Fairytale gone Bad 3: Das Zeitalter der Kröte - Faye Hell - E-Book

Fairytale gone Bad 3: Das Zeitalter der Kröte E-Book

Faye Hell

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Beschreibung

Nahe Zukunft. Ein buchstaben-totalitäres System kontrolliert den Buchmarkt. Es gibt nur noch ein einziges Buch, das gelesen werden darf. Jacob Toads monströses, dreitausend Seiten umfassendes Meisterwerk: Die Geschichte unserer Welt – ein Märchen? Im Untergrund widmen sich Widerstands-Buchgruppen aber weiterhin den alten Klassikern. Ein gefährliches Unterfangen, denn illegales Lesen wird mit dem Tod bestraft. Bist du bereit für den letzten Schriftsteller unserer Gesellschaft? Bist du bereit für das letzte Buch deines Lebens? Bekannte Märchen auf eine ganz neue Art nacherzählt - nichts für kleine Kinder! Die Gebrüder Grimm würden im Grab rotieren ... In der Reihe FAIRYTALE GONE BAD erscheinen: 1: Die Nacht der Blumen - von Michaela Harich 2: Der Flug der Krähen - von Stephanie Kempin 3: Das Zeitalter der Kröte - von Faye Hell 4: Die Schwefelbraut - von M. H. Steinmetz

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Seitenzahl: 150

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Fairytale

gone bad

Faye Hell

Das Zeitalter der Kröte

Content Notes

Nicht geeignet für jüngere Leser.#gewalt #sexuelle sprache

© 2020 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Herausgeberin und Lektorin der Reihe: Michaela Harich

Umschlaggestaltung: Viktoria Lubomski Design

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-389-0

Printed in the EU

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/20

auf dem hohen dach der zivilisationen

prangen trotzig die kalten definitionen

kosten

wäre sie kostenlos

nutzen

wäre sie nutzlos

gib nie dumpf der illusion dich hin

denn materie prägt hier den sinn

materielles der gefährte

hochstilisiert und ausstaffiert

auf puren wert rasch reduziert

und dennoch gänzlich ohne werte

reguliert besessen den ursprünglichen fluss

verhöhnender götze ergeht sich im genuss

alles unmittelbare

glattkarschiert

alles unberührbare

abgenutzt

geprügelte sehnsucht weicht kalkül

starre nichtigkeit, wahr zählt nicht viel

die kröte muss und die kröte soll

jeder hier auf diesem haufen

ist zu kaufen und will kaufen

die kröte bekommt den hals nicht voll

schleck sie – schluck sie

würg sie

würg sie hinab

die kröten

bis du nicht mehr kannst

sondern sie dich können

schleck sie – schluck sie

würg sie

würg sie hinab

die moneten

verdau mit gedärm das taler speit

auf das gebeinhaus der menschlichkeit

löst es sich einst bleibt der abdruck im fleisch zurück

vom preisschild das mit nachdruck jedem aufgegdrückt

dem dir

dem mir

dem einmal wir

schon lang nicht mehr

dieses anorganische amphib

es folgt seinem regressiven trieb

frisst es das übrige selbst das bleibt

verklingt ein leben ohne sinn

mit einem allerletzten bing

am scannerfeld der vergänglichkeit

EINS: Die Rebellion muss funktionieren

Mitten auf meinem gläsernen Wohnzimmertisch lag ein Mann.

Mit nacktem Arsch.

In seiner eigenen Kotze.

Zu seinem und wohl auch zu meinem Glück lag er auf dem Bauch. Deshalb war er nicht an der Kotze erstickt und ich konnte seinen Schwanz nicht sehen. Für dieses Vergnügen hätte ich schon unter den Tisch kriechen müssen und darauf konnte ich getrost verzichten. Am Morgen nach einer durchfeierten Nacht war nichts grauenvoller als der schlaffe Schwanz eines anderen Mannes. Okay, ein Toter auf dem Wohnzimmertisch wäre wohl schlimmer gewesen als ein regungsloser Schwellkörperlurch, doch das Schicksal hatte uns beide verschont.

Zwischen den Arschbacken des Mannes ragte eine rote Kerze empor. Bei eingehender Betrachtung erkannte ich, dass es sich wohl um eine weiße Kerze handeln musste, die das Blut des Mannes rot gefärbt hatte. Eine harte Nacht definierte man am besten dadurch, dass man mit einer blutigen Kerze im Arsch erwachte. Der arschnackte Mann begann zu schnarchen und die Kerze vibrierte bei jedem Ton.

Interessant.

Neugierig trat ich etwas näher. Die Kotze war noch nicht eingetrocknet. Grüne Schlieren zogen sich durch einen gelblichen Brei. Galle. Nur routinierte Säufer kotzten Galle. Das hatte man mir zumindest gesagt. Ich war kein geübter Säufer, sondern bestenfalls ein ambitionierter Amateur. Ich bevorzugte Drogen. Weiche Drogen, harte Drogen, Insektenvernichtungsmittel. Ich hatte ohnehin nicht vor, lange zu leben, da konnte ich mein Leben genauso gut besonders stillos und brachial verschwenden. Und das an jedem einzelnen gottverdammten Tag.

In der halbgetrockneten Kotze schwamm ein weiß schimmerndes Bröckchen. Ich beugte mich hinunter, um es eingehend betrachten zu können. Scharf gezackte Kanten. Ein Stück eines Schneidezahnes. Wahrscheinlich hatte jemand dem arschnackten, schnarchenden Typen in die Fresse geschlagen, bevor er ihm mit einem Wachspflock den Schließmuskel geweitet hatte. Liebe hatte eindeutig viele Gesichter.

Ein eisiger Hauch kroch aus der Klimaanlage an der Decke und trieb mir den Gallengestank in die Nase. Ich würgte, kotzte neben meinen Wohnzimmertisch mit Kerzenständer, wischte mir das schweißnasse, blau gefärbte Haar aus dem leichenblassen Gesicht, taumelte zurück zur geschwungenen Mamortreppe, die hinauf in den ersten Stock führte, und ließ mich darauf niedersinken.

»Heilige Scheiße«, murmelte ich, als ich den Blick durch mein Wohnzimmer schweifen ließ und hätte dabei selbst nicht sagen können, ob diese fünf Silben die Verlautbarung elementarer Erschütterung waren oder fundamentalen Stolz ausdrückten.

»Verdammte heilige Scheiße.«

Das würde mir niemand nachmachen können.

Vor allem, weil jeder andere dafür ins Zentrum wandern würde. Und niemals wieder zurückkehren.

Das war die Kernkompetenz des Zentrums.

Es fraß Menschen.

Ich schüttelte den Kopf. Jeder Fehltritt war in unserer Gesellschaft schwierig. Aber meine exzessiven Feste waren auch deshalb sagenhaft und unerreicht, weil ich es einfach drauf hatte. Ich wusste, wie man stilsicher verzweifelte, eskalierte, deklassierte und zelebrierte. Diese letzte Zelebration hatte ein Schlachtfeld hinterlassen. Scheintote inklusive. Zumindest glaubte ich, dass keine der halbentkleideten Alkohol- und Drogenleichen tatsächlich tot war. Darüber hinaus war das Überleben oder eben Ableben meiner Partygäste belanglos. Ich würde nicht mal dann Probleme bekommen, wenn sie alle so lebendig waren wie mein kalter, besudelter Glastisch.

Auf dem überdimensionalen, schwarzen Ledersofa vor dem Panoramafenster, das einen unverbauten Blick auf einen weißen Sandstrand, gigantische Palmen, wogendes Meer und einen blitzblauen Himmel gewährte, lagen sechs splitternackte Menschen. Möglicherweise waren es auch sieben, vielleicht sogar mehr. Das hoffnungslose Gewirr aus Gliedmaßen erschwerte genaue Angaben. Jemand mochte seinen Kopf versenkt, ihn zwischen Titten und Ärsche gesteckt haben. Jemand könnte ihn sogar verloren haben.

Der schwarze Marmorfußboden war übersäht mit leeren Flaschen, Kanülen, Kleidungsstücken und weiteren regungslosen Menschen. Meine verdammte Villa, am beschaulichen Rande der kapitalen Stadt gelegen, hatte dreizehn Schlafzimmer, aber ich war mir sicher, dass es alle meine Gäste entweder auf meinem feudalen Glastisch, meinem Sofa oder schlichtweg auf dem Fußboden getrieben hatten. Ich liebte es, mich wie ein russischer Oligarch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu fühlen. Ausschweifungen waren meine Form der Diskretion. Die Schlafzimmer hatte ich nur, um in schlaflosen Nächten an den verschlossenen Türen vorbeizuwandern wie ein Schlossgespenst und meine Weltentfremdung zu vertiefen.

Diese leeren Zimmer – für Freunde, Familie und etwaige andere Gäste gedacht – waren der Inbegriff meiner Einsamkeit. Sie waren das Sinnbild jeder Einsamkeit. Ich brauchte die Zimmer, um mich sicher zu fühlen. Ihre Leere war mein Bollwerk gegen eine Gesellschaft, die bloß eine Gier kannte: die Gier, mir Gesellschaft zu leisten.

Einsamkeit bedeutete Sicherheit.

Dennoch war es meine Pflicht, uneinsam zu sein.

Es war das, was das Komitee von mir verlangte.

Niemand widersetzte sich dem Komitee. Noch nicht mal ich. Am allerwenigsten ich. Mich gab es nur, weil es diesen Ausschuss gab. Ich war kein Mensch, war es nicht mehr. Ich war ein Produkt. Ich war erschaffen worden. Irgendwann würden sie mich wegwerfen.

Ich kratzte mich an meinen Eiern und mein Schwanz wurde hart. Kurz überlegte ich, ob ich ihn einer der Scheintoten reinschieben sollte, aber trotz all meiner abartigen Veranlagungen stieß mich jegliches nekrophile Gebaren konsequent ab, also beschloss ich, stattdessen ein wenig aufzuräumen. Ich tippte mit dem Zeigefinger nah meiner linken Schläfe gegen das Jochbein und aktivierte den internen Kommunikator. Das Implantat war ein Privileg und rein allgemeinmenschlich gesehen nicht serienmäßiger Standard. Vorerst hatten nur Personen, die auch wirklich Teil des Netzes waren, Interne. Die herrschende Klasse war, was die technische Evolution betraf, der gesellschaftlichen Masse immer mindestens einen Schritt voraus. Die anderen hatten ein Smarter Phone.

Ich hatte einen Internen.

Ich war eine Privilegierter.

Ein Gefesselter.

Ein Kontrollierter, der die Massen kontrollierte.

»X23P6 korrekt«, meldete sich eine Stimme in meinem Kopf.

»Ich brauche einen Aufräumtrupp«, sagte ich, während ich aufstand und an den Körpern vorbei zum Panoramafenster ging.

»X23P6 verstanden«, kam die Antwort.

Das war alles.

Anweisungen wurden gegeben, Anweisungen wurden verstanden und Anweisungen wurden ausgeführt. Wenn man das Zusammenleben erst mal auf dieses Mindestmaß an Interaktion heruntergebrochen hatte, war die Freiheit eine Zier, die niemand gern sein Eigen nennen wollte. Nur wer nicht mehr anordnete, verstand oder ausführte, war frei. Und wer frei war, wurde abgestellt und verwahrt. Eingefroren bis zum Besserungstag.

Eine postmoderne Legende.

Ein Dogma, eine Lüge. Niemand würde sich bessern und niemand wurde eingefroren.

Es gab das Zentrum, aber keine unterirdischen Lagervorrichtungen, in denen steife Körper ihrer Besserung entgegenschliefen.

Es gab bloß Krematorien.

Die Flammen waren das Eis unserer Nation und sie waren gleichermaßen ein demütiger Kniefall vor den verehrten Ahnen.

Wähle die Mittel deiner Vernichtung weise, lass es Asche regnen.

Ich schaute hinaus auf den Meeresstrand, wo sanfte Wellen am weißen Sand leckten wie ich an der Pussy einer Unbefleckten. Diese Perfektion ließ Magensäure meine Speiseröhre hinaufkriechen. Es war so schön, dass es zum Kotzen war. Abermals übergab ich mich auf meinen Fußboden. Ich zuckte mit den Achseln. Kein Thema, der Aufräumtrupp würde demnächst eintreffen und Kotze wie Leiber wegschaffen.

Ich hielt mein Jochbein gedrückt. Dreiundzwanzig Minuten, teilte mir das Netz mit. Gelangweilt beobachtete ich eine Möwe, die am blauen Himmel ihre Kreise zog, und berührte schließlich das Display neben dem Fenster mit meiner flachen Hand.

Die Idylle war unerträglich.

Und mit meiner Berührung brach sie in sich zusammen wie das Kartenhaus, das wir alle bewohnten.

Aus dem feuchten Traum eines Netzzeitalter-Touristen wurde ein wütender, stinkender, grauer Moloch. Die kapitale Stadt, wie sie leibte, aber kaum noch lebte. Undurchdringliche Wolken aus Ruß, Asche und dem totalen Kollaps. Kalte Wände, kalte Herzen, kaltes Leben. Ein Wahnsinn aus Beton, Stahl und Glas, wie ihn selbst H. G. Ballard nicht hatte kommen sehen.

Ich erstarrte.

War der Interne aktiviert?

Hatten sie meine Gedanken gesehen?

Hatten sie meine Gedanken GELESEN?

In der kapitalen Stadt gab es Verbrechen, die nicht mal ich begehen durfte. Das ganze Land, das ganze Regime, das ganze System beruhte auf Verboten. Die meisten galten nicht für die Privilegierten.

Für mich galt genau genommen nur ein Einziges.

DU SOLLST NICHT LESEN!

Ich sah sie. Ich sah sie kommen. Allen voran eine dunkle Prinzessin in einer schwarzen Rüstung. So kalt und schwarz wie der Moloch. So kalt und schwarz wie ihr Herz. Das mit ihrem Herzen, das wusste ich genau, denn in einem Anfall von kreativer Torheit hatte ich vor Zeitaltern versucht, eben dieses zu erobern. Ich war gescheitert und mit einer Nadel im wieder aufgewacht. Meine Nadel und meine Drogen, aber es war ihre Ablehnung gewesen, die mich endgültig in meinen goldenen Käfig gesperrt hatte. Doch dieser Käfig würde mich nun nicht schützen. Ich hatte an einen der Alten, an einen der Frevler gedacht. Ich hatte eingestanden, sein Werk zu kennen! Schlimmer noch, ich hatte unsere Wirklichkeit an seiner Fiktion gemessen. Ich war verloren. Die Uniformen des Komitees würden bereits vor dem Aufräumtrupp eintreffen.

Ich sah sie. Ich sah sie kommen. Und meine schwarze Prinzessin kam, um mir ein letztes Mal den Kuss zu verweigern, der mich befreit hätte. Befreit aus meiner Bestimmung, die ich wohl niedergeschrieben, aber die sie mir zugeschrieben hatten. In unserer schönen neuen Welt gab es eine einzige Parole: Funktioniere! Wir alle funktionierten, weil keiner von uns der Besserung entgegenschlafen wollte. Wir alle hatten unseren Platz in der perfekten Gesellschaft und meine Aufgabe war es, der letzte Rebell zu sein. Das Schlachtfeld, die Körper, die Kerze im nackten Arsch des nackten Mannes, das alles war nicht mehr und nicht weniger als meine Pflicht. Ich war dazu verpflichtet zu eskalieren. Drogen zu nehmen, Orgien zu feiern, für den einzigen und immer wiederkehrenden Skandal des Systems zu sorgen.

Rebellion war meine Pflicht.

Jedes Wort.

Jedes Ficken.

Jeder Gewaltausbruch meiner vermeintlichen Individualität war berechnet und er war berechenbar.

Das Kalkül hatte das wahre Leben ausgemerzt. Ganz genau. Ich kannte die Sprache der verehrten Ahnen. Das war das Wort, das ich verwenden musste.

Ausgemerzt.

Ich sah sie. Ich sah sie kommen. Die Uniformen, die meinen nur mit Seidenshorts bekleideten Körper hochhoben. An ihm zerrten und kratzen wie die Biester. Ihn aufrissen und sein müdes Fleisch Säfte gebären ließen, die nicht der Lust entsprangen. Ich sah den kalten Blick meiner Prinzessin, ich spürte ihre Anweisung, noch bevor ihr Mund die fatalen Worte formte. Ich kannte es. Ich kannte mein Schicksal.

Auf ihren Fingerzeig hin gegen die Wand geschleudert.

An die Mauern meines Domizils geworfen wie ein leidiges, ein überflüssiges Ding.

Zerschmettert.

Endlich, der Körper wie der Geist.

Und dennoch geblieben, wer ich bin.

Kein Prinz.

Kein Prinz für meine schwarze Prinzessin.

Bloß ein Mensch.

Nein, nicht mal das.

Bloß eine Kröte.

Mein Name ist Jacob Toad und ich bin der letzte Schriftsteller der Menschheitsgeschichte.

Der Putztrupp kam, die Uniformen blieben aus.

Sehnsüchtig blickte ich an die Wand, während die schwarzgekleideten Anonymen den Müll rausbrachten. Jeglichen Müll. Ich wusste, meine Tage waren gezählt. Ich konnte sie spüren, die Verwandlung, und ich sollte mich nicht täuschen.

die freie Presse: Ihr Roman Die Geschichte unserer Welt … ein Märchen? ist eine der tragenden Säulen unserer postmodernen Gesellschaft.

Jacob Toad: Es ist kein Roman.

Die freie Presse: Inwiefern ist es kein Roman?

Jacob Toad: Weil mein Werk nicht den Gattungsmerkmalen entspricht. Müsste ich einen Roman nennen, würde ich … (Der Autor räuspert sich.) Sie wissen, dass es mir untersagt ist, über derartige … Dinge zu sprechen.

(Der Autor macht eine obszöne Geste, die Moderatorin verfällt in hysterisches Gekicher, das nach drei Sekunden abrupt abbricht.)

die freie Presse: Sie sind unanständig.

Jacob Toad: Ich bin genau das, was unsere postmoderne Gesellschaft von mir verlangt.

die freie Presse: Sie geben uns, was wir verlangen?

Jacob Toad: Irgendjemand muss es euch geben.

(Die Moderatorin errötet. Im Off applaudiert der Kulturattaché des Komitees lautlos. Das stumme Aufeinanderklatschen seiner flachen Hände lässt ihn wie eine Robbe aussehen.)

die freie Presse: Interessant. Die zentrale These Ihres Werkes wäre demnach welche?

Jacob Toad: Mein Werk umfasst mehr als dreitausend Seiten. Es ist unmöglich, all das in einer einzigen These zusammenzufassen.

die freie Presse: Aber auf all diesen Seiten muss es doch diese paar besonders wichtigen Worte geben.

Jacob Toad: Wären diese Worte für jeden von uns dieselben und wäre diese Konformität verbindlich, dann wäre mein Werk endgültig überflüssig.

die freie Presse: Aber wenn ich einen Revolver gegen Ihre Schläfe pressen würde und Sie dazu zwingen würde, mir zu sagen, was für Sie ganz persönlich die Kernaussage ist, was würden Sie antworten?

Jacob Toad: Dass ich nicht mehr weiß, wie es sich anfühlt, wenn mir niemand eine Waffe an den Kopf hält.

(Schweigen.)

»Dein literaturtheoretisch innovativer Ansatz baut eine euphorische Erwartungshaltung tief in mir auf, die mit jedem deiner Interlog-Einträge genährt werden wird, bis aus der Erwartung schiere Begeisterung entwächst.«

Das hat er gesagt!

Ziemlich genau das hat er gesagt!

Ich fasse es nicht. Ich habe den Autor getroffen. DEN Autor! Er hat mit mir gesprochen, er hat mir zugehört und er ist extrem beeindruckt von meiner Idee.

Haltet euch fest.

Jetzt haltet euch fest.

ER HAT MIR ZUGENICKT!

GENICKT!

Ich kann es immer noch nicht fassen. Endlich macht sich die jahrelange harte Arbeit bezahlt. Während meiner zahlreichen Live-Action-Vlogs zum Thema »Der Penis in der Literaturgeschichte unseres Reichsautors« habe ich an meiner Bestimmung gezweifelt. Fast hätte ich meine Standhaftigkeit und sogar das Interesse an DEM Werk verloren. Ich war knapp davor, zu einem Buch zu greifen und es mir in die Fresse zu schlagen.

Beruhigt euch!

Ich lese nicht.

Ich lebe einzig und allein für Die Geschichte unserer Welt … ein Märchen?

#schutzkomitee

#schlechterscherz

#friertmichbittenichtein

#ichbinanarchy

Steven_Plautze28 auf seinem Netzspot *whaaattis up, bookies?!*

ZWEI: Jahrmarkt der Eitelkeit

Erhobenen Hauptes stolzierte ich durch die ewig gleichen Hallen. Menschenüberfüllter, weißer Raum grenzte an menschenüberfüllten, weißen Raum. Immer und immer wieder. Die Räume wiederholten sich, wie die Menschen sich wiederholten. Redundante Ziegelwerke, redundante Anhäufungen von Zellen. Es fiel mir schwer, das Haupt angemessen hochzuhalten und den festen Schritt an den geschichtsträchtigen Tag zu legen, den man von einem Reichskünstler erwartete. Meine vertraglich festgelegten Eskapaden der vorangegangenen Nacht setzten mir mächtig zu und ein Kater, der einem ausgewachsenen Elefanten glich und kopfschmerztechnisch die Beschaffenheit einer Hydra aufwies, wollte mich niederringen.

Aber ich stolzierte.

Schritt vorwärts und marschierte für das Reich.

Bemerkenswert, dass so viele Begriffe völlig überholt waren, aber der Begriff Reich weder obsolet geworden war, noch eine Transformation durchgemacht hatte. Wenn überhaupt, dann hatte er einen massiven, völkischen Rückschritt hingelegt. Im Gleichschritt. Rechts um! Macht die Vergangenheit wieder groß! Reich war gleichsam der glorifizierende Begriff unserer glorifizierten Ahnen. Wir wussten ihn mit gebührender Demut und der Bürde eines selbstauferlegten Erbes zu tragen und auszusprechen. Vor allem als Reichskünstler, der sich der Meta-Funktion der Worte verschrieben hatte, war ich dem Vokabel Reich zu jeder Zeit Untertan.

Das erwartete man vom letzten Autor.

Vom letzten Reichskünstler überhaupt.

Unser Schauspieler hatte in den vergangenen Jahren mit seiner Liebe das Reich Performance Privilegierte und Anonyme gleichermaßen begeistert. Alle, verdammt noch mal wirklich alle, wollten ihn im Theater der kapitalen Stadt bewundern, weshalb er aus seinen einzelnen Vorstellungen, immerhin stand er jeden Tag insgesamt zwölf Stunden auf der Bühne, eine einzige Darbietung gemacht hatte. Seine theatralische Endlosschleife unterbrach er alle vier Stunden für eine dreißigminütige Ruhepause, die von den staunenden Zuschauern ebenfalls bewundert werden konnte und auch wurde, da der Schauspieler auf der Bühne schlief. Selbstverständlich war sein Schlaf für das Theater von großer Bedeutung. Er beteuerte mehrfach, dass er ausschließlich von seiner Liebe für das Reich träumte und somit wurden seine Träume zu einem wesentlichen Teil eines sich ständig im Fluss befindlichen Gesamtkunstwerkes.

Vor zwei Wochen kippte er kopfüber ins Publikum.

Er verreckte, während er tränenüberströmt seine Traumvisionen hinaus in eine theaterfanatische Welt plärrte, die seit mehr als zwanzig Jahren weder ein tatsächliches Theaterstück gesehen, geschweige denn gelesen hatte.

Als sein Herz zu schlagen aufhörte, schiss er sich ein. Dann stürzte er.

Er wurde nicht nachbesetzt.

Mit dem letzten Schauspieler starb das Theater. Die Menschen nahmen das einfach hin. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass ein anderer Mann oder vielleicht sogar eine Frau nun Schauspieler oder Schauspielerin hätte sein können. Es war wie mit einem seltenen, urtümlichen Tier. Der letzte Schauspieler war tot, das Theater somit ausgestorben. Außerdem kannte ohnehin jeder, verdammt noch mal wirklich jeder, die glorreiche und epochale Vorstellung Liebe das Reich.

Es hatte sich ein für alle Mal ausgespielt.

Das Theatergebäude wurde abgerissen.

Unser letzter Musiker hatte bereits viel früher ins Gras gebissen. Den Löffel abgeben. Sich zu den Fischen gesellt, um dort für immer zu schlafen. Er war Pianist gewesen und hatte sich mit einer Saite seines weißen Flügels erhängt.

Ein antikes, ein edles Stück.

Ein Bösendorfer.

Nicht die Saite, das Klavier.