Fall to Rise - Anne Jonathan - E-Book

Fall to Rise E-Book

Anne Jonathan

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Beschreibung

Von Liebe, Schicksal und einer Balletttänzerin, die erst ihren Traum verlieren muss, um sich selbst zu finden. Für Fans von Maren Vivien Haase und Anna Savas  »Wenn die Seele tanzt, ist es doch ganz egal, wie es aussieht.«  Für 24-jährige Tänzerin Josie bedeutet Ballett alles. Doch als eine Hüfterkrankung ihre Karriere beendet, steht sie vor dem Nichts. Ohne Plan und Ziel nimmt sie einen Aushilfsjob in einem Supermarkt an und trifft dort auf Fabian – chaotisch, launenhaft und gänzlich anders als sie selbst. Trotz ihrer Unterschiede fühlt sich Josie zu ihm hingezogen und lernt durch die Freundschaft zu ihm und seiner Schwester Maya, die das Downsyndrom hat, ihr Leben mit neuen Augen zu betrachten.  Doch gerade, als sie der Liebe zu Fabian und auch dem Tanzen wieder eine Chance geben will, erhält sie einen Anruf und trifft eine folgenschwere Entscheidung …

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Larissa Bendl

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: depositphotos.com (flas100; Merfin)

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In diesem Buch sind Themen enthalten, die triggernd wirken können. Am Ende des Textes findet sich eine Aufzählung, die jedoch den Verlauf der Geschichte spoilern kann.

Wir wünschen ein bestmögliches Leseerlebnis.

Für Dietmar, der das Tanzen ebenso liebt wie Josie

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

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Danksagung

Triggerwarnung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1

Einen Tag bevor Josies Leben aus den Angeln gehoben wurde, saß sie wie jeden Dienstagabend mit ihren Kolleginnen und Kollegen des Hohenfelder Ballettensembles im Bistro Alsterperle. Wenn sie gewusst hätte, dass es das letzte Mal sein würde, hätte sie den Cocktail – an dem sie bislang nur zögerlich genippt hatte – wohl in einem Zug hinuntergekippt. Und hätte sie auch nur geahnt, dass die morgige Aufführung nicht die letzte der Saison, sondern die letzte ihres Lebens werden würde, hätte sie sich sogar mit einer Flasche von Gregors russischem Wodka ins Koma getrunken, um ja keinen Fuß auf die Bühne zu setzen. Doch sie hatte keine Ahnung.

Und so drehte sie das Glas auch weiterhin nur zwischen den Fingern hin und her, und dachte an die Menge der Schmerzmittel, die sie bereits intus hatte. Insgeheim ärgerte sie sich darüber, überhaupt etwas Alkoholisches bestellt zu haben, aber es war nun mal Dienstag, der einzig freie Tag der Woche. Und da gehörte Cocktailtrinken in dem Strand-Bistro ebenso zum Pflichtprogramm wie die gemeinsame Wellnesswoche nach einer Spielsaison.

Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. Sie hatte permanent das Gefühl, als würde ihr jemand ein Fleischermesser in die Hüfte bohren. Schließlich nahm Josie ihre Strickjacke von der Rückenlehne, faltete sie zu einem flachen Päckchen und schob sie unter ihre rechte Pobacke. Die neue Sitzposition und das weiche Polster brachten endlich Besserung, und sie atmete erleichtert auf.

»Sag mal, Josie, hast du etwa Flugangst? Seit wir von den Malediven reden, zappelst du schlimmer herum als der rotznasige Zwerg meiner Schwester!«

Josie lachte gequält auf. »Claire, wir sind jetzt schon so oft zusammen geflogen, und jedes Mal musste ich deine Hand halten. Bei unserem letzten Flug nach Bali hatte ich anschließend sogar blaue Flecken am Handrücken. Also ich weiß, wer von uns beiden Flugangst hat.«

»Jetzt mal ernsthaft«, sagte Phil, »was ist los mit dir? Ich habe auch den Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung ist. Du hast heute noch kein einziges Mal die Tischsets geradegerückt oder die Deko umgestellt.« Dabei kreiste er mit seinem Finger über einem mit Treibgut gefüllten Kerzenglas und einem Blumentopf mit künstlichem Strandhafer.

»Stimmt!«, bestätigte Aurelia eifrig nickend, »auch die Salz- und Pfefferstreuer stehen noch gar nicht in Reih und Glied!«

»Macht euch nur lustig«, erwiderte Josie matt und seufzte. Wenn sie nicht so weit weg gesessen hätte, hätte sie längst die eine Muschel im Glas umgedreht. Es fuchste sie schon die ganze Zeit, dass sie verkehrtherum unter einem ausgeblichenen Stück Holz lag und ihr Muster nicht zu sehen war. »Ich bin einfach urlaubsreif. Es war eine tolle Saison, aber das letzte halbe Jahr war auch unglaublich anstrengend. Meine Hüfte bringt mich langsam um. Ich bin wirklich froh, wenn morgen Abend der Vorhang fällt und wir zwei Stunden später im Flugzeug sitzen.«

»Was sagt denn Dr. Wangerog?« Phil ließ seine Finger knacken, obwohl er wusste, dass sie das nicht ausstehen konnte, und zog gleich darauf den Kopf ein. »Sorry!«

»Chronische Überbelastung. Er wollte mich schon vor sechs Wochen krankschreiben und dann mal gründlich unter die Lupe nehmen.«

»Aber das konntest du natürlich nicht annehmen«, mischte sich Larissa in das Gespräch ein, »denn in der Zeit hätte ja jemand anderes deine First Position übernehmen können. Ich zum Beispiel!« Bevor sie ihren Aperol Spritz zum Mund führte, warf sie ihrer Kontrahentin ein Küsschen zu. Es sollte wohl den Anschein erwecken, sie meine es nur spaßig, aber Josie hatte an den feinen Nuancen ihrer Stimme gehört, dass sie es durchaus ernst meinte. Und ja, das war in der Tat das Letzte, was sie riskiert hätte. Zu viele Ehemalige, die krankheitsbedingt vertreten werden mussten, waren kurz darauf ausgetauscht worden. Waren mir nichts, dir nichts von der Bildfläche verschwunden und arbeiteten nun als Ballettlehrerinnen in irgendeinem Kleinkleckersdorf in der Walachei. Für Josie ein absoluter Albtraum.

Aurelias Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Hast du denn schon gepackt?«

»Schon vor drei Tagen.« Sie grinste ihre Freundin an und prostete ihr mit dem Glas zu, in dem die Eiswürfel längst geschmolzen und die Kohlensäure ausgeperlt war. »Was du wüsstest, wenn du nicht ständig bei Steven wärst«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.

Aurelia bekam glühend rote Wangen, und für Josie war damit klar, dass sie eine weitere Nacht in ihrer Zweier-WG allein sein würde. Sie nippte zum Schein an ihrem Glas, obwohl sie mittlerweile große Lust hatte, es in einem Zug zu leeren.

»Dann lasst mal Schluus machen fur heute«, sagte Gregor mit seiner rauchig-kratzigen Stimme und einem besorgten Blick auf seine Tanzpartnerin. »Es ist auch schon spat.«

Josies Lippen formten daraufhin ein tonloses »Danke« in seine Richtung, und er antwortete ihr mit einem unauffälligen Augenzwinkern.

»Aber wir haben doch noch nicht einmal richtig angefangen«, beschwerte sich Larissa.

»Ab morgen konnen wir jede Nacht zum Tag machen. Aber fur heute reicht. Auch du musst noch mal volle Leistung bringen.«

Als die anderen daraufhin ihre Gläser austranken, drückte ihm Josie unauffällig die Hand.

2

»Verdammt, Josie! Was machst du denn so ewig auf dem Klo? Die Karnikova bringt dich um, wenn du in zwei Minuten nicht auf der Bühne bist!«

»Himmel noch eins! Erschreck mich doch nicht so!« Mit wummerndem Herzen umklammerte Josie die Dose, die ihr beinahe aus der Hand gefallen wäre. »Wie spät ist es denn?«

»Halb sieben.«

»Scheiße! Aurelia, ich komme sofort.«

»Was machst du überhaupt? Du klingst, als würde dir ein Elefant auf dem Fuß stehen.«

Josie lehnte sich gegen die Wand der Kabine und hoffte inständig, ihre Freundin würde wieder gehen. »So fühle ich mich gerade auch. Nur nicht am Fuß.«

»Macht dir deine Hüfte wieder Stress? Hab vorhin schon gedacht, dass du irgendwas hast.« Sie klang ehrlich besorgt.

»Ja, aber ich bekomme das hin. Geh ruhig, ich bin gleich da.«

»Bist du sicher?«

»Ja!«, platzte es nun genervt aus ihr heraus, und Josie hatte sofort ein schlechtes Gewissen.

»Na, wie du meinst!«

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, sprühte sich Josie zum dritten Mal ihre Hüfte mit Eisspray ein, zupfte Strumpfhose und Kostüm wieder zurecht und eilte in die Garderobe zurück. Dort schnappte sie sich ihre Tasche, ließ die Sprühdose hineinfallen und kramte eine Blisterpackung hervor. Fieberhaft drückte sie vier Tabletten heraus, warf sie sich in den Mund und spülte sie mit einem Schluck aus ihrer Trinkflasche hinunter. Dann hetzte sie zur Bühne.

Vor dem Zugang zur Kulisse stand die Direktorin und sah ihr mit einem Blick entgegen, der selbst Fräulein Rottenmeier das Fürchten gelehrt hätte. »Da bist du ja endlich!«, raunzte sie. »Du bist zwanzig Minuten zu spät! Was soll das?«

»Entschuldigen Sie, Madame Karnikova, ich hatte Probleme mit meinem Kostüm.«

»Dann lass dir das nächste Mal gefälligst helfen! Wofür haben wir Ankleiderinnen? Und nun los, raus mit dir!«

Josie huschte durch einen schmalen Schlauch aus schwarzen Vorhängen, der auf die Bühne führte. Die Luft war kühl und roch durchdringend nach dem öligen Metall der Bühnenmaschinerie. Sie schluckte ein Würgen hinunter und lief an den Rand der Bühne, wo sie sich an eine der mobilen Stangen stellte. Dort spulte sie ihre Aufwärmübungen herunter und schaute den anderen beim Eintanzen zu, wie sie Sissonnes und Grand Jetés sprangen, Pirouetten drehten oder Hebungen probten. Aus dem Orchestergraben erklangen die ersten schiefen Töne; Sätze von Musikstücken, die zum Nachstimmen der Instrumente immer wieder unterbrochen und neu angespielt wurden. Für Josie so körperlich spürbare Qualen, als würde jemand mit Fingernägeln über eine Kreidetafel kratzen.

Sie versuchte, sich voll und ganz auf ihre Füße zu konzentrieren, die sie nun in alle Richtungen dehnte. Anschließend führte sie Kniebeugen aus, aus denen sie nach oben schnellte und auf ihren Zehenspitzen landete. Immer wieder. Auf und ab, auf und ab. Ihre Hüfte fühlte sich durch das Eisspray erst wie betäubt an, doch plötzlich war da ein leichtes Kribbeln zu spüren, das wie Ameisen ihren Oberschenkel hinabwanderte. Das war neu. Hatte sie es mit dem Spray vielleicht doch übertrieben? Ihre Haut hatte vorhin schon ziemlich lädiert ausgesehen. Zudem brannte es richtig fies unter der engen Strumpfhose.

Sie war mit ihren Gedanken noch ganz bei ihrem Bein, als das Orchester plötzlich mit dem Stück begann, mit dem die Zuschauer begrüßt wurden. So ein Mist! Sie war doch noch gar nicht so weit!

Josie legte noch mal an Tempo zu. Auf und ab, auf und ab. Doch dann hörte sie erste dumpfe Schritte auf weichem Teppich, Kleiderrascheln und das leise Gemurmel der Zuschauer, die auf der anderen Seite des Brokatvorhangs in den Saal strömten. Madame Karnikova gab ein Zeichen, und die Tänzerinnen und Tänzer zogen sich stillschweigend hinter die Bühne zurück. Erst zehn Minuten vor Spielbeginn sammelten sie sich wieder hinter der Kulisse, streiften dort ihre Aufwärmbooties von den Füßen, ließen Trainingsjacken auf kalte Bänke fallen und kontrollierten ein letztes Mal Kopfschmuck und Kostüme.

Sobald alle bereit waren, stellten sie sich der Reihe nach auf und lauschten dem Intro des Orchesters. Als ein Trommelwirbel einsetzte und anschließend die Harfe erklang, tanzten sie wie Perlen an einer Schnur nacheinander auf die Bühne hinaus. Die Vorstellung von Sommerwind begann.

Im Verlauf des zweiten Aktes konnte Josie kaum noch auf Spitze stehen, geschweige denn springen. Die Wirkung der Diclofenac war längst verflogen, der alte Schmerz mit voller Wucht zurück. Unerträglich. Und immer wieder kribbelten diese Ameisen an ihrem Bein entlang.

Josie war noch nie so froh darüber gewesen, dass sie nach dem Höhepunkt für dreißig Minuten von der Bühne musste. Sie wankte in die Garderobe, nahm eine weitere Dosis Schmerzmittel und ließ sich von zwei Dresserinnen in ein anderes Kostüm helfen. Dann legte sie sich eine Trainingsjacke über die Schultern und setzte sich zum Umschminken in die Maske. Das Leder des Stuhls war kalt und knarzte, als sie nach einer bequemen Haltung suchte.

»Meine Güte, Josie, geht es dir nicht gut? Du siehst ja fürchterlich aus! Ganz fleckig! Und diese dunklen Schatten unter deinen Augen! Was ein Glück, dass du gleich blaue Farbe ins Gesicht bekommst, ich wüsste sonst gar nicht, wie ich …«

»Sylvia, könntest du dich bitte beeilen, ich kann nicht lange sitzen, ich habe Schmerzen im Bein.«

»Ach herrje, du meine Güte, ja natürlich! Ich werde sofort loslegen. Aber was ist denn mit dir? Bist du gestürzt?«

»Nein.«

Die Maskenbildnerin trat nach vorn und musterte sie eingehend. »Die alte Schminke muss trotzdem erst runter. Aber das haben wir gleich! Du bist auch ganz verschwitzt! Ja, man sieht dir deutlich an …«

»Sylvia, bitte!«

»Ja, ist ja gut, ich beeile mich ja schon! – Meine Güte, das ist jetzt aber schon sehr stressig!«

»Ich mach es auch selbst, gib mir einfach die Farbe mit!« Josie machte Anstalten, wieder aufzustehen, doch Sylvia drückte sie sanft in den Stuhl zurück.

»Nichts da! Du meine Güte, ich mach ja schon!«

Josie versuchte, tief durchzuatmen und an etwas anderes zu denken, doch der brennende Schmerz, der mittlerweile das ganze Bein zu lähmen schien, machte sie beinahe wahnsinnig. Sie trommelte mit den Fingern auf der Armlehne herum und musste sich beherrschen, um der endlos quasselnden Sylvia keine zu schallern.

»Das ist aber auch wirklich schwierig heute mit dir. Du schwitzt ja in einer Tour. Wie soll denn da die Schminke halten?«

»Dann lass es doch einfach so! Da sieht eh keiner mehr so genau hin. Ich muss doch nur noch für den finalen Abflug auf die Bühne!«

Sylvia seufzte verliebt. »Ja, ich weiß!« Sie ließ ihre Hände auf Josies Schultern sinken und schaute ihr über den Spiegel in die Augen. »Das ist ja so romantisch, wenn du als frisch geschlüpfter Schmetterling in Gregors Arme springst und er dich als der Wind höchstpersönlich von der Bühne trägt.«

»Ich muss los!« Josie biss die Zähne zusammen, schüttelte die Hände von ihren Schultern ab und hievte sich aus dem Stuhl.

»Aber du hast doch noch gar keinen Goldpuder …«

»Den brauche ich heute nicht!« Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Wanduhr und verließ die Garderobe. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss krachte, stützte sie sich mit einer Hand an der Wand ab und knetete mit der anderen ihren Oberschenkel. Dieses verflixte Kribbeln! Es fühlte sich wie ein angeschlagener Ellenbogen an. Nur noch hässlicher.

Sie hinkte zum Bühneneingang und schüttelte immer wieder ihr Bein aus, als könnte sie damit einen eingeklemmten Nerv befreien. Doch es wurde dadurch nur noch schlimmer. Verzweifelt massierte sie erneut ihre rechte Hüfte, den Tränen nahe.

Als die Musik plötzlich hell und schnell wurde, fuhr es ihr durch Mark und Bein. Sie war gleich dran! Sie richtete sich auf und atmete ein paarmal tief durch. Ihr war übel vor Schmerz. Dann ließ sie die Jacke von den Schultern gleiten und stellte sich hinter dem Vorhang auf. Konzentrierte sich voll auf die Musik, zählte mit. Noch acht Takte, dann war ihr Einsatz. Josie biss die Zähne zusammen und schluckte. Vier – drei – zwei – sie stellte sich auf Spitze, hob das Kinn an und setzte ein Lächeln auf. Auf eins tanzte sie auf die Bühne hinaus.

Erste Pirouette, zweite, dritte, gefolgt von drei Wechselsprüngen. Anschließend wirbelte sie mit Pirouetten durch die Diagonale und setzte zu einer Folge von Spagatsprüngen an. Sie sprang ab, landete, sprang erneut ab und fixierte den Spagat für einen Wimpernschlag perfekt in der Luft. Als sie wieder landete, hörte sie außer dem hölzernen Plock ihres Schuhs noch etwas anderes, Undefinierbares und spürte im selben Moment, wie ihr die Hüfte wegknickte. Ein brennender Schmerz schoss durch ihre Leiste, und dann fiel sie der Länge nach hin. Ein kollektives Raunen ging durch das Theater, und keine zwei Sekunden später sah sie Gregor neben sich knien.

»Josie, was los?«

»Bring mich weg!«, wimmerte sie. Ohne zu zögern, hob er sie auf und trug sie von der Bühne. Das Orchester, das von dem Zwischenfall nichts mitbekommen hatte, spielte unbeirrt weiter.

Mit wehenden Haaren stürmte Madame Karnikova auf sie zu. »Josephine, was ist passiert?«

»Ich weiß nicht, meine Hüfte ist weggeknickt. Ich habe … ich habe so irre Schmerzen in der Leiste!«

»Brauchst du einen Arzt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

»Ja … nein … Ich weiß nicht, mir ist ganz schlecht.«

»Naturlich braucht sie Krankenwagen! Was ist das fur eine Frage?«, blaffte Gregor Madame Karnikova mit ungewohnt hartem Ton an, und sie eilte umgehend davon.

»Ganz ruhig, kleine Schmetterling, ich lege dich jetzt auf Bank.«

Vorsichtig legte er Josie ab, doch sie krallte sich verzweifelt an seinem Ärmel fest.

»Gregor, ich … ich spüre mein Bein nicht mehr!«, stammelte sie fassungslos. »Es ist alles ganz taub!«

3

»Das sieht ganz nach einer Hüftluxation aus«, hörte Josie den Notarzt sagen. Sie bebte am ganzen Körper, hatte weder Kontrolle über ihre schlotternden Gliedmaßen noch über ihren Kiefer, der sich benahm, als hätte man sie eben einer Kühltruhe entnommen. Sie war außerstande, ihn zu fragen, was das bedeutete.

»Ich gebe Ihnen jetzt ein sehr starkes Schmerzmittel«, teilte er ihr in beruhigendem Tonfall mit, »und dann werden Sie gleich in die Klinik gebracht. Dort wird man sich weiter um Sie kümmern.«

Er befestigte eine Kanüle an ihrem Handrücken, und Sekunden später fühlte sie sich wie in Watte gepackt. Das unkontrollierbare, übermäßige Zittern verebbte, und plötzlich war ihr alles scheißegal. Was für ein geiles Zeug, dachte sie noch, dann dämmerte sie weg.

Krankenwagen, lange Flure mit Neonröhren, Ärzte, Röntgenaufnahmen. Gesprächsfetzen, die nur diffus in ihr Bewusstsein drangen. Josie war in einem surrealen Traum gefangen, aus dem sie nicht erwachen konnte. Bruchstückhaft bekam sie mit, wie sie ein paarmal umgelagert wurde. Es fühlte sich jedes Mal an, als würde sie auf einer Luftmatratze treiben.

Als es erneut unter ihr wackelte, schlug sie die Augen auf. Sie war in einem fürchterlich grellen Raum und musste blinzeln. Vor ihr war ein monströses Gerät, das sie unwillkürlich an einen gigantischen Donut erinnerte. Wo zum Geier war sie? Sie wollte sich aufrichten, doch jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Bleiben Sie liegen. Ganz entspannt. Ich bin bei Ihnen.« Eine junge Frau trat in Josies Sichtfeld. Sie hatte das sanftmütigste Gesicht, das Josie je bei einer Frau gesehen hatte. Ihre langen dunklen Haare waren zu einem seitlichen Zopf gebunden, der bis über ihre Brust reichte.

»Wo bin ich?«

»In der Borgfelder Sportklinik.«

»Und was machen Sie mit mir?«

»Ich habe darauf gewartet, dass Sie richtig ansprechbar sind, damit wir Sie in das MRT schieben können.«

»Und warum?«

»Damit Sie nicht mittendrin wach werden und vielleicht gar nicht wissen, wo Sie sind oder was mit Ihnen passiert«, antwortete sie lachend. »Ich bin übrigens die Radiologieassistentin und heiße Annabell.«

Josie schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern, was in den letzten Minuten – oder waren es Stunden? – alles passiert war. Aber mehr als einen wirren Brei bekam sie nicht zusammen. »Nein, ich wollte wissen, warum ich ins MRT muss.«

»Dr. Lindorf braucht für die Operation noch genauere Aufnahmen Ihrer Hüfte.«

Operation? Was für eine Operation? Doch bevor Josie nachfragen konnte, drückte ihr die Assistentin eine Art Griff in die Hand und sagte: »Wenn Sie gleich in das MRT gefahren werden, müssen Sie ganz still liegen bleiben! Also bitte nicht bewegen, es dauert auch nicht lange. Maximal zwanzig Minuten. Am besten machen Sie einfach wieder die Augen zu und versuchen, sich zu entspannen. Wenn etwas ist, drücken Sie den Notfallknopf, den ich Ihnen gegeben habe.«

Doch Josie wollte die Augen nicht schließen und starrte wie gebannt auf den überdimensionalen beigefarbenen Donut, der sie gleich verschlingen würde.

Sie bekam Kopfhörer aufgesetzt, und Ludovico Einaudis Le Onde umspielte ihre nun hellwachen Sinne. Einaudi. Wie schön, dachte sie, dann fuhr die Liege in die enge Röhre des MRTs. Sein lautes Vibrieren, das immer wieder die Frequenz wechselte und sich zeitweise wie eine Alarmsirene anhörte, übertönte die sanften Klänge des Klaviers in ihren Ohren. Ihr Herz begann zu rasen, klopfte wild gegen ihre Rippen – beinahe schon schmerzhaft. Angst fraß sich in rasender Geschwindigkeit durch ihre Eingeweide, und Josie kniff die Augen zu. Sie wollte nur noch weg. Wollte von der Liege springen und davonrennen. Raus. Raus aus der Röhre, raus aus dem Zimmer, der Klinik, raus aus diesem fürchterlichen Albtraum. Josie liefen Tränen die Schläfen hinab und versickerten irgendwo unter dem Schaumstoff des Kopfhörers. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt.

Auf einmal wurde sie sich der Entfernung bewusst, die sie von ihren Eltern in Süddeutschland trennte. Was sich bisher nach Freiheit und Erwachsensein angefühlt hatte, war mit einem Mal erschreckende Einsamkeit. Es war niemand da, der ihr beigestanden hätte. Die anderen waren sicher längst am Flughafen, lachten in Vorfreude auf die schneeweißen Strände, sahen sich bereits in Hängematten über kristallklarem Wasser baumeln oder fieberten den Tauchgängen in die bunte Unterwasserwelt entgegen. Vielleicht würden sie auch hin und wieder an Josie denken, sich fragen, wie es ihr erging und ob sie wohl bald nachkommen würde. Aber spätestens, wenn sie auf dem Boot waren, das sie auf ihre Insel bringen würde, wären sie in einer anderen Welt, und alles, was zurückgeblieben war, sicherlich vergessen.

Die Liege fuhr wieder zurück und stoppte sanft. Kurz darauf wurden ihr die Kopfhörer abgenommen.

»Oje, geht es Ihnen gut, Frau Ohlenhardt?« Es war die freundliche Stimme von vorhin.

Josie öffnete die Augen, schüttelte nur leicht den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. Ein breiter blauer Strich zierte nun ihre Haut, und Josie brauchte einen Moment, ehe sie begriff, dass sie ja noch immer geschminkt war.

Die Assistentin lächelte mitfühlend und tätschelte ihren Arm. »Das wird schon wieder.« Zwei Pfleger kamen, hoben die Matte an, auf der Josie lag, und legten sie auf ein Bett.

»Alles Gute für Sie!«, rief Annabell noch, dann wurde Josie aus dem Raum geschoben.

»Gott sei Dank! Da bist du ja! Wie geht es dir?« Aurelia eilte neben dem Bett her, das, ohne langsamer zu werden, durch die Gänge geschoben wurde.

»Aurelia, was machst du denn hier?«

»Na, was wohl? Nach dir schauen, du Eumel! Gregor und Madame sind auch da, aber die belagern gerade einen Arzt.«

»Aber euer Flugzeug! Ihr müsst doch das Flugzeug erwischen!«

»Du Dummerchen«, sagte sie mit einem mitleidigen Blick. »Wir können doch nicht einfach in ein Flugzeug steigen, ohne zu wissen, was mit dir ist.«

Sie hielten vor einem Fahrstuhl.

»Wo bringen sie mich hin?«

»Wo bringen Sie sie hin?«, gab Aurelia die Frage an die Bettenschieberin weiter.

»Runter in die Chirurgie.«

»Und was passiert dann?«, presste Josie ängstlich hervor, »Was kam denn bei dem MRT heraus?«

»Oh, darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Aber Dr. Lindorf wird Sie gleich in Empfang nehmen und alles mit Ihnen besprechen.« Und als die Türen des Fahrstuhls aufgingen, sagte sie zu Aurelia: »Sie dürfen leider nicht mitkommen.«

»Sagst du bitte meinen Eltern Bescheid?«

»Das haben wir längst. Toi, toi, toi! Wir drücken dir die Daumen!«

Dann schlossen sich die Türen, und der Fahrstuhl setzte sich mit einem Vibrieren in Bewegung.

Schweigend fuhren sie nach unten, und für Josie fühlte es sich an, als würde sie zur Schlachtbank gebracht. Mit wild klopfendem Herzen fuhr sie einer völlig unbekannten Zukunft entgegen. Hände und Füße waren mittlerweile eiskalt, ihr Mund staubtrocken.

Die Fahrt endete in einem grün gekachelten Raum mit einer Schiebetür aus Edelstahl, die in einen weiteren Raum führte. Durch das große Sichtfenster im oberen Drittel konnte sie OP-Lampen an der Decke sehen. Himmel hilf, dachte sie, was geht hier vor sich? Doch da erschien auch schon ein Arzt, der sich als Dr. Lindorf vorstellte.

»Wir haben uns heute schon ein paarmal gesehen, aber ich vermute, Sie können sich nicht erinnern«, sagte er, und dann klärte er sie über den bevorstehenden Eingriff auf; über die Risiken und die Alternativen – die keine waren. Josie habe eine ausgekugelte Hüfte. Der Hüftkopf müsse in die Pfanne zurück, und das so schnell wie möglich. Mit jeder Minute, die verstrich, stiege die Gefahr, dass Knochenzellen im Gelenk abstarben. Anschließend wolle er noch ihre angeborene Dysplasie korrigieren, um weitere Luxationen zu verhindern.

Der Arzt versuchte, ihr alles bestmöglich zu erklären, aber Josie verstand kein Wort. Was für eine Dysplasie? Doch sie war zu ängstlich, um mit Nachfragen Zeit zu vergeuden, denn das Wichtigste hatte sie längst begriffen: Sie hatte gar keine andere Wahl, als dem Eingriff zuzustimmen.

Dr. Lindorf verabschiedete sich, um sich auf die OP vorzubereiten, und ein weiterer Arzt betrat den Raum. Er stellte sich als diensthabender Anästhesist vor und ging mit ihr einen mehrseitigen Fragenkatalog durch, den sie anschließend nur noch unterschreiben musste. Kurz darauf wurde die Schiebetür geöffnet, und Josie sah ein ganzes Team von grün gekleideten Menschen in dem Raum dahinter. Sie alle waren bereits mit Haarnetzen und Mundschutz ausgestattet.

»Ich setze Ihnen jetzt eine Maske auf, und Sie atmen einfach ganz normal weiter«, hörte sie den Anästhesisten an ihrem Kopfende sagen, dann tauchte auch schon ein Dreieck aus Plastik vor ihrem Gesicht auf, das ihr über Mund und Nase gestülpt wurde. Ein unangenehm scharfer Geruch strömte ihr in die Nase. Dann wurde es dunkel.

Als Josie wieder zu sich kam, lag sie in einem schwach beleuchteten Raum. Ein dunkelblauer Vorhang umrahmte ihr Bett und schirmte sie von anderen ab. Um sie herum piepste und schnarchte es in den verschiedensten Tönen und Rhythmen. Noch völlig benommen hob sie die Bettdecke an und spähte darunter. Ihr Bein war bis oben einbandagiert, und ein durchsichtiger Schlauch transportierte Wundwasser und Blut in einen Beutel, der am Rahmen des Bettes hing.

»Na, wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich eine freundliche Stimme. Da entdeckte Josie eine Krankenpflegerin, die neben ihrem Kopfteil stand und einen Tropf in das Gestell hängte.

»Als wäre ich von einem Lkw überfahren worden«, krächzte sie. Josie räusperte sich, doch das wunde Gefühl in ihrer Kehle ließ sich nicht vertreiben.

»Das glaube ich gerne. Sie bekommen jetzt noch mal Schmerzmittel, und dann dürfen Sie auch schon bald auf Ihr Zimmer und frühstücken.«

»Frühstücken? Wie spät ist es denn?«

Die Schwester trat neben ihr Bett und kicherte leise. »Ehrlich gesagt erst vier Uhr morgens. Die Sonne geht gerade auf.«

»Wie lange bin ich denn schon hier?«

»Seit ungefähr drei Stunden. Sie waren kurz wach, haben etwas von ›Flugzeug erreichen‹ gesagt und sind gleich wieder eingeschlafen.«

»Davon weiß ich gar nichts mehr.«

»Das ist völlig normal. Aber versuchen Sie, noch mal zu schlafen. Es wird noch eine Weile dauern, bis Sie von den Kollegen geholt werden.«

Das nächste Mal wurde Josie wach, als der Arzt, der sie operiert hatte, an ihrem Bett stand und sich mit der Pflegerin unterhielt.

»Guten Morgen, Frau Ohlenhardt. Wie geht es Ihnen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Also aus meiner Sicht ist alles so weit in Ordnung«, sagte er. »Die Operation verlief komplikationslos, und es gab keine bösen Überraschungen. Heute Nachmittag kommt eine Physiotherapeutin und geht ein paar Schritte mit Ihnen.«

»Das heißt, ich darf heute schon aufstehen?« Die Malediven blitzten kurz vor ihrem inneren Auge auf.

»Sie dürfen nicht nur, Sie müssen sogar. – Aber nicht allein!«, sagte er nachdrücklich. »Und auch auf die Toilette dürfen Sie nur in Begleitung einer Pflegekraft!«

»Und wann darf ich wieder nach Hause?«

»Das lässt sich noch nicht genau sagen. In zwei Tagen machen wir noch mal eine radiologische Untersuchung, und dann sehen wir weiter. Aber aller Voraussicht nach können Sie in fünf Tagen direkt in das Rehazentrum im Hamburger Westen zu Professor Aischbach.«

Josie sackte innerlich zusammen. Die Malediven konnte sie sich also abschminken. Wäre ja auch zu schön gewesen. Blieb nur zu hoffen, dass die Reha nicht allzu lange dauern würde und sie im September wie geplant in die neue Spielzeit starten konnte.

Als sie zum Frühstück in ihr Zimmer gebracht wurde, stand der Koffer, den sie für den Urlaub gepackt hatte, vor ihrem Schrank. Sie ließ sich ihr Handy geben und tippte in den Gruppenchat:

Bleibe wohl noch eine Weile hier. Genießt die Sonne, und erholt Euch gut. J.

4

Eine Woche später saß Josie im Speisesaal der Rehaklinik und starrte auf ihren Teller. Die Rückenlehne des Stuhls drückte unangenehm auf ihre Wirbel, während sie mit einer Gabel Erbsen hin und her kullerte. Wer um alles in der Welt war auf die Idee gekommen, jemandem Erbsen zu servieren, der nach einer Hüftoperation seinen Oberkörper nicht zum Tisch neigen durfte? Nicht, dass Josie überhaupt etwas hätte essen wollen. Sie hatte seit Tagen keinen Appetit mehr. Aber die Gedankenlosigkeit ärgerte sie dennoch.

Sie legte die Gabel ab, blickte auf ihr Handy und seufzte. In zehn Minuten hatte sie ihren Termin mit dem Professor. Sie musste also ohnehin jetzt los. Ungelenk hievte sie sich aus dem Stuhl, klemmte sich ihre Gehhilfen unter die Arme und ging mit sorgsam gesetzten Schritten zum Fahrstuhl.

Als sie bei Professor Aischbach ankam, begrüßte er sie so überschwänglich, als wäre er ihr selten besuchter Onkel, und bat sie, Platz zu nehmen.

Eine Stunde später saß Josie immer noch bei ihm. Mit der zähen Geduld eines erfahrenen Arztes, der schon unzählige solcher Gespräche geführt haben musste, erklärte er ihr anhand eines extra von ihrer Hüfte angefertigten 3-D-Modells, dass es, aufgrund ihrer angeborenen Hüftproblematik und den bereits entstandenen Knorpelschäden, bei zu großer körperlicher Belastung immer wieder zu Entzündungen kommen würde, die das Gelenk weiter schädigten.

»Und was heißt das jetzt konkret?«, unterbrach sie seinen nicht enden wollenden Vortrag.

»In Ihrem Fall heißt das konkret, dass ich Ihnen dringend raten möchte, nein, ich muss Ihnen raten, mit dem Ballett aufzuhören.«

Josie lachte hysterisch auf. »Wie stellen Sie sich das vor? Im November gehen wir mit einem neuen Stück an den Start, und Anfang September geht das Training dafür los. Ich kann nicht ewig pausieren! Können Sie nicht irgendetwas machen, damit das schneller heilt? Noch mehr Physiotherapie, Spritzen, irgendwas? Ich gehe auch gerne dreimal am Tag in diesen fürchterlichen Moonwalker!«

Ein Lächeln huschte kurz über sein Gesicht. »Es ist ein Anti-Schwerkraft-Laufband.« Er nahm seine Brille ab, legte sie behutsam auf den Tisch und rieb sich mit geschlossenen Augen die Stellen, an denen seine Brille zwei dunkle Dellen hinterlassen hatte. Dann holte er tief Luft und sah sie eindringlich an. »Frau Ohlenhardt. Ich sagte nicht ›pausieren‹. Ich sagte ›aufhören‹. Ganz!«

»A-aber ich …«, stammelte sie, »… ich kann nicht damit aufhören! Das ist mein Beruf – ich lebe davon!«

»Ich kann mir gut vorstellen, dass das ein Schock für Sie ist, aber wenn Sie so weitermachen wie bisher, sitzen Sie in drei Jahren im Rollstuhl.«

»Sie hatten doch vorhin etwas von einem künstlichen Hüftgelenk gesagt!«, warf sie hektisch ein. »Was, wenn Sie diese Prothese schon jetzt einsetzen, und nicht erst, wenn ich vierzig oder fünfzig bin und sowieso nicht mehr tanzen werde?«

»Frau Ohlenhardt«, seufzte er, bevor er mit übertrieben geduldigem Tonfall fortfuhr: »Eine künstliche Hüfte mag heutzutage zwar einiges aushalten, aber auch sie ist nicht unendlich belastbar. Sie ist primär dafür gemacht, Menschen ein schmerzfreies Gehen, Sitzen und Bücken zu ermöglichen und sie dadurch in die Lage zu versetzen, so lange wie möglich ein eigenständiges Leben zu führen. Aber Ihre dynamischen Rotationsbewegungen, das Springen und die Belastungsspitzen würden über kurz oder lang dazu führen, dass sich die Prothese wieder lockert und vom Knochen löst. Im ungünstigsten Fall sogar ausbricht und splittert. Zudem halten auch die modernsten Prothesen unter optimalen Bedingungen maximal fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahre. Hochgerechnet auf Ihr jetziges Alter …«, er warf einen Blick auf den Bildschirm, »… wäre also davon auszugehen, dass Sie noch einige Operationen vor sich hätten. Wenn Sie damit auch noch versuchen würden, Ihre Karriere fortzusetzen, hätten wir Sie sehr wahrscheinlich einmal im Jahr auf dem Tisch liegen. Und wenn Sie dann noch die sechs bis neun Monate Aufbauphase jedes Mal hinzurechnen, können Sie sich ausmalen, wie viel Sie tatsächlich noch zum Tanzen kommen würden. Es ist also sinnvoller, gleich …«

Er verstummte, als sich Josie mit dem Ärmel ihres Pullis übers Gesicht wischte, und reichte ihr mit verständnisvollem Blick eine Box mit Taschentüchern. Sie griff zu und schnäuzte sich, wischte einen nicht mehr versiegen wollenden Strom an Tränen von ihren brennenden Wangen.

»Frau Ohlenhardt«, setzte er erneut an und klang nun sehr väterlich, »nichts kann Ihre eigene Hüfte ersetzen. Und deshalb müssen wir alles Erdenkliche dafür tun, sie zu erhalten. Wenn Sie jetzt vernünftig sind, sich an die Empfehlungen Ihres Therapeutenteams halten und gut mitarbeiten, können Sie in drei Wochen bereits wieder ohne Stützen gehen und in einem halben bis dreiviertel Jahr auch wieder moderate Sportarten betreiben.«

Josie schnaubte abfällig. »Die da wären?«

»Radfahren, Kraulschwimmen, Wandern und sogar Tanzen – solange bestimmte Bewegungen vermieden werden! Wenn bei der Nachkontrolle in sechs Monaten nichts dagegenspricht, können Sie auch wieder Ballett machen. Aber nur im gymnastischen Sinn und nicht als Hochleistungssport!«

Josie war wie benommen, als sie nach weiteren fünfundzwanzig Minuten den Raum verließ. In ihrem Kopf brummte es wie in einem Bienenstock, und ihre Knie waren so weich, dass sie auch mit den Gehilfen kaum vorwärtskam. Sie schwankte und lehnte sich in letzter Sekunde an einen der gläsernen Schaukästen, in dem die ausgestellten künstlichen Gelenke zu scheppern begannen. Sie trat einen Schritt zurück und spielte kurz mit dem Gedanken, eine ihrer Krücken in den Kasten zu schlagen. Doch dann ging sie schleppend weiter und steuerte auf den Fahrstuhl zu.

Während sie mit der Gehhilfe den Rufknopf drückte, überlegte sie, ob sie nun zu ihren Eltern hinunter- oder besser gleich auf die Dachterrasse hinauffahren sollte, um sich über das Geländer zu stürzen. Doch dann dachte sie an die beiden, die wahrscheinlich längst in der Cafeteria auf sie warteten, und erschrak über den hässlichen Gedanken. Das würde sie ihnen nie und nimmer antun. Entschlossen stieg sie ein und tippte auf die E-Taste.

Als sie auf der Terrasse des Klinik-Cafés ankam, saßen ihre Eltern, wie vermutet, bereits an einem der Tische. Josie stiegen wieder Tränen in die Augen. Seit sie in der Reha war, hatten ihre Eltern eine Ferienwohnung in der Nähe gemietet und verbrachten nun ihren Jahresurlaub in und um Hamburg. Nahezu jeden Tag schauten sie bei ihr vorbei und nahmen regen Anteil an ihrem Genesungsprozess.

Ihre Mutter fächelte sich mit einer der Eiskarten Luft zu und sprang auf, als sie ihre Tochter entdeckte. Mit flinken Schritten kam sie ihr entgegen. »Da bist du ja, Liebes! Kann ich dir helfen?«

»Hallo, Mama, nein danke, geht schon«, erwiderte sie niedergeschlagen. Gemeinsam steuerten sie auf den Tisch zu, an dem ihr Vater bereits einen Stuhl für sie zurechtrückte, wobei das blanke Metall laut über die Betonplatten schrappte.

»Hi, Paps!«

»Hallo, Prinzessin!«, rief er und nahm sie in die Arme. »Wie geht es dir heute? Brauchst du Hilfe beim Hinsetzen?«

Sie blickte auf die Sitzfläche des Stuhls und sah, dass ihre Eltern das Polster bereits gegen eine orthopädische Auflage getauscht hatten. Der Anblick schnürte ihr die Kehle zu, und Josie musste sich räuspern, ehe sie sprechen konnte. »Wenn du mir die Gehhilfen abnimmst, komme ich zurecht, danke!« Mit nach hinten gestreckten Armen stützte sie sich auf den Armlehnen ab und ließ sich vorsichtig auf das feste, keilförmige Kissen sinken.

»Na, das klappt ja schon ganz hervorragend!«, meinte ihr Vater erfreut, während er aufgeregt die Hände aneinanderrieb. »So, nun erzähl erst mal! Was meint der Professor? Er soll ja eine Koryphäe sein auf dem Gebiet!«

»Julin, so lass sie doch erst einmal sitzen und Luft holen! Möchtest du auch einen Cappuccino, Liebes?«

»Nein danke.«

»Ein Eis? Kuchen?«

»Mama, ich habe seit zehn Jahren keinen Kuchen mehr gegessen!«

»Aber ich dachte, jetzt …«

»Du meinst, jetzt, da ich nicht mehr tanzen kann, kann ich ruhig auch fett werden?«, entfuhr es ihr unbeherrscht.

»Aber, Liebes, so war das doch nicht gemeint!«

»Ich weiß«, sagte Josie nach einer kurzen Pause kleinlaut. »Entschuldige!«

Ihre Eltern warfen sich daraufhin diesen typischen Elternblick zu, der sowohl »Halt bloß den Mund!« als auch »Keine Ahnung.« ausdrückte. Josie fühlte sich gleich noch elender und versuchte mit aller Macht, den steinharten Kloß in ihrem Hals, fett wie eine Kröte, hinunterzuschlucken. Doch als sie die hilflosen Gesichter ihrer Eltern sah, brachen alle Dämme, und sie weinte los. Zwischen tränenerstickten Schluchzern erzählte sie von der düsteren Prognose des Professors.

Ihre Mutter schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und schob ihr wie ferngesteuert eine Packung Taschentücher zu. »Aber das kann doch nicht sein! Josephine! Liebes! Du bist doch erst vierundzwanzig!«

»Und genau deshalb rät er mir dringend davon ab«, schniefte sie und pfriemelte mit zittrigen Fingern am Klebestreifen der Packung, die sich nur unwillig öffnen ließ.

»Und du warst wirklich bei Professor Aischbach und nicht nur bei so einem Assistenzfuzzi, der keine Ahnung hat?«, fragte ihr Vater, der in der Zwischenzeit aschfahl geworden war und unter seinem grauen Bart auf einmal uralt und krank aussah.

»Natürlich war ich bei ihm.« Sie schnäuzte sich und knüllte das nasse Tuch zu einem kleinen Ball zusammen.

»Und was willst du jetzt machen? Hast du schon eine Idee?«

»Papa, was denkst du?«, fuhr sie ihn an. »Nein, habe ich natürlich nicht! Vor einer Stunde habe ich noch Pläne für September gemacht!«

»Natürlich nicht. Entschuldige. Das war nicht nachgedacht.«

Josie atmete tief durch, und dann sagte sie leise und mit bebender Stimme: »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Ich kann doch nur das.«

»Aber du bist noch jung!«, tröstete sie ihre Mutter. »Du stehst erst am Anfang deiner beruflichen Laufbahn. Du wirst bestimmt etwas finden, das dir genauso Spaß macht!«

»Wie wäre es denn mit Ballettlehrerin? Dann würdest du –«

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an, Papa!«

»Wer denn noch?«, erkundigte sich ihre Mutter überrascht.

»Der Aischbach.«

»Was hat er denn gesagt?«, fragten ihre Eltern wie aus einem Munde.

Josie nahm eine der Krücken und attackierte einen Grashalm, der zwischen den Betonplatten herauswuchs. Erst als sie es geschafft hatte, den Halm einen Kopf kürzer zu machen, und der Rest von ihm zwischen den Platten in Deckung ging, schaute sie wieder zu ihren Eltern. »Dass ich jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken darf und in Zukunft eben unterrichten soll. Dem würde später mal überhaupt nichts im Wege stehen, und dass es doch schade wäre, mein Talent nicht zu nutzen.«

»Womit er ja auch recht hat«, stimmte ihr Vater zu.

»Ich sehe das genauso«, pflichtete ihre Mutter bei.

»Nein, hat er nicht!«, gab sie missmutig zurück.

»Und warum nicht?«

Josie fing wieder an, mit der Gehhilfe Grashalme zu drangsalieren. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, jeden Tag in einer Ballettschule zu stehen, eine Stange anzufassen und selbst nicht mehr tanzen zu dürfen. Um ehrlich zu sein, habe ich Angst davor. Ich würde den Kindern früher oder später ihre Beweglichkeit neiden. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte.«

Dann sagte lange Zeit keiner mehr etwas. Ihre Mutter rührte nur gedankenverloren in ihrer Tasse, bis Josie das erdrückende Schweigen nicht mehr ertragen konnte. »Was denkst du, Mama?«

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit stammelte sie: »Ich … ich weiß nicht. Es ist einfach schwer vorstellbar, dass du nicht mehr tanzen darfst. Ich sehe dich noch vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, wie du an Weihnachten das Nussknacker-Ballett im Fernsehen gesehen hast. Du warst erst drei oder vier, aber danach bist du in die Küche gewirbelt und hast mit hoch erhobenem Haupt verkündet, dass du später auch mal eine Ballerina wirst. Du hast schon im Kindergarten gewusst, wofür dein Herz schlägt.«

»Und jetzt muss es eben für etwas anderes schlagen!«, sagte ihr Vater bestimmt.

»Aber das ist einfach schrecklich!« Dann nahm auch sie sich ein Taschentuch aus der Packung und tupfte sich die Augenwinkel ab. Als sie sich wieder gefangen hatte, sah sie ihre Tochter mit geröteten Augen an. »Komm wieder nach Hause, Liebes!«

Sogleich hatte Josie das ruhige, beschauliche Dorf ihrer Eltern vor Augen, wo jeder jeden kannte und stets alle über alles Bescheid wussten. Sie dachte an die Enge ihrer alten Heimat und sah sich an einer Bushaltestelle stehen, an der – wie so oft – einfach kein Bus kam. Als sich vielstimmiges Möwengeschrei am Himmel näherte, legte Josie den Kopf in den Nacken und beobachtete die kleine Vogelschar, deren weißes Gefieder am strahlend blauen Himmel vorüberzog und in der Ferne verschwand. Dann lächelte sie wehmütig und nickte kaum merklich.