Rainer Werner Fassbinder - Michael Töteberg - E-Book

Rainer Werner Fassbinder E-Book

Michael Töteberg

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Rainer Werner Fassbinder wurde nur 37 Jahre alt, aber er drehte 42 Filme und schrieb Kinogeschichte: Er war das Enfant terrible und der kreative Motor des deutschen Autorenfilms. Tabus kannte er nicht, bezog stets radikal und subjektiv Stellung; sein Stück «Der Müll, die Stadt und der Tod» provozierte einen Theaterskandal, der die Bundesrepublik erschütterte. Heute gelten Filme wie «Angst essen Seele auf», «Die Ehe der Maria Braun» und «Berlin Alexanderplatz» als Klassiker. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 211

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Töteberg

Rainer Werner Fassbinder

Über dieses Buch

Rainer Werner Fassbinder wurde nur 37 Jahre alt, aber er drehte 42 Filme und schrieb Kinogeschichte: Er war das Enfant terrible und der kreative Motor des deutschen Autorenfilms. Tabus kannte er nicht, bezog stets radikal und subjektiv Stellung; sein Stück «Der Müll, die Stadt und der Tod» provozierte einen Theaterskandal, der die Bundesrepublik erschütterte. Heute gelten Filme wie «Angst essen Seele auf», «Die Ehe der Maria Braun» und «Berlin Alexanderplatz» als Klassiker.

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Michael Töteberg, geboren 1951 in Hamburg, wurde 1978 Lektor. Er war langjähriger Leiter der Medienagentur im Rowohlt Verlag.

Veröffentlichungen u.a.: «Fritz Lang» (1985, rowohlt monographie), «Fellini» (1989, rowohlt monographie), «Filmstadt Hamburg» (1992, erw. 2016), «Mach’ dir ein paar schöne Stunden» (2008, mit Volker Reißmann), «Romy Schneider» (2009, rowohlt monographie). Herausgeber u.a. von «Das Ufa-Buch» (1992, mit Hans-Michael Bock), «Metzler Film Lexikon» (1995, erw. 2005), «Fatih Akin. Im Clinch. Die Geschichte meiner Filme» (2011, erw. 2019, mit Volker Behrens). Zahlreiche Editionen, u.a. der Essays, Interviews und Drehbücher von Rainer Werner Fassbinder (1984–1991) sowie der Filmbücher von Fatih Akin, Wolfgang Becker, Dani Levy, Peter Lilienthal, Edgar Reitz, Tom Tykwer und Wim Wenders. Redakteur der Zeitschrift «Text + Kritik» und Mitarbeiter am «Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur» (KLG) sowie am Filmlexikon «CineGraph».

Der Anarchist auf dem Thron

Alles was ich mache, hat auch mit mir selbst zu tun.[1] Mit jedem seiner Filme hat Rainer Werner Fassbinder radikal und subjektiv Stellung bezogen, mit brutaler Direktheit und Intensität seine Phantasien und Obsessionen formuliert. Seine Filme lassen sich lesen als ein überaus persönliches Tagebuch, in dem trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – deutsche Gegenwart exemplarisch Ausdruck gefunden hat. Ob er zeithistorische Sujets behandelte oder zur aktuellen Situation Stellung nahm, die irritierende Faszination seiner Filme besteht darin, dass er unterdrückte Wünsche und Ängste, die in der Gesellschaft virulent sind, ungeschützt zuließ. Fassbinders Thema ist die Realität der Gefühle, der richtigen und der falschen, ihr gesellschaftlicher Charakter und ihre Ausbeutbarkeit.

Sein Werk umfasst kongeniale Literaturverfilmungen und sentimentale Melodramen, selbstquälerische Bekenntnisfilme und gesellschaftskritische Sozialstudien, mit großem Budget realisierte Mainstream-Produktionen und ästhetische Experimente. Den einen galt er als bundesdeutscher Balzac, anderen als schwuler Kitschproduzent. Vincent Canby nannte ihn ein irritierendes Talent: Fassbinder «ging seinen eigenen Weg, manchmal in zwei oder drei verschiedene Richtungen zur gleichen Zeit»[2]. Realistische und emotionsgeladene Sujets brach er durch Stilisierung und verstörende Manierismen. Seine Eigenart hat sehr früh Botho Strauß erkannt: «Für jemanden wie Fassbinder gibt es einen intellektuellen Begriff von Kitsch nicht mehr, sein Manierismus hat nichts gemein mehr mit dem Zitierverfahren in der Kunst der letzten Jahre.»[3] Lange bevor der Begriff geprägt wurde, war Fassbinder bereits ein Vertreter der Postmoderne. Hemmungen, fremde Stile zu kopieren, Werke anderer zu plündern und in sein Universum zu integrieren, hatte dieser Autor nie.

Er produzierte nach der Devise: Nur so entstehen bei uns Filme: indem man sie ohne Rücksicht auf Verluste macht.[4] Ohne Rücksicht auch auf finanzielle Verluste. Nur so konnte er zum Beispiel die grimmige Terroristen-Farce Die dritte Generation realisieren: Förderungs- und Fernsehgelder gab es dafür nicht. Nach dem antiteater-Debakel – jahrelang musste er die Schulden der Künstlerkommune abzahlen – gründete er gleich eine neue Produktionsfirma. Trotz negativer Erfahrungen schloss er immer wieder höchst ungünstige Verträge, paktierte mit dubiosen Geschäftemachern, ließ sich auf nicht abgesicherte Projekte ein.

Sein Beitrag zur Filmgeschichte, das sind vielleicht nicht so sehr die einzelnen Werke, sondern ist die radikal subjektive Haltung, mit der er an die Arbeit ging. Anfangs war der Neue Deutsche Film noch eine Familie: Man kannte sich. Die lange Kamerafahrt durch die Landsberger Straße in Liebe ist kälter als der Tod: eine Einstellung von Jean-Marie Straub, der sie Fassbinder schenkte. Margarethe von Trotta gehörte in den frühen Filmen zu den Stammschauspielern. Es gab private Jokes in diesen Streifen, Anspielungen, die Außenstehende nicht verstehen konnten – sozusagen Grüße an Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Hans-Jürgen Syberberg oder Alexander Kluge. Werner Schroeter wirkte in Warnung vor einer heiligen Nutte mit – er spielte sich selbst, seine beste Rolle.

Fassbinders rasche Karriere ist fast identisch mit den Veränderungen, die aus dem Neuen Deutschen Film eine neue deutsche Filmindustrie machten. Er hatte entscheidenden Anteil am Autorenfilm, seine Produktivität forcierte die Entwicklung und verhalf ihm auch international zum Durchbruch. Als Fassbinder 1969 mit einem Doppelschlag – Liebe ist kälter als der Tod und Katzelmacher – die Szene aufmischte, hatten die Oberhausener Papas Kino längst zu Grabe getragen, waren aber weitgehend die Alternative schuldig geblieben. Fassbinders Debüt kam zur rechten Zeit, und er wusste um seine Funktion als Motor: Er animierte die Kollegen, engagierte sich filmpolitisch und besetzte mit eigenen Produktionen Positionen. Von seiner Arbeit gingen Impulse aus, die über das eigene Werk hinausweisen. Er machte beim kurzlebigen Syndikat der Filmemacher mit, war Gesellschafter des selbstverwalteten Filmverlags der Autoren, hatte aber auch keine Berührungsängste, für Produzenten aus dem anderen Lager zu drehen. («Wir mussten ja mit diesen sogenannten linken Regisseuren arbeiten», klagte Luggi Waldleitner später, «weil im konservativen Lager nicht ein guter Regisseur ist, den man über die Grenzen der BRD hinaus verkaufen kann.»[5]) Er sammelte Bundesfilmpreise ein, wurde aber kein Gremienfilmer. Er initiierte Aktionen wie den Gemeinschaftsfilm Deutschland im Herbst – und lehnte den Bundesfilmpreis, also die staatliche Auszeichnung für ebendiesen Film, ab.

Fassbinder wusste Chancen zu nutzen, aber in den Schoß fiel ihm nichts. Er konnte manche Projekte nicht durchsetzen, andere scheiterten in aller Öffentlichkeit: Trotz Quotenerfolg wurde die Serie Acht Stunden sind kein Tag nicht fortgesetzt, die Verfilmung von Soll und Haben vom Sender gestoppt; seine Kinoversion von Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond stieß bei den Fördergremien auf Ablehnung. Das Drehbuch zu Hurra, wir leben noch nach dem Roman von Johannes Mario Simmel fand keine Zustimmung bei der Produktionsfirma (den Film drehte dann Peter Zadek). Seine Filme spalteten die Fernsehnation. Mit der dreizehnteiligen Serie Berlin Alexanderplatz lieferte Fassbinder keine gediegene, goutierbare Literaturverfilmung, sondern eine Zumutung, wie sie jedes Kunstwerk darstellt. Noch bei seinem letzten Film Querelle wurde ihm zunächst die Filmförderung verweigert, weil – so der Ablehnungsbescheid der Filmförderungsanstalt – «der besondere Stil des Regisseurs eine direkte und vordergründige Überhöhung erwarten lässt»[6].

Ich möchte ein Haus mit meinen Filmen bauen. Einige sind der Keller, andere die Wände, und wieder andere sind die Fenster. Aber ich hoffe, daß es am Ende ein Haus wird.

Rainer Werner Fassbinder

Auch als die Budgets größer wurden, sich der Erfolg und die Auszeichnungen einstellten, berechenbar war Fassbinders Arbeit nie. Er blieb immer ein Unangepasster, ein Grenzgänger und unsicherer Kantonist. Die in ihn gesteckten Hoffnungen erfüllte er nicht, enttäuschte bewusst die Erwartungen von Kritikern und Produzenten. Das war geradezu Prinzip, wie die Filmographie zeigt. Auf den mit Abschreibungsgeldern realisierten Arthouse-Film Despair mit internationaler Star-Besetzung folgte die Low-Budget-Produktion In einem Jahr mit 13 Monden, auf den Kassenerfolg Die Ehe der Maria Braun die links wie rechts verschreckende Farce Die dritte Generation, auf die bonbonfarbene Satire Lola der experimentelle Dokumentarfilm Theater in Trance.

Der Mann war ein Provokateur, mit ihm war kein Staat zu machen. Auch Minderheiten, denen er selbst angehörte, schonte er nicht: Deren negative Seiten zu schönen oder gar zu verschweigen war in seinen Augen nur eine andere Form der Diskriminierung. Gegen Faustrecht der Freiheit verteilte die Homosexuelle Aktion München Flugblätter, mit Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel zog er den Zorn der organisierten Kommunisten auf sich, bei der Premiere von Die dritte Generation warfen RAF-Sympathisanten Stinkbomben. Fassbinder nahm es gelassen: Egal was ich mache, die Leute regen sich auf.[7] Seine rastlose, geradezu erschreckende Produktivität, nur durchzuhalten mit Hilfe von Drogen, erklärte er als eine Art Geisteskrankheit und das Filmemachen als Therapie, als Versuch einer Selbstanalyse[8], wobei er die Trennungslinie privat/politisch nie akzeptiert hat. In dem Film In einem Jahr mit 13 Monden heißt es: Man macht sich nicht selbst kaputt, das macht die Ordnung, die die Menschen unter sich geschaffen haben.

«Filme zu drehen war einfach seine Form zu leben, seine Form des Nachdenkens, seine Form der Äußerung, auch seine Form des Umgangs mit anderen Menschen.»[9] Bereits vor Drehbeginn hatte er eine exakte Vorstellung von dem fertigen Film. Peter Märthesheimer, der zunächst als Fernsehredakteur und Produzent, später als Drehbuchautor ein Jahrzehnt lang seinen Weg begleitet hat, beobachtete bei Fassbinder die ungewöhnliche Fähigkeit, sich nicht nur den Ablauf einer Szene, sondern auch deren Zusammensetzung aus Einstellungen und Sequenzen sowie den Kontext vergegenwärtigen zu können. Deshalb konnte er die Drehzeit auf ein Minimum beschränken, kam häufig sogar mit weniger Drehtagen als vorgesehen aus und brauchte oft Einstellungen nur ein-, zweimal aufnehmen. «Das Drehen war sozusagen nur der geglückte Nachvollzug dessen, was er sich als eine Art Phantasiefilm in seinem Kopf längst vorführen konnte, von dem er jetzt nur noch gleichsam die materielle Kopie herstellen musste.»[10] Schnelles Reagieren war ihm wichtiger als sorgfältige Vorbereitung. Und der nächste Film, das neue Projekt immer wichtiger als die Endfertigung und die optimale Auswertung des letzten. Eine solche Arbeitsweise hinterlässt Spuren, schreibt sich unmittelbar in die Ästhetik ein. Spätestens seit Fontane Effi Briest beherrschte er das Handwerk, doch arbeitete er zugleich gegen die Perfektion an. «Aber er hat doch sehr viel herumgeschlampt in der Fertigstellung, in der Synchronisation, im Schnitt», klagte Waldleitner über seinen Regisseur bei Lili Marleen.[11] Man könnte auch sagen: Fassbinder demontierte den Roxy-Film. Der «Spielleiter» – wie es in Anlehnung an die Nazi-Sprachregelung im Vorspann hieß – hatte die alte Ufa-Platte aufgelegt und sorgte nun dafür, dass sie leierte.

Um sich versammelte er einen Clan von Schauspielern und Helfern, einen Hofstaat mit Günstlingen, die ihm verfallen waren und verstoßen werden konnten: Fassbinder führte ein Regiment, das Gleichberechtigung im Team nicht zuließ. Problemlos verband er die hierarchische Struktur mit seinen politischen Ansichten: Innerhalb eines, wie auch immer, funktionierenden Systems kann lediglich ein Mächtiger seinen wahren Bedürfnissen nachgehen, Anarchist sein, eben.[12] Die Biographien, die von engen Mitarbeitern vorgelegt wurden, zeugen – selbst wenn sie irgendwann im Zorn die Gruppe verlassen hatten – von fortwährender Faszination und Abhängigkeit, aus der sie sich nie ganz befreien konnten. Noch zwanzig Jahre nach seinem Tod ist seine Ausstrahlung ungebrochen, wie Rosa von Praunheims Interviewfilm «Für mich gab’s nur noch Fassbinder. Die glücklichen Opfer des Rainer Werner F.» bewies. Sichtbar wird in diesen Aussagen ein besessener Künstler, der mit Menschen spielte und Intrigen inszenierte, um Mitarbeiter durch Liebe und Unterwerfung an sich zu binden, der kindlich naiv und verletzbar, zugleich aber brutal und bösartig sein konnte. Die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, Thema vieler Fassbinder-Filme, hat er offenbar für die eigene Arbeit eingesetzt.

Er lebte seine Homosexualität aus, konnte als Macho auftreten und im nächsten Moment die Tunte geben. Natürlich ist es ein Stück von mir, bekannte er. Aber es darf nicht das einzige Thema werden.[13] Schwulen-Beziehungen, so seine These, unterscheiden sich nicht von heterosexuellen Liebesgeschichten. Fassbinder hat Schwulen-Dramen inszeniert und zugleich einige der gefühlvollsten Frauenfilme des deutschen Kinos gedreht. Doch selbst in den perfekten Melodramen scheint im Hintergrund eine pessimistische Einschätzung auf: An das private Glück zu zweit mochte er nicht glauben, seine Lebenserfahrung schien das zu bestätigen. Meine Auffassung von Liebesgeschichten klassischer Art ist, dass Zweierbeziehungen Unterdrückungsstrategien der bestehenden Gesellschaft sind.[14]

Der Kulturbetrieb braucht so was wie mich, meinte er zu Beginn seiner Karriere selbstbewusst.[15] Übrigens auch als Prügelknaben, an dem man sich die Mäuler zerreißen kann. Beim Thema Fassbinder geiferte nicht bloß die Boulevardpresse, auch aufgeklärte Zeitgenossen entpuppten sich plötzlich als Spießer der übelsten Sorte. In einem Nachruf wurde er als der «rohe süddeutsche schwule Fettkloß» apostrophiert – nein, das stand nicht in «Bild», sondern in der «taz».[16] Nicht frei von Peinlichkeiten wird in den Erinnerungen von Freund und Feind ein fragwürdiges Künstler-Image gepflegt: «Fassbinder, das geniale Monster».[17]

Nach seinem Tod erinnerte sich der Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann an dessen Zeit als TAT-Direktor: «Fassbinder bewohnte eine Künstlerkommune im Frankfurter Nordend und lebte sich zunehmend in schwierigere Situationen hinein – Situationen, von denen wir alle wussten, dass sie nicht mit der Hessischen Gemeindeordnung in Einklang zu bringen waren.»[18] Dabei stand dem Kulturdezernenten Hoffmann noch das Schwierigste bevor: die Uraufführung von Der Müll, die Stadt und der Tod.

Kein anderes deutsches Stück hat Antonin Artauds Forderung, das Theater müsse wie die Pest sein, seine Aufgabe sei die kollektive Entleerung von Abszessen, so erfüllt wie dieser schnell hingeschriebene Theatertext. Das ungespielte Stück rumorte lange Zeit schon in der Stadt, bis Günther Rühle die gefährliche Hinterlassenschaft 1985 auf die Bühne bringen wollte. Die Politikerin Frolinde Balser warf dem Intendanten vor, keine «Kunstfolgenabschätzung»[19] vorgenommen zu haben. Fassbinder hätte sich über diesen Begriff mokiert – das Stück, erklärte er in einem Interview, läßt bestimmte Vorsichtsmaßnahmen außer Acht, und das finde ich vollkommen richtig[20]. Der Theaterskandal entlarvte alle Bemühungen der Sonntagsredner als bloße Fassadenkosmetik: Es kam ans Licht, was bisher unter der Decke von Heuchelei und hohlen Versöhnungsgesten verborgen war. Die von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde organisierte Bühnenbesetzung, mit der die Uraufführung gesprengt wurde, geriet zum historischen Datum: Sie bedeutete das Coming-out einer Generation von Juden, die nicht länger die offene Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus scheuten. Dem quer durch die Jüdische Gemeinde gehenden Konflikt, personifiziert in den Kontrahenten Ignatz Bubis und Daniel Cohn-Bendit, ist zu Recht Ausstellungsraum im Jüdischen Museum Berlin gewidmet.

«Jetzt wird er zum Mythos verklärt», kommentierte Hans-Jürgen Syberberg die Nachricht vom Tod Fassbinders.[21] Mit ihm wurde auch der Autorenfilm begraben: Eine Ära des deutschen Films ging zu Ende. Sein Werk blieb jedoch lebendig: Retrospektiven wurden veranstaltet, Ausstellungen in Berlin – im Funkturm, am Alexanderplatz – und New York, Museum of Modern Art, gezeigt. Im Nachlass aufgefundene Jugendwerke erlebten postum ihre späte Uraufführung. Von seinem Status als Kultfigur zeugen Theaterstücke, Tanztheater-Produktionen und der Film «Ein Mann wie EVA», in dem Eva Mattes Fassbinder als Hosenrolle spielte. Hanne Darboven, Vertreterin der Concept-Art, schuf den Bilderzyklus «Für Rainer Werner Fassbinder». Harry Mulisch ließ sich von dem Rotterdamer Skandal um Der Müll, die Stadt und der Tod zu seiner Erzählung «Das Theater, der Brief und die Wahrheit» anregen.

Mit Fassbinder fand der deutsche Film wieder Anschluss ans Weltkino. Filmemacher aus allen Ländern haben bekannt, von ihm beeinflusst zu sein. Seine Spuren findet man in den Filmen von Aki Kaurismäki, dessen Bruder Mika einen Essay über Berlin Alexanderplatz verfasste.[22] Pedro Almodóvar gestand, dass er mit Fassbinder eine «Neigung zu barocken Melodramen» teile sowie die «spontane Verteidigung sozialer Randgruppen».[23] Als eins seiner Vorbilder für «Natural Born Killers» nannte Oliver Stone Fassbinders frühe Gangsterfilme.[24] In Hongkong beschied Wong Kar-wai einem Interviewer: «Wissen Sie, der einzige Melodramatiker, den ich mag, ist Fassbinder.»[25]

Eigentlich wollte die amerikanische Filmwissenschaftlerin nur etwas über das Handwerk wissen. Sie fragte den Regisseur, wie er am Drehort seine Kameraeinstellungen und die Bildausschnitte wählt. Ganz einfach, meinte Fassbinder. Der Film ist wie ein Rechteck Leben. Hier wie da gebe es Grenzen. Aber ich glaube, der Film ist ehrlicher, denn er gibt zu, dass er begrenzter Raum ist. Das Leben gibt vor, mehr Möglichkeiten zu bieten. Deshalb ist es eine größere Lüge als der Film.[26]

Muttersöhnchen

Am 31. Mai 1945 wurde ich als Sohn des praktischen Arztes Dr. Helmuth Fassbinder und seiner Ehefrau Liselotte, geb. Pempeit, in Bad Wörishofen geboren.[27] Fassbinder war, was er später verschleierte, indem er sich ein Jahr jünger machte, ein Kriegskind. Nach Abitur und Arbeitsdienst wollte Liselotte Pempeit, geboren 1922 in Danzig, Lehrerin werden. Sie ging als Zwanzigjährige nach München, um zu studieren; bei der Immatrikulation lernte sie Helmuth Fassbinder kennen. Er war vier Jahre älter und Assistenzarzt bei einer Kompanie in Bad Wörishofen. Getrieben von der Angst, dass er in den letzten Monaten des Krieges noch abkommandiert werden und an der Front sterben könnte, beschloss das Paar 1944 zu heiraten. Es wurde keine glückliche Ehe.

Kurz nach der Geburt zog die junge Familie in das zerbombte München, wo Helmuth Fassbinder in der Sendlinger Straße eine große Wohnung mietete und sich dort seine Arztpraxis einrichtete. Die Mutter erinnert sich: «Es war kein Glas in den Fenstern. Wir hatten nicht genug Heizmaterial. Da sagte der Vater, der Arzt war, er bringe das Kind zu seinem Bruder aufs Land, weil es in der Stadt den Winter nicht überleben würde. Ich habe das trotz größter innerer Widerstände geschehen lassen. Sie müssen sich vorstellen, was es für eine Mutter bedeutet, wenn man ihr vier Monate nach der Geburt das Kind wegnimmt.»[28] Nach einem Jahr war der Kleine wieder bei den Eltern, doch er fand kein geregeltes Familienleben vor. Die Verwandtschaft aus Danzig, die Oma und der Onkel, war mit in die Sendlinger Straße eingezogen, außerdem vermietete der Vater die Zimmer im hinteren Teil der Wohnung: ein Pensionsbetrieb, um den sich die Großmutter kümmerte. Dort lebten Leute auf längere Zeit, sodass ich als Kind mit diesen Leuten mehr zu tun hatte als mit meinen Eltern.[29] In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschte Wohnungsnot, die Überbelegung war angesichts der Zerstörungen und des Flüchtlingsstroms keine Seltenheit; glaubt man Fassbinders Erinnerungen, wuchs er praktisch ohne Bindung zu Vater und Mutter auf: Er habe lange nicht einordnen können, wer von den vielen Menschen, die sporadisch für ihn sorgten, seine Eltern seien.

Das Kind lebte in einer Art Großfamilie, die aber keine familiären Hierarchien hatte[30]. Rückblickend war Fassbinder stolz darauf, in einem Haushalt, der nicht den bürgerlichen Normen entspricht[31], groß geworden zu sein, war er doch selbst in der frühkindlichen Sozialisationsphase Autodidakt. Es gab keine Anhaltspunkte, wie andere Kinder sie haben – ob das nun positive oder negative sind, es gab gar keine[32], schilderte er seine Kindheit. Zugleich spürte er, dass ihm Wärme und Geborgenheit fehlten: Ich hatte niemand wirklich zum Anlehnen. Vielleicht hatte ich zu viele.[33] Nach Lust und Laune beschäftigten sich Verwandte oder Untermieter mit dem Jungen, wirklich zuständig fühlte sich offenbar niemand. Es gab Tage, wo ich wirklich ganz allein war, und zwar als Kind.[34]

Mit der Oma teilte der Junge eine Leidenschaft: das Kino. Wenn Fassbinder später im Sirk-Essay emphatisch sich ausmalte, wie der kleine Detlef an der Hand seiner Großmutter ins Kino ging und Filme anschaute – heimlich, denn in der Familie war das verpönt, er sollte doch ein Gebildeter werden –, schilderte er ein eigenes Kindheitsszenario. Seine Mutter hielt nichts vom Kino, der Vater auch nicht. Zu Hause, da gab’s halt nichts anderes als Literatur und Kunst. Wenn sie mir was geschenkt haben, dann haben sie mir einen Dürer-Band geschenkt, als ich fünf war.[35] Helmuth Fassbinder stammte aus dem katholischen Bildungsbürgertum: Die Familie bestand ausnahmslos aus Professoren, Lehrern und Priestern. Das berühmteste Familienmitglied war Fassbinders Tante Klara Marie Faßbinder, Übersetzerin von Paul Claudel und engagierte katholische Pazifistin, in der Presse spöttisch «das Friedensklärchen» genannt. Wegen ihrer politischen Haltung weigerte sich Bundespräsident Lübke, ihr den französischen Orden «Palme Académique» auszuhändigen.[36] Auch Helmuth Fassbinder hatte literarischen Ehrgeiz. Er ist eigentlich ein großer Künstler, ein großer Dichter, der nur das eine Handicap hat: Er kann erst dann künstlerisch tätig werden, wenn er finanziell abgesichert ist. Und das ist er natürlich nie.[37]Er ist ein furchtbarer Ästhet. Aber wahrscheinlich hat er in seinem Leben eingesehen, tief gespürt, dass er wahrscheinlich doch nicht schreiben konnte.[38]

Liselotte Fassbinder, bei der Geburt ihres einzigen Kindes 23 Jahre alt, war offenbar überfordert. «Er war, kaum konnte er sprechen, eine einzige Herausforderung.» Ihre Versuche, den Jungen zu erziehen, scheiterten. Er war frech und aggressiv, gab Widerworte und griff sie an. «Manchmal dachte ich, wenn es so ist, dass die eigenen Kinder die Mütter derart heruntermachen, sollte man es ablehnen, sie auf die Welt zu bringen.»[39] Dass ihr Sohn als Bezugsperson seine Großmutter gewählt hatte, gefiel ihr nicht. Zu ihrer Mutter, die mit in der Wohnung lebte, hatte sie ein gestörtes Verhältnis: «Ich war ein Kind, auf das meine Mutter gerne verzichtet hätte. Sie gab mich weg, als ich drei Jahre alt war. Ich bin bei Verwandten aufgewachsen.» Jahrzehnte später wurde ihr bewusst, wie frappant das Beziehungsmuster sich wiederholte. «Das Schlimmste, was sie mir antat, war, dass sie tagelang nicht mit mir sprach, wenn ich ungezogen war. Als ich das dem Rainer erzählte, hat er mich angeguckt und gesagt, genau das hätte ich auch mit ihm gemacht.»

Es hat mich reicher gemacht, dass ich eben keine normale Familie hatte[40], behauptete Fassbinder später. In dem einzigen Interview, das sein Vater je gab, verwies Helmuth Fassbinder auf das eigene Beispiel: «Ich brauchte weder meinen Vater noch meine Mutter.»[41] Auch die Mutter war überzeugt: «Ich glaube, sein Leben war glücklich, zumindest bis er sechs Jahre alt war. […] Rainer hatte sehr viel Energie, und er bekam sehr viel Liebe.»[42] Fassbinders Filme verraten einen anderen Befund. Die Defizite seiner Kindheit hat er verarbeitet mit einem Film, der auf einem dokumentarischen Bericht beruht, trotzdem aber stark autobiographisch geprägt ist: Ich will doch nur, daß ihr mich liebt. Ein Titel, der ein Schlüssel für Fassbinders Leben ist, und eine Geschichte, in der er das Muster seiner Kindheit wiederfand: Ein junger Mann, der von seinen Eltern keine Zuneigung erfahren hat, versucht verzweifelt, sich ihre Liebe zu erkaufen, indem er ihnen ein Haus baut. In finanzielle Schwierigkeiten geraten, begeht er einen Mord an einem Mann, der ihn – und das ist sehr freudianisch – an seinen Vater erinnert[43]. Der Film entstand 1975, Fassbinder war dreißig Jahre alt. Zur selben Zeit beschäftigten ihn Romanpläne. Einen Titel hatte er schon: Die Reise ins Innere der Trauer. Der Protagonist sollte an einer psychosomatischen Krankheit leiden, die ihn lähmt; um wieder gesund zu werden, muss er sein Erinnerungsvermögen und seine verschüttete Phantasie reaktivieren. Es wird eine Entdeckungsreise in die Kindheit: Da kamen 1945 viele Leute zufällig zusammen, die ohne das Chaos des Krieges nie zu einer Familie geworden wären. In so einer Situation ist der Mann aufgewachsen: Es stellten sich Wichtigkeiten zu Leuten her, mit denen er eigentlich nichts zu tun hatte. Und er hat plötzlich das Bedürfnis nach Liebe von Leuten, die sie ihm gar nicht geben können. Seine Eltern sind völlig mit sich selbst beschäftigt, dadurch ist er gezwungen, sich an andere Leute zu halten. Und bis er mal kapiert, wer eigentlich seine Eltern sind, ist er, glaube ich, schon krank. Das ist auch meine Familiengeschichte.[44]

1951 wurde die Ehe geschieden, damit löste sich auch die Großfamilie auf. Die Verwandten der Mutter zogen ebenfalls aus. «Ich bin mit Rainer allein zurückgeblieben», erinnerte sich Liselotte Fassbinder. «Ich hab’ den Weihnachtsbaum geschmückt, die Geschenke aufgebaut, und Rainer sagte bloß: ‹Was? Nur wir beide?›»[45] Die Mutter und ihr sechsjähriger Sohn waren jedoch nur kurze Zeit zu zweit: Liselotte Fassbinder erkrankte an offener Tuberkulose und musste ins Krankenhaus, Rainer kam so lange ins Heim. Es gab immer wieder Rückfälle, oft wurde sie für ein halbes Jahr ins Sanatorium eingewiesen. Das hat auf der einen Seite Mitleid ausgelöst, auf der anderen Schuld, weil ich in meiner Egozentrik – als Kind hatte ich eine große Egozentrik, weil ich keine Überperson hatte, die mich kleingemacht hätte – ihre Krankheit als meine Schuld betrachtet habe, was dann wieder bei mir Aggressionen ausgelöst hat.[46] In der Schule fiel er unangenehm auf: Die Lehrer stuften ihn als schwer erziehbar ein, deshalb schickte ihn die Mutter auf eine Rudolf-Steiner-Schule. Ein einziger Satz ist bei mir hängen geblieben: Die Kinder sollen aufwachsen wie die Blümchen.[47] Wieder war er sich selbst überlassen. Der Schulweg war weit und führte quer durch die Stadt, niemand kontrollierte ihn: Meine Mutter war im Krankenhaus und mein Vater nicht da. Da lag es ganz allein an mir, ob ich da hinging oder nicht. Seine schulische Laufbahn zeigt, dass er kaum ein Schuljahr irgendwo durchhielt. Die Mutter schickte ihn schließlich nach Augsburg in ein Internat.

Er war dreizehn Jahre alt, als die Mutter 1959 Wolff Eder heiratete, einen politischen Journalisten. Demonstrativ erschien der Sohn nicht zur Hochzeit; er soll, erinnert sich die Mutter, «unheimlich eifersüchtig» gewesen sein. Obwohl sich die Verhältnisse stabilisierten, nach einer Operation des rechten Lungenflügels die Mutter ihre Krankheit überwunden hatte, blieb Fassbinder im Internat. In der elterlichen Wohnung gab es für ihn keinen Platz: «Das ging nicht. In der Pubertät war Rainer sehr aufsässig, und Wolff brauchte seine Ruhe, weil er als freier Journalist zu Hause gearbeitet hat. Er war auch schon älter und war auf Ruhe angewiesen. Soviel Rücksichtnahme war Rainer aber nicht ständig zuzumuten.»[48] Er war zu Hause unerwünscht. Zu seinem Stiefvater fand der Jugendliche keinen Kontakt, beide Seiten bemühten sich auch nicht darum.

Die Abwesenheit eines Vaters, die ferne, nur sporadisch präsente Mutter behindern die Herausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität und fördern die homosexuelle Fixierung. Fassbinders Coming-out war nach eigener Darstellung unbeschwert und problemlos. «Mit vierzehn kam er zu mir in die Küche und sagte freudestrahlend: Mutti, ich bin schwul. Da dachte ich, jetzt muß er zum Psychiater, irgendetwas ist falsch gelaufen.»[49] Homosexualität war damals tabuisiert und nach § 175 strafbar. Meine Mutter war ziemlich hysterisiert, bestätigte Fassbinder. Da hab ich erst gemerkt, was für ein Problem das für manche Leute ist. Für mich war es keins, überhaupt nicht.[50] Der frühreife Jugendliche lebte sowieso sein eigenes Leben: Er haute häufig ab, doch die Mutter wagte nicht, die Polizei einzuschalten. Die Schule verließ er mit sechzehn Jahren, lebte zwei Jahre in Köln bei seinem Vater. Helmuth Fassbinder, der wegen Abtreibung angezeigt wurde und die Approbation verlor, betrieb jetzt Immobiliengeschäfte und stellte ihn als Eintreiber säumiger Mieten ein. Er trieb sich im Gastarbeiter-Milieu und in Schwulen-Bars rum. Zwischen Vater und Sohn kam es zu Tätlichkeiten. 1963 tauchte Fassbinder wieder in München auf.

In dem postum uraufgeführten Stück Tropfen auf heiße Steine hat der Zwanzigjährige sich bereits in einer Figur mit Namen Franz porträtiert und mit selbstironischer Schärfe abgehandelt, was später in