RIGOR MORTIS - BAND ZWEI - GEISTERJAGD - Faye Hell - E-Book

RIGOR MORTIS - BAND ZWEI - GEISTERJAGD E-Book

Faye Hell

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Beschreibung

 Die Erde, die finde ich. Den Geist, den binde ich. Den Schatten, den rufe ich. Schwarze Pyramide, komm leite mich! 1906: Kennicott, Alaska Ein unbeugsamer Pionier träumt davon, die Eisenbahn mitten in das wilde Herz Alaskas zu führen. 2005: Alaska Eine einsame, verlorene Seele wirft einen intensiven Blick in einen allzu vertrauten Abgrund. 2017: Alaska Ein junger Mann, der das Wichtigste in seinem Leben verloren hat, ist endlich auf der Suche nach Antworten. 2017: Los Angeles, Kalifornien Ein größenwahnsinniger Talkshowmaster strebt nach Macht und einer neuen Weltordnung. Vier Geschichten, eine Wahrheit. Vielleicht ist Legende doch nur ein anderes Wort für »ihr wurdet gewarnt«. ***** TEIL ZWEI der RIGOR MORTIS-Reihe WRITER'S CUT: + Kurzgeschichte »Die Stadt der Engel« + Essay »Das Wahre und die Fiktion - Wie viel Wirklichkeit steckt eigentlich in RIGOR MORTIS?« 

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Faye Hell, Azrael ap Cwanderay

RIGOR MORTIS - BAND ZWEI - GEISTERJAGD

Writer's Cut

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Intro / Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Rigor Mortis

 

Band Zwei

 

Geisterjagd

 

von

 

Faye Hell

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Writer’s Cut

 

 

 

Vollständige Ausgabe 2022

Copyright © Hammer Boox, Bad Krozingen

Lektorat: Melanie Vogltanz

& Hammer Boox, Bad Krozingen

 (Fehler sind völlig beabsichtigt und dürfen ohne Aufpreis

behalten werden)

Titelbild: Azrael ap Cwanderay

Satz und Layout: Hammer Boox

 

Copyright © der einzelnen Beiträge bei den Autoren

 

 

5 / 22 - 34

 

 

 

EINE BITTE:

 

Wie ihr vielleicht wisst, ist HAMMER BOOKS noch ein sehr junger Verlag.

Nicht nur deshalb freuen wir uns, wenn ihr uns wissen lasst, was ihr von diesem Roman haltet.

Schreibt eine Rezension, redet darüber,

fragt uns, wenn ihr etwas wissen wollt ... DANKE!

 

 

 

Die Erde, die finde ich.

Den Geist, den binde ich.

Den Schatten, den rufe ich.

Schwarze Pyramide, komm leite mich!

 

1906: Kennicott, Alaska

Ein unbeugsamer Pionier träumt davon, die Eisenbahn mitten in das wilde Herz Alaskas zu führen.

 

2005: Alaska

Eine einsame, verlorene Seele wirft einen intensiven Blick in einen allzu vertrauten Abgrund.

 

2017: Alaska

Ein junger Mann, der das Wichtigste in seinem Leben verloren hat, ist endlich auf der Suche nach Antworten.

 

2017: Los Angeles, Kalifornien

Ein größenwahnsinniger Talkshowmaster strebt nach Macht und einer neuen Weltordnung.

 

Vier Geschichten, eine Wahrheit.

Vielleicht ist Legende doch nur ein anderes Wort für »ihr wurdet gewarnt«.

 

*****

 

TEIL ZWEI der RIGOR MORTIS-Reihe

WRITER‘S CUT:

+ Kurzgeschichte »Die Stadt der Engel«

+ Essay »Das Wahre und die Fiktion - Wie viel Wirklichkeit steckt eigentlich in RIGOR MORTIS?«

 

 

 

Rigor Mortis II - Geisterjagd

 

 

 

Corpus mortui meum sepultum est sed adhuc vago.

(Liegt auch mein Körper begraben, so wandelt mein Geist immer noch.)

 

 

eins

Thomas saß am Boden mitten im Wohnzimmer, umgeben von unzähligen Legosteinen. Der siebenjährige Bub tat das, was siebenjährige Buben nun mal tun, wenn ihnen langweilig ist: Er träumte sich an einen anderen, einen magischen Ort. Die kleinen, bunten Bausteine waren der Stoff, der seine Traumwelt greifbar machte. Sie ließen rund um ihn fantastische Architektur-Meisterwerke einer fremden Wirklichkeit entstehen. Und das war heute gar nicht einfach, weil seine Assistentin fehlte, seine Traumfahrt-Partnerin, seine Schwester. Die verbrachte den Sommer nämlich ganz weit weg in einem fremden Land, das fast so exotisch war wie Thomas‘ Land der Fantasie. Das war eine große Sache für seine Schwester und er verstand das, aber er fand es trotzdem schade. Seit sie nach Graz gezogen war, um dort die Universität – eine ganz geniale Schule für ganz geniale Erwachsene – zu besuchen, hatte sie eigentlich nur in den Ferien für Thomas Zeit. Außerdem waren das seine ersten richtigen Ferien überhaupt, immerhin hatte er gerade das erste Schuljahr beendet. Er hatte sich die ganze letzte Schulwoche darauf gefreut, extra viel Zeit mit dem Menschen zu verbringen, der ihm von allen Menschen auf der Welt der liebste war. Klar waren seine Eltern auch toll, aber das waren echte Erwachsene, während seine Schwester bloß halb erwachsen war. Irgendwie hatte sie sich aus beiden Welten das Beste bewahrt. Sie durfte alles, was Erwachsene durften, aber sie konnte sich noch perfekt an die Welt der Kinder erinnern, war dort kein überdimensional geratener, unerwünschter Besucher, sondern fast so etwas wie eine Königin. Leider war diese wunderschöne und gütige Königin nach einer Ferienwoche aufgebrochen und sie würde monatelang wegbleiben.

Monatelang!

Was das genau bedeutete, wusste Thomas gar nicht, aber er wusste, dass es in Kinderzeit eine halbe Ewigkeit war.

Er seufzte, setzte einen Stein auf den anderen und baute weiter an dem großen Turm, der neben der Couch aufragte. In diesem Turm lebte eine Prinzessin, die von einem bösen Drachen gefangen gehalten wurde und die darauf wartete, von einem tapferen Ritter befreit zu werden. Aber ohne seine Schwester war die Geschichte irgendwie ebenso lahm wie der Turm. Die bunten Steinchen waren bloß aus Plastik, der Ritter hatte sich beim Fahrradfahren beide Knie aufgeschunden und der Drache war aus Plüsch. Steif und leblos lag das grüne Ungetier zur Seite gesunken auf dem Teppich und starrte aus Knopfaugen unmotiviert auf ein halbherzig inszeniertes, nicht ganz so fantastisches Universum.

Durch die offene Verandatür drang Gelächter.

Das waren seine Eltern, und die Freunde seiner Eltern. Die Familie nutzte den strahlend schönen Samstagnachmittag für eine Grillparty, und wie es sich anhörte, hatten wenigstens die da draußen echt viel Spaß. Natürlich waren ein paar Kinder mitgekommen, aber die hatten alle keine Vorstellungskraft, starrten lieber auf ihre tragbaren Spielekonsolen, und wenn sie etwas bauten, dann einzig und allein, um es gleich darauf wieder kaputtzumachen. Dann war Thomas doch lieber allein. Diese ideenlosen Unruhestifter konnten seine Schwester ohnehin nicht ersetzen. Sicher war seine Mutter am Abend wieder extrem enttäuscht, dass er nicht mit den Kindern gespielt hatte. Angeblich wurden die ja nur deshalb eingeladen, damit Thomas nicht allein war, aber daran hatte er irgendwie seine Zweifel. Immerhin kümmerte sich neben dem ganzen Gelächter da draußen niemand darum, wie er sich fühlte.

Gerade als Thomas einen weiteren Versuch starten wollte, nun doch in das Universum der schönen, aber verzweifelten Prinzessin abzutauchen, riss ihn eine unbekannte Stimme endgültig aus seinen Tagträumen: »Hast du diesen Turm ganz allein gebaut?«

Er schaute hoch und erstaunt klappte seine Kinnlade nach unten, bis sein Mund weit offenstand. Vor ihm ragte eine imposante Gestalt auf. Ein Mann mit sehr langen und sehr schwarzen Haaren. Er trug Hemd und Hose aus weichem, braunem Leder und hatte leuchtende Bänder ins Haar geflochten. Das Hemd war mit Fell besetzt und mit bunten Glasperlen verziert. Der Fremde lächelte freundlich und dieses Lächeln zauberte sich im Handumdrehen auch auf Thomas‘ eben noch verwirrtes Gesicht.

»Ganz allein«, bestätigte der Bub stolz und setzte kleinlaut nach: »Leider.«

Der Besucher kniete sich zu Thomas auf den Teppich, hob einen der Steine hoch, betrachtete ihn interessiert und platzierte ihn dann oben auf dem Turm.

»Das macht Spaß«, bestätigte der Mann.

»Mehr Spaß macht es, wenn man zu zweit baut«, erklärte Thomas fröhlich.

Der Fremde nickte und es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass er verstand, wovon der kleine Junge sprach. Niemand baute gern allein. Oder kämpfte. Oder liebte.

»Gehst du auf eine Kostümparty?«, wollte Thomas wissen und deutete auf das auffällige Hemd des Mannes.

Dieser grinste breit, bevor er antwortete: »Nein, eigentlich bin ich nach langer Zeit endlich nicht mehr verkleidet. Aber du darfst meine Kleidung gern anfassen, wenn du willst.«

»Wirklich?«, wunderte sich Thomas. »Ist das nicht unhöflich?«

»Nicht, wenn ich es dir erlaube.«

»Sag mal, wenn du nicht verkleidet bist, bist du dann ein Indianer? Ein richtig echter Indianer?«, fragte der Bub, nachdem er vorsichtig die Perlen und das Fell berührt hatte.

»Ja, das bin ich. Ich bin ein Athabaskan.«

»Cool«, befand Thomas und seine Augen strahlten vor Begeisterung. »Haben meine Eltern dich eingeladen?«

»Nein, ich bin hier, weil ich mit dir sprechen muss.«

»Mit mir?«, staunte der Bub und wuchs gleich um gefühlte zehn Zentimeter, so wichtig kam er sich auf einmal vor.

»Ganz genau, mit dir. Thomas, weißt du eigentlich, wo deine Schwester ist?«

»Rosa? Ähm … nicht richtig. Aber ich weiß, dass sie weit weg ist.«

»Das ist sie. Sie ist in meiner Heimat. Sie führt eine Gruppe von Menschen durch mein Land.«

»Sie ist bei dir? Dann hat sie dich zu mir geschickt?«

»Irgendwie könnte man das wohl sagen«, antwortete der Mann zögernd. Dann fuhr er mit einer derart ernsten Stimme fort, dass Thomas die Haare im Nacken zu Berge standen. »Hör mir gut zu, es ist verdammt wichtig, dass du verstehst, was ich dir sage und dass du es niemals vergisst. Nie wieder. Alles klar?«

Thomas schluckte laut hörbar und nickte zaghaft.

»Deine Schwester …«, sagte der Mann eindringlich. »Sie wird nicht nach Hause zurückkommen. Aber das heißt nicht, dass sie tot ist.«

»Sie kommt nicht heim?«, fragte Thomas verzweifelt.

Der Besucher schüttelte den Kopf.

Dicke Tränen traten in die Augen des Jungen. »Gar nicht mehr? Auch nicht nach diesem langen Sommer?«

»Auch dann nicht«, bestätigte der Mann. »Sie werden vermuten, dass Rosa tot ist. Deine Eltern werden es dir auf diese Weise erklären. Sie werden sagen, dass sie gestorben ist, aber das stimmt nicht. Deine Schwester ist nicht tot.«

»Dann lebt sie?«, fragte Thomas hoffnungsvoll.

Abermals schüttelte der Fremde den Kopf und erklärte sanft: »Leider nein. Aber tot ist sie genauso wenig. Merkst du dir das? Es ist wichtig, dass du das immer weißt und nie daran zweifelst, ganz egal, was die anderen sagen werden! Sie ist nicht tot!«

»Ich merke mir das«, antwortete der Bub mit überraschend fester Stimme. »Meine Schwester ist nicht tot.«

Nachdem sie einander einige Zeit voller aufrichtiger Trauer, aber mit ebensolchem Vertrauen in die Augen geschaut hatten, brach der Gast das Schweigen. »Ich habe ein Geschenk für dich.«

Er zog das Lederband, an dem ein Anhänger aus schwarzem Stein hing, über seinen Kopf und reichte es Thomas. Behutsam nahm dieser die Kette an sich und betrachtete sie ehrfürchtig. Das Amulett bestand aus zwei eng ineinander verschlungenen Teilen, nur in der Mitte saß ein Loch. Dieses Loch musterte das Kind wie ein einzelnes, wachsames Auge.

»Das ist … schön, aber auch … gruselig«, stotterte Thomas. »Woher … ist es denn?«

»Man sagt, es sei am Anbeginn der Zeit aus dem Stein einer geheimen Pyramide gehauen worden.«

»Eine Pyramide? Mit einer Mumie?«, hakte Thomas nach. Er kannte sich aus mit Mumien, er hatte erst vor Kurzem ein Kinderlexikon zu diesem Thema geschenkt bekommen. Pyramiden waren cool.

»Vielleicht etwas Ähnliches«, bestätigte der Mann vorsichtig.

»Soll ich es tragen?«, wollte Thomas wissen.

»Irgendwann, wenn die Zeit gekommen ist, ja. Aber nicht jetzt. Versteck es gut und vergiss es genauso wenig wie das, was ich dir gerade gesagt habe. Du wirst wissen, wann es soweit ist. Dann wirst du dieses Geschenk aus dem Versteck holen, und das Band um deinen Hals und den Stein direkt über deinem Herzen tragen.«

Der Bub war absolut gefesselt von dem Anblick des schwarzen, glatten Schmuckstückes, das schwer und kühl in seiner hohlen Hand ruhte. Als er den Blick wieder anhob, um dem Fremden zu danken und ihn noch etwas zu fragen, war dieser so lautlos verschwunden, wie er gekommen war.

Doch das Amulett, das blieb zurück.

Ebenso wie die Erinnerung.

 

 

zwei

Claudie hatte keine impulsiven und leeren Drohungen ausgestoßen. Sie hatte die Reise tatsächlich abgebrochen und den Rest der Reisegruppe verwirrt zurückgelassen. Keiner wollte darüber sprechen, weshalb die junge Frau den Heimweg angetreten hatte, aber sie alle hatten ihre eigenen Theorien. Hätten sie sich darüber ausgetauscht, wäre ihnen aufgefallen, dass die doch sehr unterschiedlichen Menschen unabhängig voneinander zu auffällig ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen waren. Schlussfolgerungen, die sie aber erst recht nicht laut ausgesprochen hätten. Es hatte etwas damit zu tun, dass ihnen die Reise zwar Spaß bereitete, aber jeder Einzelne von ihnen bereits mehrmals eine gewisse Furcht verspürt hatte, die über ein belangloses Unbehagen weit hinausging. Unartikulierbar vage, aber dennoch beinahe greifbar.

Als hätten sie einen Geist gesehen.

Oder mehrere.

Oder etwas weit Schlimmeres.

Unter all diesen schweigsamen Menschen, die irritiert zum nun leeren Platz im Van schielten, war nur einer, der mit ziemlicher Gewissheit hätte sagen können, wer ihnen auf den Fersen war und all die bizarren Erscheinungen, die sie heimsuchten, mit sich brachte. Aber derjenige war gekommen, um genau diese Show live mitzuerleben, also lehnte er sich entspannt zurück, betrachtete erst den leeren Platz, dann die nervöse Reiseleiterin und genoss das Schauspiel, das gerade dabei war, seine schattenhaften Krähenflügel zu entfalten. Ja, der Mann in der immerwährend schwarzen Kleidung fühlte sich bestens unterhalten.

Rosa entging die Unruhe der Gruppe nicht. Die für sie alles entscheidende Frage hing unausgesprochen im Raum, oder besser in der Fahrgastkabine des Vans: Gibt es einen Grund, weshalb ich ebenfalls besser meine Koffer packen sollte?

Irgendwie wurde Rosa das unangenehme Gefühl nicht los, ein wichtiger Bestandteil dieses Grundes zu sein, obwohl sie ihre verstörenden Bedenken selbst nicht benennen konnte. Sie wusste es einfach. Claudie war unter anderem ihretwegen abgereist.

 

Auf halber Strecke nach Dawson City legten sie in Carmacks einen Zwischenstopp ein. Die Motelzimmer waren nahezu spartanisch eingerichtet, aber nicht ungemütlich. Das angeschlossene Restaurant hingegen war nicht gerade einladend, vor allem was die argwöhnische Gastfeindschaft der Einheimischen anging. Dafür waren die Gerichte auf der überschaubaren Karte überraschend innovativ und verdammt lecker.

Gemeinsam machte die Reisegruppe nach dem Essen eine abendliche Wanderung am Ufer des Yukon-Kuskokwim-Deltas. Das Licht der Abendsonne war unbeschreiblich und die Kraft des Flusses erfüllte die erschöpften Menschen mit ungeahnter Energie. Als sie es sich unten am Flussufer auf ein paar angespülten Baumstämmen gemütlich machten und das Karottenbrot aßen, das sie als Nachtisch mittgenommen hatten, war die Stimmung fast schon wieder ungetrübt. Einzig und allein die Magie des Augenblicks unterband das eine oder andere ausgelassene Lachen. Die nahezu greifbare Kraft dieses Ortes war fragil und niemand wollte die selige Ruhe durch einen unbedarften Laut stören.

Sogar jener Mann, dessen Namen sich keiner der Gruppe bisher gemerkt hatte, hielt sich diesmal nicht abseits auf, sondern fühlte sich sichtlich wohl in der Gesellschaft der anderen. So war es an diesem Abend, nach einem flatterhaft nervösen Tag, dennoch leicht, unbekümmert zu sein. Die Vorfreude auf Dawson war groß und sie betraf nicht nur die Stadt und die aufregende Geschichte des Goldrausches, sondern vor allem das Dawson City Music Festival, das sie am dreiundzwanzigsten und vierundzwanzigsten Juli besuchen würden. Zwei Tage ausgelassenes Feiern und unzählige regionale und überregionale Bands erwarteten die Reisenden. Am Tag darauf würde dann die Geschichte der Gegend und des Bergbaus im Mittelpunkt stehen und am sechsundzwanzigsten Juli würde es mit der Fähre über den Yukon River und dann weiter den Top of the World-Highway entlang in die nahezu unberührte Wildnis gehen.

Ein Programm der Kontraste, aufregend und vielversprechend.

Der leere Platz im Van war bei diesen Aussichten beinahe vergessen.

Die Weiterfahrt am nächsten Tag verlief reibungslos. Nach einem kurzen Abstecher auf den Dempster Highway – für die gesamte Strecke bis hinauf in den hohen Norden blieb aufgrund der Reiseplanung, die dem Festival angepasst war, keine Zeit – kam die Reisegruppe sehr spät im komfortablen Hotel an. Eilig zogen sich die Reiseteilnehmer auf ihre Zimmer zurück, um morgens ausgeschlafen und somit gut gerüstet für das Festival zu sein, das an diesem Abend bereits im vollen Gange war.

Rosa fand in dieser Nacht allerdings keine Ruhe. Während die übrigen trotz des Lärms der betrunkenen und randalierenden Festivalgäste tief und fest schliefen, lag Rosa die halbe Nacht wach und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Sie hatte das eigenartige Gefühl, als hätte sie etwas vergessen.

Oder jemanden.

Die Sorge, die sie quälte, war unbegründet, denn dieser Jemand wartete geduldig darauf, die junge Frau zu treffen. Endlich von Angesicht zu Angesicht. Das Paris des Nordens war der perfekte Ort dafür.

 

Rosa hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, an diesem abgelegenen Ort derartige Menschenmassen anzutreffen. Die Stimmung auf dem Festivalgelände war bombastisch. Innerhalb von nur fünfzehn Minuten hatte Rosa die Leute aus ihrer Gruppe vollständig aus den Augen verloren. Was nicht weiter schlimm war, die nächsten beiden Tage konnten alle tun und lassen, was sie wollten. Roger zum Beispiel wollte sich an den Van gelehnt aus Bierdosen betrinken und Kumpels treffen, die übrigen wollten sich auf den Wogen der Musik treiben lassen und waren offensichtlich bereits erfolgreich abgetrieben worden. Und sie wollten ebenfalls Bier trinken, aber aus Plastikbechern.

An ihrem dritten Tag in Dawson würden sie dann wieder alle gemeinsam an der Goldbottom Mine Tour teilnehmen und unter anderem die Millar Mine besuchen. So, wie die Feier bereits am Vormittag anhob, war Rosa wirklich froh, dass die Reise nicht gleich nach dem Festival den holprigen Top of the World-Highway entlang weitergehen würde. Stattdessen sah sie vor ihrem geistigen Auge bereits einen aus ihrer Truppe in den Minenschacht der Millar Mine reihern und musste laut lachen. Nein, es gab gar keinen Grund, den anderen einen solchen Vorsprung einzuräumen. Wer sagte, dass nicht sie in die Mine kotzen wollte? Zielstrebig steuerte sie eine der Bierbuden an und schwang dabei die Hüften im Takt der angenehm rockigen Country-Musik.

Am frühen Abend dröhnte Rosas Schädel und stand knapp davor zu explodieren. Sie konnte nicht sagen, ob die laute Musik, die grölenden Menschenmassen oder das schale Bier schuld daran waren, aber es war ohne Zweifel an der Zeit, der Hektik für ein paar Atemzüge zu entkommen.

Am besten für sehr viele Atemzüge.

Eines der Lieder summend, dessen melancholische Melodie ihr besonders ins Ohr gegangen war, spazierte sie die staubige Straße entlang und erreichte nach kurzer Zeit die Ausläufer der Stadt. Zielstrebig, aber ohne den genauen Weg zu kennen, bog sie nach links ab, um hinunter zum Fluss zu gelangen. Nach gut zwanzig Minuten stand sie auf der Front Street und blickte hinab auf die energische, aber dennoch unglaublich beruhigend wirkende Strömung des Yukon Rivers. Einem spontanen Impuls folgend, zog sie ihre Schuhe aus und spazierte barfuß auf der saftig grünen Wiese neben der Straße weiter flussaufwärts.

Dawson war eine außergewöhnliche Stadt, die fröhlich bunten Fassaden der Häuser erinnerten Rosa an Whitehorse, wirkten aber um vieles einladender, da nicht nur die Front Street ihren Charme versprühte, sondern die ganze Stadt eine glaubhafte Authentizität ausstrahlte. Selbst, wenn die Häuserfronten auf den unbedarften Besucher auf den ersten Blick wie eine Filmkulisse wirken mochten, waren die Häuser der Stadt tatsächlich alt und nicht einfach detailgetreu nachgebaut. Rosa schloss die Augen, spürte das Gras unter ihren bloßen Füßen, atmete die frische Luft ein, die der Fluss mit sich brachte, fühlte die warme Sonne im Nacken und genoss das ungezwungene Lächeln, das sich auf ihr Gesicht zauberte. Oft hatte sie während ihres Studiums das geflügelte Wort lebendige Geschichte gehört, hier in Dawson verstand sie, was damit gemeint war. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Goldsucher bis zur Hüfte im Fluss stehen und Frauen mit weiten, schwarzen Röcken die Straßen entlangspazieren. Sie hörte die Musik und das Gelächter aus den Saloons hallen, und das Schnaufen der Maschinen im Sägewerk drang an ihr Ohr. Als das Bild langsam verblasste, öffnete sie die Augen und ging weiter.

Nachdem sie zehn Minuten Richtung Stadtzentrum geschlendert war, erreichte sie einen kleinen Pavillon, in dem es sich einige Leute gemütlich gemacht hatten und Eis aßen. Ein paar weitere Festival-Flüchtlinge lagen im hohen Gras, schliefen ihren Rausch aus oder entspannten sich und genossen die Stille. Plötzlich überkam Rosa das dringende Bedürfnis nach einer Kugel Erdbeereis. Die Schuhe, die sie in der Hand getragen hatte, ließ sie achtlos auf einer der Bänke liegen. Sie wusste einfach, dass sich niemand für ihre Wandersandalen interessieren würde. Eilig lief sie über die Straße auf das rosarote Gebäude zu, vor dem sich eine kurze Schlange gebildet hatte und das mit bunten Frozen-Joghurt-Schildern um Kundschaft warb. Wie sich fünf Minuten später herausstellte, hatten sie gar kein Frozen Joghurt mehr, dafür aber genügend Erdbeereis.

Als Rosa, genüsslich an der pastellfarbenen Kugel leckend, zurück zur Bank kam, sah sie, dass sich jemand neben ihren Schuhen niedergelassen hatte. Die Schuhe waren also tatsächlich sicher, nicht so Rosas favorisierter Platz an der Sonne. Genervt stieß sie, fauchend wie ein Schwan, Luft durch die Nase aus, verharrte einen zögerlichen Moment und ging dann auf die Bank zu. Eigentlich nur, um ihre Schuhe zu holen und sich dann einen schönen Flecken im Gras zu suchen, aber als sie nach ihren Sandalen griff, schaute der Mann, der bisher wie versteinert dagesessen hatte, unverhofft hoch.

»Ich wollte dich nicht vertreiben, diese Bank ist groß genug für uns beide«, sagte der Fremde und lächelte dabei freundlich.

Eigentlich wollte Rosa unverbindlich zurücklächelnd ablehnen, aber irgendetwas hieß sie bleiben, also bedankte sie sich und setzte sich zu dem Unbekannten. Während sie schweigend dasaßen, beobachtete sie ihn unauffällig. Er war wohl Ende dreißig und somit deutlich zu alt für sie. Darüber hinaus hatte sich Rosa das letzte Mal für das andere Geschlecht interessiert, als sie ungefähr acht Jahre alt gewesen war, trotzdem konnte sie nicht abstreiten, dass der Mann attraktiv war. Fast schon einschüchternd attraktiv und dennoch authentisch wie die Stadt. Da gab es auf dem Festivalgelände wohl genug Frauen, die liebend gern neben ihm Platz genommen hätten, und jetzt saß er ausgerechnet neben einer Lesbe. Sie musste breit grinsen und hielt sich schnell peinlich berührt eine Hand vor den Mund. Verstohlen musterte sie ihn ein weiteres Mal. Sein dunkles Haar war nass und aus dem Gesicht gekämmt, er trug altmodisch anmutende schwarze Kleidung und auffällige, ebenfalls schwarze Cowboystiefel.

»Bist du in einer Band?«, platzte es aus Rosa heraus.

»Eine Band?«, fragte er lachend und das übermütige Funkeln in seinen geheimnisvollen Augen machte ihn gleich noch anziehender.

»Na, ich hab gedacht … weil du irgendwie Cowboy-Klamotten trägst und … echt gut aussiehst. Du würdest dich klasse auf der Festivalbühne machen«, erklärte Rosa verlegen, musste dann aber in sein ungezwungenes Lachen mit einstimmen.

»Danke, schönes Fräulein«, antwortete er mit einem Augenzwinkern. »Kann es sein, dass du mit mir flirtest? Immerhin rinnt dir dein Eis über die Hand, dermaßen gebannt starrst du mich an.«

Rosa stieß ein leises Quietschen aus, wechselte die Eistüte in die andere Hand und leckte eilig daran herum.

»Deine Zungenfertigkeit ist auf jeden Fall beeindruckend«, zog der Mann sie auf und Rosa versetzte ihm einen sachten Stoß, woraufhin dieser sich jammernd zur Seite fallen ließ, sich aber gleich wieder aufrichtete und nachsetzte: »Und wehrhaft ist die Lady! Du bist eine Frau ganz nach meinem Geschmack.«

Ihre Blicke trafen sich und die Welt stand still. Einen Moment lang verlor sich Rosa in den schwarzen Augen des Fremden und sie ließ sich bereitwillig gehen, genoss den befreienden Kontrollverlust. Doch mit einem Mal keimte ein eigenartiges Gefühl in ihrer Magengrube auf, wanderte hoch über ihr plötzlich rasch hämmerndes Herz hinweg und blieb in ihrem zugeschnürten Hals stecken. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Speiseröhre und automatisch stiegen Tränen in ihre Augen – durchsichtige, tragische Perlen, die so schwer waren, dass sie sich beim nächsten Wimpernschlag bereits lösten und über ihre schlagartig blassen Wangen rannen.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, erkundigte sich ihr Gegenüber bestürzt. »Ich wollte lustig sein … ein wenig charmant.«

Rosa schüttelte den Kopf und wandte somit den Blick ab von ihm, von seinen Augen. Eilig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Es ist nichts. Oder eigentlich ist es viel, aber es ist bloß eine Erinnerung.«

»Erzähl es mir«, ermutigte sie der Fremde.

Rosa wollte höflich verneinen, stattdessen hörte sie sich selbst weitersprechen: »Ich muss gerade an Nora denken. Sie ist meine beste Freundin gewesen. Nein, eigentlich meine Partnerin. Ich habe sie geliebt … liebe sie immer noch, obwohl es hoffnungslos ist. Diese Liebe kommt zu spät und wird in diesem Leben nicht mehr erwidert werden.«

»Was ist passiert?«, fragte er vorsichtig nach, als Rosa ins Stocken geriet.

»Ich bin passiert. Ich bin jung gewesen, zumindest zu jung dafür, um mit den Anfeindungen der Leute umgehen zu können. Einmal haben wir in einem Lokal Händchen gehalten. Der Betreiber ist zu uns rübergekommen und hat uns dazu aufgefordert, das entweder bleiben zu lassen oder das Lokal zu wechseln. Er hat gesagt, wir würden die anderen Gäste mit unserem Händchenhalten irritieren und ihren Abend ruinieren. Nora hat gelacht, mich an sich gezogen und lang und leidenschaftlich geküsst. Dann hat sie dem Typen gesagt, dass wir weiterziehen würden, wenn die Rechnung für unser Abendessen aufs Haus ginge. Er hat gern bezahlt, damit wir seine Gäste nicht weiter belästigten. Erst habe ich das total aufregend gefunden, meine heldenhafte Freundin, die so temperamentvoll ist und sich von nichts und niemandem einschüchtern lässt. Doch nachts, als Nora friedlich neben mir geschlafen hat, habe ich mein Kissen nassgeweint. Der Schmerz, den mir fremde Menschen immer wieder zugefügt haben, ist an diesem Abend endgültig zu groß gewesen, um ihn einfach wegzuküssen. Wenn belanglose Leute schon derart auf meine Liebe reagieren, was hätten dann erst meine Eltern gesagt? Meine Freunde aus der Schulzeit?«

»Also hast du sie verlassen?«

»Erst habe ich sie unüberlegt und feige verlassen, und gleich darauf sie mich für immer. Nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich mit dem Hass nicht klarkomme und zu schwach bin, um zu unserer Beziehung zu stehen, hat sie weinend mein Zimmer im Studentenheim verlassen. Was dann passiert ist, weiß ich nur, weil man es mir erzählt hat. Ich kann nicht sagen, wer es erzählt hat, aber ich weiß mit Sicherheit, dass es nicht Nora gewesen ist. Nicht mehr. Nie mehr. Sie hat sich in irgendeinem Lokal in der Innenstadt betrunken, ist dann mit der Straßenbahn zu ihrer Wohnung gefahren, die sie aber nie erreicht hat. Stattdessen ist sie ins Auto gestiegen. Keine Ahnung, wohin sie wollte. Vielleicht zum See außerhalb der Stadt, wo wir oft gewesen sind, vielleicht ganz woanders hin. Es spielt keine Rolle, sie ist sowieso nie dort angekommen. Auf der Freilandstraße haben ihre Reifen in einer Kurve den Halt verloren. Sie ist frontal gegen einen Baum gekracht. Als die Rettung am Unfallort eintraf, war sie bereits tot.«

»Hat sie sich umgebracht?«, fragte der Mann und seine Stimme stockte.

»Nein, hat sie nicht. Es ist ein tragischer Unfall gewesen, den sie zu verantworten hatte. Oder eigentlich ich. Sie hat sich nicht umgebracht … und ich mich auch nicht.«

»Du wolltest sterben?«

»Ja, das ist das Einzige gewesen, wonach ich mich damals noch gesehnt habe, und sogar dafür bin ich zu schwach gewesen.«

Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, Rosa die eisverklebten Hände im Schoß gefaltet und den Blick in die Ferne gerichtet, fuhr der Fremde zögernd fort.

»Ich kenne deinen Schmerz. Ich kann ihn fühlen, fühle ihn jeden einzelnen Tag, während ich daliege wie in einem dunklen, kalten Grab. Ich habe ebenfalls geliebt und ich habe ebenfalls verloren. Und es ist meine eigene Schuld gewesen. Heute weiß ich das, aber heute ist es zu spät.«

»Es ist immer zu spät, wenn es wirklich von Bedeutung ist«, flüsterte Rosa.

»Den Lauf der Dinge können wir nicht ändern, wir können einzig und allein uns selbst ändern. Uns von uns selbst befreien, uns neu erfinden. Völlig neue Menschen werden«, sagte der Mann leise.

Als sich Rosa nach einer Weile zu ihm hindrehte, die Frage Was meinst du damit? auf den Lippen, war der unglaublich schöne und unglaublich traurige Fremde verschwunden. Aber in Rosas verletztem Herz blieb ein Teil von ihm zurück.

Er hatte ihre Sehnsucht nicht gestillt.

Er hatte eine neue erschaffen.

 

 

drei

… was genau eigentlich schiefläuft? In diesem Land, im großen Allgemeinen und im unbedeutendsten Detail? Gehören Sie nicht zu denjenigen, die immer strebsam sind und immer ihr Bestes geben?

Doch, natürlich gehören Sie dazu! Deshalb wende ich mich ausgerechnet an Sie!

Aber welchen Dank hat das sogenannte und oft bemühte Karma für Sie? Die ausgleichende Gerechtigkeit ist eine notgeile Schlampe! Sie legt Sie auf die Fresse, lässt Sie mit der Kauleiste in Beton beißen, drückt Ihren Mund in die Scheiße, bis Sie fast ersticken, und fickt Sie in den Arsch. Und wenn das Schicksal sie lang genug gefickt hat, dann ejakuliert es, spritzt sein heißes, weißes Sperma der Glückseligkeit auf die ab, die den ganzen Tag auf ihren fetten und faulen Ärschen hocken und sich einen Dreck um die Gemeinschaft kümmern und einen Dreck um unser Land. Weshalb sollten diese Leute das auch? Es sind durchgeschwitzte und vollgekackte Migranten, viele von ihnen illegal, die sich von hart arbeitenden Inländern durchfüttern lassen. Dieses Pack lebt nicht nur auf Ihre Kosten, nein, es residiert auf Ihre Kosten und lacht sich die Ärsche ab. Sie hocken in ihren stinkenden Kneipen, die die Brutstätten von Seuche und Verdammnis sind, lachen und spucken auf Sie, die Sie hart arbeiten. Lachen und scheißen auf unser geliebtes Vaterland!

Da frage ich Sie: Bringt uns diese moderne, politische Überkorrektheit hier weiter? Ist Verständnis tatsächlich der Weg, den wir gehen sollten?

Um diese soziale Ungerechtigkeit endgültig auszumerzen, frage ich weiter nach, und seien Sie ehrlich, belügen Sie mich nicht, und vor allem, belügen Sie sich selbst nicht.

Bereit?

Wann sind Sie glücklicher gewesen: Nachdem Sie das letzte Mal wahrhaftig geliebt haben oder nachdem Sie das letzte Mal so richtig hart gefickt haben?

Wissen Sie es?

Wissen Sie es?

Ganz genau!

Verstehen Sie mich jetzt?

Wir sollten ficken und nicht lieben, wir sollten kämpfen und nicht kuscheln. Dieser Kuschelkurs und dieses ganze Versöhnen und Ausdiskutieren bringt uns nicht weiter. Wir reiten uns selbst in die Sackgasse, bis unsere Feinde mit einem dicken Mörser kommen und uns in genau dieser Sackgasse aufreiben und zu Staub zerstoßen.

Wir sollten die Aussätzigen unserer Gesellschaft retten wollen?! Nein! Lasst sie uns vom Antlitz der Erde bomben!

Wir, die wir gemeinsam streben und unser Bestes geben, müssen uns vereinen gegen die Unwürdigen und wir müssen sie ausradieren. Und damit meine ich auch den Abschaum in den eigenen Reihen. Nur weil jemand brav zur Arbeit geht und seine Steuern an einen Staat zahlt, der vermehrt Fremdrassige fördert, heißt das noch lange nicht, dass er zu uns gehört. Denkt an Männer, die Schwänze lutschen und Frauen, die Mösen lecken. Ist diese Abartigkeit das Bild eines aufrichtigen Staatsbürgers, das Sie Ihren Kindern vorsetzen wollen?

Nein?

Nein!, sage ich und ich schreie es hinaus.

Und diese Perversen verstecken sich nicht in den versifften Kellerlöchern, wo sie hingehören. Sie sind die Krankenschwestern, die im Krankenhaus die Infusionsnadel in Ihren Arm stechen, sie sind die Lehrer, die Ihre Kinder unterrichten.

Es ist an der Zeit, dass unsere Nation sich reinigt und sich neu erfindet. Hören Sie nicht weg, sondern hören Sie stattdessen genau hin und lauschen Sie der Stimme, die vernünftig klingt und dennoch nicht davor zurückschreckt, die nackte Wahrheit zu verkünden.«

»Uuuund cut!«, ruft Peter, was eigentlich vollkommen unnötig ist. Wir sind nicht im Fernsehstudio, wir sind in meinem Büro – nur wir beide– und er bedient die Kamera. Aber ich halte ihn nicht ab. Wer kann schon erahnen, ob es nicht doch etwas gibt, das einen Soziopath erfreut? Vielleicht geht ihm endlich mal einer ab, wenn er cut rufen kann. Mich macht eher das Wort cunt heiß, aber ich gönne ihm sein Vergnügen, solange er mir seine Begeisterung nicht vor die Füße spritzt.

»Verdammt geile Ansprache, Count Mortis«, sagt er und ich kann den beißenden Zynismus in seinen Worten nicht überhören. Das ist unheimlich beruhigend. Kaum auszudenken, wenn er das tatsächlich ernst meinen würde. Einem solchen Irren könnte ich niemals die Details meines Lebens- und Karriereplans anvertrauen. Peter ist mein intimster Gesinnungsgenosse und er ist abstoßend wie eine Kanalratte, aber auch verletzend aufrichtig.

»Danke dir! Eine wirklich geile Ansprache! Genau das, was es sein soll! Peinlicher Gossenjargon für gehirnamputierte Flachwichser«, antworte ich, lehne mich in meinem Sessel zurück und knalle meine Cowboystiefel krachend auf meinen Schreibtisch.

»Klär mich nochmal auf, Großmeister, wen genau du mit dieser Hasstirade anlocken willst.«

»Ich will Dreck damit anlocken, der so willensschwach ist, dass ich ihn ganz nach meinem Belieben formen kann. Die Norm lässt sich nicht stürzen, wenn man bloß eine Elite von perfiden Denkern um sich schart.«

»Also sagst du, was dein Dreck hören will?«

»Absolut! Heute das und morgen schon wieder etwas ganz anderes. Es gibt unglaublich viel Dreck da draußen, der von mir geformt werden will, und jeder Dreck hegt und pflegt seinen ganz spezifischen Hass. Und diese hassgeilen Idioten schreien förmlich nach meiner Führung. Wir müssen aufpassen, dass die entsprechenden Videos in den richtigen Kanälen landen. Ich gebe dir eine Liste mit den jeweiligen … Ansprechpartnern.«

»Bei deiner nahezu übermenschlichen Fähigkeit, dich zu verwandeln und an den kranken Abschaum im Internet und die banalen Massen des gesichtslosen Mediums Fernsehen anzupassen, hast du da überhaupt Platz für eine eigene Überzeugung?«

»Eine eigene Überzeugung?« Ich nehme meine Füße wieder vom Tisch und lehne mich nach vorne. Mit einer Handbewegung weise ich Peter an, näherzukommen. Er tritt an den Schreibtisch, ich winke weiter. Er beugt sich darüber. Ich schieße in seine Richtung, packe ihn mit einer Hand an seiner Kehle und drücke zu. Ganz sacht, ich will ihn weder töten noch verletzen, er soll bloß meine Dominanz zu spüren bekommen, wie sie ein Tier spüren würde. »Ich bin überzeugt davon, dass ich all diesen Menschen überlegen bin. Und wen auch immer ich, in welcher Ansprache auch immer, vernichte, es ist niemals verkehrt oder gar eine Lüge, weil ich das gesamte degenerierte Gesindel, das sich Menschheit nennt, gleichmäßig verabscheue. Ich bin die Wende, und die Wende wird die Welt neu strukturieren. Und dabei geht es nicht um Gerechtigkeit, es geht einzig und allein darum, dass der neue Mensch den alten unterwirft und ihn in Käfigen hält wie eine Herde von Arbeitstieren, ihn ausbeutet, leertrinkt und ihn entsorgt, wenn er verbraucht ist.«

»Dann bin ich beruhigt. Dachte schon, du hättest deine Prinzipien vergessen. Nicht nur einen sollst du hassen, wenn du doch alle hassen kannst. Das hast du mir beigebracht«, antwortet Peter röchelnd, verzieht aber keine Miene dabei.

Ich stoße ein fauchendes Lachen aus und lasse ihn los. »Ich gebe Wahrheiten weiter, die lange vor Richard Darius gesagt worden sind. Hast du denn vergessen, dass ich vom Besten der Besten gelernt habe?« Ich nehme den schlichten Rahmen mit Hendersons Foto darin von der Tischplatte und halte ihn Peter auffordernd hin.

»Ach ja, dein Großvater«, entgegnet dieser und verzieht seine fetten Fahrradschlauchlippen zu einem Grinsen. »Ich hatte Angst, du hättest deine Überzeugung verloren.«

»Ich verliere nie«, herrsche ich ihn an. »Am allerwenigsten mein Ziel vor Augen. Mir ist bloß jedes noch so dreckige Mittel recht, weil ich nicht fair gewinnen will. Ich will nur gewinnen.«

Weil du doch der geborene Gewinner bist und nie zuvor verloren hast, ätzt die Stimme in meinem Kopf.

»Halt endlich mal deine verdammte Fickfresse!«, brülle ich und Peter verlässt schulterzuckend mein Büro.

 

 

vier

Mit einem leisen Seufzer ließ sich Thomas auf das Bett fallen.

Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er tatsächlich hier war. Wie auch? Immerhin hatte er vor gerade mal fünf Tagen den Entschluss gefasst, zu dieser Reise aufzubrechen, und diese Überlegung hatte ihn höchstens zehn Minuten Lebenszeit gekostet. Er war sich nahezu in dem Augenblick darüber im Klaren gewesen, was zu tun war, als er das Amulett in Händen gehalten hatte.