Falladas letzte Liebe - Michael Töteberg - E-Book
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Falladas letzte Liebe E-Book

Michael Töteberg

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Beschreibung

Hans Falladas letzte Jahre in Berlin – ein literarisches Kabinettstück und eine faszinierende neue Sicht

Die Studentin Christa Wolf tippt in ihrer Leipziger Wohnung einen Brief. Sie interessiert sich für die autobiographischen Züge in Falladas Werk – und bekommt von dem Dichter und Funktionär Johannes R. Becher, der sich zuletzt aufopfernd um den alkohol- und morphiumsüchtigen Autor gekümmert hat, nur eine ausweichende Antwort. An welche Tabus hatte ihre Frage gerührt?

Michael Töteberg gibt eine literarische Antwort auf den Brief der jungen Wolf und erzählt von Falladas Stunde null zwischen zwei Frauen, von alten Dämonen und neuen Horizonten und von der unvergleichlichen Kraft der Literatur. Eine herzzerreißende Geschichte von universeller Gültigkeit über die menschlichen Abgründe – und eine Liebe, die dagegen ankämpft.  

Mit den bislang unveröffentlichten Briefen von Hans Fallada an seine zweite Frau

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Seitenzahl: 449

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Über das Buch

Am 1. September 1945 stiegen Hans Fallada und seine zweite Frau Ulla in Berlin-Gesundbrunnen aus dem Zug. Er wollte alles hinter sich lassen: seine gescheiterte Ehe mit Suse, den Krieg, das ihm von den russischen Besatzern aufgezwungene Amt des Feldberger Bürgermeisters. Er hoffte, endlich wieder einen großen Roman zu schreiben. Ein Neuanfang – wenn der irgendwo gelang, dann hier, in dieser ausgebrannten, kaputten Stadt, zusammen mit Ulla. Doch zunächst mussten sich beide aus den Fängen ihrer Morphiumsucht befreien ... Eindringlich, lebendig und dicht am biographischen Material erzählt Michael Töteberg von Falladas Kampf gegen die Apathie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, von literarischen Weggefährten wie Johannes R. Becher und Gottfried Benn, politischen Akteuren wie Klaus Gysi und Wilhelm Pieck, von Klinikchefs und Ärzten – und wie dem Autor das scheinbar Unmögliche gelang: noch einmal einen großen Fallada-Roman zu schreiben, der gültig Auskunft gibt über den Alltag in Nazideutschland. Eine dramatische Geschichte über die menschlichen Abgründe und die unvergleichliche Kraft der Literatur.    

Über Michael Töteberg

Michael Töteberg, geboren 1951, Autor und Herausgeber, leitete viele Jahre die Agentur für Medienrechte im Rowohlt Verlag und war dort verantwortlich für Literaturverfilmungen wie »Babylon Berlin« und »Tschick«. Er edierte Falladas Briefwechsel mit dem Rowohlt Verlag »Ewig auf der Rutschbahn« und ist seit 2019 Vorsitzender der Hans-Fallada-Gesellschaft. Seine Beschäftigung mit Leben und Werk dieses Autors führt ihn seit Jahrzehnten auf immer neue spannende Fährten.  

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Michael Töteberg

Falladas letzte Liebe

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Epilog

Nachbemerkung

Zeittafel im Roman genannter Ereignisse

Literatur

Impressum

Wer von diesem Buch begeistert ist, liest auch ...

Prolog

Die Studentin Christa Wolf saß über ihren Notizen. Das Thema ihrer Diplomarbeit hatte sie sich nicht ausgesucht, sie hätte lieber über etwas anderes geschrieben. »Prosaliteratur der DDR«, das hätte sie gereizt, aber ihr Professor hatte abgewinkt, das sei doch alles rosa Gartenlaube. Hans Fallada hatte er vorgeschlagen. Unterhaltungsliteratur als Gegenstand einer germanistischen Arbeit? Hans Mayer hatte sie spöttisch angesehen – der 24‑Jährigen konnte es nur guttun, ihren Horizont über den Kanon sozialistischer Literatur hinaus zu erweitern. Da kam Fallada gerade recht, »dieser außerordentliche Erzähler und Darsteller der kleinbürgerlichen Misere und des Unglücks im Winkel«. Professor Mayer sprach immer so, dass man am besten gleich mitschrieb.

So war sie zu dem Thema »Das Problem des Realismus in Hans Falladas Erzählungen und Romanen« gekommen. Ihr Problem wiederum war, dass der zu behandelnde Autor kaum etwas dazu gesagt oder geschrieben hatte.

Sie hatte alles gelesen, was zu kriegen war, 18 oder 19 Bücher. Sich durch die Frühwerke »Der junge Goedeschal« und »Anton und Gerda« gequält, die populären Romane, aber auch Entlegenes herangezogen, selbst Schmonzetten wie »Altes Herz geht auf die Reise« und »Der ungeliebte Mann« nicht ausgelassen. Ihr Professor war schließlich Hans Mayer, da konnte man nicht schlampen, was auch ihren eigenen Ansprüchen widersprochen hätte. Sich mit weniger zufrieden zu geben, das war nicht ihre Art. Gut, dass sie in Leipzig war und die Deutsche Bücherei nutzen konnte, sonst wäre sie niemals an die Bücher herangekommen. Zwei Romane hatte sie sich sogar noch über eine Freundin im Buchhandel besorgt, mehr war einfach nicht drin.

Sie hatte handschriftliche Exzerpte angefertigt, ein ganzer Stapel Papier lag auf ihrem Schreibtisch. Die Seiten sahen hübsch bunt aus: Mit blauer Tinte hatte sie Vorworte, Kapitelüberschriften und einzelne Passagen abgeschrieben, die für ihr Thema besonders wichtig waren. Dazwischen hatte sie mit Bleistift ihre Anmerkungen notiert, darunter mit dem Rotstift Kommentare persönlicher Natur – ganz subjektiv, die würden so nicht in die wissenschaftliche Arbeit eingehen.

»Blödsinnig, langweilig«, hatte sie geschrieben, »Kolportagehaft!«, »Aufbau!« oder auch »Tolle Szene«. Das bezog sich auf den »Eisernen Gustav«, das Kapitel, in dem der alte Droschkenkutscher Hackendahl Abschied nimmt von seinem Sohn Erich.

Die Unterhaltung zwischen Irma und Heinz über die Novemberrevolution: »Ideologische wichtige Probleme werden durch den Mund von Halbwüchsigen vulgarisiert. F. nimmt dazu keine Stellung.« Mangelnde Parteilichkeit – das war zu kritisieren. Oder war das vielleicht gar nicht so schlecht? Setzten sie in der Literatur heute den Lesern nicht immer alles vor, wurde alles bewertet, damit bloß nichts falsch verstanden werden konnte?

Fallada war seinen Figuren menschlich nahe, selbst den negativen. Allen wollte er gerecht werden. »Fallada unternimmt gar nichts, das chaotische Innenleben dieses Helden irgendwie zu beurteilen oder nur zu kommentieren«, das hatte sie zu »Der junge Goedeschal« notiert und konnte so direkt in die Diplomarbeit übernommen werden. Das Lebensgefühl der Angst und der Bedrängnis, des Ausgeliefertseins. Kleinbürgerängste. Das konnte kein anderer so genau beschreiben.

Ein paar weitere Erkenntnisse hatte sie schon formuliert. »Formal drückt sich das aus in einer meist naturalistischen Sprache, in einem virtuosen Stil, der darauf dressiert ist, Nuancen von Empfindungen nacherlebbar zu machen und ungewöhnlichste und heikelste Vorkommnisse zu beschreiben.«

Sie blätterte in ihren Unterlagen. »Christiane ist eine von den typischen Fallada’schen Frauengestalten!«, hatte sie bei »Wir hatten mal ein Kind« rot angestrichen. »Petra – wieder eine typische Fallada-Frau!« stand bei »Wolf unter Wölfen«. Und das Gleiche über Magda im »Trinker«. Zur Szene im »Alpdruck«, in der sich der Protagonist Doll mit seiner Frau Alma streitet: »Alles wieder nur von Dr. Doll aus gesehen« – die männliche Perspektive, der Frau schenke der Autor kaum Beachtung. »Schlechte Charakterisierung – plötzlich ist Alma unerträglich.« Das Buch beschäftigte Christa Wolf mehr als alle anderen. »Offensichtlich autobiographisch.« Doll ein Alter Ego des Autors. Da müsste man Genaueres wissen. Literarisch gelungen war das Buch nicht gerade, aber merkwürdig interessant.

Mit »Jeder stirbt für sich allein« war Fallada anschließend noch einmal ein großer Roman geglückt, doch war er gestorben, bevor das Buch gedruckt wurde. Die Komposition imponierte ihr. Nach dem fünften Kapitel notierte sie: »Bis hierher sind schon verschiedene Fäden geknüpft.« Ja, Fallada verstand sich darauf, ein Figurenensemble ganz zwanglos einzuführen und die Personen raffiniert zu verknüpfen. Großartig die Szene, in der sich Kommissar Escherich erschießt: Er ist der Einzige, der durch die Karten, mit denen die Quangels zum Widerstand gegen das Hitler-Regime aufrufen, bekehrt wird. Es war reine Spekulation und gehörte nicht in ihre Diplomarbeit, aber in Rot schrieb sie zwischen die Zeilen: »Ist in Escherich nicht ein wenig Fallada selbst?«

Wie konnte sie mehr darüber in Erfahrung bringen?

Granzow, der im »Alpdruck« Doll aus der Apathie hilft und seinen Wiedereintritt in die Literatur ermöglicht, das war unverkennbar Johannes R. Becher. Das hatte ihr Professor Mayer bestätigt und ihr vorgeschlagen, sie solle doch an ihn schreiben und ihm ihre Fragen vorlegen. So von Genosse zu Genosse, Auskünfte zu Falladas Leben und Charakter, schließlich hatte der ihn aus nächster Nähe erlebt.

Und tatsächlich, Becher hatte ihr geantwortet. Das Schreiben, das sie in den Händen hielt, war gerichtet an die »Liebe Genossin Wolf!«: »Leider kann ich Ihnen mit solchen Angaben wenig dienen, da ich Fallada erst 1945 kennengelernt habe und ich mich persönlich nie dafür interessiert habe, ob die Romane eines Schriftstellers autobiographischen Charakter tragen oder nicht.«

Kaum zu glauben – sie war enttäuscht. Natürlich wusste er mehr, wollte aber offenbar keine Auskunft geben. Welches Geheimnis umgab Fallada, was verschwieg Becher?

»Um Sie zu orientieren: Mein Eisenmengerweg liegt nahe bei der Grabbeallee und Schlossstraße. Sie fahren am besten mit der U‑Bahn bis Pankow-Vinetastraße, oder mit der S‑Bahn bis Schönhauser Allee, in beiden Fällen mit der 47 oder 47 E weiter. Wenn Sie dann aber in meiner Nähe sind, müssen Sie noch einen Schlagbaum überwinden, an dem ein russischer Posten steht. Wenn Sie aber sagen, Sie wollen zu Fallada, wird Ihnen auch das schon gelingen. Meist bin ich zu Hause.«

Hans Fallada an Werner HütterPostkarte vom 18. August 1946

Am Eisenmengerweg 19 klingelte es. Vor der Tür stand eine Frau: Sein Haus werde demnächst beschlagnahmt, sie wolle sich schon einmal die Räumlichkeiten ansehen. Der Bauingenieur Otto Latendorf fiel aus allen Wolken. Er war weder in der Partei noch in irgendeiner Naziorganisation gewesen, und seine Arbeit als Fachkraft wurde gerade in diesen Tagen gebraucht: Als Spezialist für Abdichtungen kümmerte er sich um die Beseitigung von Kriegsschäden in den U‑Bahn-Tunneln, damit der Betrieb bald überall wieder aufgenommen werden konnte. Er ließ sich von der unangemeldeten Besucherin nicht einschüchtern: Keineswegs sei er gewillt, sein Eigenheim zur Verfügung zu stellen. Lilly Becher wollte aber nicht diskutieren, sie ließ Latendorf wortlos stehen und inspizierte das Haus, ob es für ihren Mann in Frage kam. Wirklich zufrieden war sie nicht, das war ihr anzusehen.

Bald hatte Latendorf es amtlich: Laut Befehl des sowjetischen Stadtkommandanten hatte er auszuziehen, die Wohnung zu räumen. Möbel, Teppiche, Gardinen, den gesamten Hausrat, nichts durfte er mitnehmen. Seinen Nachbarn erging es nicht anders. Auf einem Zettel, einem Vordruck, wurde ihnen im August 1945 lapidar mitgeteilt: »Ihre anderweitige Unterbringung erfolgt durch das Wohnungsamt Pankow, Breitestr. 43a, Zimmer 8. Transportmittel werden unter Vorlage des entsprechenden Einweisungsscheines und dieser Räumungsaufforderung durch die Fahrbereitschaft Pankow, Mühlenstraße 83, gestellt.«

Im August 1945 wurde in dem von Bomben verschont gebliebenen Villenviertel Niederschönhausen ein rund zweihundert Hektar großes Gebiet zwischen Panke und Tschaikowskistraße, Grabbeallee und Schloss Schönhausen durch einen zwei Meter hohen Bretterzaun abgeriegelt: Sperrgebiet. Kein Zutritt für Fremde.

Hochrangige Offiziere der SMAD, der Sowjetischen Militäradministration, zogen ein. Oberstleutnant Petkun richtete sich in der Friedrich-Wilhelm-Straße 4/5 ein; Stadtkommandant Alexander Georgijewitsch Kotikow bezog die imposante Villa Kronprinzenstraße 19. Oberst Nikaschin von der Geheimpolizei NKWD besetzte das Haus Eisenmengerweg 23. Oberst Danila Semjonowitsch Dalada, Oberst Melnikow, Oberst Tarakanow – wer sonst alles in dem nach russischem Vorbild »Städtchen« genannten Sperrbezirk lebte, ist nicht bekannt.

Aber es wohnten dort nicht nur Funktionsträger der sowjetischen Besatzungsmacht samt Anhang, sondern auch Deutsche. Es waren Genossen, Funktionäre, fast alle Rückkehrer aus dem Moskauer Exil, die nun die politische Macht übernommen hatten. Die Führung der kurz zuvor wiederbelebten KPD quartierte sich nahezu vollständig in der Kolonie ein. Der Parteivorsitzende Wilhelm Pieck wohnte in der Viktoriastraße 13, ihm gegenüber, Hausnummer 23, Walter Ulbricht. Otto Grotewohl zog, nachdem Oberstleutnant Petkun nach Moskau zurückgekehrt war, in die Friedrich-Wilhelm-Straße 4/5, Alexander Abusch in Nummer 8.

Johannes R. Becher aber zog nicht in den Eisenmengerweg. Das Haus von Otto Latendorf – der inzwischen in der Crusemarkstraße, ganz in der Nähe, untergekommen war – genügte seinen Ansprüchen nicht: nicht groß und vor allem nicht repräsentativ genug. Der Präsident des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands entschied sich für Viktoriastraße 22. Der Eigentümer, ein Buchmacher namens Karl Schwabe, war Parteigenosse gewesen und jetzt unbekannt verzogen – da gab es keine Probleme mit der Beschlagnahmung. Bechers neues Domizil grenzte an das Grundstück des sowjetischen Stadtkommandanten Generalmajor Kotikow.

Der KPD-Politiker Anton Ackermann wohnte nur zehn Tage im Eisenmengerweg 19, dann zog er in die Viktoriastraße 24. Der frühere Eigentümer dort, ein Oberfinanzrat, hatte sein Inventar mitnehmen dürfen, so möblierte Ackermann sein neues Domizil weitgehend mit Inventar aus Latendorfs Haus: einem Buffet, einer Anrichte, zwei Lampen, allem, was man sonst so brauchte. Danach stand der Eisenmengerweg 19 leer. Das unbewohnte Haus diente offiziell als Magazin, in dem sich jeder bediente, im Klartext: Es wurde geplündert.

In der Friedrich-Wilhelm-Straße gab es einen Lebensmittelladen, in dem es zu kaufen gab, was sonst nirgends aufzutreiben war. Für die bevorzugte Versorgung der Politprominenz war gesorgt, zudem verfügte das Städtchen über eine eigene Infrastruktur: Frisör, Schuhmacher, Schneider usw. Ein Ghetto für die Privilegierten.

Auch als aus der SBZ die DDR geworden war, bestand der Sperrbezirk unverändert fort. Wer im Städtchen wohnte, gehörte zum Machtgefüge des Staates, zum inneren Kreis der Partei. Erich Mielke, Willi Stoph, Markus Wolf, Hilde Benjamin, Kurt Hager, Erich Honecker, wer immer in Politbüro und ZK einen Posten bekleidete, sie alle lebten hier, abgeschottet von der Öffentlichkeit. Wer aber in Ungnade gefallen war, musste wieder ausziehen: Parteiausschluss war gleichbedeutend mit Wohnungsverlust.

An der Zufahrt Schlossstraße stand ein Schilderhäuschen mit Schlagbaum, ein russischer Posten und ein deutscher Polizist standen Wache. An der Grabbeallee war ein kleinerer Zugang nur für Fußgänger, ebenfalls rund um die Uhr bewacht. Hier kam niemand rein, der nicht einen speziellen Ausweis hatte, einen »Propusk« nach russischem Vorbild. Besucher mussten sich in ein Kontrollbuch eintragen, bekamen gegen Abgabe ihres Personalausweises einen Passierschein und mussten dann warten, bis sie abgeholt wurden.

Hier blieb die Nomenklatura unter sich und war vor dem Volk geschützt.

Am 6. November 1945 zog Hans Fallada in den Eisenmengerweg 19. Wie war der Schriftsteller in diese Gesellschaft geraten?

Nein, er würde nicht mehr nach Feldberg zurückkehren. Nie mehr. Auch nicht nach Carwitz.

Zehn gute Jahre hatte er dort gehabt, einst war es das reinste Paradies, aber in letzter Zeit: die reinste Hölle. Der ewige Streit mit Suse und ihrer Verwandtschaft, die eklige Scheidung und dann die Russen.

Nun war er in Berlin gestrandet. An seiner Seite Ulla, die schon die ganze Bahnfahrt über gejammert hatte. Nichts mehr von ihrem strahlenden Lächeln, das er so liebte.

Die Bahnfahrt war allerdings auch wirklich eine Strapaze gewesen. Mittags hätten sie in Neustrelitz losfahren sollen, doch fahrplanmäßig passierte nichts in diesen Zeiten. Erst nach stundenlanger Verspätung ging es los. Hauptsache, dass der Zug überhaupt fuhr. Total überfüllt, Berliner auf der Rückreise von ihren Hamstertouren in Mecklenburg. Er hatte mit Ulla gerade noch einen Sitzplatz ergattert – wahrscheinlich sahen sie beide so elend aus, dass ihnen niemand den Platz streitig machen wollte. Rücksichtsvoll waren die Leute nicht, sie standen dicht gedrängt und parkten Taschen und Körbe ungefragt auf ihrem Schoß. Voll gestopft mit Kartoffeln, Gemüse, Pilzen. Nicht gerade angenehm.

Sie waren viel zu schwach, um dagegen zu protestieren. Man musste froh sein, wenn man keine Rucksäcke ins Gesicht bekam.

Wirklich gesund waren sie noch nicht, aber länger hatten sie es beide im Krankenhaus nicht ausgehalten und darauf bestanden, entlassen zu werden. Vom Carolinenstift waren sie direkt zum Bahnhof gegangen mit nichts als einem kleinen Koffer und ein bisschen Proviant. Bloß weg hier.

Nun waren sie auf dem Weg nach Berlin. Vorbereitet war nichts. Erst einmal ankommen – Ulla hatte ein Haus in Schöneberg, Meraner Straße 12. Es gehörte nominell ihrem verstorbenen Mann Kurt, aber das würde sich schon regeln lassen.

Wie lange hatten sie im Krankenhaus gelegen? Ein, zwei Wochen? Wie sie dort hingekommen waren, Fallada erinnerte sich nicht. Er wusste nur noch, er hatte einen Ohnmachtsanfall gehabt, Überarbeitung, Überforderung – der meistgehasste Mann im Ort, und ausgerechnet ihn hatte die Rote Armee zum Bürgermeister gemacht, das konnte nicht gut gehen. Er lag flach. Mehr als einen Tag krank sein durfte er sich allerdings nicht erlauben. Jedes Arbeitsversäumnis wurde von den Besatzern als Sabotage gewertet, Fallada war entsprechend nervös. Übernervös, Nervenkoller. Ulla war in Berlin gewesen und hatte etwas mitgebracht, was ihn beruhigen sollte – bewirkt hatten die Tabletten das Gegenteil.

Er muss getobt haben, hatte wohl in seiner Raserei kaputt geschlagen, was er in die Finger bekam. Im Nachthemd zur Kommandantur und die Scheiben eingeschmissen. Er konnte sich nicht erinnern, aber Haupt und Richert, die beiden Feldberger Polizisten, hatten ihn aufgelesen. Das war seine Rettung. Sie verfrachteten ihn ins Kreiskrankenhaus, Ulla gleich mit.

In normalen Zeiten brauchte der Zug von Neustrelitz nach Berlin-Gesundbrunnen eine reichliche Stunde. Es waren aber keine normalen Zeiten. Der Zug hielt an jeder Milchkanne, und bei jedem Stopp stiegen Leute zu. Einige standen auf den Trittbrettern, mit der einen Hand an der Messingstange, mit der anderen krampfhaft ihre Beute umklammert.

Die Luft wurde dünner, es roch bestialisch. Wer weiß, was die Leute an Würsten aus frischer Schlachtung ergattert, und wer weiß, was sie dafür hergegeben hatten – den Familienschmuck, Schlittschuhe oder Omas Leinen? Den Ehering gegen einen Schinken? Fallada sah sich um: ausgemergelte Gestalten, keine Schieber – arme Teufel.

Unterdrückte Aggressivität lag in der Luft. Die Leute waren keineswegs stolz auf ihren »Einkauf«, nein, sie waren gedemütigt worden. Sie hatten hergeben müssen, was ihnen lieb und teuer war, was sie über all die Jahre bewahrt hatten, jetzt eingetauscht, weggegeben für immer, damit die Kinder heute Abend etwas zu essen hatten.

Fallada blickte zu Ulla: Die einzige Wertsache, die sie bei sich hatten, trug Ulla am Finger: einen Brillantring.

Mit dem Umzug gaben sie etwas auf, was in Berlin nur schwer und teuer auf dem Schwarzmarkt zu organisieren war: die Versorgung mit Lebensmitteln. Auf dem Land war es nicht so schlimm wie in der Stadt. In Carwitz konnte sich Fallada mit seiner Büdnerei selbstversorgen. Nicht fürstlich, aber irgendwie ging es schon. In Berlin mussten sie erst einmal aufs Amt, um Lebensmittelkarten zu beantragen. Doch das hatte Zeit. Im Moment beschäftigte sie eine bange Frage: Stand das Haus in der Meraner Straße noch?

Zuletzt waren sie an dem Tag, als sie geheiratet hatten, dort gewesen. Hochzeitsfeier mitten im Krieg, in Berlin – Fliegeralarm, so musste es ja kommen. Das war am 1. Februar ​1945 gewesen. Alle in den Luftschutzkeller. Ernst Rowohlt, ihr Trauzeuge, nutzte die Gelegenheit, sich zu verdrücken, und ward nicht mehr gesehen.

Am nächsten Tag, ziemlich verkatert nach der missglückten Feier, war das frisch getraute Ehepaar zurück nach Feldberg gefahren. Zum Glück. Tags drauf, morgens um 10 Uhr bei schönstem Sonnenschein, konnten sie am Himmel das Geschwader sehen, das auf Berlin zusteuerte. Es waren hunderte Bomber und Jagdflugzeuge, es hörte gar nicht auf. Die Stadt erlebte einen verheerenden Luftangriff, ganze Bezirke wurden dem Erdboden gleichgemacht: Kreuzberg, Mitte, Friedrichshain, Wedding. Auch Schöneberg war nicht verschont geblieben, auch nicht das Bayerische Viertel, in dem ihre Wohnung lag.

Da hatte er Glück im Unglück gehabt. Wieder einmal. Aber Unglück im Glück, das kannte er auch. Er schaute auf Ulla, sie war sein ganzes Glück. Dass er das erleben durfte, sich noch einmal zu verlieben. Dass diese Liebe erwidert wurde, das hätte er kaum zu hoffen gewagt. Sie sah hinreißend aus, selbst jetzt, wo sie beide arg ramponiert waren. Eine attraktive, lebenslustige Frau, 24 Jahre jung, er, 52 Jahre alt – na und? Mochten sich die Leute die Mäuler zerreißen.

Im März hatten sie sich noch einmal kurz ins zerstörte Berlin gewagt. Ulla musste noch etwas besorgen, was in Feldberg nicht zu haben war – Fallada wusste, worum es sich handelte. Ulla war sein Glück, aber – das ahnte er von Anfang an – auch sein Unglück.

Nur gut, dass die beiden Polizisten sie gleich nach Neustrelitz ins Krankenhaus gebracht hatten. Ein Bürgermeister, der die Scheiben der Kommandantur einschlägt – die Russen machten in solchen Fällen kurzen Prozess. In Feldberg konnte er sich nicht mehr sehen lassen, in die Fänge von Major Miasnik wollte er nicht geraten.

Noch einmal nach Hause, um etwas zum Anziehen zu holen, darauf hatte er verzichtet. So trug er nur den dünnen Anzug, den er am Tag des Zusammenbruchs angehabt hatte, keinen Mantel, keinen Hut, nichts.

Ulla hatte sich von einer Freundin einen Mantel geliehen, billige Konfektionsware. Passte gar nicht zu ihr, die auf Eleganz selbst im Alltag Wert legte. Sie konnte sich, was Suse niemals in den Sinn gekommen wäre, mehrmals am Tag umziehen. Jetzt waren ihre Strümpfe zerrissen, wahrscheinlich von einem der groben Körbe der Mitfahrenden. Ulla war gelb im Gesicht, sie litt an einer Blutvergiftung. Am linken Fuß hatte sie eine offene Wunde, weit konnten sie damit nicht laufen. Gleich morgen mussten sie einen Arzt finden.

Sie hatten nicht nur Kleidung, Möbel und Wertsachen in Feldberg zurückgelassen, sondern, viel schlimmer, auch die Kinder – Fallada seinen Ältesten, sie ihre Tochter. Uli war schon 15, bis vor Kurzem im Internat, er würde schon eine Zeitlang ohne ihn zurechtkommen. Aber Jutta war doch noch ein Kind, erst sechs Jahre alt. Suse hatte sich in den letzten Wochen um sie alle gekümmert. So war sie. Egal, was zwischen ihnen vorgefallen war, darauf konnte er sich verlassen. Sobald es ging, würde er Uli dennoch zu sich holen. Jutta natürlich auch.

Sie fuhren am Bunker im Humboldthain vorbei. Alles lag in Schutt und Asche, nur der Bunker war wohl nicht kleinzukriegen gewesen. In der Brunnenstraße hatte es eine große Filiale von Seifen-Losch gegeben, der Laden dürfte nicht überlebt haben. Seifen-Losch hatte überall Filialen in Berlin gehabt, waren es sechzig oder achtzig, Ulla wusste es nicht. Wahrscheinlich hätte es nicht einmal Kurt Losch gewusst, ihr verstorbener Mann. Für das Geschäft hatte er sich, anders als sein Bruder, nie sonderlich interessiert. Er war eine Künstlernatur gewesen, hatte gemalt. Gar nicht mal schlecht, Ulla hatte einige seiner Bilder in ihrem Feldberger Feriendomizil aufgehängt.

Sie war Alleinerbin. Da konnte niemand sagen, sie habe sich wegen des Geldes einen alten Knacker geangelt. Sie war Witwe, er von Suse geschieden – hatte jemand etwas gegen diese Verbindung? Sie hatten aus Liebe geheiratet, auch ein bisschen aus Trotz, um es der tratschenden Kleinstadtgemeinde, den Spießern und Moralaposteln zu zeigen.

Ulla wollte nach Berlin. Ulla, die Vergnügungssüchtige – doch vom Lichterglanz der Amüsiermeilen, von den schicken Restaurants, aufregenden Tanzpalästen, luxuriösen Filmtheatern war nichts übrig geblieben. Einkaufsbummel im KaDeWe, das konnte man vergessen. Flanieren Unter den Linden. Kaffee und Kuchen im Café Kranzler. Abends in den Wintergarten. Das war einmal, ein Märchen aus alten Zeiten. Wenn sie aus dem Fenster sahen: Das war keine Stadt, sondern ein Trümmerhaufen. Aber auch er wollte nach Berlin. Es war eine Rückkehr. Hier hatte er »Kleiner Mann – was nun?«, seinen ersten Welterfolg, geschrieben. Die Frage stand wieder im Raum. Das war seine Stunde null. Ein Neuanfang. Wenn der irgendwo gelang, dann hier, in diesem ausgebrannten, kaputten Berlin.

Alle wollten nach Berlin. Dabei gab es hier schon genug, die kein Dach über dem Kopf hatten. Flüchtlinge konnte man nicht gebrauchen, deshalb hatte die Stadt ein Zuzugsverbot erlassen. Falladas hatten keine entsprechende Genehmigung. Auch darum mussten sie sich kümmern.

Gesundbrunnen. Alle aussteigen – wie aber weiter? Fuhr die U‑Bahn noch? Zu Fuß kam nicht in Frage, nicht mit Ullas lädiertem Bein. Seit fünf Monaten war der Krieg vorbei, die Trümmerfrauen hatten ganze Arbeit geleistet: Die Straßen waren frei, am Rande türmten sich Schuttberge. Von den Häusern standen oft nur noch Fassaden mit leeren Fensterhöhlen, gespenstische Kulissen – Häuserskelette. Wohin sollte er sich in dieser Trümmerwüste wenden? Straßenschilder gab’s nicht mehr. Fallada sucht einen Weg, dachte er. Kein schlechter Titel – er konnte nicht anders, immer ging es ihm so: Alles, was er sah und dachte, verwandelte sich in seinem Kopf sogleich in druckreife Formulierungen.

Der Bahnhof Bayerischer Platz hatte im Februar zwar einen Volltreffer abbekommen, aber die U‑Bahn fuhr längst wieder. Gott sei Dank! Ullas Miene hellte sich auf, ihre Laune wurde von Station zu Station besser. Sie begann zu planen: Das Hinterzimmer könnte Fallada haben, da hätte er Ruhe zum Schreiben. Ein Kinderzimmer? Vielleicht besser getrennte, sie waren doch zu weit auseinander; die Wohnung war groß genug, da konnten Uli und Jutta jeder ein eigenes Zimmer haben. Kaum spürte sie etwas Aufwind, kehrte die Lebensfreude zurück. Darum beneidete er sie: Die eben noch so bedrückende Wirklichkeit konnte sie einfach vergessen, und nur zu gern ließ er sich, wider besseres Wissen, mitreißen. Sie hatte ihn aus seiner tiefen Depression geholt, aus einem müden, abgekämpften, von Inspiration und Schaffensfreude verlassenen Autor wieder einen Mann gemacht, der an das Leben und die Liebe glaubte.

Ihm wurde warm ums Herz. Sie war ein verwöhntes Kind. Er wollte ihr alle Wünsche erfüllen, sie glücklich machen. Ihr konnte er nichts abschlagen. Verwöhnt, das war vielleicht nicht das richtige Wort. Jedenfalls war sie gewohnt, dass alle ihrem Charme erlagen und sie immer bekam, was sie wollte. Damals hatte Kurt Losch die Verkäuferin Ursula Boltzenthal vom Fleck weg geheiratet. Nun, da er tot war, gehörte ihr ein Drittel von Seifen-Losch.

Ulla holte einen Kamm hervor, fuhr sich durch die Haare und schüttelte ihre Lockenpracht. »Seifenflocke«, zog Fallada sie gern auf.

Sie wussten es ja, aber als sie aus dem Bahnhof kamen, war es doch ein Schock. Der vormals begrünte Bayerische Platz war eine graue Wüste mit Bombentrichtern. Statt des hübschen Springbrunnens gab es eine riesige Mulde, ein Becken für Löschwasser. Das Wasser hatte nicht gereicht: Die Häuser rund um den Platz waren vollständig ausgebrannt.

Die Meraner Straße ging direkt vom Bayerischen Platz ab. Es war seltsam: Die Gebäude auf der linken Seite waren komplett zerstört, unbewohnbar. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen die Häuser noch. Viele mit Pappe in den Fenstern, kaputten Dächern, voller Ruß. Aber sie standen, waren bewohnt. Irgendjemand hatte sogar Blumenkästen auf eine Fensterbank gestellt.

Das Haus befand sich auf der richtigen Seite, Nummer 12. Noch ein paar Schritte, und sie waren angekommen. Ecke Bozener Straße. Bevor sie hineingingen, schauten sie hoch zum dritten Stock, das war ihre Wohnung. Sah nicht schlecht aus, sogar Fensterkreuze waren noch drin. Ulla hatte keine Schlüssel, doch die Haustür stand offen, und die Portiersfrau war zur Stelle. Hieß sie Berta oder Greta? Fallada wusste es nicht mehr. Berta oder Greta, wie auch immer, fuhr sie unwirsch an: Wo sie denn all die Monate gewesen seien? (In Berlin wird man immer angeschnauzt, das war auch früher so gewesen.) Nein, das wolle sie gar nicht wissen, die Matrone wartete keine Antwort ab. Sie habe die Wohnung lange verteidigt, so lange es eben ging. Bis vor zehn Tagen. Zwei Herren vom Wohnungsamt seien gekommen, und zwar nicht allein. Na, sie sollen nur einmal hochgehen, da würden sie eine Überraschung erleben …

Sie waren zu erschöpft, um auf diese Suada weiter einzugehen. Endlich standen sie vor der Tür zu ihrer Wohnung und klingelten. Es öffnete eine Fremde, aus dem Hintergrund hörten sie Kindergeschrei. Die Frau ging gleich auf Abwehr: Was sie denn wollten – dies sei ihre Wohnung, ihr von Amts wegen zugewiesen. Sie könnten gleich wieder gehen.

War heute Montag? Oder schon Mittwoch? Fallada wusste es nicht.

Sie waren am 1. September – oder auch am 2. – nach Berlin gekommen. Was war in den Tagen danach passiert? Fallada erinnerte sich an einzelne Bruchstücke, aber Zusammenhänge wollten sich partout nicht einstellen. Erinnerungssplitter, die sich zu keinem Bild fügten.

Die Frau hatte ihren Widerstand aufgegeben, Herrn und Frau Fallada doch in die Wohnung gelassen, die nicht mehr die ihre war – die Fremde wedelte mit einem Schreiben vom Amt. Es sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Man habe ihr diese Wohnung zugeteilt. Sie hätte die vorderen Zimmer überhaupt erst bewohnbar gemacht. Was sie wohl glaubten, wie das hier ausgesehen hatte? Der Boden übersät mit Scherben, kein einziges Fenster mehr heil, alles Geschirr zerschlagen, Schränke umgekippt. Die Tür aufgebrochen – was an Möbeln noch brauchbar gewesen war, hatten die lieben Volksgenossen weggeschleppt.

Sie habe das alles doch nicht gemacht, damit sich’s die Herrschaften nun im warmen Nest gemütlich machen! Sie sagte wirklich: gemütlich machen.

Ulla, die sonst so Schlagfertige, blieb stumm. Sie konnte nicht mehr.

Fallada sah seine Liebste an. Sie war kreidebleich und zitterte am ganzen Leib. Langsam sackte sie in sich zusammen. Die Fremde merkte endlich, was los war, stoppte ihren Redeschwall und machte das Sofa frei.

Die Frau, die Wohnung, alles egal. Er musste jetzt einen Arzt auftreiben, sofort. Ulla brauchte etwas und er auch. Dringend!

Sie hätten länger durchhalten müssen, sie waren zu früh aus dem Krankenhaus getürmt. Man muss den Morphiumkonsum langsam absenken, das wusste er doch als geübter Patient. Es half nichts: Nun musste Stoff her, anders würden sie es nicht schaffen.

Einen Arzt hatte er gefunden, das war kein Problem. Da sei einer gleich um die Ecke, hatte ihm Ulla mit auf den Weg gegeben, und wirklich, sie kannte sich eben aus. Bozener Straße 2, auf dem Schild stand: »Dr. med. G. Benn. 11–12 und 5–6«. Obwohl keine Sprechstunde war, klingelte er. Klingelte noch einmal. Ein untersetzter Mann mit Halbglatze erschien, nicht sonderlich erfreut über die Störung, bat ihn rein. Die Praxis befand sich parterre, wahrscheinlich war es eigentlich das Wohnzimmer.

Er brauchte nicht lange zu erklären, worum es ging. Vielleicht kannte der Arzt seine Frau. Erst lehnte er ab, aber dann kam er doch mit. Es waren nur ein paar Schritte. Auf dem Weg erfuhr Fallada, dass er Glück gehabt hatte: Normalerweise sei er, Benn, um diese Zeit in der Fürsorgestelle für Geschlechtskranke, Hauptstraße 19, falls er sich in Schöneberg auskenne. Außerdem faselte der Arzt noch etwas davon, dass sie Kollegen seien, worauf Fallada nicht einging.

Dann waren sie bei Ulla, und der Doktor setzte die Spritze. Das Morphium sei seine eigene Selbstmordration gewesen, erklärte Benn, doch das hörte seine Patientin schon nicht mehr. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, sie schloss die Augen. Der Arzt ließ noch eine Eukodal da. Als er weg war, nahm Fallada die Schmerztablette selbst. Er würde doch seine Frau in ihren seligen Träumen nicht allein lassen.

Er schloss die Augen, schmiegte sich an Ulla und malte sich aus, wie schön es sein wird, wenn die Wirkung der Droge einsetzt. Seine Einschlafphantasie, ein Kindertraum. Allein auf einer Südseeinsel, die Sonne scheint, es ist warm. Nichts stört. Er ist weit weg von allem, was ihn bedrängt. Nichts tun müssen, nie mehr aufstehen.

Er schreckte hoch. Ulla, im fiebrigen Dämmerzustand, hatte sich an ihn geklammert. Sie murmelte unverständliches Zeug. Auch er schwitzte, ihm war heiß und kalt zugleich. Er löste sich von ihr, war aber viel zu matt, um aufzustehen.

Der Inseltraum wollte sich nicht wieder einstellen. Er saß im übervollen Zug, Ulla auf dem Schoß. Suse stand vor ihm, blickte ihn streng an. Sie hakte sich bei Mutter unter, beide waren böse auf ihn, schwenkten bedrohlich einen Korb in seine Richtung.

Es war gar nicht Ulla, die auf seinem Schoß saß, sondern Anneliese. Dieser Bauerntrampel. Hausmädchen bei Familie Fallada in Carwitz und für den Hausherrn noch ein bisschen mehr. Vergeblich versuchte er, sie abzuschütteln. Dann der schrille Ton der Sirene – Fliegeralarm. Alles in der Bahn warf sich zu Boden. Er konnte aber die blöde Anneliese nicht wegschieben, sie lag wie ein Stein auf ihm. Bleierne Schwere, er konnte sich nicht bewegen, bekam keine Luft mehr –

Er wachte auf. Nur ein Traum. Er beruhigte sich und rappelte sich hoch. Wo waren sie?

Die Frau, die ihre Wohnung besetzt hatte, hieß Eva-Maria Schulz-Mario und war Schauspielerin. Angeblich. Vielleicht auch Tänzerin oder Sängerin. Sie hatte einen kleinen Sohn, ihre Mutter lebte mit in der Wohnung. Drei Zimmer hatte die Schulz mit ihrer Bagage belegt.

Großzügig hatte sie ihnen angeboten, in den hinteren Räumen zu nächtigen, aber gleich dazu gesagt: ausgebrannt, unbewohnbar. Wahrscheinlich hatte sie damit gerechnet, das würde sie abschrecken und nach einem Blick ins Zimmer wären sie wieder weg. Aber wohin sollten sie gehen, sie hatten keine Alternative. Zwei der Räume waren völlig indiskutabel, aber einen konnten sie sich herrichten. Sie schauten sich an: besser als wieder auf die Straße. Sperrholzplatten in den Fenstern, so pfiff wenigstens der Wind nicht rein. Ein versifftes, durchgelegenes Sofa, ein windschiefer Tisch, ein wackliger Stuhl. Für ein paar Tage mochte es gehen, bis die Sache auf dem Wohnungsamt geklärt war. Dann würden sich die Schulzens wundern.

Fallada machte sich auf den Weg. Im Hausflur traf er auf die Portiersfrau, auf Berta – für diesen Namen hatte er sich entschieden. Die wollte unbedingt etwas loswerden. Er sei ja nicht da gewesen, sie glücklicherweise an jenem Tag auch nicht. Aber sie habe alles von den Nachbarn erfahren. Der Angriff am 5. Februar, ganz schrecklich. Brandbomben hätten die Dächer entzündet, das Feuer habe sich durch die Etagen gefressen, bis Stockwerk um Stockwerk einstürzte. Der Bahnhof – ein Volltreffer, sechzig Fahrgäste oder noch mehr tot. Die Leichen habe man provisorisch auf dem Bayerischen Platz begraben. Wenn sie jetzt über den Platz gehe, habe sie ein ganz komisches Gefühl … Fallada wollte keine Einzelheiten hören, er ließ Berta einfach stehen. Sie hatten selbst genug schlimme Dinge erlebt.

Er zog los. Berlin wollte erobert werden.

In Berlin hatte man nicht auf ihn gewartet. Das wäre auch zu schön gewesen: ein gemütliches Nest, in das man sich nur noch setzen muss, ein Zuhause, in dem er sich an den Schreibtisch begeben und gleich mit dem neuen Buch beginnen kann. Er wollte endlich wieder arbeiten – während der Monate, als er Bürgermeister in Feldberg spielen musste, hatte er keine einzige Zeile geschrieben. Und Schreiben war doch sein Leben.

Jetzt galt es, die Wohnung zurückzuerobern.

Dieser Teil von Schöneberg war eine Gegend für wohlhabende Leute. Zwei Jahre seiner Kindheit hatte er hier verbracht. Auf dem Weg zum Wohnungsamt machte er einen kleinen Umweg. Die Grunewaldstraße, das waren nur ein paar Schritte, doch von vertrauter Gegend konnte keine Rede sein. Kaum etwas vom Prinz-Heinrichs-Gymnasium war übrig geblieben. Einst war er dort von den Lehrern getriezt worden, jetzt war der wilhelminische Bau dem Erdboden gleichgemacht. Komplett ausgebrannt, nur das Direktorenwohnhaus stand noch. Professor Marcetus, Latein, hatte ihn auf dem Kieker gehabt, ein wahrer Sadist. Fallada hatte sich gerächt, wie es nur ein Schriftsteller kann: Er hatte den verhassten Lehrer in einem Roman verewigt. Leider dürfte Marcetus »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« nicht gelesen haben, während ihm, dem Autor, 45 Jahre später noch immer die Galle hochkam, wenn er an die Demütigungen dachte. Der Deutschlehrer war nicht besser, der hatte zur Gaudi der anderen Schüler an seinen Locken herumgenestelt. Diese blasierten Jünglinge, Schnösel, Söhne von adligen Offizieren und Beamten.

»Selige Sehnsucht«? Er konnte es noch auswendig: »Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.« Ach Gott, Goethe hatte er nie gemocht.

Nein, er hatte keine nostalgischen Gefühle, wenn er an seine Schulzeit zurückdachte. Ein letzter Blick auf die Ruine des Gymnasiums. Hier war nichts mehr zu retten – Abriss. Sei’s drum.

Nichts hatte er erreicht.

Er hatte einem sturen Beamtenbock vergeblich klarzumachen versucht, dass die Wohnung Meranerstraße 12 ihnen gehöre, auch wenn sie auf Ewald Losch eingetragen war. Das müsse erst geprüft werden – sonst noch was? Lebensmittelmarken! Erst wenn die Abmeldung der Lebensmittelkarten vom früheren Wohnort vorliege – dass Leute sich doppelt bedienen, wisse man ja. Auf dem mecklenburgischen Kuhdorf habe es gar keine Lebensmittelkarten gegeben, das sei dort überflüssig gewesen? Dann hätte Fallada eben dort bleiben sollen. Ob er denn überhaupt eine Zuzugsgenehmigung vorweisen könne? Nein? Dann besorgen Sie sich doch erst mal die nötigen Papiere. – Der Nächste bitte.

Wenn Fallada an die Szene auf dem Amt dachte, wurde er jetzt noch rot vor Zorn. Dieser Fatzke, was bildete der sich bloß ein! Dass er Hans Fallada war, interessierte hier niemanden. Oder war es vielleicht sogar nachteilig?

Das Bezirksamt befand sich in der Schlüterstraße, in dem Haus, in dem früher die Reichskulturkammer untergebracht war. Da gab es sicher auch eine Menge Akten über Hans Fallada.

Er hatte keinen der Anträge, die man ihm hingeschoben hatte, ausgefüllt. Er war viel zu aufgewühlt gewesen, alles verschwamm vor seinen Augen. Vielleicht war das auch besser so – da er keine Adresse hinterlassen hatte, konnte ihm wenigsten niemand mit einem Zuzugsverbot kommen.

Seine Niederlage auf dem Amt konnte Ullas gute Laune nicht trüben. Sie hatte Besuch von Vera, einer Freundin. Ihrer besten Freundin, wie Ulla gleich betonte. Die beiden kicherten, strahlten um die Wette. Vera würde ihnen in den ersten Tagen zur Hand gehen, verkündete Ulla. Vera hatte Kognak mitgebracht. Auch Fallada konnte jetzt einen Schluck vertragen.

Vera erwies sich als ein wahrer Schatz.

Er hatte sie schon einmal gesehen – bei ihrer Hochzeit hatte sie alles Mögliche organisiert. Sie war, verkündete Ulla lachend, eine Art Familienmitglied. Lange, bis kurz vor Kurts Tod, habe sie bei ihnen gewohnt; auch in ihrem Blockhaus in Feldberg sei Vera oft zu Gast gewesen. Fallada müsste sich doch an sie erinnern.

Vera war eine Quasselstrippe. Ulla stand ihr in nichts nach – wenn die beiden in Fahrt waren, kam er nicht mehr zu Wort. Für seine Ulla hatte er einen neuen Namen: Brandung.

Ulla laborierte an der Wunde am Fuß, das tat verdammt weh. Ihre Schmerzen betäubte sie mit Alkohol. Und er trank mit, schon aus Solidarität.

Fallada konnte sich nicht aufraffen, noch einen Vorstoß beim Wohnungsamt zu unternehmen. Morgen, morgen ganz bestimmt. Heute kam er einfach nicht hoch.

Die Kinder. Das machte ihn unruhig, er hatte Sehnsucht nach Uli, nach der Mücke, dem kleinen Achim. Er hätte sie am liebsten alle drei hier bei sich. Er musste Suse schreiben. Unbedingt, gleich nachher.

Ein Glück, dass es Vera gab. Sie kümmerte sich selbstlos um die Gestrandeten. Besorgte alles, was sie brauchten: Kaffee, Brot, Butter. Getränke. Noch wichtiger: Zigaretten. Alles auf dem Schwarzmarkt, sie hatten doch keine Karten. Das bisschen Geld, das Ulla eingesteckt hatte, 300 Mark – schon am zweiten Tag waren sie pleite.

Geld vom Konto abheben, das war verboten. Kein Problem, meinte Vera. Sie lieh ihnen Geld. Könnten sie zurückgeben, wenn sie ihre Sachen aus Feldberg geholt hätten. Ulla wollte etwas sagen, sank aber wortlos zurück in die Kissen.

Sie hatte Schmerzen. Es half nichts, er musste wieder zu diesem Benn, wie schon die letzten Tage. Er tat das nicht gern – der Doktor war ihm unheimlich. Seltsamer Typ. Ein Mann wie ein Gespenst, dachte er. Diese langsamen Bewegungen, die leise, fast lautlose Art zu sprechen. Die kryptischen Bemerkungen, dass er auch Schriftsteller sei, allerdings nicht so populär wie Fallada.

Aber schließlich versorgte der Arzt sie kommentarlos mit Morphium, sie alle beide. Fallada wusste, wie gefährdet er war. Trotzdem hatte er wieder damit angefangen, schon in Feldberg. War es nicht verständlich bei alldem, was ihm in letzter Zeit widerfahren war? Außerdem: Er liebte Ulla, und wie hieß es doch – mitgefangen, mitgehangen.

Ulla lag im Krankenhaus. Doktor Benn hatte darauf gedrungen – mit einer Blutvergiftung war nicht zu spaßen.

Zu seinem Zustand hatte Benn nichts gesagt, aber Fallada wusste es ja selbst. Er war wieder in den Fängen der Sucht. Es half nichts, er musste die in Neustrelitz eigenmächtig abgebrochene Entziehungskur fortsetzen, um nicht ganz abzurutschen. Also wieder zu Professor Zutt in die Kuranstalten Westend. Fallada hatte dort angerufen, sich selbst angekündigt. Als er um die Ecke in die Nußbaumallee bog, atmete er auf: Von Bombenschäden war nichts zu sehen.

Der Backsteinbau war für ihn fast so was wie Heimat, im Moment jedenfalls mehr als die Wohnung in der Meraner Straße. Jürg Zutt war ein alter Bekannter. Er hatte ihn einmal gerettet, das würde ihm Fallada nie vergessen. Nachdem er, nicht zum ersten Mal, einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, war ihm in einem Sanatorium eine Schlafkur verordnet worden, die Folge war eine schlimme Schlafmittelintoxikation. Ernst Rowohlt, sein Verleger, der ihm einen Besuch abgestattet hatte, hatte dafür gesorgt, dass er sofort in die Bonhoeffer’sche Nervenklinik der Charité verlegt worden war. Das war nun rund zehn Jahre her. Der berühmte Karl Bonhoeffer hatte sich nur selten blicken lassen, betreut worden war er von Zutt. Mit dem Mann hatte sich Fallada auf Anhieb verstanden, mit ihm konnte er sich unterhalten. Zutt hatte gerade an seinem Buch »Zur Psychologie der Sucht« gearbeitet, und da war ihm Fallada ein willkommenes Studienobjekt gewesen. Ihn hatte das nicht gestört, im Gegenteil. Er hatte höchst bereitwillig Auskunft gegeben. Neben der Tätigkeit an der Charité stand Professor Zutt den Kuranstalten Westend vor. Er hatte die Privatklinik im vornehmen Villenviertel gepachtet, wo wohlhabende Patienten in einer »Zauberberg«-Atmosphäre Entziehungskuren machten. Vier- oder fünfmal, manchmal nur ein paar Tage, manchmal einen ganzen Monat und länger, war Fallada in den letzten Jahren hier gewesen.

Die Unterbringung in den Kuranstalten hatte einen großen Vorteil, er musste sich um nichts mehr kümmern. Die letzten Tage hatten ihn überfordert. Es waren so viele Dinge gleichzeitig zu regeln: die Wohnungsfrage, die Lebensmittelkarten, die Zuzugsgenehmigung. Letzteres als Erstes, denn solange sie illegal in Berlin lebten, brauchte er in den anderen Angelegenheiten gar nicht wieder vorzusprechen. Noch eine Niederlage würde er nicht verkraften. War da das Morphium nicht verständlich? Zu viel war über sie hereingebrochen. Die Flucht in die Droge war die Folge, die wiederum Folgen nach sich zog: Den normalen Alltag, nichts konnte er mehr bewältigen. Ohne Veras Schwarzmarkteinkäufe wären sie längst verhungert. Aber die waren teuer – Ulla hatte Vera ihren Brillantring als Pfand gegeben. In den Kuranstalten bekam er regelmäßige Mahlzeiten, wurde versorgt, war geborgen vor den Fährnissen, die in dieser kaputten Stadt auf ihn lauerten. Das Leben hier war nicht weniger teuer, die Rechnung der Privatklinik würde später kommen.

Fallada hätte Ulla liebend gern bei sich gehabt, aber Zutt hatte behauptet, es sei kein Zimmer in der Frauenabteilung frei. Das war gelogen. Fallada wusste es besser – er hatte vorher mit Schwester Hedwig gesprochen –, und er ahnte auch den Grund. Zutt hatte etwas gegen Ulla, er stand auf Suses Seite. Alle liebten Suse, niemand verstand, warum er sich hatte scheiden lassen.

Die Ehe mit Suse schien für immer Bestand zu haben, und wenn der Krieg nicht gekommen wäre … Leicht erregbar, stets am Rande des nächsten Ausrasters, so war er immer gewesen, daran hatte sich Suse gewöhnt, sie wusste mit seinen depressiven Stimmungen umzugehen. Dass er seit der Nazizeit nicht mehr schreiben konnte, was er wollte, dass er auf harmlose Illustriertengeschichten und schmalzige Filmstorys ausweichen musste, aus denen dann doch nichts wurde … Sein Ruf in der literarischen Welt als anerkannter Schriftsteller war ruiniert, die Verhältnisse hatten ihn zu einem Produzenten von Schundliteratur gemacht. Niemand wusste das besser als er selbst, kein Wunder, dass er immer missmutiger geworden war – Spaß am Schreiben hatte er schon lange nicht mehr.

Das Leben mit ihm war sicher nicht einfach gewesen. Dass ihre Ehe zerrüttet war, war seine Schuld. Aber nicht allein. Fremdgegangen, wie man das so nennt, war er immer schon, darüber wäre Suse schon hinweggekommen. Nicht alles hatte sie gewusst, aber manches doch, und sie hatte ihm verziehen. Aber nun waren die unseligen Verwandten aus Hamburg bei ihnen einquartiert. Tilly, Otto und vor allem »Frau Issel« – Fallada hatte sich nie überwinden können, Suses Mutter zu duzen. Diese Spießer, die nichts wussten von einer gequälten Künstlerseele. Sie hetzten und stichelten gegen ihn. Und es gab Ulla.

Ursula Losch, attraktiv, elegant, entwaffnend. Kein Vergleich mit Anneliese oder einem der anderen Hausmädchen, mit denen er sich eingelassen hatte. Da war plötzlich ein Stück große Welt in der mecklenburgischen Einöde erschienen. Sie liebte ihn – warum gönnte man ihm sein neues Glück nicht?

Zutt war bei dem Aufnahmegespräch nicht zugegen. Fallada war das ganz recht. Der Professor hatte sich, als es in ihrer Ehe bereits heftig kriselte, gegen seinen Willen mit Suse getroffen und zu vermitteln versucht, und das nahm er ihm übel, wie er jetzt merkte. Zutt hatte sich da nicht einzumischen, das ging nur sie beide an. In dieser Sache brauchten sie keine Ratschläge vom Herrn Professor.

Die Aufnahme erfolgte durch Frau Doktor Schmidt-Rost. Man kannte sich von früheren Aufenthalten. Als Stammgast wusste Fallada auch, was er brauchte: Pernocton, am besten intravenös, 5 ccm. Kleinere Mengen würden bei ihm eher das Gegenteil bewirken. Patienten, die die Medikation selbst festlegen wollten, das bedeutete immer Ärger – Frau Doktor war davon wenig erbaut. Fallada sah ihr das an und begann sofort zu plaudern: Früher hätte er sogar 16 ccm bekommen, da seien 5 ccm doch immerhin ein Fortschritt. Im Übrigen sei er in Neustrelitz falsch behandelt worden, dort gäbe es eben nur Chirurgen und Allgemeinmediziner, keine Psychiater, schmeichelte er der Ärztin. Als die Schmidt-Rost nicht wie gewünscht reagierte, schob er nach: In den letzten Tagen habe ihm ein Arzt regelmäßig für die Nacht 5 ccm Pernocton gespritzt, daran sei er jetzt nun mal gewöhnt. Was er nicht erzählte: dass Ulla tagsüber, während er apathisch auf der Couch dämmerte, bei verschiedenen Ärzten noch ganz anderes auftrieb.

Kaum hatte er, was er wollte, überkam ihn eine angenehme Ruhe. Alle Probleme lösten sich auf, das Leben wurde leicht, federleicht. Plötzlich war die Kälte weg, eine unendlich sanfte Woge hob ihn an, eine strahlende Sonne ging in ihm auf, die Wirklichkeit zerstob. Sein Kopf wurde leer. Keine Angst mehr, keine Begierde.

Stundenlang in der Sonne liegen, am Meer. Weißer Sand, nichts als weißer Sand. Das ewig gleiche Rauschen des Wassers. Sein Ich verströmte im Meer. Die Augen waren geschlossen, schwer die Lider. Sie ließen sich nicht öffnen, aber wozu auch. Der warme Körper lag mit seinem ganzen Gewicht im Sand. Arme und Hände losgelöst, weit weg von ihm. Da war nur Sonne, Sonne auf den Lippen, Sonne auf der Haut, Sonne auf der Stirn, nichts als Sonne. Leider dauerte dieser Zustand nicht ewig. Sobald er sich zu verflüchtigen begann, wurde es schlimm.

Er fürchtete die Nächte. Die Angst vor den Alpträumen hatte ihn in die Schlaflosigkeit getrieben, die er mit Alkohol und Tabletten bekämpfte. Die letzte Nacht war wieder scheußlich gewesen, wenig Schlaf, dünner Schlaf mit ekelhaften Träumen. Es waren wiederkehrende Szenarien und Kulissen. Er, im Gymnasium, stand in kurzen Hosen an der Tafel, die ganze Klasse grölte. Professor Marcetus, dieser Sadist, zog ihm die Ohren lang: Wird’s bald? Doch er brachte keinen Ton heraus, musste dringend aufs Klo, Marcetus aber ließ seine Ohren nicht los, schleifte ihn auf den Gang, wo ihnen der Direktor entgegenkam, auf ihn herabsah. Da, plötzlich, wurde ihm bewusst, dass er splitterfasernackt war …

Er war wieder auf dem Uhufelsen, sah sich, blutbeschmiert, die Anhöhe hinunterkriechen. Dietrich hatte sein Herz mit einem roten Tuch markiert, Fallada das Ziel sofort getroffen. Dann hatte er die Waffe des Unglücklichen genommen und auf sich selbst gerichtet, abgedrückt, wollte vollenden, was Dietrich nicht geschafft hatte. Unten auf dem Feld pflügte ein Bauer, halb tot torkelte er auf ihn zu. Wie sollte er dem Mann erklären, dass oben sein toter Freund lag und was sie verabredet hatten … Er rutschte den Abhang hinunter, sanftes Wiesengrün, der Weg wollte nicht aufhören und war doch fürchterlich kurz, er musste sich schnell etwas einfallen lassen, etwas ausdenken, was sollte er bloß sagen, niemals würde man ihm glauben …

Träume ließen sich abschütteln, nicht aber das, was Fallada in den letzten Jahren erlebt hatte. Diesem Alptraum entkam er nicht, es war die Wirklichkeit. Die traumatischen Bilder suchten ihn auch tagsüber heim: Die Auseinandersetzung mit Suse war derart eskaliert, dass er – vollgedröhnt, ja unzurechnungsfähig – auf sie geschossen hatte. Der Schuss ging los. Daneben. Er wollte sie doch niemals treffen, aber es hätte leicht passieren können … Mit Ulla im Zug, von Tieffliegern beschossen. Alle warfen sich auf den Boden, eine Frau landete auf Ulla. Auf die Bitte, sie möge doch ein wenig beiseiterücken, rührte sie sich nicht. Hinterher stellte sich heraus, dass die Frau tot war – sie hatte Ulla das Leben gerettet … Sein letzter Aufenthalt in den Kuranstalten, Februar 1944: Fliegeralarm. Über zwei Stunden saßen sie im Keller, vierzig Minuten ununterbrochener Bombenhagel. Nach der Entwarnung stand er auf dem Dach und sah die Stadt brennen, Haus neben Haus, nah und fern – ein grausiger Anblick.

Das waren Szenen, vor denen er als Schriftsteller verstummte, da versagte er, darüber konnte er nicht schreiben, das Grauen nicht schildern.

Er musste wieder traumlos schlafen, dafür brauchte er Schlafmittel. Pernocton bekam er nicht. Stattdessen Luminal. Fallada kannte das schon: Somnifen, Allional, Chloral, Amylen – alles hatte er schon ausprobiert. Schmidt-Rost legte die Therapie fest: Abends 0,2 g Luminal und 2 g Paraldehyd zur Reserve, am Tag ein- bis zweimal 2 g Paraldehyd. Das Ziel war klar: Reduktion der Schlaf- und Beruhigungsmittel bis zur Arzneimittelfreiheit, Schlafen ohne Schlafmittel. Und das Rauchen extrem zurückfahren, bis zu hundert Zigaretten am Tag, so ging es nicht weiter.

Fallada spielte den braven Patienten, das konnte er gut und hatte auch Erfolg damit. Er wurde von der geschlossenen Abteilung ins Kurhaus verlegt. Nach ein paar Tagen bekam er sogar Ausgang. Er hatte darum gebeten, schließlich müsse er die Wohnungsfrage auf dem Amt klären.

In Wahrheit besuchte er Ulla im Krankenhaus. Es war keine Besuchszeit, aber er machte es dringlich, und die Schwester ließ ihn durch. Ulla hatte leider kein Einzelzimmer, da hatte er es in den Kuranstalten besser. Sie sah so verletzlich aus, wie sie da in ihrem Bett lag. So schutzbedürftig. Die Wunde am Fuß war am Abheilen; sie wollte möglichst schnell aus dem Krankenhaus raus. Er strich ihr zärtlich über die Wange. Sie nahm seinen Kopf, zog ihn an sich, fuhr ihm durchs Haar und flüsterte ihm etwas ins Ohr: Vera sei dagewesen und habe etwas mitgebracht. Als er ging, war sie hochgestimmt, und er versprach, gleich morgen wiederzukommen.

Zurück in die Kuranstalten. Er wirkte ruhig und ausgeglichen, wie die Nachtschwester vermerkte. Die Schmidt-Rost konnte Fallada jedoch nicht täuschen. Bei der Morgenvisite entging ihr nicht, dass der gut ausgeschlafene Patient leicht lallte. Sie verdächtigte ihn, sich draußen etwas besorgt zu haben, was er entrüstet zurückwies. Er doch nicht! Eigentlich war die Entrüstung nur gespielt, doch steigerte er sich derart hinein, dass er richtig zu wüten begann mit der Folge, dass er wieder auf der Geschlossenen landete. Morgen würde Ulla vergeblich auf ihn warten.

Ganz allein in einem Zimmer. Zeit totschlagen. Er war auf sich zurückgeworfen, musste jede Stunde irgendwie rumbringen, worüber er nicht einmal unglücklich war. Hier konnte er lesen, schlafen, schreiben, im Zimmer auf und ab gehen. Niemand wollte etwas von ihm. So war es ihm am liebsten – in einem geschützten Raum, die Wirklichkeit musste draußen bleiben. Die Anstalt war eine Insel – Robinson im Gefängnis, das war eine Lieblingsvorstellung von ihm, so hatte er einmal einen Roman nennen wollen. Das musste um 1925 gewesen sein, lange her. Damals hatte er einen Morphiumentzug hinter sich, saß wegen Unterschlagung im Gefängnis.

Wenn er sein Leben überdachte … Sein Leben als Autor zerfiel in drei Abschnitte. Es waren drei Schriftstellerleben, jedes verbunden mit einer Frau. Die ersten beiden Romane, die er später nicht mehr anerkannte, waren verknüpft mit Anne Marie Seyerlen. Dann die Bücher, die ihn zu einem Erfolgsautor gemacht hatten, das waren die produktiven Jahre mit Suse. Nun musste er zum dritten Mal neu anfangen, aus dem Nichts heraus, mit Ulla an seiner Seite. Sie war jung, das übertrug sich auf ihn, den alten Zausel, der seine hochfliegenden Literatenträume begraben hatte. Aber die Nazizeit war vorbei, er hatte nichts mehr zu befürchten. Er konnte, ja musste ganz anders schreiben als bisher. Eine neue Zeit, eine neue Liebe – warum sollte es ihm nicht gelingen?

Ulla war auf dem Weg nach Feldberg. Allein. Fallada hatte nicht mitgewollt, er wartete lieber in Neustrelitz.

Sie hatte dem Landrat erfolgreich einen Wagen abgeschmeichelt. Ja, seine Ulla war eine attraktive Frau, wenn sie mit ihrem Charme um etwas bat, welcher Mann konnte da nein sagen. Er hatte das aus gutem Grund ihr überlassen, schrieb unterdessen Suse einen Brief.

Vor vier Tagen waren sie wieder nach Hause gekommen, wobei es schwerfiel, das ungastliche Zimmer als Zuhause zu bezeichnen. Ihre Habseligkeiten lagen überall herum, hier konnte er unmöglich arbeiten. Ein einziger Kochtopf war noch da. Es hatte ein paar unschöne Diskussionen gegeben, als sie ihr gutes Besteck bei der Schulz entdeckten. Doch sie hatten sich wohl oder übel aufs Neue mit ihr arrangiert.

Fallada wäre lieber noch länger in den Kuranstalten geblieben, aber als Ulla aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte er sie inmitten des Chaos doch nicht allein lassen. Es war klar, was sie als Erstes tun müssten: ihre Sachen aus Feldberg holen. Für die Möbel und Bücher hätten sie einen Laster und Fuhrleute gebraucht, das war nicht zu organisieren. Ulla meinte zwar, sie habe da einen Bekannten, doch Fallada blieb skeptisch. Darauf warten konnten sie nicht, sie brauchten Wäsche und Kleidung, und zwar dringend.

Selbst mit dem Brillantring, den Vera verkaufen wollte, würden sie nicht mehr weit kommen – außerdem seien die Preise für Schmuck angeblich extrem gefallen, wenn man der Freundin glauben durfte. Wie auch immer. An ihre Bankkonten kamen sie nach wie vor nicht ran, Lebensmittelkarten waren keine in Sicht – Ulla musste aus Feldberg alles mitbringen, womit sich Geschäfte machen ließen. Sie konnten nicht ewig auf Kredit, das heißt von Veras Gnaden leben – irgendwann würde sie die Rechnung aufmachen.

Ulla schien sich darüber keine Gedanken zu machen. Sie blieb das naive Menschenkind, lebte in den Tag hinein, kannte keine Sorgen um morgen. Fallada dagegen fühlte sich jeden Tag mehr in seinem tiefsitzenden Misstrauen bestätigt. Die schreckliche Wohnungsnot, die katastrophale Versorgungslage – die Menschen rückten in der Zeit der Not nicht zusammen, ganz im Gegenteil. Im Kampf ums tägliche Überleben kannte jeder nur sich selbst. Es waren Wolfszeiten, schlimmer als im Krieg.

Zudem wollte Ulla in Feldberg auch ihre Tochter Jutta abholen. Fallada hatte bei Suse schon einmal vorgefühlt, ob nicht zumindest der Uli, der doch in Carwitz die Schule nicht fortsetzen konnte, nach Berlin … Suse hatte ihm eine barsche Abfuhr erteilt: Unter normalen Verhältnissen, »normalen« hatte sie dick unterstrichen, wäre es nur natürlich, dass Uli zu ihnen käme, um eine Schule in Berlin zu besuchen. »Aber Du wirst Dir ja wohl denken können, dass ich weiß, was für eine Bewandtnis es zur Hauptsache mit Eurer Krankheit hatte. Und in Berlin habt Ihr natürlich auch immer wieder Möglichkeiten, zu solchen Mitteln zu gelangen. Dass ich unter diesen Umständen auch den Uli für sehr gefährdet bei Euch halte, ist wohl verständlich.« Seinen Brief habe sie voller Zorn in die Ecke geschmissen. Das war an Deutlichkeit nicht zu überbieten.

Was sollte er ihr antworten? Dass sie zur Ursache machte, was doch nur die Folge war, dass er als Bürgermeister unter wahnsinnigem Druck gestanden hatte, geradezu sadistisch gequält worden war von Major Miasnik und diesem Dolmetscher Iwan. Sie hatte es doch miterlebt. Er hatte im letzten Moment verhindern können, dass die Russen Uli für einen Werwolf hielten – wo er da gelandet wäre, ob sie ihn überhaupt je wiedergesehen hätten, das wollte er sich lieber gar nicht ausmalen. Suse selbst hatte – das wusste er von Mutti – Schlimmes durchgemacht, auch sie war vergewaltigt worden. Doch dann war er mit Ulla aus dem Blockhaus in Feldberg ins Bürgermeisterhaus umgezogen und hatte Suse, die Kinder und Mutti zu sich nach Feldberg geholt. Dort, in der Prenzlauer Straße, war genügend Platz für sie alle, vor allem konnte er hier die Frauen vor den Russen schützen. Sie profitierten zudem von der besseren Versorgung, die ihm sein neues Amt garantierte. Ulla war nicht sonderlich begeistert gewesen, sie befürchtete pausenlosen Krach mit Suse, doch das war erstaunlich gut gegangen. Irgendwie waren die beiden Frauen miteinander ausgekommen. Selbst Mutti hatte die neue Schwiegertochter akzeptiert.