – die ausgeprägte Exportorientierung, hohe Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit – scheint gefährdet (Rahner 2012a: 5; vgl. Rahner/Bujard 2012: 50 ff.). Es zeigt sich zudem die Situation auf dem Arbeitsmarkt, dass trotz Fachkräfteengpässen in vielen Branchen und Regionen der Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit nach wie vor hoch ist (Deutscher Bundestag 2012a; Bertelsmann Stiftung 2016). Eichhorst u. a. konstatieren:

»Insgesamt ergibt sich so eine Tendenz zur Segmentierung des Arbeitsmarktes in chancenreiche und risikoreiche Qualifikations- und Berufsgruppen. Zudem stehen sich eine starke Nachfrage nach Fachkräften und eine verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit gegenüber. Vergleichsweise schwierig ist hier der Arbeitsmarktzugang von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen, die auf bestimmte Teilbereiche des Arbeitsmarktes verwiesen sind, die oft keine dauerhafte Beschäftigungsperspektive bieten« (Eichhorst u. a. 2017: 43).

Der Wandel der Erwerbslandschaft ist durch eine zunehmende Heterogenität in den Beschäftigungsformen gekennzeichnet: Atypische Beschäftigung ist, auch wenn die Bezeichnung dies nahelegt, längst kein Randphänomen mehr. Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Zeitarbeit und Ein-Personen-Selbstständige prägen die Veränderungsprozesse am Arbeitsmarkt (Dietz u. a. 2013; vgl. zudem Hürtgen/Voswinkel 2014). Die Verhärtung des Hilfebezugs ist symptomatisch für einen Arbeitsmarkt, dessen Spaltungstendenzen sich weiter vertiefen: Laut der differenzierten Auswertung zur Verweildauer in Langzeitarbeitslosigkeit im Dezember 2012 waren lediglich 22 Prozent der Leistungsberechtigten weniger als ein Jahr in der Grundsicherung, wohingegen 31 Prozent seit über einem Jahr und unter vier Jahren sowie 46 Prozent seit mehr als vier Jahren Arbeitslosengeld II bezogen (Deutscher Bundestag 2013: 2).

In einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von 2013 weisen die Autoren darüber hinaus darauf hin, dass sich seit 2006 am Arbeitsmarkt eine bemerkenswerte Entwicklung vollzieht: Die Arbeitslosigkeit ist von 2006 bis 2011, begleitet von insgesamt guten Wachstumsraten, um fast vier Prozentpunkte zurückgegangen. Das Ausmaß des Rückgangs ist jedoch in erheblichem Maße von den jeweiligen Qualifikationszertifikaten abhängig. Im Jahr 2011 besaßen 45 Prozent aller Arbeitslosen in Deutschland keinen Abschluss, während es unter den Erwerbstätigen lediglich 14 Prozent waren (Weber/Weber 2013). Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung werden somit zum Gebot der Stunde. Auch die fünf »Wirtschaftsweisen« mahnen in ihrem Bericht von 2013 »weiteren Reformbedarf am Arbeitsmarkt« an, halten die »Verbesserung des Aus- und Weiterbildungssystems« für die wirkungsvollste arbeitsmarktpolitische Maßnahme und messen der »Verbesserung der Chancengleichheit« die höchste Priorität zu (Sachverständigenrat Wirtschaft 2013: 5). In ihrem Bericht von 2014 betonen die Mitglieder des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zudem, dass in der Stärkung des Arbeitsangebotes durch »Bildungsanstrengungen«, die »das gesamte Bildungssystem, einschließlich der aktiven Arbeitsmarktpolitik betreffen«, ein entscheidender Beitrag liegt, um einer »Trennung der Beschäftigten in eine Kernarbeitnehmerschaft und verschiedene Randgruppen« gezielt entgegenzuwirken (Sachverständigenrat Wirtschaft 2014: 292 ff.).

Die vom Bundesarbeitsministerium Anfang November 2014 vorgelegten Sonderprogramme zum »Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit« zeigen bislang nicht den gewünschten Erfolg (BMAS 2014c; BMAS 2016a). Mit Blick auf die gerade einmal 2.278 Langzeitarbeitslosen, die sich bis Dezember 2015 in den Programmen der Bundesinitiative befanden, spricht die Süddeutsche Zeitung von einem »holprigen Start« (Süddeutsche Zeitung 2016: 23). Die Tageszeitung DIE WELT verweist zudem auf den deutlichen Rückgang der öffentlich geförderten Stellen für Langzeitarbeitslose in diesem Zeitraum von rund 140.000 auf unter 90.000 und sieht damit in den Langzeitarbeitslosen auch weiterhin die »Stiefkinder der Arbeitsmarktpolitik« (DIE WELT 2016: 10). Dementsprechend weitgehend unverändert bleibt auch die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit, die zwischen 2013 und 2015 von 1.069.271 auf 1.039.281 lediglich minimal zurückging (BMAS 2016a: 2).

Zugleich steigt die Nachfrage nach Fachkräften – wie die folgende Abbildung 2 verdeutlicht – weiter an. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der Beschäftigten in qualifizierten Tätigkeiten um rund 20 Prozent erhöht, während sich zugleich die Zahl der Beschäftigten in einfachen Tätigkeiten um rund 20 Prozent reduzierte (Czepek u. a. 2014: 18).

Abbildung 2: Entwicklung der Zahl der Beschäftigten nach Qualifikation

Quelle: Czepek u. a. 2014: 18; Indexwerte, 2000 bis 2013.

Jutta Allmendinger und Ellen von den Driesch haben zudem unlängst in einer Studie auf den immer noch hohen Anteil bildungsarmer Menschen in der Europäischen Union hingewiesen. Im EU-Durchschnitt verlassen acht Prozent der Jugendlichen die Schulen ohne Abschluss, unter den 15-Jährigen gelten 19 Prozent als funktionale Analphabeten, weil ihr kognitives Leseverständnis oder mathematisches Grundwissen nur gering ausgeprägt ist. Hohe Bildungsabschlüsse führen dabei in allen EU-Staaten zu einer bemerkenswerten Bildungsrendite: Der Einkommensunterschied zwischen Hochschulabsolventen und Menschen mit einem Berufsabschluss beträgt im EU-Durchschnitt 44 Prozent. Der Blick auf den Zeitverlauf zeigt, dass in den meisten EU-Staaten in den letzten Jahren eine weitere Polarisierung der Einkommen durch Bildung stattgefunden hat. Während zum Beispiel in Deutschland zwischen 2006 und 2010 Niedrigqualifizierte Einkommensverluste hinnehmen mussten, stiegen die Einkommen von Hochqualifizierten (Allmendinger/von den Driesch 2014).

Vor dem dargestellten Hintergrund lautet die zentrale Arbeitshypothese folglich, dass die Situation aus Fachkräfteengpässen auf der einen Seite und Unterbeschäftigung sowie verhärteten Formen von Langzeitarbeitslosigkeit auf der anderen Seite die Arbeitsgrundlage und Legitimation des deutschen Modells4 gefährdet. Die Suche nach Antworten auf die aktuelle Fachkräftefrage hat somit exemplarische Bedeutung für die Reformfähigkeit von Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik und kann damit zu einer Gestaltungschance für qualitatives Wachstum und die Stärkung der Zukunftsfähigkeit von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft werden.5

Die bisherige Forschung zeigt, dass eine nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft Deutschlands keineswegs unausweichlich ist. Politik, Sozialpartner und Unternehmen haben erhebliche Gestaltungsspielräume, um auch in Zukunft einen strukturellen Fachkräftemangel und eine weitere Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern (Mesaros u. a. 2009: 44; Kettner 2012b; Hüther/Nägele 2013; Baethge/Severing 2015).

1.3Fragestellung, Zielsetzung und Erkenntnisinteresse

Deutschland gilt zahlreichen wissenschaftlichen und publizistischen Beobachtern seit Mitte der 1990er Jahre nicht länger als Modell, weil Politik und Wirtschaft nicht in der Lage waren, einen Ausweg aus der strukturell bedingten Krise zu finden.6 Die Problemdiagnose verweist dabei neben der strukturell verfestigten Arbeitslosigkeit im transferintensiven Sozialstaat auf eine langwierige Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft und verschleppte Reformbedarfe bei den sozialen Sicherungssystemen, der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik (vgl. Jochem/Siegel 2003: 8). Im Mai 1999 konstatierte DER SPIEGEL:

»Das Modell Deutschland […] ächzt und leckt und produziert Negativrekorde wie am Fließband: Millionen von Arbeitslosen, zu wenige Existenzgründer, vor allem hält es – geschmiert mit Milliarden staatlicher Kredite – einen Sozialstaat am Laufen, der vieles vernichtet: Eigeninitiative, Jobs, den Spielraum des Staates für Investitionen« (SPIEGEL 1999: 30).

Der Economist sah in Deutschland gar den »sick man of the Euro« (The Economist online 1999).7 Der Historiker Andreas Rödder sieht angesichts der harschen Kritik um den »Abstieg eines Superstars« (Steingart 2004) auch eine »Inkongruenz von Wahrnehmung und Substanz« des deutschen Erfolges und Misserfolges, die sich beispielhaft daran zeige, dass der dringliche Appell für mehr »Mut zu Reformen« (Sinn 2004) bereits durch die tiefgreifendsten arbeitsmarktpolitischen Reformen der deutschen Nachkriegsgeschichte im Zuge der Agenda 2010 zeitlich überholt wurde (Rödder 2015: 261 f.).

Neben den innergesellschaftlichen (endogenen) Faktoren, wie den Folgen des demografischen Wandels, sind es internationale (exogene) Veränderungsprozesse, wie die Europäisierung und Globalisierung, die auf die erfolgreiche Produktivitätskonstellation nachhaltig einwirken und diese herausfordern. Wolfgang Streeck (1995: 27) spricht in Bezug auf die Globalisierung von einem »deregulatory bias«, der für liberale Marktwirtschaften wie Großbritannien und die USA förderlich wirkt und zudem dafür verantwortlich ist, dass das deutsche Modell nicht auf andere Staaten übertragen werden kann. Zudem sind die historisch gewachsenen Unterschiede in den industriellen Beziehungen der europäischen Nationalstaaten zu groß als dass sich ein gesamteuropäischer »Rheinischer Kapitalismus« etablieren könnte (Streeck 2016a: 54).

Einerseits sind Fachkräfteengpässe, Tarifflucht und die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen Symptome für die zunehmende Erosion des deutschen Modells. Stetig abnehmende Mitgliederzahlen der Gewerkschaften sowie die sich abschwächende Repräsentationsfähigkeit der Arbeitgeberverbände führten darüber hinaus zu einer »Durchsetzungskrise« der Gewerkschaften (Schroeder u. a. 2011: 16 ff.). Andererseits ist es in erster Linie den zentralen Akteuren des deutschen Modells zu verdanken, dass Deutschland durch das rasche und zielgerichtete sozialpartnerschaftliche Agieren, insbesondere durch die Einführung von Kurzarbeit gekoppelt mit Weiterbildungsmöglichkeiten für die Beschäftigten, erfolgreich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 gekommen ist. Verhandlungen zwischen Unternehmensleitungen und Betriebsräten ebneten auf diese Weise den Weg zum viel bestaunten »German Labour Market Miracle« (Boysen-Hogrefe/Groll 2010). Die konstruktiv-kooperative Rolle der Gewerkschaften bei der Finanz- und Wirtschaftskrise führte in Kombination mit dem seit 2006 ohnehin steigenden »Zuwachs an gesellschaftlichem Vertrauen« auch zu verbesserten Bedingungen für gewerkschaftsinterne Strukturreformen (Schroeder 2003: 11 f.).

Vor dem Hintergrund »fragmentierter Entscheidungsstrukturen« (Wachendorfer-Schmidt 1999: 24) durch zahlreiche Vetospieler (vgl. Tsebelis 1995; 2002) und Mitregenten im deutschen politischen System und Sozialversicherungsstaat besteht für eine Bundesregierung bei der Durchführung wichtiger Reformvorhaben die Gefahr, sich im »institutionellen Dickicht zu verheddern« (Zohlnhöfer 2009) bzw. »politischem Immobilismus« (Scharpf 1977) zu erliegen. Angesichts des aufgrund der strengen Maastricht-Kriterien übergeordneten Politikziels der Haushaltskonsolidierung und des verstärkten Parteienwettbewerbs im wiedervereinigten Deutschland sind mögliche Handlungsspielräume für eine fachkräftemobilisierende Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmarktpolitik zusehends verengt (vgl. Henkes/Kneip 2003; Leibfried/Pierson 2000). Die tendenziell geringen Politikveränderungen und der hohe Koordinationsbedarf zwischen staatlichen und verbandlichen Akteuren in den betreffenden Politikfeldern finden auch in semantischen Strategien politischer Akteure, wie beispielsweise in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung von 2005 proklamierten »Politik der kleinen Schritte« (Merkel 2005) ihren Ausdruck. Analysen der Staatstätigkeit der Großen Koalition von 2005 bis 2009 bestätigen inkrementelle Anpassungsstrategien, sprechen von »experimentellem Regieren« (Schroeder 2009) oder bilanzieren hinsichtlich der Reformperformanz der Bundesregierung, dass weder große Veränderungen noch Reformblockaden zu verzeichnen sind (vgl. Egle 2009).

Manfred G. Schmidt verweist darauf, dass gerade auch Große Koalitionen im Falle von ausgeprägtem parteipolitischem Kalkül und Machterwerbsstreben dazu führen, dass der Handlungsspielraum in einer »Dauerwahlkampfatmosphäre« (Schmidt 2007: 213) auf den kleinsten gemeinsamen Nenner schrumpft (vgl. Schmidt 2007: 474). Hinzu kommt, dass der Großteil der öffentlichen Haushalte schon jetzt konsumtiv zweckgebunden ist. Investive Ausgaben in den zukunftsweisenden Bereichen Bildung, Forschung und Infrastruktur stehen unter den erschwerten Bedingungen einer Finanzierungskonkurrenz mit anderen Politikfeldern (vgl. Wolf 2006; Breunig/Busemeyer 2012).

Dennoch hat die Große Koalition in der 16. Legislaturperiode (2005–2009) den Handlungsbedarf für eine mittel- und langfristig angelegte Politik8 zur Fachkräftemobilisierung9 erkannt und war in der Lage, erste politikfeldübergreifende Maßnahmen zu verabschieden (Bundesregierung 2009; Bundesregierung/Regierungschefs der Länder 2008; BMI/BMAS 2008). Die schwarz-gelbe Nachfolgekoalition hat sich die strategische Bearbeitung der Fachkräfte- und Demografiefrage gleichsam auf die Fahnen geschrieben und sowohl eine ressortübergreifende Fachkräfte- als auch eine Demografiestrategie verabschiedet (BMAS 2011a; BMI 2012). Nach Ende der 17. Legislaturperiode (2009–2013) kann daher aufschlussreich eruiert werden, ob das deutsche Modell im Allgemeinen und die Fachkräftestrategien der zentralen Akteure im Besonderen in angemessener Weise dazu in der Lage sind, auf internationale (exogene) Veränderungsprozesse, wie Europäisierung und Globalisierung – aber auch innergesellschaftliche (endogene) Faktoren wie die Folgen des demografischen Wandels – erfolgreich zu reagieren.10

Ziel dieser Arbeit ist daher die politikfeldübergreifende Analyse der bildungs-, arbeitsmarkt-, zuwanderungs- und familienpolitischen Strategien zur Mobilisierung von Fachkräften in Deutschland. Die Studie will die erklärungsbedürftige Reformdynamik der Politik zur Fachkräftemobilisierung in Bezug auf das politisch-ökonomische Gesamtsystem anhand von fünf zentralen Gesetzgebungsprozessen untersuchen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf:

die bildungs-, arbeitsmarkt-, zuwanderungs- und familienpolitischen Akteure11, deren unterschiedlichen Interessen und Handlungspotentiale im Prozess von Politikmanagement und Governance12 (politics),

die politischen Institutionen sowie formalen und informalen Spielregeln als Ergebnisse, aber auch Voraussetzung für die bildungs-, arbeitsmarkt-, zuwanderungs- und familienpolitischen Prozesse und Inhalte (polity),

die politischen Programme, Aufgaben und Ziele, die zur Mobilisierung von Fachkräften formuliert werden (policy),

die politische Kommunikation der Politikinhalte zur Mobilisierung von Fachkräften und damit auf die medialen Komponenten und das »Aufmerksamkeitsmanagement« der Reformprozesse (vgl. Korte/Fröhlich 2009).

Das Untersuchungsdesign der vorliegenden Studie erfordert eine enge Ausrichtung an den konkreten Erfordernissen des Erkenntnisinteresses. Daher ist zunächst eine Festlegung der unabhängigen und abhängigen Variablen vorzunehmen. Als unabhängige Variablen sollen jene Phänomene gelten, die mutmaßlich ursächlich für die Ausprägung der abhängigen Variablen – die politische Steuerungsfähigkeit ressortübergreifend angelegter Fachkräftepolitik – sind. Es handelt sich dabei um die Interessenlagen, Strategien und Interaktionsformen der wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Akteure, die innerhalb des institutionellen, internationalen und historischen Kontextes die zentralen fachkräftepolitischen Diskurse sowie diesbezüglichen Politikresultate maßgeblich strukturieren und bestimmen. Während unabhängige und abhängige Variablen direkt aus dem Erkenntnisinteresse abgeleitet werden, handelt es sich bei den hinzuzuziehenden Kontextvariablen um »[…] Rahmenbedingungen, die nicht vernachlässigt werden dürfen, wenn die Beziehung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen untersucht wird« (Beichelt 2005: 221; vgl. Nohlen 2004).

Die kausale Rekonstruktion der Entwicklung, Ausprägung und Zusammenhänge von fachkräftepolitischen Entscheidungen legt das Augenmerk auf den Prozesscharakter sozialer Phänomene (Mayntz 2002: 24). Die Suche einer solchen interaktions- und mechanismenorientierten Policy-Forschung richtet sich auf diejenigen »wiederkehrende[n] Prozesse, die bestimmte Ursachen mit bestimmten Wirkungen verbinden« (ebd.).13 Grundlegend ist dabei die historische Dimension von politischen Prozessen: »In der Welt des Sozialen ist der Zeitpfeil immer gerichtet, das heißt, Zeit ist in sozialen Kausalzusammenhängen nicht umkehrbar. Vielleicht ist diese grundsätzliche Historizität alles Sozialen überhaupt seine hervorstechendste ontologische Besonderheit« (ebd.: 27).

Kathleen Thelen (2004) hat anhand der Evolution der Berufsbildungsinstitutionen in Deutschland überzeugend nachgewiesen, dass Stabilität und Wandel von Institutionen weniger schlüssig mit dem vorherrschenden Punctuated-Equilibrium-Modell (Krasner 1988) zu erklären sind, das vor allem nach diskontinuierlichem Wandel durch äußere Impulse sucht. Vielmehr sind es die Veränderungen in den politischen Koalitionen aus sozialen und politischen Akteuren, welche die Institutionen tragen, die »Unterstützung für den Aufbau, die Umgestaltung oder die Weiterführung spezifischer institutioneller Arrangements« mobilisieren (Thelen 2006: 400; vgl. Interview 37). Die Rolle der Vetospieler oder Vetopunkte im jeweiligen institutionellen Setting ist in diesem Verständnis komplexer als in einer reinen »Blockadehaltung« zu beschreiben: »It would be more accurate to say that multiple veto points alter, rather than simply impede, the politics of institutional change. They force politics onto alternative tracks« (Hacker u. a. 2015: 202).

Der Wandel in Form und Funktion der Institutionen ist sodann als bisweilen diskontinuierlich zu beschreiben, in der Regel allerdings als »graduell, kumulativ, inkrementell« zu beobachten (ebd.: 420). Dies kann langfristig durchaus bedeuten, dass Institutionen »radikal umgestaltet werden können« (ebd.). Die vorliegende Arbeit soll diesen Erkenntnisvoraussetzungen des historischen Institutionalismus dahingehend Rechnung tragen, dass neben einer intensiven Erarbeitung des historischen Kontextes der zu untersuchenden Gesetzgebungsprozesse auch eine breite Aufarbeitung des geschichtswissenschaftlichen Forschungsstandes geleistet werden soll. Thelen/Mahoney (2015: 28) sehen dabei die Methode des historischen Institutionalismus als grundsätzlich offen gegenüber Forschern, die sich anderen Forschungstraditionen verpflichtet fühlen: »However, to the extent that they share a common concern with addressing major questions of enduring significance and consider both micro processes and broader structural factors, they can take notice of each other’s findings and use and engage them in their own work«.

Der Rückgriff auf die Forschungsheuristik des akteurszentrierten Institutionalismus (Mayntz/Scharpf 1995: 39) unterstützt dabei, »bereits vorhandenes (wissenschaftliches und vorwissenschaftliches) Wissen« über denjenigen »Ausschnitt der Realität«, auf den das Forschungsinteresse abzielt, zu strukturieren, die entscheidenden Fragen zu stellen und Faktoren in den Fokus zu rücken, die ein großes Erklärungspotential beinhalten (Scharpf 2006: 64). Damit erfüllt die Anwendung des Ansatzes für das Forschungsdesign der vorliegenden Studie zwei grundsätzliche Zielrichtungen: Zum einen fungiert der akteurszentrierte Institutionalismus als »Aufmerksamkeitsdirigent« innerhalb komplexer Forschungsprojekte, zum anderen bietet er die Möglichkeit, die Wechselbeziehung der unterschiedlichen Faktoren und Variablen unter Bezugnahme auf die Konzepte der Akteurskonstellation und Interaktionsform auszuleuchten (vgl. Scharpf 2006: 85; 92). Die theoretische und methodische Offenheit des Ansatzes erlaubt es, die »konzeptionellen Werkzeuge« des akteurszentrierten Institutionalismus gegenstandsbezogen durch weitere theoretische Erklärungsansätze gezielt zu ergänzen (ebd.: 94).

Die zentrale Annahme des Ansatzes lautet folglich, »daß soziale Phänomene als das Produkt von Interaktionen zwischen handelnden – individuellen, kollektiven oder korporativen – Akteuren erklärt werden müssen«. Der Ansatz geht zudem davon aus, dass diese Interaktionen durch ihren »institutionellen Kontext […] strukturiert und ihre Ergebnisse dadurch beeinflußt [werden]« (Scharpf 2006: 17). Die Zielorientierung des Ansatzes liegt gleichwohl nicht ausschließlich in der Ex-post-Analyse, sondern auch im Versuch, Ex-ante-Empfehlungen zu formulieren: Denn durch »die Erklärung vergangener politischer Entscheidungen« soll für die politische Praxis »systematisches Wissen« generiert werden, um »realisierbare Problemlösungen zu entwickeln oder Institutionen zu entwerfen, die im allgemeinen die Formulierung und Implementierung gemeinwohlorientierter Politik begünstigen« (ebd.: 84 ff.).

Entsprechend der einleitenden Überlegungen wird die zentrale Fragestellung der Studie folgendermaßen formuliert:

Auf welche Weise, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß konnte sich ab Sommer 2007 mit der Fachkräftepolitik ein neues Politikfeld in der Bundesrepublik etablieren?

Dies impliziert auch die folgenden Fragestellungen:

Inwieweit konnte die Bundesregierung in den beiden Legislaturperioden (2005–2009; 2009–2013) eine möglichst zielgenaue Fachkräftemobilisierung ressortübergreifend steuern?

Welche Gestaltungsfaktoren wirken als hemmende bzw. als fördernde Bedingungen auf die Politik zur Fachkräftemobilisierung ein?

Welche gesellschaftlichen Legitimationsmuster lassen sich hinter der Positions- und Strategiebildung im Feld der Fachkräftepolitik ergründen?

Welche Handlungslogiken liegen den zentralen fachkräftepolitischen Entscheidungen zugrunde und wie lassen sich diese in größere historische Zusammenhänge einordnen?

Welche inhaltlichen und organisationsbezogenen Folgerungen lassen sich daraus ableiten bzw. welche konkreten Handlungsempfehlungen lassen sich für die ressortübergreifende Zukunftsvorsorge und die Fachkräftepolitik formulieren?

Mit der Formulierung dieser Leitfragen ist gleichwohl ein komplexer Forschungszusammenhang berührt, dessen einzelne Dimensionen den größeren Erkenntniszusammenhang modellieren und gleichsam die wissenschaftliche Hintergrundfolie der Untersuchung bilden. Die folgende Abbildung 3 soll die einzelnen angesprochenen Forschungsstränge und ihre Wechselbeziehung veranschaulichen.

Abbildung 3: Forschungskontext

Quelle: eigene Darstellung.

Im Kern steht die Frage der Zukunftsfähigkeit der Demokratie, die nach Höffe (2011: 29) als »die Fähigkeit eines Allgemeinwesens sowohl anstehende als auch neu aufkommende Probleme unter Berücksichtigung der Handlungsspielräume nachhaltig zu lösen«, beschrieben werden kann.14 Mit der Frage der Zukunftsfähigkeit ist auch die Frage nach der Stabilität eines Gemeinwesens aufgeworfen. Diese ist nach Jürgen Habermas (1976: 271) eng verbunden mit dem Grad der Anerkennung der politischen Ordnung. Legitimität als »bestreitbarer Geltungsanspruch« einer politischen Ordnung hängt somit wesentlich davon ab, ob diese als »richtig und gerecht« anerkannt wird: »Legitimität bedeutet die Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung« (ebd.).15 Die politischen Steuerungsschwierigkeiten sowie die wirtschaftliche wie soziale Herausforderung von Fachkräfteengpässen einerseits und Unterbeschäftigung sowie auf hohem Niveau stagnierende Langzeitarbeitslosigkeit andererseits bergen somit »Legitimationsprobleme« (Habermas 1973), die sich – sollten sie ungelöst bleiben – auch in Deutschland zu einer »Krise des demokratischen Kapitalismus« (Streeck 2013) auswachsen könnten.16

Die angesprochene Situation eines Arbeitsmarktes mit Angebotsengpässen im Hochqualifiziertenbereich bei gleichzeitiger erschwerter Aufnahmefähigkeit an den Rändern vollzieht sich im Kontext einer andauernden Phase »nach dem Boom«, den die Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael als »Epoche eigenen historischen Rechts« auf die Zeit nach 1975 datieren (Doering-Manteuffel/Raphael 2011: 30). Sie sehen spätestens in der sukzessiven Ablösung des Keynesianismus Anfang der 1970er Jahre und dem seit den 1980er Jahren vorherrschenden Neoliberalismus einen »Strukturbruch der Industriemoderne« und mithin einen »sozialen Wandel von revolutionärer Qualität«, der sich nicht zuletzt in einer »Kultur des neuen Kapitalismus« (Sennett 2000; Rahner 2014a: 28 ff.; Interview 35) auch in der Arbeits- und Wirtschaftswelt niederschlägt: »Die Veränderungen der Arbeitswelt im traditionellen Industriesystem und die Entstehung eines neuen Berufsprofils für Arbeiter und Angestellte in den Industrie- und Dienstleistungsfirmen des digitalen Kapitalismus können aus heutiger Perspektive als revolutionärer Wandel beschrieben werden« (Doering-Manteuffel/Raphael 2011: 38; vgl. Doering-Manteuffel u. a. 2016).

In der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 traten die inneren Widersprüche des demokratischen Kapitalismus und dessen zumindest potenziellen Inkonsistenzen gegenüber einer zukunftsfähigen Demokratie offen zu Tage:

»The subsequent near-collapse of the modern tax state’s public finances as a manifestation of an underlying basic tension in the political-economic configuration of advanced capitalist societies, a tension that makes disequilibrium and instability the rule rather than the exception, and that has found expression in a historical succession of different but cognate disturbances of the socio-economic order« (Streeck 2011: 1).

Kapitalismus und Demokratie müssen infolgedessen wieder zu einem produktiven Austauschverhältnis, einer gegenseitigen Einbettung kommen (Merkel 2014: 125). Andernfalls drohe – wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel ausführt – die weitere Verfremdung demokratischer Prozesse: »democracy may slowly transform into an oligarchy, formally legitimized by general elections« (ebd.: 126). Diesen Prozess einer globalen oder zumindest europäischen Entkopplung der kapitalistischen Funktionsweise von demokratischen Institutionen hält Streeck in seiner Antwort auf Wolfgang Merkel für bereits weit fortgeschritten: »Restoring embedded democracy means re-embedding capitalism« (Streeck 2016b: 199).

Hiermit ist ein Phänomen angesprochen, das mit Colin Crouch als »Postdemokratie« bezeichnet werden kann: »Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (und heute sogar in vielerlei Hinsicht weiter ausgebaut werden), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluß privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert« (Crouch 2008: 13; vgl. Hacker/Pierson 2010). Elsässer u. a. (2016) haben für Deutschland jüngst nachgewiesen, dass die Aufnahmefähigkeit politischer Wünsche von dem Einkommen derjenigen abhängt, die diese an die Politik richten. Im Untersuchungszeitraum von 1998 bis 2013 zeigte sich bei Bürgern mit niedrigem Einkommen eine besonders geringe Wahrscheinlichkeit, bei der Politik mit ihren Anliegen Gehör zu finden. Durch die zugleich niedrigere Beteiligung von Einkommensschwächeren an Politik verstärkt sich das »Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen« (Elsässer u. a. 2016: 42). Infolge der ungleich verteilten Beteiligung und Responsivität wenden sich sozial benachteiligte Gruppen von der Politik ab, die sich daraufhin noch stärker an den Interessen der Bessergestellten ausrichtet (ebd.). In der »Netzwerkgesellschaft« sind »politische Systeme« zudem mit einer »strukturellen Legitimitätskrise« konfrontiert: »Sie werden periodisch von Skandalen erschüttert, sind in ihrem Kern abhängig von Medienberichterstattung und personalisierten Führungsformen und zunehmend von den Bürgern isoliert« (Castells 2001: 3).

Mit der Zukunftsfähigkeit der Demokratie sind folglich die notwendige Transformation des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells und damit die Reformfähigkeit von Politik und Gesellschaft sowie die Bedingungen der Möglichkeit institutionellen Wandels angesprochen. Ein solches Verständnis einer »zukunftsfähigen Demokratie« und sozialen Marktwirtschaft berücksichtigt den dynamischen Charakter einer Demokratie, wie Klaus von Beyme herausstreicht: »Demokratie ist nicht mehr als getrocknete Spezies der Regierungsformenlehre in der geistigen Botanisierungstrommel der Politologen aufbewahrt. Demokratie ist nicht, sondern wird ständig« (Beyme 1994: 9). Die »institutionelle Pfadabhängigkeit«, welche von den »existierenden Institutionen der repräsentativen Demokratie« geschaffen wurde, befördert daher inkrementelles »piecemeal engineering« im Gegensatz zu »großflächigen grand designs« (Merkel 2015: 493).17 Demokratie und Kapitalismus können in diesem Verständnis aus ihrer Geschichte lernen; ihre Reform wird so zu einer »Daueraufgabe«. Der Kapitalismus kann dabei »unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Zielen dienstbar gemacht werden […] wenn genügend politischer Druck und entsprechende politische Entscheidungen zugunsten solcher Ziele mobilisiert werden könnten« (Kocka 2013: 128).

Die Politik und ihre Entscheidungsträger sowie die sozialpartnerschaftlichen Akteure kollektiver Aushandlungsprozesse stehen hierbei vor der besonderen Herausforderung der Modernisierung, die nach dem Soziologen Hartmut Rosa als ein »Prozess zunehmender Beschleunigung« verstanden werden kann (Rosa 2013: 364). Der Zeitraum für politische Entscheidungen schrumpft zusehends, was dazu führt, dass Entscheidungen häufig in »schnellere Systeme« wie Verrechtlichung, Deregulierung, Privatisierung und vom Parlament zur Exekutive verlagert würden (ebd.: 366). Politik droht dabei ihre »Schrittmacherrolle für die gesellschaftliche Entwicklung« zu verlieren (ebd.: 370). Sie orientiert sich an den »Vordringlichkeiten des Befristeten« und wählt gezwungenermaßen eine »Strategie des ›Durchwursteln‹«, die nicht selten dazu führt, dass die nur unter Zeitdruck und oberflächlich bearbeiteten politischen Probleme nach kurzer Zeit bereits erneut auf der politischen Tagesordnung stehen (ebd.). Andreas Reckwitz diagnostiziert in diesem Zusammenhang eine »Krise des Politischen« (Reckwitz 2017: 434). Im Zuge der Herausbildung einer »Gesellschaft der Singularitäten« haben sich die »gesamtgesellschaftlichen Steuerungsmöglichkeiten« deutlich verengt: »Stattdessen haben die Eigendynamiken der Ökonomie, der (Medien-)Technologie und der Kultur der Lebensstile ein Primat erlangt – und der apertistisch-differentielle Liberalismus hat diesen Prozess verstärkt« (ebd.). Ausgehend von diesen zentralen Überlegungen zum übergreifenden Forschungszusammenhang der vorliegenden Studie soll nachfolgend die Auswahl der fünf Kerngesetze begründet und der Untersuchungszeitraum festgelegt werden.

1.4Begründung der Fallauswahl und Untersuchungszeitraum

Die Initiativen der Bundesregierung »Aktionsprogramm der Bundesregierung – Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in Deutschland« (16. Juli 2008) und die »Qualifizierungsinitiative für Deutschland« (22. Oktober 2008) sind für die inhaltliche und kommunikative Rahmung des neuen Politikfeldes der Fachkräftepolitik von entscheidender Bedeutung. Sie beinhalten eine Bündelung von Maßnahmen unter Beteiligung von Bund, Ländern, Unternehmen, Sozialpartnern und weiterer Akteure.18 Die Regierungsinitiativen wurden unter maßgeblicher Steuerung des Bundeskanzleramtes, das als strategisches Zentrum fungierte, auf der Kabinettsklausur in Meseberg am 23. und 24. August 2007 als ressortübergreifendes Maßnahmenbündel zur Fachkräftesicherung vorbereitet und beschlossen (Bundesregierung 2007; FAZ online 2007a; Interview 16).

Die vorgeschlagenen Maßnahmen lassen sich im Wesentlichen drei Policy-Feldern zuordnen: der Verbesserung des Bildungssystems (Bildungspolitik), arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Verbesserung der Erwerbsbeteiligung bestimmter Personengruppen wie Jugendliche, Frauen, Erwerbslose, ältere Personen, Niedrigqualifizierte und Personen mit Migrationshintergrund (Arbeitsmarktpolitik) und der Erleichterung des Einsatzes ausländischer Arbeitskräfte (Zuwanderungspolitik). Innerhalb dieser drei Handlungsfelder lassen sich drei für die jeweiligen Maßnahmenbündel zentrale Gesetzesprozesse identifizieren: 1) Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz, 2) Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (Meister-BAföG) und 3) Fünftes Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch.19

Die Einbettung der Gesetzesvorhaben im Rahmen der Gesamtstrategie der Bundesregierung (vgl. Bundesregierung 2009) verdeutlicht die folgende Abbildung 4:

Abbildung 4: Ressortübergreifende Fachkräftestrategie der zweiten Großen Koalition

Quelle: Bundesregierung 2009: 51; eigene Darstellung.

Ebenso in die 16. Legislaturperiode fiel das Kinderförderungsgesetz, das am 15. Dezember 2008 in Kraft trat, jedoch von der Bundesregierung nicht mit der im Rahmen der Kabinettsklausur in Meseberg im August 2007 ressortübergreifend entwickelten Fachkräftestrategie direkt verknüpft wurde (FAZ online 2007a).

Auch in der Regierungskommunikation des Gesetzes wurde vor allem die gleichstellungs- und gerechtigkeitspolitische Wirkung des Ausbaus der Kinderbetreuung auf eine »gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf« und die »Chancengleichheit für Kinder von Anfang an« hervorgehoben, ein expliziter Bezug zur Aktivierung von Fachkräftepotenzialen wurde nicht hergestellt (BMFSFJ 2008). In der Zielbeschreibung des Gesetzentwurfs wurde vielmehr auf das Problem einer niedrigen Geburtenrate verwiesen: »Viele Eltern realisieren ihre vorhandenen Kinderwünsche nicht, weil sie keine Möglichkeiten sehen, ihr berufliches Engagement mit den familiären Aufgaben zu verbinden«. Die verbesserten Erwerbsmöglichkeiten für Mütter und Väter wurden indes nicht explizit in einen fachkräftepolitischen Kontext eingeordnet. Das neue Kinderförderungsgesetz wurde als eigenständiger Beitrag dazu angesehen, »Wege für eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben« zu erschließen, die dem »Wohle der Kinder dienen« (Deutscher Bundestag 2008g: 1).

Aufgrund des zentralen Zusammenhangs von frühkindlicher Betreuung und der Mobilisierung von Fachkräftepotenzialen, insbesondere unter Müttern, soll das Kinderbetreuungsgesetz als viertes Kerngesetz in die Analyse der ressortübergreifenden Herausbildung der Fachkräftepolitik dennoch mit einbezogen werden (vgl. Kettner 2012b). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass – wie die nachfolgende Abbildung 5 verdeutlicht – der Anteil jüngerer Frauen mit Fachhochschulreife bzw. Abitur in den letzten Jahren stetig und deutlich angestiegen ist (Hans-Böckler-Stiftung 2017: 1; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 44). Die Zahl jüngerer Frauen mit Hochschulberechtigung liegt mittlerweile über jener der Männer in der gleichen Altersgruppe. So lag der Anteil der 20–29-jährigen Frauen mit Abitur oder Fachhochschulreife im Jahr 2015 bei 53,8 Prozent, während der Anteil der gleichaltrigen Männer mit Abitur oder Fachhochschulreife zum gleichen Zeitpunkt bei 46,5 Prozent lag (Hans-Böckler-Stiftung 2017: 1; vgl. OECD 2017: 20 f.). Gleichzeitig ist die klassische Rollenverteilung, in der für den Unterhalt der Familie vornehmlich die Väter sorgen, in Deutschland weiterhin besonders ausgeprägt (OECD 2017: 173 ff.; DER SPIEGEL 2017: 10 ff.). Nach Angaben der OECD waren »über die Hälfte« der erwerbstätigen Mütter im Jahr 2014 mit einer Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 20 Stunden in Teilzeit tätig (OECD 2017: 23). Lediglich in den Niederlanden lag der Teilzeitanteil der Mütter höher, wobei dort auch der durchschnittliche Teilzeitanteil der Männer mit rund 20 Prozent im OECD-Vergleich einen hohen Wert erreicht (ebd.: 24; 189). Insgesamt waren rund 70 Prozent der Mütter erwerbstätig, wobei Frauen insgesamt »mehr als doppelt soviel« Zeit für Hausarbeit und Kinderbetreuung verwendeten als ihre männlichen Partner (ebd.: 27; 173 ff.).

Abbildung 5: Entwicklung Bildungsniveau der 20- bis 29-jährigen Frauen in Deutschland (1991–2015)

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung 2017: 1; ohne Personen, die noch in Schulausbildung sind; eigene Darstellung.

Mit dem Anerkennungsgesetz des Bundes (Deutscher Bundestag 2011 f.) trat in der 17. Legislaturperiode (2009–2013) im Politikfeld Bildung ein weiterer reformpolitischer Meilenstein als fünftes Kerngesetz der Politik zur Fachkräftemobilisierung hinzu.

Als primärer Untersuchungszeitraum für die Studie sollen die Regierungskoalitionen unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel von 2005 bis 2009 (Große Koalition) sowie von 2009 bis 2013 (schwarz-gelbe Koalition) herangezogen werden. Da sich Staaten und politische Systeme im Rahmen historisch vorgegebener Ausgangsbedingungen bewegen, sollen historische Entwicklungsstränge ebenso wie aktuelle Entwicklungstendenzen berücksichtigt werden. Diese Phase wird als sekundärer Untersuchungszeitraum gefasst.

1.5Aufbau der Arbeit

Die Arbeit geht in folgenden Schritten vor: Zunächst wird der Forschungsstand vorgestellt und davon ausgehend die theoretische sowie politikpraktische Relevanz der Studie verdeutlicht. Anschließend werden die Möglichkeiten und Grenzen makroökonomischer Prognosen kritisch diskutiert und reflektiert. Ferner werden in kritischer Auseinandersetzung des Zusammenhangs von Wissenschaftstheorie und Methodenwahl die für diese Arbeit geltenden methodologischen Prämissen formuliert. Darauf folgt die Konzeptionalisierung des Untersuchungsdesigns, indem das zu erklärende Phänomen festgelegt und die Arbeitshypothesen zur Erklärung der Kausalmechanismen formuliert werden.

Die anschließenden Ausführungen in Kapitel II widmen sich gemäß des hier vertretenen Ansatzes des historischen Insitutionalismus (Streeck/Thelen 2005) den historischen Kontexten, Entscheidungslogiken und Ursachen der Mobilisierung von Fachkräften seit dem deutschen Kaiserreich. Das Kapitel beinhaltet zudem eine politökonomische Verortung des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells nach der Spielarten des Kapitalismus-Theorie (Hall/Soskice 2001).

Das folgende Kapitel III bildet das »empirische Herzstück« der Arbeit. Ausgangspunkt des Kapitels sind die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bundes, die Institutionenlandschaft und die Akteurskonstellation im Politikfeld der Fachkräftemobilisierung in den beiden Legislaturperioden (2005–2009; 2009–2013). Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Leitbildern, Positionen und Interessen der zentralen politischen und gesellschaftlichen Akteure im Politikfeld der Fachkräftemobilisierung. Darüber hinaus werden internationale Einflussfaktoren wie die Rolle der Europäischen Union und die in diesem Zusammenhang verwendete Methode der offenen Koordinierung (Busch 2006) näher beleuchtet.

In Anlehnung an die Planungs- und Entscheidungsphasen des Politikzyklus – a) Problemdefinition und Agenda-Setting, b) Programmformulierung und c) Implementation – soll die Thematisierungs- und Gestaltungsmacht der zentralen politischen und gesellschaftlichen Akteure herausgearbeitet und bewertet werden (Schneider/Janning 2006: 50 ff.; vgl. Jann/Wegrich 2003: 82).20 Zu beachten ist hierbei, dass die sequenzielle Vorstellung der Phasen empirisch keineswegs immer zutreffen muss: »Einzelne Phasen können durchaus entfallen oder übersprungen werden« (Wenzelburger/Zohlnhöfer 2015: 20). Es gilt somit, das Konzept des Politikzyklus heuristisch zur Strukturierung dessen zu nutzen, was Thomas R. Dye (1976) bereits vor 40 Jahren treffend als »finding out what governments do, why they do it and what difference it makes«, beschrieben hat. Allerdings sollten die »Interdependenzen zwischen den Politikfeldern« bei der analytischen Fokussierung auf die Herausbildung einzelner Programme nicht aus dem Blick geraten (Wenzelburger/Zohlnhöfer 2015: 20). Auch sind die Phasen nicht zwingend voneinander getrennt zu betrachten, sondern können sich wie in der vorliegenden Studie überschneiden.

Der erste Teil von Kapitel III widmet sich demnach insbesondere der Phase der Problemdefinition und des Agenda-Settings, bezieht sich jedoch auch auf Aspekte der Programmformulierung, z. B. bei der Analyse der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen zum Themenkomplex der Fachkräftemobilisierung im Februar 2011.

Der zweite Teil von Kapitel III wiederum legt den Schwerpunkt auf die Phase der Programmformulierung der fünf zu untersuchenden Kerngesetze, berücksichtigt jedoch auch die Phasen der Problemdefinition und des Agenda-Settings sowie der Implementation. Hierbei werden die Kerngesetze und Einzelmaßnahmen in den vier relevanten Politikfeldern Bildung, Arbeitsmarkt, Zuwanderung und Familie systematisch-vergleichend untersucht. Ziel ist es, die Reformdynamik sowie den Einfluss potenzieller Vetospieler und Mitregenten in den einzelnen Gesetzgebungsprozessen hinreichend zu erfassen, um die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen für ressortübergreifendes Problemlösen im Modell Deutschland angemessen ausloten zu können. Darüber hinaus soll die tripartistische Austauschpolitik in den diesbezüglichen Koordinations- und Kooperationsgremien der Bundesregierung seit Herausbildung des neuen Politikfeldes der Fachkräftepolitik im März 2008 eingehend beleuchtet und analysiert werden. Kapitel III schließt mit einem Resümee der Gelingensbedingungen ressortübergreifender Politik sowie fachkräftepolitischen Handlungsstrategien.

Kapitel IV ist schließlich der Verbindung der theoretischen Erkenntnisse mit der Perspektive einer politikpraktischen Anwendung vorbehalten. Hierbei soll – wie von Mead (2011a) und Decker/Jesse (2016) postuliert – ein eigener gut begründeter Standpunkt in der Debatte bezogen werden. Ausgehend von internationalen Anknüpfungspunkten sowie personal- und tarifpolitischen Beispielen Guter Praxis sollen dabei Chancen für eine ressortübergreifende, lebensverlaufs- und sozialpartnerschaftlich orientierte Politik zur Mobilisierung von Fachkräften ausgelotet und diskutiert werden.

Darüber hinaus wird nach Vorbild der Niederlande und Frankreich ein stärker kooperativ orientiertes System zwischen Staat und Tarifparteien in der beruflichen Weiterbildung vorgeschlagen. Ausgehend vom österreichischen Modell der sogenannten Bildungskarenz sowie Bildungsteilzeit werden zudem Möglichkeiten einer breiten staatlichen Weiterbildungsförderung erörtert. Darüber hinaus sollen die gewonnenen Erkenntnisse im Sinne einer »problemorientierten Policy-Forschung« (Scharpf 2006: 33) für den politikpraktischen Transfer weiter vertieft und aufbereitet werden.21 Dies geschieht dadurch, dass anhand der Ursachen politischer Probleme und des Leistungsprofils staatlicher Arenen zur ressortübergreifenden Problemlösung sowohl inhaltliche als auch organisationsbezogene Handlungsempfehlungen gegeben werden. Schließlich werden in einem abschließenden Resümee in Kapitel V die zentralen Ergebnisse und Einsichten dieser Arbeit zusammengefasst und im Hinblick auf die zukünftigen Entwicklungsperspektiven des neuen Politikfeldes der Fachkräftepolitik diskutiert.

2.Stand der Forschung

Die Debatte, ob und in welchem Ausmaß ein Fachkräftemangel besteht und inwiefern ein politischer Steuerungsbedarf zur Mobilisierung von Fachkräften notwendig ist, wird insbesondere seit Beginn der 1980er Jahre immer wieder geführt (vgl. Bosch u. a. 2003: 2 ff). Zuletzt war es die gestiegene gesamtwirtschaftliche Arbeitskräftenachfrage in der letzten Aufschwungphase zu Beginn der Großen Koalition, welche die Frage nach einem gegenwärtigen und drohenden Mangel an Fachkräften neu entfacht hat (vgl. Mesaros u. a. 2009). Im Zuge dieser neueren Debatte wurde eine Vielzahl von Untersuchungen zur Ermittlung von mittelfristigen Prognosen und Trends geleistet (vgl. Fuchs/Dörfler 2005; Schnur/Zika 2005; DIHK 2007; IW 2007; Koppel 2008; Heckmann/Kettner 2009). Einen umfangreichen Forschungsbericht haben Oliver Koppel und Axel Plünnecke (2009) vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vorgelegt. Ihre Studie »Fachkräftemangel in Deutschland. Bildungsökonomische Analyse, politische Handlungsempfehlungen, Wachstums- und Fiskaleffekte« beleuchtet mögliche Effekte der als kurzfristig, mittelfristig und langfristig angelegten Handlungsempfehlungen für Reformmaßnahmen insbesondere im Bereich qualifizierter Zuwanderung und bei der Erschließung des unausgeschöpften Erwerbspersonenpotenzials. Kern der Studie ist schließlich die Berechnung von Wachstums- und Fiskaleffekten, die aus den Reformmaßnahmen abgeleitet werden.

In den 1970er bis 1990er Jahren wurden in stärkerem Maße Wanderungsbewegungen hochqualifizierter Arbeitskräfte im Kontext einer zunehmend global vernetzten Unternehmenswelt betrachtet (vgl. Kolb 2005: 159). Während zunächst einzelne Gruppen – wie der Austausch von Wissenschaftlern – im Fokus der Betrachtungen standen, wurde seit den 1970er Jahren unter dem Begriff des Braindrain stärker die Abwanderung von Hochqualifizierten allgemein diskutiert (vgl. Hunger 2003: 10). Während der Begriff sich in den folgenden Jahren vor allem auf die Migration aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer bezog, rückte die entwicklungspolitische Dimension ab den 1980er Jahren zunehmend in den Hintergrund. Mit dem Aufkommen neuer Technologien im Rahmen der ökonomischen Globalisierung in den 1990er Jahren entstand in vielen OECD-Ländern die Strategie einer zunehmend selektiven Einwanderungspolitik. In den USA war es beispielsweise der Immigration Act von 1990, in Kanada und Australien die Einführung von Punktesystemen, welche eine gezielte Einwanderung von Hochqualifizierten ermöglichte und für die wissenschaftliche Debatte einen neuen Referenzpunkt setzte (vgl. Chiswick 2005).