Familie im Ausnahmezustand - Dorothee Döring - E-Book

Familie im Ausnahmezustand E-Book

Dorothee Döring

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Beschreibung

Und nichts ist mehr so wie es war Eine schwere Erkrankung oder gar der Tod eines Familienmitglieds betreffen die ganze Familie fundamental und führen zu einer schlagartigen Veränderung der Familiensituation, da jede:r unterschiedlich damit umgeht. Von Angst, Ohnmacht, Niedergeschlagenheit, Hilflosigkeit, Kontrollverlust, Wut, Resignation und Depression – Trauer hat viele Facetten und kann sich in unterschiedlichster Art und Weise äußern. Wie man das familiäre Gleichgewicht wiederherstellen kann und einen Weg zu einem positiven Alltag finden kann, weiß die Konfliktberaterin Dorothee Döring. In ihrem Ratgeber bietet sie hilfreiche Impulse, um einen Schicksalsschlag zu verarbeiten und eine positive Neuausrichtung für das Leben danach anzunehmen sowie wertvolle Kontaktadressen für weitere Unterstützung.

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Dorothee DöringFamilie im Ausnahmezustand

Wegen stilistischer Klarheit und leichterer Lesbarkeit wurde im Text auf die sprachliche Verwendung weiblicher Formen verzichtet. Ausdrücklich sei hier festgehalten, dass die Verwendung der männlichen Form inhaltlich für alle Geschlechter gilt und keinesfalls einen sexistischen Sprachgebrauch darstellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2023 maudrich Verlag

Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, AustriaAlle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung

und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.Umschlaggestaltung: Facultas Verlags- und Buchhandels AGUmschlagbild, S.10–11, 13, 49, 81, 104–105, 107, 119, 135:

© Medvedeva, AdobeStock

Lektorat: Mag. Katharina Schindl, WienTypographie und Satz: Florian Spielauer, WienDruck: Finidr, Tschechien

ISBN 978-3-99002-154-5 (Print)

ISBN 978-3-99111-638-7 (E-Pub)

Inhalt

Einführung

Teil 1: Nichts ist mehr so, wie es war

1Krankheit in der Familie

Belastungen durch Krankheit

Unheilbare Krankheit

Behinderung eines Kindes

Psychisch kranke Eltern

Alzheimer-Demenz

Long Covid

Strukturelle Veränderungen

Die Familiendynamik: Veränderung der Rollen

Persönlichkeitsverändernde Erkrankungen

2Tod eines Familienmitglieds

In der Kernfamilie

Tod eines Kindes

Tod eines Elternteils

Tod eines Geschwisters

Tod der Großeltern

Familiäre Veränderungen

Emotionale Verunsicherung

Störung des Gleichgewichtes

Veränderung der Generationenfolge

Veränderung der Geschwisterkontakte

Rückzug, Tabuisierung und Scham nach Suizid

Kompensation des Verlustes

3Trauer in der Familie

Normale Trauerreaktionen

Erstreaktionen

Trauerphasen

Individuelle Trauerwege

Leben mit dem Verlust

Erschwerte Trauer

Wenn Kinder vor den Eltern sterben

Wenn ein bewusstes Abschiednehmen nicht möglich war

Unnatürliche Todesumstände: Unfall, Suizid und Mord

Wenn Witwen ihre Existenz verlieren

Pathologische Trauer

Teil 2: Impulse zur Verarbeitung und Neuausrichtung

1Unterstützung bei schwerer Krankheit

Das persönliche Umfeld

Entlastung für pflegende Angehörige

Entlastung bei der Pflege Demenzkranker

Hilfen außerhalb der Familie

Angebote für pflegende Angehörige von Demenzkranken

Selbsthilfegruppen und Familienberatungsstellen

2Akute Unterstützung im Trauerfall

Krisen- bzw. Notfalldienste und Notfallseelsorge

Trauerrituale: Hilfen beim Abschiednehmen

Das soziale Umfeld

Trauerbegleitung, Trauergruppen und Trauerseminare

Professionelle Unterstützung

Der Glaube als Kraftquelle

3Neuorientierung

Die neue Realität annehmen

Verluste und Schicksalsschläge verarbeiten

Neubewertung des Lebens: Versöhnung mit dem Schicksal

Transformation: Verlust in positive Energie verwandeln

Neuorientierung: Die Brücke zurück ins Leben finden

Ausklang

Kontaktadressen

Quellen

Stichwortverzeichnis

Einführung

Eine Familie ist ein Gebilde, das Störungen in der Regel gut verkraftet. Wenn sich alle Familienmitglieder wohlfühlen, offen sind und miteinander reden, können Veränderungen wie beispielsweise ein Umzug oder eine vorübergehende finanzielle Belastung ohne Probleme bewältigt werden.

Anders sieht es bei Veränderungen aus, die die Familie in ihrer Grundstruktur bedrohen und einen Einschnitt in das Familienleben bedeuten: Dann hängen Befürchtungen und Sorgen über der Familie. Die Veränderung gewachsener Beziehungen durch Trennung, Scheidung oder Kontaktabbruch, eine schwere Erkrankung oder gar den Tod eines Familienmitglieds betreffen die ganze Familie fundamental und stürzen sie in eine Krise.

In Teil 1 dieses Buches wird ausgeführt, in welche Ausnahmesituationen Familien geraten können, die oft zu Belastungen und strukturellen Veränderungen in der Familie führen. Insbesondere der Tod eines Familienmitglieds bedeutet eine Familienkrise mit kaum zu überblickender Dramatik, denn das bestehende Beziehungsgeflecht wird zerstört und das seelische Gleichgewicht der Familie als Ganzes wird tiefgreifend verändert.

Die Reaktion auf einen erlittenen Verlust ist Trauer, die aber unterschiedlich erlebt und ausgedrückt wird, denn sie hat viele Facetten: Angst, Ohnmacht, Niedergeschlagenheit, Hilflosigkeit, Kontrollverlust, Wut, Resignation und Depression. Wer trauert, stürzt in ein Chaos der Gefühle.

Was der Familie im Umgang mit außergewöhnlichen Belastungen helfen könnte, wird an verschiedenen Stellen bereits in diesem ersten Teil angesprochen. Grundsätzlich ist die Frage, was Familien im Ausnahmezustand helfen könnte, aber Thema von Teil 2 des Buches. Stichworte sind: Hilfen durch soziale Netzwerke, Selbsthilfegruppen, Familienberatungsstellen, Trauerbegleitung, professionelle Unterstützung, seelische Verarbeitung von Verlusten.

1 Krankheit in der Familie

Krankheiten, insbesondere chronische Erkrankungen, bedeuten den Verlust der Gesundheit und innerhalb der Familie den Verlust der Normalität. Krankheiten innerhalb der Familie gelten als Risikofaktor für alle Familienangehörigen, denn sie vertreiben alle Beteiligten aus der Geborgenheit von Ordnung und Normalität. „Krankheit ist eine Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken“1, schreibt dazu die US-amerikanische Autorin Susan Sontag. In der Auseinandersetzung mit ihrer Krebserkrankung verwies sie auf den irritierenden Verlust von seelischer Heimat, von dem viele Menschen bei der Konfrontation mit einer chronischen Erkrankung berichten. Auch wenn ein tödlicher Verlauf nicht bei allen Krankheitsbildern droht, wird die Diagnose einer chronischen Krankheit von fast allen Betroffenen und deren Angehörigen als schwere Krise erlebt.

Belastungen durch Krankheit

Unheilbare Krankheit

In dem preisgekrönten Kinofilm „Halt auf freier Strecke“2 erzählt der Filmemacher Andreas Dresen, wie es ist, wenn man von einer tödlichen Diagnose getroffen und der Krebs zum Familienmitglied wird.

Der 44-jährige Frank Lange wird mit einer Krebsdiagnose konfrontiert: Der entdeckte Hirntumor ist bösartig und inoperabel, wie ihm sein Arzt im Krankenhaus mitteilt. Lange, der mit Ehefrau und zwei Kindern in einem Reihenhaus am Berliner Stadtrand lebt und einer geregelten Arbeit nachgeht, werden nur noch wenige Monate gegeben.

Angesichts dieser Diagnose und seiner sehr befristeten Lebenszeit will er die ihm bleibende Zeit bei Frau und Kindern im neu gebauten Häuschen am Stadtrand verbringen. Das aber wird zur emotionalen Herausforderung für die ganze Familie. Die beiden halbwüchsigen Kinder müssen mit den Symptomen der Krankheit ihres Vaters zurechtkommen und sind mit der Situation überfordert. Der Tumor raubt Frank das Gedächtnis, dann die Orientierungsfähigkeit und die Kontrolle über wichtige Körperfunktionen. Aufgrund der Schmerzen ist er ständig auf Morphium angewiesen. Er verliert sein Sprachvermögen, schließlich verändert sich seine Persönlichkeit. Er wird zum Pflegefall.

Seine Frau pflegt Frank und kommt dabei an die Grenzen ihrer Kraft. Die Kinder reagieren auf ihre Weise: Während sich die pubertierende Tochter in den Sport flüchtet, kümmert sich der achtjährige Sohn liebevoll um seinen Papa.

Frank stirbt zu Hause bei seiner Familie. Der Film endet am Sterbebett des Vaters mit den Worten der Tochter Lilly, einer Turmspringerin: „Ich muss zum Training.“

„Unheilbar krank“ – diese Diagnose hören Jahr für Jahr Tausende Menschen von ihrem Arzt. Sie fallen nach dieser schockierenden Nachricht in aller Regel psychisch erst einmal ins Bodenlose. Das ist auch eine völlig normale Reaktion. Entscheidend ist, wie sie dann mit der neuen Situation umgehen.

Die Diagnose unheilbar krank bedeutet für einen Patienten und seine Familie einen massiven Eingriff in sämtliche Lebensbereiche. Neben dem Wissen um die Bedrohung des Lebens steht die Notwendigkeit, mit der Krankheit zu leben. Das gewohnte Leben endet abrupt, denn nach einer solchen Diagnose wird der Alltag von immer wiederkehrenden Klinikaufenthalten, Kontrolluntersuchungen und dem ununterbrochenen Kampf mit den Nebenwirkungen aggressiver Therapien geprägt sein.

Wie wirkt sich diese Diagnose aus? Viele Erkrankte haben den Eindruck, ihnen würde der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie fühlen sich aufkommenden Gefühlen wie Angst, Traurigkeit, Wut und Verzweiflung ausgeliefert. Gewohnheiten müssen aufgegeben, Prioritäten neu gesetzt werden. Der Kranke leidet zunehmend unter Schmerzen, Erschöpfung, Stress, Sorgen und oft unter Autonomieverlust. Die Krankheit bestimmt und verändert seinen Tagesablauf.

Die Diagnose einer schweren Krankheit ist aber nicht nur für die betroffene Person eine Belastung, sondern für die ganze Familie, denn das Familienleben und auch die Rollen innerhalb der Familie verändern sich und müssen neu organisiert werden.

Kinder erkrankter Eltern bekommen mit, dass sich etwas Grundlegendes verändert hat. Für sie und ihre Bedürfnisse bleibt immer weniger Zeit.

Ein Beispiel für eine unheilbare Krankheit ist die Amyotrophe Lateralsklerose (kurz: ALS). Bei dieser degenerativen Erkrankung des Nervensystems kommt es nach und nach zur Lähmung der Muskulatur im ganzen Körper, einschließlich der Atem-, Schluck- und Sprechmuskulatur.

In Mitch Alboms Buch „Dienstags bei Morrie“,3 das von einem ALS-Patienten in den USA handelt, wird die Nervenerkrankung als „Krankheit der tausend Abschiede“ bezeichnet, weil nach und nach immer mehr Körperfunktionen versagen. Die Krankheit führt zum fortschreitenden Autonomieverlust und zur totalen Unfähigkeit, sich zu bewegen.

An ihr erkrankte 2009 auch Benedict Mülder, „taz“-Mitbegründer und Journalist. Er hat sich damals dafür entschieden, mit der Krankheit weiterzuleben, mit Beatmung und zu Hause bei seiner Familie. Jahrelang lag Benedict Mülder bewegungslos in einem Pflegebett im Wohnzimmer seiner Familie. Der Alltag fand um ihn herum statt: das Abendessen mit Sohn Jim genauso wie der regelmäßige Besuch von Freunden. So hatte Benedict Mülder Anteil am Leben. Am 21. Dezember 2020 starb er. Er hat der Krankheit immerhin 11 Jahre abgetrotzt. Als ALS-Patient war er rund um die Uhr auf Pflege angewiesen. Er kommunizierte über einen Computer, den er mit den Augen bediente. Außerdem war er auf ein Beatmungsgerät angewiesen und wurde über eine Magensonde ernährt.

Was in den Familien Prominenter oft selbstverständlich ist, ist nicht bei allen möglich. Prominente müssen sich nie Sorgen um die Finanzierung einer Intensiv-Betreuung machen, wenn die familiäre Unterstützung an ihre Grenzen kommt.

Sarah, 39:

„Bisher kam ich bei der Pflege meines an ALS erkrankten Mannes ohne professionelle Hilfs- und Pflegekräfte zurecht. Ich arbeite nur noch Teilzeit und Familie und Freunde unterstützen mich. Ich bin jetzt aber an der Grenze und muss mir professionelle Helfer organisieren, denn unsere Kinder (10 und 12 Jahre alt) brauchen mich auch noch. Unsicher bin ich mir auch darin, ob ich unsere Kinder über die Krankheit ihres Vaters aufklären und sie auf seinen nahenden Tod vorbereiten oder ob ich sie davor bewahren soll.“

Das Beispiel ist symptomatisch für die Unsicherheit von Eltern, ob sie ihre Kinder über die Diagnose informieren sollen. Für viele steht der Wunsch im Vordergrund, ihre Kinder zu behüten und ihnen weiterhin eine heile Welt zu bewahren. Deshalb zögern sie – oft bestärkt durch Freunde und Verwandte –, ihrem Kind von der Erkrankung zu erzählen.

Doch das ist für Kinder nicht hilfreich, denn sie merken, dass irgendetwas in der Familie nicht stimmt. Sie registrieren die angespannte Gefühlslage ihrer Eltern sehr genau.

Wenn sie den Grund dafür nicht kennen, suchen sie die Schuld für das veränderte Verhalten oft bei sich selbst. Sie stellen sich Fragen wie: „Ist Mama jetzt so komisch, weil ich mein Zimmer wieder nicht aufgeräumt habe?“ Kinder beruhigt es, wenn sie von ihren Eltern erfahren, dass sie nicht der Auslöser für deren Anspannung sind. In einer solchen Ausnahmesituation ist es hilfreich, Kinder in ihrer Wahrnehmung zu bestätigen, dass etwas anders ist als sonst, und deutlich zu sagen, dass die Krankheit des Vaters oder der Mutter der Grund dafür ist. Kinder, die nicht wissen, was los ist, entwickeln oft überschäumende, Furcht erregende Fantasien und leiden unter diffusen Ängsten, auf die sie mit aggressivem Verhalten reagieren. Andere Kinder werden immer stiller und ziehen sich mehr und mehr zurück.

Natascha, 10 Jahre, bekam plötzlich Albträume. Sie wusste, dass ihre Mutter beim Arzt gewesen war, sie hatte jedoch nicht erfahren, warum. Das Mädchen spürte nur, dass ihre Eltern irgendwie verändert waren, die Stimmung zu Hause war bedrückt. Natascha reagierte mit Albträumen auf die veränderte Gefühlslage der Eltern, sie spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie wusste nicht, dass ihre Mutter vor wenigen Tagen die Diagnose „Brustkrebs“ bekommen hatte.

Scheuen Eltern davor zurück, ihr Kind über eine unheilbare Krankheit zu informieren, besteht die Gefahr, dass das Kind von Außenstehenden davon erfährt – oft ohne Vorbereitung, auf direkte Art und Weise. Geschieht dies, fühlen sich Kinder ausgegrenzt und hintergangen und reagieren in vielen Fällen wütend. Sie haben das Gefühl, ihren Eltern nicht mehr vertrauen zu können. Der entstandene Vertrauensverlust wird von den Eltern meist unterschätzt. Kinder sind grundsätzlich darauf angewiesen, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können.

Einem Kind die schmerzliche Wahrheit zu sagen, fällt Eltern oft schwer. Sie sollten sich aber bewusst machen, dass sie mit ihrer Offenheit die Botschaft kommunizieren: „Du bist mir wichtig. Deshalb will ich ehrlich mit dir sein. Ich traue dir zu, dass du das verkraftest und damit umgehen kannst!“

Behinderung eines Kindes

Manche Momente heben das Leben aus den Fugen, z. B. die schlagartige Veränderung des Familienlebens infolge eines Unfalls und die dadurch bedingte Behinderung eines bis dahin gesunden Kindes.

Jenny, 42:

„Im Januar 2021 hatte unser Sohn Leon (12) einen schlimmen Fahrradunfall. Der Fahrer eines SUV hat ihn beim Abbiegen übersehen. Es war ein riesiger Schock für uns alle. Eine Zeit lang war nicht klar, ob unser Sohn überleben würde. Er wurde ins künstliche Koma gelegt. Jetzt ist er schwer behindert. Er ist querschnittsgelähmt,sein Gesicht ist zertrümmert und sein Sprachzentrum ist schwer beschädigt. Er kann nicht mehr sprechen, sondern sich nur über Laute verständlich machen.

Der Unfall hat alles verändert, unser bis dahin glückliches Familienleben kaputt gemacht und das Leben unseres Kindes zerstört. Damit Leon zu Hause gepflegt werden kann, arbeitet mein Mann Teilzeit und ich im Homeoffice. Neben der 24-Stunden-Pflege unseres Kindes müssen wir uns mit der Versicherung des SUV-Fahrers auseinandersetzen. Sie stellt sich quer und verlangt ein Gutachten nach dem anderen. Es gibt einen Rechtsstreit, der auch sehr anstrengend ist. Ich bin kaputt und verzweifelt. Manchmal geht auch mir die Kraft aus und ich habe Angst, einen Burn-out zu bekommen.“

Eine solche Situation stellt Eltern vor besondere Herausforderungen. Sie müssen mit Situationen zurechtkommen, auf die sie nicht vorbereitet sind, und das führt sie häufig in eine tiefe Krise. Die Pflege des behinderten Kindes wird für sie lebensbestimmend.

Mütter fühlen sich mit den täglichen Aufgaben oft alleingelassen. Ihre Überforderung führt häufig zu Beziehungsstress. Wenn Eltern eines behinderten Kindes kaum Zeit haben, ihre Beziehung zu pflegen, funktionieren sie nur noch. Am Ende bleiben die Gefühle füreinander auf der Strecke.

Die Behinderung eines Kindes belastet die ganze Familie, auch gesunde Geschwister. Sie müssen damit leben, dass für sie und ihre Bedürfnisse kaum Zeit bleibt. Oft leiden sie auch unter finanziellen Einschränkungen, besonders, wenn alleinerziehende Mütter wegen der Pflege nicht mehr arbeiten können und von staatlicher Unterstützung leben müssen. Urlaube, Geburtstagspartys und Klassenfahrten sind dann nicht mehr möglich.

Aber auch außerfamiliäre Kontakte leiden. Dass Menschen mit Behinderungen per se stigmatisiert werden, hat Teresa Santer in ihrem Artikel „Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen – Veränderungen beginnen im Kopf“4 untersucht. Eltern behinderter Kinder beklagen oft Formen der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Folgendes Beispiel zeigt, dass diese oft bereits in der Kita bzw. im Kindergarten beginnt:

„,Es ist nie zu spät für eine schöne Kindheit!‘ Dieser Satz stand auf einer Karte, die jahrelang innen an der Eingangstür der Kita meiner Kinder klebte. Er klang irgendwie verheißungsvoll und offen. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich hier einmal zum unerwünschten Element erklärt werden würde. Stets war ich dort ein gern gesehener Vater, die Erzieherinnen mochten meine Kinder, alles war ganz normal. Auch als wir unser drittes Kind bekamen, das mit Down-Syndrom geboren wurde, reagierte die Kita mit Begeisterung: ,Sonnenkinder‘ seien das bekanntlich, wurde uns von den Erzieherinnen gesagt. Die spielten so gerne Theater, das wisse man ja. Gerne wolle man die Kleine aufnehmen – so wie die anderen.

Monatelang wurde alles besprochen – und dann wurde es ein Desaster, ein Musterbeispiel für Diskriminierung. Im Verlauf der Eingewöhnung wurde uns erklärt, unsere Tochter dürfe nicht am Morgenkreis der Kinder teilnehmen. Sie solle stattdessen in einem separaten Raum von einer Auszubildenden betreut werden. Später hieß es auch, sie solle nicht mehr mit den anderen Kindern im Bollerwagen in den Park fahren. Wir sollten stattdessen gemeinsam mit der Auszubildenden auf unser Kind aufpassen. Nach fünfwöchiger Eingewöhnungszeit wurde uns gesagt, es sei auf unabsehbare Zeit die permanente Anwesenheit eines Elternteils erforderlich. Nicht einmal für einzelne Stunden könne sie ohne Eltern betreut werden.

Mit dem Extra-Chromosom meiner Tochter hat das alles herzlich wenig zu tun: Sie läuft, klettert, schläft und spielt wie jedes Kind. Auch die Voraussetzungen für die Kita könnten besser nicht sein: Wir haben einen Betreuungsvertrag über 9 Stunden täglich mit bewilligtem Integrationsstatus abgeschlossen. Tausende Euro fließen der Kita dafür zu.

Ich hatte mir für die Eingewöhnung unserer Tochter Urlaub genommen und kam zur selben Zeit wie alle anderen in die Kita. Mit weit aufgerissenen Augen begrüßte mich die Erzieherin: ,Ich hatte dir gesagt, ihr solltet erst später kommen!‘ ,Lass es uns einfach probieren‘, schlug ich vor. Und siehe da: Fröhlich betrat meine Tochter den Raum, setzte sich in den Kreis und machte alle Begrüßungsrituale mit Begeisterung mit. ,Komisch, heute geht es ja‘, sagte die Erzieherin mürrisch.

Dann sollten alle in den Park gehen. ,Aber sie bleibt hier‘, bestimmte die Erzieherin. Heulend stand mein Kind an der Glastür und winkte den anderen Kindern nach. Als sie am nächsten Tag wieder in den Park aufbrachen, frage ich, warum sie nicht mitkommen durfte. ,Sie will nicht im Bollerwagen sitzen‘, erklärte mir die Erzieherin. ,Lass es uns doch mal ausprobieren‘, bat ich. Und meine Tochter stürmte als erstes Kind in den Wagen. ,Komisch, heute geht es ja‘, sagte die Erzieherin.

Ich ging mit in den Park. Eine Mauer zog die Kinder an, alle wollten hoch, alle durften hoch, bis auf meine Tochter. ,Sie bleibt im Wagen‘, sagte die Erzieherin. ,Warum?‘, dachte ich. Hat sie Down-Syndrom in den Beinen oder was? Ich hob meine Tochter auf die Mauer. Sie ging bis zum Ende der Strecke, sicherer und angstfreier als manch anderes Kind der Gruppe. Dann rannte sie mit den anderen einen Weg hinunter bis zum Spielplatz. Dort stolperte sie nach einiger Zeit und weinte ein wenig. ,Siehst du, es geht nicht‘, sagte die Erzieherin. Wir sollten unser Kind erst in einem halben Jahr in die Kita geben. Den Integrationsvertrag müsse man bis dahin natürlich nicht unterbrechen. Tolle Einnahmequelle für die Kita, dachte ich: Tausende Euro für die Norm-Kinder aus den Mitteln für ein behindertes Kind, das nach Hause geschickt wird.

Wir suchten und fanden schnell eine andere Kita. Die Erzieherinnen waren sehr nett. Die Eingewöhnung verlief schnell und problemlos. Meine Tochter ging dort täglich wie alle Kinder hin. Nie hieß es, sie dürfe oder könne etwas nicht. Alles lief ganz normal – warum auch nicht?“5

Am meisten belastet die Behinderung eines Kindes Alleinerziehende. Sie fühlen sich durch die zusätzliche Verantwortung bei schwierigen Entscheidungen, z. B. im medizinischen Bereich, belastet. Darüber hinaus kommen sie i. d. R. in eine existenzielle Notlage, wenn sie ihren Beruf aufgeben müssen, um die Rund-um-die-Uhr-Pflege des Kindes leisten zu können. Daneben kosten zeitaufwendige Behördenkontakte Kraft.

Verena, 45:

„Ich pflege seit acht Jahren unseren Sohn. Er bekam bei der Geburt zu wenig Sauerstoff, ist dadurch mehrfachbehindert und auch seine Nieren funktionieren nur eingeschränkt. Behinderte Kinder haben zwar viele Rechte, aber erstmal nur auf dem Papier. Die Bürokratie erschwert die Arbeit pflegender Eltern, die um Unterstützung für ihre Kinder kämpfen. Schriftverkehr mit Ämtern, Kranken- und Pflegekassen füllt bei den Familien nicht selten mehrere Ordner.“

Pflegende Eltern sind in unserer Gesellschaft und auch in der Gruppe der pflegenden Angehörigen weitestgehend unsichtbar. Sie kämpfen im Alltag mit bürokratischen Hürden und müssen die Rechte ihrer Kinder in der Regel einklagen. Aufgrund fehlender Betreuungs- und Entlastungsangebote ist eine bezahlte Erwerbstätigkeit neben der Pflege unmöglich. Deshalb sind sie von Altersarmut bedroht.

Seit 1994 verbietet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich die Diskriminierung von Behinderten. Artikel 3, der die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz verbrieft, ergänzt seither der Satz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Das verhindert aber nicht Ausgrenzung und Vorurteile. Weitere Gesetze sollen die Ausgrenzung von Behinderten abbauen, etwa das „Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen“ aus dem Jahr 2002.

Auch in Österreich und in der Schweiz gibt es ein Gleichbehandlungsgesetz.

Psychisch kranke Eltern

Jeder Mensch kann psychisch krank werden und Depressionen machen auch vor Familien keinen Halt. Doch wenn der Vater oder die Mutter depressiv ist, wirbelt das nicht nur den kompletten Alltag durcheinander, sondern ist auch eine große Belastung für die Kinder, weil das familiäre Gleichgewicht gestört wird.

Fast ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland leidet einmal im Leben an einer psychischen Störung, die meisten davon an Depressionen oder Angstzuständen. Jedes Jahr erleben Schätzungen zufolge zwei bis drei Millionen Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, dass ein oder zwei Elternteile psychisch erkranken.6

Welche Folgen haben psychische Erkrankungen der Eltern für die Kinder?

Das Nicht-verstehen-Können

Eltern mit psychischen Beeinträchtigungen können ihre Elternfunktion nicht so wahrnehmen, wie es notwendig wäre. Sie sind nicht in der Lage, die Tagesstruktur einzuhalten. Es kann sein, dass dem Kind wichtige Dinge fehlen, dass es zu spät zur Schule kommt oder dass es sogar Angst hat, in die Schule zu gehen, weil es denkt, dass etwas Schreckliches passieren könnte, wenn es nicht auf Mama oder Papa aufpasst.

Kinder erleben die Krankheitssymptome ihrer Eltern als unberechenbar und verwirrend. Sie können sie nicht verstehen und einordnen, was bei ihnen zu Desorientierung und Schuldgefühlen führt. Oft glauben sie sogar, an den psychischen Problemen ihrer Eltern schuld zu sein. Sie denken, dass die Krankheit eine Folge ihres eigenen Verhaltens gegenüber den Eltern sei. Zutiefst verunsichert fragen sie dann: „Mama, warum willst du nicht mehr mit mir spielen? Habe ich etwas falsch gemacht?“

Dazu zwei Beispiele:

Vivian, 16:

„Ich fühlte mich über Jahre wütend, verunsichert und hilflos. Ständig habe ich von Mama Sätze gehört wie: ,Ich kann das nicht, ich bin krank!‘ Als sie weinend vor mir stand, nicht aus ihrem Bett aufstehen konnte und wegen der kleinsten Unannehmlichkeit zusammengebrochen ist, habe ich unzählige Male zu ihr gesagt: ,Reiß dich endlich zusammen!‘ Ich war zunehmend genervt von meiner Mutter, von ihren schwachen Momenten, von ihrer Unfähigkeit, sich aufzurappeln, ohne zu ahnen, dass Mama unter Depressionen litt. Später tat es mir leid, weil mir klar wurde, dass das nicht der richtige Umgang mit meiner Mutter war.“

Nora, 15:

„Wenn Mama weinte, weil sie nichts auf die Reihe bekam, wurde ich wütend. Ich konnte und wollte nicht verstehen, wieso diese Frau, die eigentlich für mich sorgen sollte, nicht mehr fähig war, sichmir gegenüber wie eine Mutter zu verhalten.“

Der Rollentausch

Nora erzählt weiter:

„Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass sich unsere Rollen verschoben hatten: Ich, das Kind, wurde zur Mutter. Ich übernahm die Aufgaben meiner Mutter im Haushalt und machte mir andauernd Sorgen um sie.“

Kinder übernehmen Elternfunktionen für sich und ihre Eltern (Parentifizierung). Sie geraten in die Situation, elterliche Pflichten übernehmen zu müssen, für die früher der erkrankte Elternteil zuständig war. Dazu gehört z. B. einzukaufen, Essen vorzubereiten, Wäsche zu waschen, ohne Unterstützung Hausaufgaben zu machen oder ein jüngeres Geschwister zum Arzt zu begleiten. Kinder psychisch erkrankter Eltern sind besonders auf sich allein gestellt, wenn es im engeren Familienkreis niemanden gibt, der diese Aufgaben übernehmen kann.

Viel belastender als die Aufgaben der psychisch kranken Eltern zu übernehmen ist es, wenn Kinder es nicht schaffen, sich von der schlechten Stimmung ihrer depressiven Eltern zu distanzieren – so leiden sie mit ihnen.

Die Geheimhaltung